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Als die Filmemacherin Rebecca Panian mit dem frühen Tod ihres Vaters konfrontiert wurde, war für sie klar, dass sie sich mit dem Thema Sterben auseinandersetzen wollte. Ihre Freundin, die Journalistin Elena Ibello, unterstützte sie von Anfang an bei diesem Vorhaben. Zusammen begannen die beiden jungen Frauen, sich mit dem Unausweichlichen zu befassen. Daraus entstand zum einen die Idee, einen Dokumentarfilm zu realisieren, und zum anderen der Wunsch, ein Buch zu veröffentlichen. Mit Texten von bekannten und unbekannten Menschen, die diese zum Thema »Zu Ende denken« schreiben sollten. Die Resonanz der angefragten Persönlichkeiten aus Pflege, Medizin, Politik, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Unterhaltung war durchwegs positiv. Das Resultat auch. Die Texte, die so entstanden, sind berührend, aufrüttelnd, ehrlich und schnörkellos. Alle Schreibenden haben den Mut aufgebracht, sich dem Unausweichlichen zu stellen. Etwas, was nie ganz gelingen kann und trotzdem, das macht das vorliegende Buch schnell klar, unglaublich wertvoll ist.

Zum Filmstart von »Zu Ende leben« legen wir das Buch »Zu Ende denken« neu auf. In der erweiterten Ausgabe denkt nun auch, als Erster, Thomas Niessl, der Hauptprotagonist des Dokumentarfilms von Rebecca Panian, zu Ende. Tom ist an einem unheilbaren Hirntumor erkrankt.

Zusätzlich zu den persönlichen Texten gibt es in diesem E-Book zu jedem Autor und jeder Autorin einen Link zur Homepage www.zuendeleben.ch. Dort können Videos abgerufen werden, in denen die jeweilige Person auch vor der Kamera zu Ende denkt. Einige Ausschnitte dieser Statements kommen auch im Dokumentarfilm vor.

Der Film »Zu Ende leben« hat am Zurich Film Festival 2014 den Publikumspreis gewonnen, ist im April 2015 in die Schweizer Kinos gekommen und wird voraussichtlich Ende 2015 als DVD erhältlich sein.

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Rebecca Panian, geb. 1978, hat den Beruf der Schriftenmalerin erlernt, war anschließend Flight-Attendant und Grafikerin, bis sie durch Zufall nach Köln gelangte, um dort als TV-Redaktorin für Endemol zu arbeiten. In dieser Zeit entdeckte sie ihre Leidenschaft für das bewegte Bild und das Geschichtenerzählen. Ihr Journalismus-Studium in Winterthur hat diese Passion noch verstärkt. Seit 2006 dreht sie Filme. Von 2012 bis 2015 absolvierte sie den Master in Spielfilmregie an der ZHdK.

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Elena Ibello, geb. 1982, arbeitete nach ihrer Berufsmatura für ein Sozialprojekt in Brasilien und danach viele Jahre in der offenen Jugendarbeit, bevor sie 2007 ihr Journalismus-Studium in Winterthur begann und daneben als Print- und Radiojournalistin tätig war. Seit einigen Jahren arbeitet sie als Kommunikatorin und Web-Redaktorin für «palliative zh+sh» sowie als freie Journalistin. An der ZHdK schloss sie 2014 mit dem Master in Kulturpublizistik ab. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt Elena Ibello in der Nähe von Zürich.

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Gianni Pisano, geb. 1976, wanderte nach seiner Laborantenlehre nach New York aus, wo er sich zum Fotografen ausbilden ließ. Acht Jahre später kehrte er in die Schweiz zurück, wo er schon bald viel Anerkennung bekam. Seine Arbeiten erstrecken sich von der Mode- über die Porträt- bis hin zur Werbefotografie und wahren stets seinen unverkennbaren Stil – ruhig, aber stark, voller Emotionen und Energie. Es ist der Kontext, der seine Bilder zu Kostbarkeiten macht. Gianni Pisano lebt in Zürich und Paris.

Rebecca Panian | Elena Ibello

Zu Ende denken

Worte zum Unausweichlichen

Fotografien von Gianni Pisano

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Für meinen Vater Karl Georg Panian

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des
auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

© Wörterseh Verlag, Gockhausen

Wörterseh Bestseller als Filmausgabe

Die Originalausgabe erschien 2013

Lektorat: Andrea Leuthold, Zürich

ISBN 978-3-03763-303-8 (Filmausgabe)

www.woerterseh.ch

»Die Angst vor dem Tod hält uns nicht
vom Sterben ab, sondern vom Leben.«

(Anonymus)

Inhalt

Über das Buch »Zu Ende denken«

Über die Autorin Rebecca Panian

Über die Autorin Elena Ibello

Über den Fotografen Gianni Pisano

Wie es zum Film kam

Wie es zum Buch kam

Thomas Niessl

Am Ende nochmals richtig gut leben

Rosmarie Zapfl

So versuche ich, das »Liebeskonto« bis an mein Ende weiter aufzufüllen

Adrian Naef

Was will das Leben von mir?

Dominique Fonjallaz

Zu Ende denken heißt gehen lassen

Kurt Aeschbacher

Das Leben ist ein zeitliches Geschenk

Roland Kunz

Wir haben verlernt, etwas geschehen zu lassen

Margrit Stebler-Schweri

Wenn ich nicht mehr lachen kann, dann sterbe ich

Felix Schenker

Ich lebe jeden Tag, als wäre kein Ende in Sicht

Candy Heberlein

Wir wissen nichts, basta!

Gilles Tschudi

Vielleicht sind wir tot, glauben aber zu leben

Michael Thali

Schön wäre natürlich, wenn der Zeitpunkt passen würde

Christoph Schürch

Leben ist ein Privileg

Jürg C. Streuli

Das Ende zu einem Anfang werden lassen

Catherine Bass

Das Leben zu Ende denken (I & II)

Peter Schneider

Hic requiesco in pace a laboribus meis

Saskia Frei

»Das ganze Leben musst du sterben lernen«

Malin Ackermann

Ich habe jetzt einen Sternenbruder

Kerstin Birkeland Ackermann

Mitten auf »Planet Onko«

Thomas Unteregger

Das Leben aufsaugen

Ruth Baumann-Hölzle

Das Leben vom Ende her denken

Ulrich Bosshard

Sterben macht sprachlos

Rita Holzer

Antonio

Sara Pöhler-Häusermann

Das Sterben kennt keine Regeln

Pedro Lenz

Wie geht es der Welt ohne mich, und wie geht es mir ohne die Welt?

Katharina Hoby-Peter

»Und der Wolf wird beim Lamm weilen«

Ralph Kunz

Angst! Es sei denn, es gäbe einen Jemand, der oder die mich nicht vergisst

Boris Müller-Hübenthal

Seinen eigenen Weg finden

Manuela Barmettler

Lieber Thomas

Franz Hohler

Signal

Christine Kaderli-Schweitzer

Ich wünsche mir, dass ich auch diese Gelassenheit haben werde

Settimio Monteverde

Das Ende denken und das Ende leben

Karin Koch Sager

Ich versuche, täglich so zu leben, dass ich dem Tod in die Augen schauen kann

Andreas Thiel

Don Serapio

Gaston Wolf

Für mich ist der Tod lediglich ein weiterer Schritt zu neuen Erkenntnissen

Evi Ketterer

Zu Ende denken – geht das überhaupt?

Ernst Sieber

Der Tod ist nicht das Letztgültige

Nik Hartmann

Ich erinnere mich lieber, als dass ich zu Ende denke

Marianne Pletscher

Ich bin bereit, zu leben und zu sterben

Myrtha Zürcher

Der Angst will ich mit Liebe, Demut und Lebensmut begegnen

Romuald Schaniel

Der Tod ist die Vollendung des Lebens

Dimitri

Aus der Trauer einen Edelstein machen

Steven Mack

Den Tod gibt es nicht

Gottfried Honegger

Schon 34 699 Tage gelebt

Benno-Maria Kehl

»Ein schönes Sterben ehrt das ganze Leben«

Ilona Schmidt

Ich weiß nicht, wie das Sterben sein wird

Andrea Zogg

Eine Reise in der Zeit

Anne-Marie Müller

Wiegenlieder üben allabendlich das Loslassen

Daniele Muscionico

Wie geht man ab? Und wohin?

Thierry Carrel

Der Tod bleibt für mich eine der wichtigsten Aufgaben

Nachwort

Buchtipp

Wie es zum Film kam

Durch den Tod meines Vaters und das Miterleben seiner fünfjährigen Krankheit habe ich gelernt, dass es unsinnig ist, den Tod zu verdrängen. Er kommt, ob wir wollen oder nicht. Vor allem aber habe ich in jener Zeit begriffen, dass mein Leben intensiver und reicher wird, wenn ich den Tod willkommen heiße in meinem Leben. Das mag paradox klingen. Doch ich bin davon überzeugt, dass unser »normales« Verhalten, das Verdrängen des Todes, uns nicht mehr Lebensqualität bringt, wie wir gern annehmen, sondern dass genau das Gegenteil passiert.

So entstand die Idee, einen Film zu diesem Thema zu machen. Als ich mich mit Elena Ibello zusammensetzte, um am Konzept zu arbeiten, kamen wir schnell überein, dass es uns interessieren würde, zu erfahren, wie ganz verschiedene Menschen unterschiedlichen Alters und mit ungleichen Hintergründen über das Leben und das Sterben denken. Da uns klar war, dass wir im geplanten Film nicht sehr viele Menschen zu Wort kommen lassen könnten, wollten wir auch ein Buch zum Film machen. Als wir unsere Kandidaten gefunden hatten – schneller als gedacht! –, beschlossen wir, sie sowohl um einen Text für das Buch zu bitten als auch um ein Interview vor der Kamera. Damit hatten wir ein Element geschaffen, das beide Medien verbindet.

Obwohl wir eigentlich Buch und Film zeitgleich veröffentlichen wollten, dauerten die Filmarbeiten deutlich länger als das Verfassen des Buches »Zu Ende denken«. Trotzdem entschloss sich die Verlegerin Gabriella Baumann-von Arx, die Texte, die Elena und ich ihr geliefert hatten, nicht zurückzuhalten, sondern das Buch auch ohne Film zu publizieren. Dass der Verlag zum Kinostart eine Spezialausgabe herausgibt, freut uns sehr, auch weil Tom, der Hauptprotagonist des Films, der viel später zum Projekt dazugestoßen ist, in der Neuauflage auch noch zu Wort kommen kann und wir mittels der jetzt noch eingefügten QR-Codes quasi das erste sprechende Buch haben.

Die Struktur des Films stand schon früh fest. Dazu gehörte die Begleitung eines Menschen, der weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Für mich war klar, dass ich nicht direkt auf Betroffene zugehen wollte, sondern sie über eine Vertrauensperson erreichen musste. Nach einem Gespräch mit Andreas Weber, Palliativmediziner im Zürcher Oberland, erhielt ich bald einen Namen: Thomas Niessl. Tom, meinte er, könnte für das Projekt passen und sei interessiert. Ich rief Tom sofort an, wir verabredeten uns zum Kaffee und verstanden uns auf Anhieb.

Schon ein paar Tage später drehte ich zum ersten Mal mit ihm – im Spital. Unter anderem stammen die Anfangsbilder von »Zu Ende leben« von diesem ersten Drehtag. Es gab nie Meinungsverschiedenheiten, nie Zweifel von Toms Seite. Er hat mir vertraut und ich ihm. Toms Mutter und seine beiden Geschwister waren mir gegenüber zu Beginn etwas misstrauisch, was ich gut verstand; es dauerte aber nicht lange, bis sie mich akzeptierten und, mehr noch, mich in die Familie integrierten. Ein wunderbares Gefühl, für das ich Toms Familie an dieser Stelle nochmals von Herzen danken möchte.

Zu Beginn der Dreharbeiten hatte ich Tom gefragt, ob er noch letzte Wünsche habe, ob es Dinge gebe, die er unbedingt noch erleben wolle. Er meinte, dass er sehr gern einmal die Nordlichter sehen möchte. Mein Produzent Rudolf Isler setzte daraufhin alles daran, dass wir Toms Wunsch erfüllen konnten, und organisierte eine Reise nach Finnland. Die Tage im hohen Norden gehören zu den vielen unvergesslichen Momenten während unserer Dreharbeiten. Irgendwann realisierte ich, dass der Film für mich kein Projekt, sondern zu einem Stück Leben geworden war – dafür möchte ich Tom danken.

Der Film feierte im Oktober 2014 anlässlich des 10. Zurich Film Festival Premiere und gewann zur großen Überraschung und Freude des ganzen Teams den Publikumspreis. Das Feedback, das ich später erhielt, hat mich unglaublich berührt und mich darin bestärkt, dass es ein richtiger und guter Entscheid war, mich dieser Herausforderung zu stellen.

In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen Franz Hohler nicht vorenthalten, der in seinem Interview im Film sagt, dass er sich jeweils Folgendes fragt, wenn er vor einer Entscheidung steht: »Was würdest du tun, wenn du nur noch ein Jahr zu leben hättest?«

Ich weiß es jetzt definitiv – ich würde einen Film drehen.

Rebecca Panian

Im Februar 2015

Wie es zum Buch kam

August 2006. Ich glaube es war ein Sonntag. Ich befinde mich in meiner Wohnung in Köln, in der ich seit etwa einem Jahr wohne, bin glücklich und zufrieden und stolz, dass ich in dieser Medienstadt einen Job gefunden und mir ein Leben aufgebaut habe. Ich schmiede Pläne und bin dabei, mich für eine Filmhochschule zu bewerben. Alles gut. Alles läuft. Dann klingelt das Telefon. Die Handynummer meiner Mutter leuchtet auf dem Display. Sonst zögere ich nie, bevor ich einen Anruf von ihr entgegennehme. Diesmal schon. Ich weiß, dass meine Mutter mir das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung mitteilen will, die bei meinem Vater wegen seltsamer Rückenschmerzen durchgeführt wurde. Erst nach langem Zögern und vielen schmerzhaften Gängen zum Physiotherapeuten ist er endlich zum Arzt gegangen. Widerwillig. Ich starre das Handy an. Was, wenn nicht nur ein eingeklemmter Nerv diagnostiziert wurde? Was, wenn …? Ich nehme den Anruf entgegen.

Zu meiner Überraschung meldet sich nicht meine Mutter, sondern mein Vater. Mir ist schlagartig klar, dass das nichts Gutes bedeutet. Ich frage, was los ist – ohne Umschweife. Er antwortet ebenfalls geradeheraus: »Es ist Krebs.« Diese drei Worte hallen in meinen Ohren. Bis heute. Ich sacke zusammen, beginne zu weinen. Verliere den Boden unter den Füßen. Das kann nicht sein, denke ich. Nicht er! Warum er? Wie weiter? Ratlosigkeit auf beiden Seiten. Wir schweigen. Dann seine Frage: »Chonsch weder hei?« Ich antworte nicht. Ich kann nicht. Wir legen auf.

Meine Gedanken überschlagen sich. Was soll ich jetzt tun? Wie geht mein Leben weiter? Wie geht es meiner Mutter? Und wie wird mein Vater diese Krankheit, dieses Schicksal hinnehmen? So kurz nach der Pensionierung. Er war nie krank. Nie. Es ist unfair. Es ändert alles. Ohne zu fragen. Alles anders. Mit einem Anruf.

An diesem Tag habe ich angefangen, zu Ende zu denken. Für mich, für meine Mutter, für meinen Vater.

Ich zog wieder in die Schweiz, ließ mein »neues« Leben hinter mir.

Es war schwierig für meine Mutter und mich. Dieser immer gesunde Mann – plötzlich todkrank. Unfassbar. Die Ärzte gaben ihm noch ungefähr sechs Monate. Aber – mein Vater lebte ein Jahr, dann ein zweites, ein drittes und ein viertes, und das bei guter Lebensqualität. Er bewältigte alle Therapien, beklagte sich nie, oder fast nie. Er arbeitete im Garten, pflegte das Haus. Baute eine neue Küche ein, verlegte einen neuen Plattenboden und ließ eine neue Heizung einbauen. Es war, als ob er noch ein Pflichtenheft abarbeiten, uns unter allen Umständen noch ein gutes Heim hinterlassen wollte, bevor er gehen musste.

Als alle Arbeiten erledigt waren, ging es gesundheitlich bergab. Schnell und schneller. Er wurde immer dünner. Immer häufiger musste er sich hinlegen. Die kleinste Anstrengung kostete ihn unendlich viel Kraft.

Mein Vater starb in der Nacht auf den 26. November 2011. Zu Hause in seinem Bett.

In den Stunden vor seinem Tod waren meine Mutter und ich bei ihm, redeten mit ihm, sagten ihm, dass wir ihn lieben, ihm dankbar sind für alles. Irgendwann schlief meine Mutter neben ihm ein. Ich legte mich vor ihrem Schlafzimmer ebenfalls hin, auf eine Luftmatratze. Aber ich konnte nicht schlafen. Ich verfolgte jeden Atemzug meines Vaters. Immer in der Angst, es würde keinen nächsten geben, obwohl ich wusste, dass es das Beste für ihn wäre, wenn es keinen mehr gäbe. Nicht mehr leiden. Endlich Ruhe. Keine Schmerzen mehr. All das wünschte ich ihm von Herzen. Irgendwann dachte ich, dass er vielleicht erst gehen könne, wenn auch ich einschlief. Kurz nach diesem Gedanken musste ich eingenickt sein. Denn als ich, mitten in der Nacht, aufwachte, war es still. Das Atmen war weg. Er war weg.

Im Leben müssen wir vieles einfach hinnehmen. Aber – wir haben die Wahl, wie wir das tun. Wir können uns aufbäumen und wild wütend schreien, dass es unfair ist, das Leben. Dass wir das Schicksal oder den Schicksalsschlag so nicht akzeptieren. Wir können im Widerstand verharren. Oder wir können versuchen, die Geschehnisse anzunehmen und das Beste aus der Situation zu machen. Ich habe mich für Letzteres entschieden.

Durch meine Geschichte begann ich, immer öfter mit anderen Menschen über das Lebensende zu sprechen, und ich merkte, wie sehr der Tod, unser unausweichliches Ende, noch immer (oder erneut?) verdrängt wird. Für mich unverständlich.

So entstand die Idee zu Buch und Film, die mit der Hilfe meiner Freundin Elena Ibello und dem Vertrauen der Verlegerin Gabriella Baumann-von Arx immer mehr zur Realität wurde. Danke.

Rebecca Panian

Im Frühling 2013

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Thomas Niessl

Am Ende nochmals richtig gut leben

Am 11. August 2011 wurde bei mir ein Gehirntumor diagnostiziert. Voraussichtliche Lebenserwartung: zwei bis sechs Jahre. Drei Monate zuvor dachte ich, ich hätte Depressionen. Ich glaubte, die Veranlagung dazu von meinem Vater geerbt zu haben. Darum ging ich zu jenem Zeitpunkt auch nicht zum Arzt, obwohl es mir wirklich nicht gut ging. Als die körperlichen Beschwerden zunahmen – ich musste mich oft übergeben, hatte Lähmungserscheinungen im Bein und starke Kopfschmerzen –, meldete ich mich dann doch bei meinem Arzt, der ein MRI veranlasste. Danach war klar, dass in meinem Kopf ein mandarinengroßer Tumor gewachsen war und ich sofort operiert werden musste. Der Arzt sagte, die gute Nachricht sei, dass der Tumor relativ einfach zu entfernen sei und dass ich das Spital nach der Operation beschwerdefrei wieder verlassen könne. Die schlechte Nachricht war, dass es sich um ein Glioblastom handelte, den bösartigsten aller Hirntumoren. Der Tumor, so erfuhr ich, würde immer wieder nachwachsen, und wie oft man ihn wegoperieren könne, stehe im den Sternen. Es war eigenartig, aber diese Nachricht beunruhigte mich damals überhaupt nicht. Vielleicht ist das mein Glück im Unglück. – Solches hatte ich in meinem Leben schon öfter.

Viele Jahre lang war ich Unternehmer in der Fahrradbranche, war Inhaber eines Bikeshops. Ich arbeitete viel und lange Zeit auch gern. Aber in den letzten fünf Jahren meiner Tätigkeit machte mir die Arbeit keine Freude mehr. Das Geschäftsleben wurde enorm anstrengend für mich, da ich es immer allen recht machen wollte. Wenn einer von hundert Kunden unzufrieden war, belastete mich das sehr. Deshalb war – und das mag jetzt eigenartig klingen – die Diagnose für mich eine Erlösung, denn ich wusste, dass ich nun nicht mehr arbeiten musste. Ich begann zu leben. Dank meinen Ersparnissen und einer IV-Rente hatte ich keine finanziellen Probleme, und es ging mir sehr rasch sehr viel besser. Das hatte sicher damit zu tun, dass der Tumor nun erst mal weg war, aber ich musste mir nun auch keine geschäftlichen Sorgen mehr machen und mich nicht mehr über Kleinigkeiten aufregen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb ich trotz meiner unheilbaren Krankheit kaum niedergeschlagen bin. Die einzigen Male, bei denen ich weinen musste, waren die Momente, in denen ich mich in meine Angehörigen hineinversetzt habe.

Dass ich krank wurde, erstaunt mich rückblickend nicht. Für die Schulmediziner hat man einfach Pech, wenn man einen Tumor im Kopf bekommt. Für mich ist aber klar, dass man krank wird, wenn man sich auf das Schlechte konzentriert und nicht zu sich selber schaut. Und genau das habe ich mir bis zum Zeitpunkt der Diagnose angetan. Durch sie hat sich das geändert, und das ist gut so.

Im August 2013 bekam ich eine Anfrage von Rebecca Panian, ob sie einen Film über mein Leben drehen dürfe. Sie hatte sich bei meinem Palliativarzt nach jemandem erkundigt, der mit seinem Schicksal gut zurechtkommt. Ich war sofort einverstanden, denn dass die Menschen auf mich zukommen, um sich nach meiner Krankheit zu erkundigen, finde ich schön. Mir geht niemand aus dem Weg, nur weil ich krank bin. Im Gegenteil! Vielleicht liegt es auch daran, dass ich gut darüber reden kann. Deshalb fand ich es auch eine schöne Idee, bei diesem Film mitzumachen. Meine Mutter wollte nicht vor die Kamera, sie hatte Angst, dass während der Filmerei heftige Emotionen hochkommen könnten. Aber genau das macht ja den Film so stark. Ich sagte zu ihr: »Du bist die zweitwichtigste Person in meiner Geschichte! Ohne dich gibt es diesen Film nicht.« Schließlich sagte sie Ja, und sie hat es keine Sekunde bereut.

Es war wirklich eine große Freude, bei diesem Projekt mitzumachen. Kein einziges Mal fühlte ich mich von Rebecca gestört, wenn sie mit der Kamera auftauchte. Der Film lief am Zurich Film Festival, und das sehr erfolgreich – er hat den Publikumspreis gewonnen. Die Besucher wollten am Schluss nicht aufhören zu klatschen. Ein unvergessliches Erlebnis. Ich habe den Film inzwischen viermal gesehen, und er berührt mich immer noch. Auch meine Familie und meine Freunde sind begeistert. Sie alle haben geweint und gelacht, als sie ihn schauten. Es ist eigenartig, mich darin zu sehen. Die Geschichte kommt mir so fremd vor – als wäre das nicht ich.

Nun, da dieses Projekt für mich vorüber ist, gestalten sich meine Tage wieder ruhiger. Ich kann ja nach wie vor nicht viel arbeiten und will das auch gar nicht. Ab und zu repariere ich im Keller ein Mofa; meine neue große Faszination aber ist das Pingpong! Ich spiele sehr oft mit meinem Göttibuben, meinem Bruder und meinem Neffen. Das ist immer toll.