Karl Hemeyer

Sylter

Weihnachtswellen

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Hemeyer, Karl: Sylter Weihnachtswellen. Eine Liebesgeschichte, Hamburg, ACABUS Verlag 2012

Originalausgabe

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-214-0

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-215-7

Print (Paperback): ISBN 978-3-86282-213-3

Lektorat: Berit Liedtke, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: ds, ACABUS Verlag

Covermotiv: © Inga Nielsen - Fotolia.com; © ecco - Fotolia.com; © senoldo - Fotolia.com; © Natalie - Fotolia.com; © Tanja Bagusat - Fotolia.com

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2012

Alle Rechte vorbehalten.

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„Doch! Es ist richtig, was du tust.“ Belinda spricht sich selbst Mut zu. Sie nickt und schmunzelt sogar ein wenig. „Birgit hat recht! Lass dir über Weihnachten und Neujahr von der frischen, kalten Seeluft mal den Kopf wieder so richtig freipusten.“

Sie holt ein Papiertaschentuch aus ihrer, neben ihr an einem Haken hängenden Jacke, schüttelt es auf und schnäuzt kräftig hinein. „Wenn dir schon kein anderer Mut macht, dann musst du es eben selber tun.“ Noch einmal tupft sie sich mit dem Papier über ihre Nase. Dann steckt sie das Taschentuch zurück in ihre lederne Handtasche und geht erneut in sich. „Ja, eigentlich ist es hart, was dir immer wieder passiert. Aber andere schaffen es auch, da durch zu kommen. Also schaffst du das auch.“ Belinda ist überrascht, denn sie selbst bemerkt einen gewissen Zweifel an ihren momentanen Gedankengängen. „Zweifel? Das war doch eigentlich nie dein Ding. Du hast doch nie etwas in Frage gestellt. Es war doch immer alles richtig. Zumindest hast du es immer so gesehen.“

Sie grübelt weiter und denkt an früher. Wie im Zeitraffer läuft ihr Leben an ihr vorbei. Die Erinnerung an ihre eigentlich recht unbeschwerte Kindheit, welche nur durch die Hänseleien der Mitschüler wegen ihres Vornamens etwas getrübt wird. Das mit „sehr gut“ bestandene Abitur sowie die Tatsache, dass sie danach – zum Amüsement ihrer Freundinnen – nicht studiert hatte. Stattdessen hatte sie eine Lehre als Schneiderin absolviert und war – gegen den Willen ihrer Eltern – zunächst nach Hamburg gezogen. Dort hatte sie eine Volontariatsstelle in einem Verlag angenommen und war anschließend in die USA gegangen.

„Es waren die Zähne, ja, die Zähne.“ Besonders die schönen, strahlend weißen Zähne der amerikanischen Männer, die sie ja eigentlich nur aus Filmen kannte, hatten es ihr damals angetan. Sie greift wieder in ihre Handtasche. Diesmal holt sie ein Kaugummi heraus, steckt es zwischen ihre ebenfalls strahlend weißen Zähne und lehnt sich mit einem tiefen Seufzer in ihren Sitz zurück. In Gedanken schwelgend schaut sie aus dem Zugfenster: Draußen rast die von Raureif überzogene Wiesenlandschaft vorbei, in ihrem Kopf dagegen ihr Leben in den USA.

Der erste Job bei dieser kleinen Provinz-Zeitung, die erste Begegnung mit ihrem amerikanischen Freund, der der Grund war, weshalb sie damals blieb und der letztendlich sogar ihr Ehemann wurde. „Gleich meinen Dritten habe ich geheiratet.“ Sie unterbricht kurz ihren gedanklichen Rückblick, um ihr Kaugummi zu entsorgen, dann kehrt sie zurück in ihre Vergangenheit. Sie erinnert sich an ihren, selbst aus heutiger Sicht noch unglaublichen, Sprung zu dem Modemagazin nach New York, dem nach einiger Zeit der sensationelle Aufstieg zur Chefredakteurin folgte. Kurze Zeit später die Geburt der Zwillingstöchter, die heute ihre eigenen Wege gehen und sich nicht, wie sie, für ein Leben in Deutschland entschieden haben, sondern nach einem überwiegend in Berlin verbrachten Probesommer in die USA zurückgeflogen sind. Dort gestalten beide ihr eigenes Leben, die eine als Studentin, die andere als Redakteurin im selben Verlag, in dem auch Belinda damals arbeitete.

„Dass das mit Kindern überhaupt geklappt hat“, schmunzelt sie und denkt gleichzeitig an das jähe Ende ihrer Ehe. „Immerhin. Vierundzwanzig Jahre sind es geworden. Andere schaffen nicht mal eines oder zwei.“

Da war sie wieder. Die Tatsache, dass sie immer alles so sah, wie sie es ihr am besten passte.

„Sei doch mal kritisch mit dir. Obwohl, was bringt das denn? Genau, nimm es, wie es ist.“ Sie nickt. „Es ist doch alles in Ordnung. Du bist gesund, deine Kinder sind glücklich und dein Mann?“ Sie zuckt zusammen. „Er ist nicht mehr dein Mann. Merk dir das“, sagt sie sich trotzig und macht sich von Neuem Mut. „Du musst jetzt, nein, du willst dein Leben jetzt alleine meistern, in deinem Land. Ist es überhaupt dein Land? Ja, es ist dein Land, hier bist du geboren, hier hast du zweiundzwanzig Jahre lang gelebt und nun bist du wieder hier und lernst es so kennen, wie es heute ist.“

Belinda bemerkt, wie der Zug seine eben noch rasend schnelle Fahrt verlangsamt. Sie schaut wieder aus dem Fenster, immer mehr Häuser sind zu sehen; dann irgendwann, sowohl links als auch rechts der Bahnstrecke, nur noch Gebäude.

„Hamburg“, schießt es ihr durch den Kopf. „Genau, wir kommen jetzt nach Hamburg. Eigentlich müsstest du aussteigen und wenigstens einmal um die Alster laufen. Wie früher auf den Klassenfahrten. Aber die Zeit ist nicht, der Zug fährt ja gleich weiter.“ Sie erhebt sich kurz von ihrem Platz, streicht sich über ihre Kleider und verfolgt aus dem Fenster schauend die Einfahrt des Zuges in den Hamburger Hauptbahnhof, wobei sie gleichzeitig das hektische Treiben um sich herum wahrnimmt.

Verwundert bemerkt sie, dass einige Reisende an ihrem Abteil vorbeigehen und in dieses hineinschauen. Da jedoch niemand zu ihr einsteigt, macht sie es sich in ihrem Erste-Klasse-Abteil erneut bequem und schließt genüsslich die Augen. Doch schon nach kurzer Zeit stoppt der Zug zu ihrer Überraschung abermals und sie schaut abwechselnd nach links und rechts aus den Fenstern. „Ach ja, Dammtor. Hatte ich ganz vergessen.“ Erneut richtet sie sich in ihrem Sessel auf und schaut durch die gläserne Abteiltür auf den Bahnsteig, wo dick vermummte Leute mit mehr oder weniger viel Gepäck umherirren. „Es muss richtig kalt sein in Hamburg“, denkt sie beim Anblick der sichtbaren Atemluft der Menschen.

Plötzlich, der Zug rollt langsam wieder los, steht ein Mann vor der Abteiltür. Er öffnet sie und schiebt einen silbernen, ziemlich verbeulten Rollenkoffer zwischen die Abteilsitze. Mit überraschtem Blick schaut er zunächst zu Belinda, dann mustert er kurz die Reservierungsschilder, um anschließend erneut Belinda anzusehen.

„Oh, ich glaube, ich sitze auf Ihrem Platz, oder?“, äußert sich Belinda, die sofort bemerkt hat, dass dem Mann etwas aufgefallen ist, was er so nicht erwartet hat. Sie beobachtet ihn weiterhin und sieht zu, wie er zuerst seinen ebenfalls matt silbernen und auch mit einigen Dellen und Schrammen versehenen Aktenkoffer auf den Platz neben ihr legt, den Rollenkoffer in die Gepäckablage wuchtet und sie schließlich, seinen dicken Winterparka ablegend, lächelnd ansieht. „Schon lange?“, hört sie ihn mit deutlich zu verstehendem Hamburger Dialekt fragen.

Belinda ist irritiert. „Wie? Wie meinen Sie? Schon lange?“, entgegnet sie.

Der Mann hockt sich auf den mittleren Abteilsitz schräg gegenüber von Belinda und schaut sie an. Dabei reibt er seine offensichtlich kalt gewordenen Hände, um sie zu erwärmen, und wiederholt mit listigem Blick seine Frage: „Na, seit wann sitzen Sie da denn schon?“

„Ja, eh, seit ich eingestiegen bin“, antwortet Belinda und signalisiert ihm mit der Art, wie sie antwortet, dass sie seine Frage nicht so richtig versteht.

„Jo“, sagt der Mann mehr zu sich selbst und atmet tief durch. Dann nickt er mehrfach, denn eigentlich hatte er erwartet, dass sie ihm sagt, wo sie eingestiegen ist. Also hakt er, Wort für Wort besonders freundlich betonend, nach: „Und wo, wenn ich das fragen darf, sind Sie eingestiegen?“

„In Berlin“, antwortet Belinda, als wäre das selbstverständlich. Der Mann atmet erneut tief durch, wirft einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr und sagt dann, weiterhin listig schmunzelnd: „Jo. Na, dann haben Sie sich ja schon an den Platz gewöhnt. Dann bleiben Sie da mal sitzen.“

Belinda entgegnet: „Ja, aber Sie können gern …“ und will eigentlich auch weiterreden, aber der Mann unterbricht sie und schaut sie zwar sehr intensiv, aber auch weiterhin freundlich an. „Was kann ich gern?“

„Ja, ich meine, eh, wenn Sie diesen Platz reserviert haben, dann, eh …“, versucht sie nun irgendwie die Antwort zu geben, dass sie durchaus bereit ist, ihm seinen reservierten Sitzplatz zu überlassen.

Doch wieder fällt ihr der Mann ins Wort: „Jetzt sitzen Sie da und nun bleiben Sie da sitzen!“ Dann erhebt er sich aus seinem Sessel, zieht sein Tweedsakko aus, hängt es über seinen Winterparka und verneigt sich ganz leicht. „Übrigens, ich bin Ulf, Ulf Bernsen. Aus Hamburg.“ Noch einmal verneigt er sich und setzt sich dann wieder. „Entschuldigung übrigens.“

„Wofür die Entschuldigung?“, fragt Belinda überrascht.

„Ich bin Ihnen eben zweimal ins Wort gefallen. Das tut mir leid. Ist ’ne schlechte Angewohnheit von mir. Soll nicht wieder vorkommen.“

Belinda schaut ihn an. Sie freut sich über die sich anbahnende Unterhaltung. Überhaupt ist sie, wie sie findet, ein sehr kommunikativer Typ, der sich gern unterhält, auch wenn ihr gerade wieder einfällt, dass Unterhaltung für sie bedeutet, dass ihre Gesprächspartner das zu tun haben, was sie will. Doch dann denkt sie daran, dass sie diese Eigenschaft ja eigentlich hinter sich lassen wollte. Sie streckt ihm ihre Hand entgegen: „Belinda, Belinda Priest. Aus New … aus Berlin.“ Ulf erhebt sich kurz, schüttelt ihr die Hand, setzt sich wieder und schaut sie an.

„Ja, ich war sehr lange in den USA, zuletzt in New York. Aber jetzt bin ich schon seit dem Frühjahr in Berlin“, erklärt sie wieder mit dieser Selbstverständlichkeit, als würde es die ganze Welt interessieren. Ulf hört ihr zu, gibt dann mit fast knurrend klingender Stimme ein sehr trockenes „Es gibt Schlimmeres“, von sich.

„Ja, aber es hat sich doch sehr viel verändert“, entgegnet Belinda und beobachtet Ulf, der nun die Beine übereinander schlägt, seine Arme verschränkt, um sich dann mit der rechten Hand über seinen winterlichen Stoppelbart zu reiben. „Jo. Wie im richtigen Leben“, bemerkt er emotionslos, sodass sie nachfragt: „Wie meinen Sie das?“

Ulf lächelt. „Ist doch so im Leben. Wäre doch schade wenn immer alles gleich bleiben würde. Und da eben nicht immer alles gleich bleibt, sprechen wir von Veränderungen. Und Veränderungen bestimmen nun mal das Leben. Das heißt, wie man damit klarkommt. Also, ich mag das, ich mag Veränderungen. Die meisten jedenfalls.“

„Mhmh, mhmh“, erwidert Belinda und schaut Ulf nachdenklich an. Sie mustert ihn regelrecht, guckt dabei von unten nach oben, auf seine edlen, wahrscheinlich handgearbeiteten Schuhe, seine Cordhose, die Tweedweste, sein Hemd, den umgelegten Schal, die Bartstoppeln und schließlich auf die etwas längeren, stellenweise grau werdenden Haare.

Er trägt eine gute Uhr, aber keinen Ring, registriert sie und beugt sich in ihrem Sitz etwas nach vorn, was Ulf ein neues Blickfeld eröffnet, denn an ihrer Bluse hat sich, von ihr allerdings unbemerkt, einer der obersten Knöpfe geöffnet. Ulf sagt jedoch nichts, er öffnet seinen Aktenkoffer, holt eine Zeitschrift heraus und beginnt, darin zu blättern. Gleichzeitig schaut er allerdings auch immer wieder zu Belinda, die das ebenfalls bemerkt, sich wieder in ihren Sessel zurücklehnt und ihn direkt ansieht.

„Möchten Sie doch lieber hier sitzen?“, erkundigt sie sich.

Ulf lächelt sie an. „Nein, nein, nein. Es ist alles in Ordnung so. Ich will nur ab und zu den Ausblick genießen.“

Belinda zeigt auf den ihr gegenüber liegenden Sitz. „Sie können sich auch gern dorthin setzen. Dann haben Sie eine bessere Sicht“, sagt sie und weist mit der Hand in Richtung Fenster.

„Nein, da würde mir was fehlen“, entgegnet Ulf, woraufhin Belinda interessiert fragt: „… und was?“

Ulf lächelt und legt den Zeigefinger an die Lippen. Belinda schüttelt kaum merklich den Kopf und schaut dann aus dem Fenster, während Ulf ein Handy aus seinem Sakko fummelt. „Stört es Sie, wenn ich mal telefoniere?“, wendet er sich erneut an sie.

Belinda zeigt nur kurz mit der geöffneten Handfläche auf ihn, schaut dabei weiterhin aus dem Fenster und hört Ulfs Telefongespräch mit an. „Peter? Hier ist Ulf. Ab wann seid ihr da?“

„Und wer noch?“

„Jo, am Zweiten zum Doppelkopf.“

„Alles klar. Ich freu mich. Hau rein, bis denn. Und grüß schön.“

„Danke. Jo, werde ich tun. Tschüss.“

Ulf nickt, er lächelt und steckt sein Handy weg. „Schöne Grüße!“, sagt er. Belinda schaut ihn überrascht an. „Wie? An mich? Von wem denn?“

„Von Peter“, antwortet er lächelnd. „Welchem Peter? Ich kenne keinen Peter. Oder zumindest keinen, den Sie kennen“, stellt sie fest und fügt ein „Glaube ich jedenfalls“ hinzu.

„Mein Freund Peter hat gesagt, ich soll schön grüßen. Und wenn er das sagt, dann tue ich das. Und da hier sonst niemand ist, den ich grüßen kann, grüße ich Sie“, erklärt Ulf.

Belinda lächelt, sie schüttelt erneut leicht den Kopf und sieht wieder aus dem Fenster. Dann nimmt sie den Kopf zurück und schaut zu Ulf. „Also, Sie sind einer …“

„Ein was denn?“, fragt der mit listiger Miene. Belinda zögert. „Ach. Nichts.“

Ulf blättert wieder in seiner Zeitschrift, einem Lifestylemagazin. Belinda sieht zu dem lesenden Ulf. Sie spürt ihre Neugierde und gleichzeitig merkt sie, dass sie ihm gern so einiges erzählen würde. Zum Beispiel, dass der Zug gerade durch die Gegend fährt, in der sie aufgewachsen ist oder auch, dass ihre Eltern hier begraben sind. Ob er diese Strecke öfter fährt, würde sie ebenfalls gern wissen. Aber sie sagt nichts. Weitere Fragen und Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Sie schüttelt ihn kaum merklich. Dann schaut sie erneut aus dem Fenster und ihr wird klar, dass sie nicht mehr die selbstgefällige und beinahe egozentrische Belinda ist, die sie in New York war. Deutschland hat sie tatsächlich zum Guten, wie sie findet, verändert.

Ulf legt das Lifestylemagazin zur Seite, klappt seinen Aktenkoffer auf und holt eine neue Zeitschrift heraus. Belinda beobachtet ihn aus den Augenwinkeln und auch Ulf schaut immer wieder zu ihr herüber, bis sich ihre Blicke schließlich treffen.

„Sie lesen eine Frauenzeitschrift?“, registriert Belinda mit einem Blick auf die Gazette. „Na, ich muss doch wissen, was in der Welt so los ist“, erklärt Ulf mit einem leichten Schulterzucken. „Ach. Und das steht in der Zeitschrift, ja?“, fragt Belinda. Ulf öffnet den Aktenkoffer. Darin liegen jede Menge Zeitschriften. „Also, wenn Sie möchten. Ist bestimmt auch was für Sie dabei“, bietet er Belinda an, sich zu bedienen. Doch die blockt ab: „Im Moment nicht, danke. Ich lese immer nur, wenn ich alleine bin.“

Ulf zieht die Augenbrauen hoch. „Oh, heißt das jetzt, dass ich unhöflich bin, weil ich in Ihrer Anwesenheit in der Zeitschrift blättere?“

„Nein, nein, um Gottes Willen. So habe ich das nicht gemeint“, entgegnet Belinda, doch Ulf legt seine Zeitschriften in den Aktenkoffer und verschließt ihn. „Muss ja auch nicht sein. Ich will ja Urlaub machen.“

Jetzt hebt auch Belinda ihre Augenbrauen. „Ist denn Lesen Arbeit für Sie?“

Ulf zuckt abermals mit den Schultern. „Kommt drauf an, was man unter Arbeit versteht.“

Belinda fragt direkt nach: „Und was machen Sie, wenn ich fragen darf?“

Aus Ulf sprudelt es: „Ich arbeite in einer Agentur, wir machen Werbung, Public Relations, Texte, Artikel, Berichte, Bücher, Internet, Social Media und so weiter und sofort.“

„Ach, interessant“, bemerkt Belinda und vernimmt Ulfs Frage: „Und Sie?“

Belinda schmunzelt. „Eigentlich gar nichts. Das heißt, das ist auch nicht richtig. Ich habe gerade wieder angefangen, für einen Verlag zu arbeiten. Ich schreibe ein wenig, hauptsächlich aber mache ich Redaktions-Consulting. Aber wollten Sie nicht Urlaub machen?“

Ulf muss lachen. „Genau. Aber was kann einem im Urlaub eigentlich Besseres passieren als eine nette Unterhaltung? Ich besorge uns jetzt mal einen Kaffee und dann unterhalten Sie mich ein bisschen. Einverstanden?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, springt er auf, geht in den Speisewagen und fragt zunächst, warum denn heute kein Service am Platz stattfinde. „Die Kollegin ist krank!“, antwortet der Mitarbeiter. „Aber wenn Sie möchten, bringe ich Ihnen den Kaffee in die Erste Klasse.“

„Nicht nötig“, sagt Ulf. „Bin ja gekommen, um ihn selbst zu holen. Bewegung tut gut.“ Er hält das kleine Papptablett, auf das der Mitarbeiter die Becher mit dem heißen Kaffee, Milch und Zucker stellt und noch zwei kleine eingepackte Kekse dazu legt. „Für Ihre besonderen Bemühungen. Die Kekse sind ein Geschenk, für den Kaffee kriege ich bitte fünf Euro.“

Ulf bezahlt, gibt etwas Trinkgeld und geht dann mit dem Tablett zurück in das Abteil. Er serviert den Kaffee und lauscht, genüsslich seinen Kaffee schlürfend, Belindas Ausführungen, da die ihm nun sehr ausführlich aus ihrem gesamten Leben erzählt: Dass sie in den USA als Chefredakteurin und später als Herausgeberin eines Modemagazins gearbeitet habe, vierundzwanzig Jahre verheiratet war und zwei neunzehnjährige Töchter habe, die in den USA leben. Dass sie sich außerdem gleich nach der Scheidung und ihrem Ausstieg aus dem New Yorker Verlag vor einem Jahr dazu entschlossen habe, zukünftig in Berlin zu leben, „weil die Stadt, auch hinsichtlich der Mode, so richtig abgeht“, wie sie es ausdrückt.

„Und Sie?“, fragt Belinda, nippt an ihrem Kaffee und stellt fest, dass der in der Zeit ihrer gesamten Ausführungen ziemlich abgekühlt ist und nicht mehr schmeckt. Ulf hat seinen Becher in der Zwischenzeit geleert, bringt das Tablett in den Speisewagen und kommt zurück in das Abteil. „Ich werde auch ausführlich berichten“, sagt er und fügt bedauernd hinzu: „Aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Wir sind in wenigen Minuten in Westerland. Da treffen wir uns mal. Wo wohnen Sie denn?“, erkundigt er sich, während er zu seinem Sakko greift.

„Ich habe in Westerland eine Ferienwohnung gemietet. Weiß aber nicht so genau, wo das ist“, bekennt Belinda und beginnt genau wie Ulf, sich anzukleiden. Dabei bemerkt sie den zu weit geöffneten Knopf an ihrer Bluse. Sie schließt ihn und wirft Ulf dabei einen prüfenden Blick zu. Der verzieht jedoch keine Miene und legt seinen Winterparka an, um anschließend Belinda in ihre Daunenjacke zu helfen.

„Ich bin auch in Westerland, da sieht man sich bestimmt. Da brauchen wir gar nichts auszumachen“, erklärt Ulf und holt sowohl Belindas als auch seinen Koffer aus der Ablage. „Bei Gosch oder bei Blum, am Strand oder in der Muschel, wo auch immer. Hier kann man sich gar nicht verfehlen“, brüllt er geradezu, um sich stimmlich gegen die Lautsprecherdurchsage, welche die Zugankunft verkündet, durchzusetzen.

„Wie lange bleiben Sie?“, fragt Belinda. „Bis zum Sechsten“, antwortet Ulf und schleppt die beiden Rollenkoffer aus dem Zug, während Belinda ihre Handtasche und seinen Aktenkoffer trägt. Dann tauschen sie vor dem Zug ihre Gepäckstücke und verabschieden sich.

„Sie sind ’ne tolle Frau. Ich mag Sie. Bis dann“, sagt Ulf und setzt sich, nach einem längeren Blick zum dunkelgrauen Himmel, eine aus dem Parka geangelte Schirmmütze auf den Kopf. Dann legt er als Abschiedsgruß die Finger an die Mütze, schnappt sein Gepäck und geht Richtung Bahnhofsausgang davon. Belinda, die schon lange keine so netten Worte mehr gehört hat, bemerkt, wie sie von einer Welle der Freude überschwemmt wird. Sie nickt Ulf zu und möchte eigentlich auch noch etwas sagen, aber sie schnäuzt sich erstmal die wegen der Kälte nun wieder zu laufen beginnende Nase, steckt ihr Taschentuch weg und schaut Ulf hinterher. Dann geht sie, ihren Koffer ziehend, durch den Bahnhof und blickt auf dem Vorplatz noch einmal umher, aber Ulf ist nirgends mehr zu sehen. Daher greift sie nun in ihre Handtasche und holt den Zettel mit den Daten ihrer Ferienwohnung heraus. Anschließend geht sie die wenigen hundert Meter zu dem von ihr gebuchten Appartement in die Boysenstraße, übernimmt die Schlüssel und begutachtet die Einrichtung der Wohnung. Die ist überwiegend in Blau und Weiß gehalten und besteht aus einem Wohnzimmer mit Küche, einem separaten Schlafraum sowie einem Bad samt Badewanne. Gleich nachdem sie ihren Koffer ausgepackt hat, ruft sie ihre Schulfreundin Birgit an: „Bist ja schon da, dachte du kommst erst heute Abend an“, wundert sich Birgit und entscheidet: „Gut, dann komme ich gleich mal vorbei, wir gehen einkaufen und heute Abend können wir dann ja auch noch richtig was unternehmen.“

„Ja, ist gut, bis gleich“, antwortet Belinda und blättert, während sie auf Birgit wartet, die im Wohnzimmer ausliegenden Prospekte und Broschüren durch.

Ulf gönnt sich derweil, bevor er in seinem Hotel eincheckt, sein erstes Fischbrötchen und trinkt dazu ein Bier. Dann bezieht er in seinem Hotel am Ende der Friedrichstraße, in dem er immer absteigt, wenn er auf der Insel ist, seine Suite. Anschließend macht er sich auf den Weg in den Wellnessbereich des Hotels, um dort ausgiebig zu saunieren und sich im Anschluss sein Abendbrot aufs Zimmer bringen zu lassen, wo er dann irgendwann vor dem laufenden Fernseher einschläft.

Belinda hat inzwischen, begleitet von Birgit, einen Großeinkauf absolviert, denn immerhin sind es fast drei Wochen, die sie auf der Insel bleiben will. Neben den von Birgit als „Grundnahrungsmittel“ bezeichneten Lebensmitteln wie Brot, Butter, Olivenöl, Aufschnitt, Tee und Kaffee, Honig, Milch und Zucker hat Birgit mit dem Kommentar: „Man will doch abends auch mal ein Schlückchen Wein oder auch mal einen Schnaps trinken …“, vor allem auch dafür gesorgt, dass in Belindas Appartement ausreichend Getränke vorhanden sind. „Wenn du das nicht schaffst, nehme ich den Rest, wenn du wieder abreist“, beruhigt sie die auf die drei Kartons mit Wein schauende Belinda, die beobachtet, wie Birgit den Champagner in den Kühlschrank stellt. „Wichtig ist, ihn vor dem Öffnen immer erst noch mal für ’ne halbe Stunde in den Tiefkühler zu stellen. Schampus muss eiskalt sein, wenn man ihn trinkt“, erläutert sie.