Cover

Birgit Schlieper

Zone 40

Frauen werden nicht älter.
Frauen werden gelassener.

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Birgit Schlieper

Birgit Schlieper, geboren 1968, arbeitet als Kulturredakteurin. Und auch wenn heute Ruhe in ihren Alltag eingekehrt ist, ändert das nichts an ihrem schonungslosen Blick auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben.

Über dieses Buch

Über kurz oder lang werden wir nun also 40. Und wir wundern uns – vor allem über uns selbst. Hat man uns nicht schon in der Schule gesagt, dass jetzt der Ernst des Lebens kommt? Bloß ist er nie eingetroffen. Aber dann, auf einmal, hat er sich doch in unser Leben geschlichen. Oder wie ist es sonst zu verstehen, dass wir plötzlich nicht erst nach dem Fest putzen, sondern schon bevor die Gäste kommen? Und dass wir uns Sätze sagen hören, wie: »Dieser Bordeaux hat ein volles Bouquet.«

Mit Witz und Ironie schildert Birgit Schlieper, was für seltsame Wünsche und Verhaltensweisen wir entwickelt, wenn wir in die Zone 40 kommen. Geschichten aus dem wahren Leben – und wir selbst spielen die Hauptrollen darin. Zum Schmunzeln und zum Wiedererkennen.

Impressum

eBook-Ausgabe Januar 2013

Knaur eBook

© 2008 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Franzsika Beyer

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42007-2

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Jetzt wird’s ernst

So oft wurde er mir schon angedroht: der Ernst des Lebens. Vor dem allerersten Schultag zum Beispiel. Meine Oma, die Nachbarin, sogar meine Patentante, sie alle kündigten ihn mir drohend an. Oma schaute dabei so, als habe sie Lassie eingeschläfert. Der Ernst des Lebens dauerte gerade mal anderthalb Stunden, und ich war wieder zu Hause, ehe meine Mutter die Kartoffeln fürs Mittagessen auch nur geschält hatte. Ich musste zwar am nächsten Tag wieder hin, hatte aber noch nicht einmal Hausaufgaben auf. Vor dem Gymnasium hieß es auch wieder, dass jetzt wirklich der Ernst des Lebens vor der Tür stünde. Ich stand nach dem ersten Tag wieder vor der Tür, als die Kartoffeln noch hart im blubbernden Kochwasser tanzten. Vom Ernst hatte ich bis dahin rein gar nichts zu Gesicht bekommen. Weder im Klassenzimmer noch auf dem Schulhof. Natürlich gab es später doch Schulaufgaben, Arbeiten, Klausuren – auch vermasselte. Sonderlich ernst habe ich das nicht genommen. An meinem achtzehnten Geburtstag musste ich mir dann am häufigsten folgenden Satz anhören: »Dann beginnt für dich wohl jetzt der Ernst des Lebens«, und wieder ließ der gute Ernst auf sich warten. Es veränderte sich nichts. Außer, dass ich nun einen schweinchenrosanen Führerschein im Portemonnaie hatte, der mir rein gar nichts brachte, weil mein Vater die Schlüssel zu seinem Auto unter Verschluss hielt. Einen eigenen Wagen – einen gebrauchten Fiat Panda – bekam ich schließlich zum Abi. Zusammen mit der Drohung, dass für mich ja nun der Ernst des Lebens begänne. Es begann aber lediglich ein reger, wenn auch einseitiger, Briefverkehr zwischen der Stadtverwaltung, Abteilung Verkehrsdelikte, und mir. Besonders ernst fand ich die Lage noch immer nicht. Auch vor dem ersten Tag an der Uni wurde er mir angekündigt, der Ernst des Lebens. Stundenlang habe ich in der Mensa Kaffee um Kaffee getrunken und gewartet. Vergeblich. Ich war mir schon fast sicher, dass ich irgendwann bei meinem tattrigen Einzug in ein staubiges Seniorenheim mit den Worten begrüßt würde: »So, dann fängt für Sie wohl nun der Ernst des Lebens an.« Doch jetzt plötzlich, ganz überraschend, muss ich feststellen: Er ist da. Ich war heute Nachmittag bei Sabine, und ich weiß jetzt, dass es ernst wird. Vielleicht nicht für immer, vielleicht nicht dauerhaft. Aber jetzt hat er sich doch reingeschlichen, der Ernst ist durch die Hintertür gekommen und lehnt grinsend im Türrahmen.

»Ein eigener Garten wäre schon schön«, hatte Sabine gesagt. So ganz nebenbei. In meinen Ohren klingt das nicht nur erwachsen, es klingt ein ganz klein bisschen alt. Was noch bedrohlicher ist: Ich habe das auch schon gedacht. Kann ja sein, dass der Ernst des Lebens sich bei mir oft veralbert und deplaziert fühlt und schmollend weiterzieht, manchmal kriegt er doch den Fuß in die Tür. Zum Beispiel eben in die Gartentür.

Ein eigener Garten

Ich will ja gar nicht behaupten, dass Sabine und ich Gras bislang nur in rauchbarer Form gekannt hätten, das wäre definitiv zu dick und zu verwegen aufgetragen. Aber die Natur, in welcher Form auch immer, hat uns höchstens in Gestalt einer roten Rose interessiert – vom richtigen Mann überreicht natürlich. Und Gärten – womöglich noch als Vorgärten – waren flächendeckende Spießigkeit. Das klang doch schon nach schmutzigen Fingernägeln und Rückenschmerzen. Nach Unkraut statt Augenbrauen zupfen. Sabine hat für ihr plötzliches Verlangen nach grünem Gras ja wenigstens noch Klein Carlos als Ausrede. Dass für Kinder ein Garten als Outdoor-Spielzimmer hilfreich ist, weiß jeder. Carlos kann dann im Sandkasten Backe-Backe-Kuchen spielen, während Mama Sabine das Gleiche in der Küche zelebriert – wobei ihr Ergebnis allerdings nicht nur optisch bestechen muss. Außerdem hat es für Sabine den immensen Vorteil, dass sie ihrem backenden Filius nicht von der Bank am Spielplatzrand zusehen muss, wo sie schon so manches Mal Opfer austauschfreudiger Mit-Mütter geworden ist. Ein einziges Mal hat sie versucht, mit Walkman der Dauer-Bequatschung zu entgehen. Dabei hatte sie mit geschlossenen Augen verpasst, wie es klingt, wenn Carlos sein Schippchen auf dem Kopf eines anderen Sandmännchens zerdeppert. Kurz: Sabine darf sich einen eigenen Garten wünschen. Aber ich? Ich stehe rat- und kinderlos vor diesem Biedermann-Begehren und stelle fest: Ich möchte wirklich einen eigenen Garten. Nur für mich allein. Ich will keinen Garten mehr zur »Mitbenutzung«. Keine neun Quadratmeter hinterm Haus, die für sechs Mietparteien reichen müssen. Meist sind ja die Grünstreifen auf der Autobahn reizvoller als diese grau-grünen Quadrate im Schatten der Mülltonne. Ich möchte nicht mehr erst den Liege-Klappstuhl mit Stockflecken aus dem Keller holen müssen und mich beim ersten Sonnenbad immer fragen, wer wohl gerade hinter der Gardine steht, mich anglotzt und Sätze denkt wie: »Die sollte mal lieber die Treppe putzen.« Oder auch: »Wofür hat die denn ein Bikini-Oberteil an?«

Es ist ja gar nicht so, dass dieser grüne Wunsch auf einmal vom Himmel gefallen ist. Meinem kleinen Küchenbalkon ist schon deutlich anzusehen, dass ich tief in meinem Herzen grüne Wünsche hege. Allein vier riesige Terracottatöpfe zieren den Boden. Was daraus wächst, ist keine Zier, aber immerhin lebt es noch, vermehrt sich und wuchert. Dazu gibt es natürlich noch ein Stuhl-Tisch-Stuhl-Ensemble. Abgerundet wird das Mobiliar durch einen dreibeinigen Grill von der Tankstelle, einen Kasten Sprudel und diverse Windlichter. Wenn ich den Balkon betrete, habe ich immer ein bisschen Angst, dass das die Statik vollends überfordert und ich mitsamt dem Bauwerk auf den Asphalt knalle. Dabei würde ich gerne Kai bitten, mir einen Sonnenschirm aufzustellen. Ich bin nämlich ernsthaft dazu übergegangen, mich lieber im Schatten zu sonnen.

Vor einigen Jahren noch habe ich mich über Balkone nur dann gefreut, wenn sie zu Nichtraucherwohnungen gehörten. Ich habe schon ganze Partys auf dem Balkongeländer verbracht, weil drinnen die Luft nicht verpestet werden durfte. (Zumindest nicht von Nikotin. Dampfende Duftöle über Teelichtern und Räucherstäbchen waren erstaunlicherweise meist zugelassen.) Ansonsten war »draußen sein« für mich kein wünschenswerter Zustand, sondern nur eine Phase zwischen A und B. Ich war an der frischen Luft, wenn ich von einem Ort zum nächsten wollte. Jetzt ist da der Wunsch, vor der Tür zu sein, um da zu verweilen. Und zwar im umzäunten Garten. Mit Kräuterbeet. Ich habe es nämlich satt, andauernd teure Basilikumtöpfe zu kaufen, die halb abgeerntet in meiner Küche einen langsamen, aber sicheren Tod sterben. Ich kenne kein Rezept, für das man ein gesamtes Basilikumgebinde benötigt (zumindest nicht, wenn man nur ein bis zwei Personen bekochen möchte). Also zupfe ich von dem teuer gekauften Gebinde ein paar Blätter ab und versuche den Rest zu konservieren. Im Schatten, in der Sonne, gut gegossen, halb vertrocknet: Es ist egal. Nach spätestens zwei Tagen – meist ein Dienstag – zerfallen die ersten Blätter zu Staub. Oder bekommen so einen gräulichen, samtigen Pelz. Und wenn ich am Freitag nach der Arbeit wieder fürs Wochenende einkaufe, landet wieder so ein Basilikumtopf in meinem Einkaufswagen. Wie schön wäre es, wenn ich einfach in meinen Garten gehen könne, um schnipp-schnapp ein paar Blätter abzuschneiden. Ich will ja gar nicht beim Wettbewerb »Der dickste Kohlrabi« gewinnen. Ich würde neben dem Basilikum ein bisschen Dill anpflanzen und vielleicht auch noch Petersilie. Dann würde ich mir auch ein Kochbuch zulegen, wo solche Zutaten vorkommen, und zwar frisch.

Hätte ich einen eigenen Garten, müsste ich auch meine Gartenmöbel nicht dauernd hin und her tragen. Meine Liege hätte in meinem Garten ihren Stammplatz. Es wäre natürlich auch keine Wie-stelle-ich-die-auf-Liege mit Stoffbezug. Ich denke eher an Teakholz. Schweres, dunkles Holz. Darauf helle Kissen. Viele helle Kissen. Passend zu meiner hellen Sommerhose. Ich bin entsetzt. Werde ich dann auch abends immer skeptisch gen Himmel gucken und sicherheitshalber doch die Polster reinholen? Werde ich semi-hysterische Sätze sagen wie: »Pass bitte mit dem Rotwein auf!«?

Wein

Es war doch mal ganz einfach. Es gab Weißwein, und es gab Rotwein. Und wer Rosé trank, war doof. Aber plötzlich ist alles viel komplizierter. Ich glaube, seit dem Moment als Prosecco das Land überschwemmte. Plötzlich muss ich mich entscheiden, ob ich lieber einen spritzigen Riesling möchte oder einen samtig-bauchigen Merlot. Ich habe mich selber schon Sätze sagen hören wie: »Dieser Chardonnay ist aber sehr angenehm ölig.« Anscheinend habe ich das Alter oder den Reifegrad erlangt, in dem ich Wein würdigen muss und nicht mehr einfach trinken darf – von schütten jetzt mal ganz zu schweigen.

Unser Chef fand es im vergangenen Jahr besonders stilvoll, die gesamte Belegschaft erst zu einer Weinverkostung zu laden – ehe sich dann alle beim Essen die Kante gaben. Wir standen in einem muffigen Keller und mussten ein ellenlanges Referat über Trauben, Lagerung und Öchsle über uns ergehen lassen, wobei Öchsle für mich nur wie ein Schweizer Nachname oder ein Pferdehindernis klingt. Als dann endlich die Gläser gefüllt wurden, habe ich sofort brav ausgetrunken. Ganz netter Tropfen. Peinlich wurde es erst, als alle danach ihre Ration in einen Eimer spuckten. Ich stand da mit leerem Glas und leerem Mund.

Erst ein paar Wochen später konnte ich mich für die herablassenden Blicke rächen. Bei einem Geschäftsessen fand es derselbe Chef besonders witzig vorzuschlagen: »Frederieke, suchen Sie doch den Wein aus. Sie trinken doch gerne Wein, oder?« Noch ehe er den potenziellen Kunden die ach so lustige Geschichte über seine unbedarfte Mitarbeiterin erzählen konnte, hatte ich schon den Ober herbeigerufen und ihn nach seiner Empfehlung befragt. Komisch, dass er den teuersten Tropfen für passend hielt. Als der Wein dann eingeschenkt war, habe ich ganz brav erst ein bisschen geschwenkt, dann mein Näschen ins Glas gehalten und geschnuppert, und nach dem Schluck mit Kennerblick gesagt: »Herrlich, was dieser Jahrgang für ein Haus baut, oder?« Diesen einen – völlig bescheuerten – Satz hatte ich mir bei der Verkostung gemerkt. Und es hatte sich gelohnt.

Komisch auch, dass meine Eltern es vergangenes Jahr für passend hielten, mir einen Weindekanter zu schenken. Meine Reaktion: »O wie schön, ein Glas-Urinal. Das habe ich mir schon immer gewünscht. Dann muss ich nachts ja gar nicht mehr raus«, fanden sie nicht witzig. Mein Vater hat mir wirklich einen Vortrag gehalten, dass Wein atmen müsse. Ich hätte gerne gewusst, ob ich denn dann auch mal mit meinem Soave spazieren gehen sollte, damit der auch ausreichend frische Luft bekommt. Habe mich aber nicht getraut zu fragen. Dazu bin ich jetzt zu erwachsen.

Selbst Sabine und Martin sind jetzt auf dem Trauben-Trip. Sie haben sich in ihrer Küche einen Profi-Entkorker installiert. Mit dem ist jede Flasche in wenigen Sekunden geöffnet. Ich hatte immer gedacht, so etwas lohnt sich nur in Restaurants oder Alkoholikerhaushalten. Außerdem besitzen sie ein Weinthermometer. Das zeigt an, ob der Weißwein kühl genug, der Rotwein warm genug ist. Toll. Ich habe geäußert, dass ich dafür das normale Fieberthermometer nähme. Und für eine Zehntelsekunde haben die beiden das wirklich geglaubt. Erst dann ist ihnen wohl eingefallen, dass das mit der Skala gar nicht hinkommt. Zugetraut hätten sie mir das wahrscheinlich sogar. Doch Sabine und Martin sind kein Einzelfall: Überall um mich herum wird jetzt der absolute Wein-Bohai gemacht. Wein wird auch nicht mehr einfach bei Aldi (zum Eigenverzehr) oder Karstadt (zum Verschenken) gekauft. Der wird bei Weinhändlern erst schnüffelnd und schmatzend gekostet, ehe er dann im Sechserpack im Kofferraum landet. Der Virus hat sogar Kai befallen. Kai ist eigentlich Biertrinker (was ihn sympathisch macht) und außerdem ist ihm selten was peinlich (was das Zusammenleben mit mir enorm erleichtert). Als ich allerdings beim letzten Wein-Großeinkauf nach dem dritten Glas Probier-Wein feststellte, dass ich noch einen Pfefferminz-Kaugummi im Mund hatte, hat er sich richtig für mich geschämt.

Am unangenehmsten beim gehobenen Weingenuss – also beim Genuss im gehobenen Alter jenseits der Dreißig – ist der Moment des Probierens im Restaurant. Wir trinken jetzt Wein zum Essen – auch außerhäusig, und zwar flaschenweise. Wir können es uns leisten und meistens müssen wir das auch, um den gleichen Effekt zu erzielen, für den vormals ein einziges Glas Vino reichte. Also wird ein Fläschchen auf der Karte ausgesucht, und bald naht der Ober damit, um es umständlich und langatmig zu entkorken. Und diese zwei, drei Sekunden, in denen das Getränk im Mund verweilt, ehe dem Ober dann halb erfreut, halb anerkennend zugenickt wird, finde ich fast unerträglich. Schon wenn Kai der Probierer ist und ich nur stumm zusehe. Wenn ich selber aus welchen Gründen auch immer diese Rolle übernehmen muss, stehe ich am Rande einer Panikattacke. Ich habe Angst, mich zu verschlucken, und spüre alle Augen auf mir. Meist kommt bei mir eine wellenartige Kopfbewegung heraus: Ich lege den Kopf in den Nacken, schlucke schnell, lass den Kopf wieder nach vorne fallen und sage kurz und laut »ja«. Ich fürchte, ich ähnele dabei einer hustenden Robbe. Leider lässt aber schon die nächste Erwachsenen-Situation nicht lange auf sich warten: das Trinkgeld.

Trinkgeld

Als mich Kai nach einem – zugegeben – guten Essen in einem guten Restaurant fragte: »Hast du vier, fünf Euro fürs Trinkgeld klein?«, wusste ich sofort: Ich bin jetzt groß. Vier, fünf Euro – davon konnte ich vor nicht allzu langer Zeit die gesamte Mahlzeit bezahlen und nicht nur den Kellner, damit er die Arbeit tut, für die er angestellt ist (und vermutlich bezahlt wird). Ich bin mir gar nicht sicher, ob das jetzt am Euro oder an meinem Alter liegt, aber kann es sein, dass ich vor einigen Jahren für diese Summe noch einen leckeren Salat plus Wasser bekommen hätte? Vorbei die Währung, vorbei das Alter: Jetzt muss das Kleingeld fürs Trinkgeld her. Wie viel gibt man? In Reiseführern lese ich immer wieder Tipps, wie hoch der Tip im jeweiligen Land sein sollte. Vielleicht sollte ich mir mal einen Reiseführer über Deutschland kaufen, um da nachzuschlagen, was man hier so gibt. Obwohl ich wahrscheinlich in der Situation eh Probleme hätte, auf die Schnelle fünfzehn Prozent von achtundvierzig Euro neunzig auszurechnen. Und eigentlich ist es ja schon fast antik, das Trinkgeld in klimpernden Münzen dem Mann ins schwitzige Händchen zu legen. Wer modern ist, lässt das gleich mit abbuchen und trägt die Summe locker in die Rechnung ein, ehe er dem Ober die Eurocard in die Hand drückt (oder ins schweinslederne Mäppchen legt). Das ist für mich richtig erwachsen. Wenn mich allerdings die Umstände, also mangelndes Barvermögen, zur Kartenzahlung im Restaurant nötigen, ist das für mich eine Phase höchster Konzentration. Wo muss ich unterschreiben? Wer bekommt welchen Durchschlag? Habe ich meine Kreditkarte wieder eingesteckt? Oder habe ich den Kellner jetzt mit meiner Krankenversicherungskarte losgeschickt? Und wo ist die Rechnung, die ich von der Steuer absetzen will?

Wenn ich das Problem des Trinkgeldgebens nur hätte, wenn Kai und ich feudal essen gehen, könnte ich das wirklich vernachlässigen. Ich gehe wahrscheinlich häufiger zur Krebsvorsorge als hübsch mit meinem Liebsten dinieren, aber die Frage stellt sich ja schon nach profanen zwei Bier oder auch Kaffee mit Kuchen. Was sage ich bei einer Endsumme von sieben Euro neunzig? Sage ich wirklich: »Machen Sie acht.«? Wie geizig. Also sage ich: »achtfünfzig bitte«. Ich gebe sechzig Cent Trinkgeld, weil ich ein Stück Kuchen samt einer Tasse Kaffee bekommen habe. Also Wegegeld quasi. Das sind eine Mark zwanzig. Also waren es zumindest mal. Das finde ich verdammt ernst. Was mich am meisten dabei irritiert: Hat man nicht seinerzeit auch Trinkgeld erfunden, um nicht immer so viel Kleingeld im Portemonnaie zu haben und damit die Kellnerinnen nicht immer stundenlang nach Münzen wühlen mussten? Wenn ich jetzt also auf achtfünfzig runde und eh wieder Münzen retourbekomme, kann ich nicht dann auch auf acht Euro zwanzig runden? Dann hätte ich dreißig Cent Trinkgeld gegeben. Das fände ich angemessen. Das wären sechzig Pfennige. Gut – offiziell gibt es Pfennige und Mark nicht mehr. Das weiß ich wohl. Meine interne Rechenmaschine kann aber mit Euro nichts anfangen. Zu der Einheit habe ich keinen Bezug. Ob was billig oder teuer ist, weiß ich erst, nachdem ich umgerechnet habe. Ich denke in Mark. Ich bin sogar schon so alt, dass ich noch weiß, dass ein Groschen mal zehn Pfennige waren. Bin ich mit meiner Währungsverbundenheit nur ein Gewohnheitstier oder schon altmodisch?

Altmodisch

Es kribbelt mir in den Fingern. Ehrlich. Sobald ich einen von diesen schlurfenden Jungs mit hängenden Schultern und hängendem Schritt sehe, würde ich am liebsten mit beiden Händen die Hose packen und hochziehen. Damit der Schritt da anfängt, wo der Po aufhört. Natürlich mache ich das nicht. Erstens weiß man ja nie, wie der jeweilige Hosen-Träger darauf reagiert (wissen die, dass man Frauen nicht haut?), und zweitens sieht das ja total muttimäßig aus. Eigentlich fühle ich mich noch nicht so alt. Die vier ist noch nicht erreicht. Aber wenn ich mit so manchen modischen Auswüchsen konfrontiert werde, fühle ich mich so überholt wie ein Festnetzanschluss. Wie ein Telefon mit Wählscheibe. Wir haben uns früher Risse in die Jeans gemacht. Erst am Knie, dann ganz verwegen am Hintern. Da konnte man aber noch so sehen, wo der Hintern ist. Jetzt gibt es die Schritt-in-den-Knien-Hosen, bei denen ich mich frage, wie die physikalisch halten. Ich weiß auch erst seit kurzem, dass der Rand der rauslugenden Unterhose oben an die Jeans genäht ist. Ich will gar nicht wissen, ob darunter dann noch eine vollständige zweite Unterhose getragen wird.

Oben auf dem Kopf sieht es ja nicht viel besser aus. Warum zum Beispiel tragen Jugendliche Häkelkappen, die meine Klopapierrolle entsetzt abschütteln würde? Wir haben früher die Baseballkappe ganz verwegen mit dem Schirm nach hinten getragen. Natürlich sah das auch doof aus, aber es hat nicht völlig das Gesicht entstellt wie die Handarbeitshüte. Ja, auch wir sind tätowiert – aber nicht so, dass jeder Personalchef, potenzielle Schwiegervater oder wer auch immer gleich von einem fauchenden Drachen auf dem Unterarm angeglotzt wird. Und seit wann werden nicht mehr nur Ohrläppchen oder auch mal der eine oder andere Nasenflügel, sondern auch Augenbrauen, Zungen, Brustwarzen und andere noch empfindlichere Körperteile mit Ringen durchbohrt? Wir wollten ja früher auch provozieren, aber doch nicht mit vollendeter Eigen-Körperverletzung. Komisch: Wieso fällt mir jetzt mein Vater ein, der angesichts eines millimetergroßen Ohrsteckers von Verstümmelung sprach?

Was mich eigentlich am allermeisten besorgt: Mir fehlt jegliches Verständnis, jegliche Gelassenheit für diese modischen Verrenkungen. Meine Toleranz scheint in die Jahre oder auch ganz abhandengekommen. Warum müssen Mädchen, die eindeutig ein Gewichtsproblem haben – vornehmlich in der Körpermitte – mit zu kurzen T-Shirts rumrennen? Glauben die, Fett verbrennt, wenn es friert? Ist es sehr spießig, wenn sich dadurch mein ästhetisches Empfinden gestört fühlt? Ich ahne es. Die Antwort lautet JA