Cover

Frl. Krise

Ghetto-Oma

Ein Leben mit dem Rücken zur Tafel

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Frl. Krise

Frl. Krise wurde 1948 am Niederrhein geboren, ihre Eltern waren Lehrer. Nach dem Studium, Biologie und Kunst, wurde sie 1973 Referendarin an einer Gesamtschule in Hessen und blieb dort zwanzig Jahre lang. Seit 2001 unterrichtet sie an einer sogenannten Brennpunktschule. Sie hat zwei Töchter mit einem Lehrer und ist jetzt mit einem Nicht-Lehrer liiert.

Über dieses Buch

«Och, Frl. Krise, wir haben uns schon voll an Ihnen gewöhnt!»

 

«Gerade ist eine meiner Kolleginnen mit Burnout-Syndrom frühpensioniert worden – früher kannten wir den Begriff noch nicht, ihre Krankheit hieß schlicht Siekannsichnichtdurchsetzen.»

Seit fast vierzig Jahren unterrichtet Frl. Krise inzwischen. Täglich erlebt sie dabei komische, aber auch anrührende Situationen mit ihren Schülern, die sie hier mit Herz und Seele beschreibt. Darüber hinaus wirft sie einen amüsanten Blick in die Vergangenheit: Wann schlich sich das erste Kopftuch ins Klassenzimmer, wann störte das Tamagotchi plötzlich den Unterricht, und ab wann waren die Lehrer auf einmal pünktlicher als die Schüler?

Unglaubliche Schulgeschichten – scharf beobachtet und pointiert erzählt.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München

(Foto: FinePic®, München; Superstock/Getty Images)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-62998-3 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-47731-5

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-47731-5

Fußnoten

1

Apokalypse bedeutet: Enthüllung, Zeitenwende, Gottesgericht

Achtes Schuljahr: Wann gibt’s endlich Sommerferien?

Ömür

Es ist mörderisch heiß. Ich habe Hofaufsicht in der langen Mittagspause und schleiche lustlos am Schultor herum. Auf der Nase klebt meine fette Sonnenbrille. Warum haben wir eigentlich nicht hitzefrei? Dann könnte ich wenigstens mal gemütlich den Kunstraum aufräumen. Frau Freitag, meine Freundin, die Lehrerin in einem anderen Stadtbezirk ist, hatte natürlich schon gestern früher aus und heute garantiert auch, denn deren Schulleitung ist viel generöser! Ich seufze.

Ömür schlendert herbei. Er ist klein und dick und ein Problemkind.

«Huh, Frl. Krise!», sagt er. «Coole Sonnenbrille. Versace!»

«Hmm», sage ich. Dass die Jugendlichen immer so auf Markenartikel stehen!

«Heiß, wa?» Ömur sucht einen Gesprächsanknüpfungspunkt.

«Hmmm.» Mir ist zu heiß zum Reden.

«Kriegen wir heute hitzefrei?» Ömür ist hartnäckig. Er schlürft laut an seiner Limo.

«Ömür, woher soll ich das wissen? Nein, bestimmt nicht.» Zu trinken habe ich auch nichts.

«Wieso nicht?» Er sieht mich mit großen Augen an.

«Keine Ahnung!» Wie lange geht denn diese Pause noch?

«Sind Sie schlecht gelaunt, Frl. Krise?» Ömür lässt ein Bonbonpapier auf den Boden segeln.

«Ja! Nein …! Heb das Papier auf, Ömür!»

«Frl. Krise?»

«Ja?» Was denn noch?

«Fällt Ihnen was auf?»

« ?????????»

Ömür breitet die Arme auseinander und dreht sich vor mir einmal um die eigene Achse.

Ich mustere ihn eingehend. Klein, dick, wie immer! Weißes T-Shirt, graue Bermudas.

«Warst du beim Friseur?»

«Nein! Frl. Krise!!!»

Er dreht sich noch einmal herum.

«Echt, Ömür, ich weiß nicht, was du meinst!»

«Frl. Krise! Ich habe keine Jacke an!» Er strahlt.

«Ja, Mensch, Ömur! Stimmt! Wie konnte ich das übersehen! Super!» Seit zwei Jahren sehe ich ihn zum ersten Mal ohne seine blaue Kapuzenjacke.

«Ja, wa? Ich habe drei Kilo abgenommen!» Er klopft sich stolz auf den Bauch.

Ich bin ganz gerührt. Wie süß! Und ich Trottel habe nichts gemerkt. Und dass er zu mir kommt, um mir das zu erzählen! Es gibt doch auch schöne Momente im Lehrerdasein.

Da klingelt es.

Ömür dreht sich um und saust davon, seine Getränkedose wirft er in hohem Bogen in die Büsche!

Oh, mein Gott!

Meine Kollegin Frau Herz sagt immer: «Was wir jeden Tag erleben dürfen! Dafür müssen andere bezahlen.»

Kunstunterricht. Freitagmorgen. Achter Jahrgang, meine Klasse. Es sind nur zwölf Schüler da, die anderen besuchen heute irgendein Projekt. Herrlich. Es ist friedlich und ruhig, die Schüler zeichnen mit Tusche leise vor sich hin – ein kleines Bild, auf dem Streichhölzer eine Rolle spielen.

Wir quatschen ein bisschen, doch nach einer halben Stunde beginne ich mich unterbeschäftigt zu fühlen. Es ist fast zu ruhig, so etwas bin nicht gewohnt, ja, mir wird direkt langweilig, und ich beginne mit den Hufen zu scharren. Ich könnte nebenbei aufräumen, ein Kunstsaal ist ja ein Ort des ständigen Kampfes gegen die Verwahrlosung. Aber dann fällt mir ein, dass ich die Akte von Nesrin noch in meiner Schultasche habe. Huch, die hätte ich schon gestern ins Sekretariat zurückbringen müssen!

«Wenn ich jetzt mal ganz kurz was ins Sekretariat bringe, dann bricht hier doch kein Chaos aus, oder?», frage ich rhetorisch.

«Nö, gehen Sie ruhig Seki, Frl. Krise», sagt Mustafa und lächelt mich an.

«Okay! Bin gleich zurück!» Ich schnappe mir die Akte und tänzele vier Stockwerke runter zum «Seki». Akte in den Aktenschrank, noch schnell eine Minikonversation mit unserer Sekretärin (so viel Zeit muss sein) und wieder rauf. Das riecht aber komisch, denke ich im zweiten Stock, irgendwie … verkokelt … nach Brand oder so?!

Die Streichhölzer! Auf meinem Platz lagen noch ein paar Päckchen. Mist! Ich beschleunige, so gut ich kann (die Treppe, die Treppe!), und brettere um die Ecke in den Kunstsaal.

Der Kunstsaal ist riesig, eine ehemalige Aula. Ganz hinten sehe ich Gülten, die hektisch versucht, ein Feuerchen auf ihrem Tisch zu löschen, indem sie es in Zeitungspapier einpackt.

Spinnt die?

Ich gebe richtig Gas, und als sie mich sieht, schmeißt sie das halb brennende Päckchen in den nächsten großen knallvollen Papierkorb.

Mit einem Handballersatz bin ich auch schon am Papierkorb und greife nach dem Päckchen, das jetzt richtig doll brennt. Wie eine Fackel! Aua, Schmerz, wohin damit?

Vor meinen Füßen liegt Gültens Schultasche, na ja, es ist mehr eine Handtasche, hellblaues Krokoimitat. Weit geöffnet liegt sie da, nur ein paar Kosmetikartikel bedecken den Boden der Tasche, mit Schulsachen belastet sich die Dame offensichtlich nicht.

Mit einem Aufschrei werfe ich die Fackel in die Tasche.

Uff!

Jetzt schreit Gülten: «Oh, mein Gott! Oh, mein Gott, oh, mein Gott!»

Aber kein Gott erscheint, bloß Emre springt auf, schnappt sich die Tasche und befördert ihren ganzen Inhalt plus Feuerchen ins Waschbecken.

«Oh, mein Gott, Frl. Krise, was haben Sie gemacht? Oh, mein Gott, meine Tasche!» Gülten kriegt sich gar nicht mehr ein.

Nach einer kurzen, aber knackigen Strafpredigt räume ich mit Getöse einen Schrank auf. Ehrlich gesagt habe ich auch ein schlechtes Gewissen, weil ich ja aus der Klasse rausgegangen bin. Ich muss mich bewegen, denke ich, das Adrenalin muss abgebaut werden, eines Tages bekomm ich hier noch einen Herzschlag! Gleichzeitig muss ich ein Gelächter unterdrücken. Feuer in der Handtasche! Und wie Gülten mich angeguckt hat!

Es ist mucksmäuschenstill.

«Frl. Krise, Sie sind aber …» Ömür grinst, dann schweigt er.

«Was meinst du, Ömür?»

«Ach, nichts!»

Es klingelt. Alle räumen wie der Blitz auf, legen ihre Bilder auf meinen Tisch und stürmen nach draußen. Nur Gülten bleibt da. Langsam legt sie ihr Bild auf den Tisch. Ich schaue sie nicht an, Strafe muss sein.

«Tschüüüüs, Frl. Krise, schönen Tag noch», sagt sie leise und tippt zart mit dem Zeigefinger auf meinen Arm.

Zwölf Stunden in zwölf Klassen

Der stellvertretende Schulleiter der Gesamtschule-Süd war begeistert. Vielleicht nicht direkt von mir – er kannte mich ja noch nicht –, aber von meinen Fächern.

«Kunst! Ah! Sie unterrichten Kunst!», sagte er und rieb sich die Hände. «Sehr schön!»

Die Schule, die im Zentrum einer mittelgroßen Stadt in Hessen lag, hätte, wie ich erfuhr, zurzeit nur einen einzigen Kunstlehrer, der in der gymnasialen Oberstufe eingesetzt sei. «Sie hat uns der Himmel geschickt, Frl. Krise! Und das ist ab heute Ihr Zeichen.» Er zeigte mir ein daumennagelgroßes weißgrundiges Plättchen mit einem braunen Gitter darauf, danach trat er an den wandgroßen Stundenplan. Alle Unterrichtsstunden wurden da durch solche Plättchen angezeigt, jeder Lehrer hatte ein anderes.

«Zwölf Stunden müssen Sie als Referendarin unterrichten», überlegte er laut. «Das heißt, Sie können gut und gerne in zwölf Klassen jeweils eine Stunde Kunst geben.» Und schon steckte er mit geübter Hand die Gitterplättchen in zwölf Klassen.

«Aber …», stammelte ich. «Nein … Nur Kunst, das geht nicht. Ich habe doch auch noch Biologie!»

«Später», sagte der stellvertretende Schulleiter und rückte meine Stundensymbole schön gerade. «Später, Frl. Krise.»

Wir schrieben das Jahr 1973, ich war fünfundzwanzig Jahre alt, seit einer Woche Referendarin, voller Tatendrang und pädagogisch völlig unbedarft. Aber ich glaubte zu wissen, was ich erreichen wollte: Ich war bereit, meine Schüler – so wie ich es im Studium gelernt hatte – zu kritikfähigen und selbstbestimmten Menschen zu erziehen. Dabei würde ich auf keinen Fall autoritär mit ihnen umgehen.

Autoritär! Das Schreckenswort jener Zeit. Ein moderner Lehrer durfte alles Mögliche sein, aber niemals und unter keinen Umständen autoritär. (Ich ahnte damals nicht, dass es für mich in den nächsten Monaten hauptsächlich darum gehen würde, mich auf kleine Inseln meiner eigenen Selbstbestimmung zu retten.)

Unsere Professoren an der Uni hatten uns versichert, dass Kinder freiwillig, freudig und selbständig arbeiten, wenn man auf ihre Bedürfnisse eingeht und Kritik zulässt. Komischerweise schienen aber meine Schüler, auf die ich wenige Tage später stieß, bisher nichts von zeitgemäßer Erziehung gehört zu haben. Ihnen war es egal, dass ich jung und modern war und spannende neue Methoden einführen wollte. Sie nutzten vom ersten Moment an meine Unerfahrenheit gnadenlos aus, um im Unterricht herumzurennen, zu schreien, sich mit Wasser zu bespritzen, Farbe zu verkleckern, freche Widerworte zu geben und nicht aufzuräumen. Ich verzweifelte langsam. Was waren das nur für Kinder?

Bei meinen autoritären Kollegen schienen die Stunden ganz anders abzulaufen. Ich wusste zwar nicht genau, wie, aber aus ihren Räumen hörte ich, wenn ich hinter entflohenen Schülern durch die Flure fegte, kaum einen Laut.

Frau Horn zog in der Pause gelassen an ihrer Ernte 23 – damals rauchten noch fast alle Kollegen, und zwar im Lehrerzimmer – und sagte Sätze wie: «Frl. Krise, am Anfang die Zügel anziehen! Locker lassen können Sie sie immer noch!» Das leuchtete mir irgendwie ein, obwohl … Durfte man Kinder mit Pferden vergleichen? Erziehung mit Dressur? War das nicht diese verpönte Schwarze Pädagogik, die hauptsächlich mit Repressalien arbeitete? Was sollte das überhaupt heißen: Zügel anziehen? Welche Zügel? Und vor allem: wie?

Bei Frau Horn, einer resoluten älteren Lehrerin, traute sich jedenfalls kein Schüler, im Hochparterre aus dem Fenster zu klettern oder sie mit Gummiband und Büroklammern zu beschießen. Ich hätte zu gern gewusst, wie sie das machte …

Vielleicht, so dachte ich, hat sie diese natürliche Autorität, von der man in der Fachliteratur gelegentlich las. Vielleicht war ich für diesen Beruf einfach nicht geeignet und hätte lieber Bibliothekarin oder Restauratorin werden sollen. Bücher und Bilder … ach, schon nach wenigen Wochen sehnte ich mich nach Objekten, die nicht widersprachen.

Die wöchentlichen Sitzungen im Studienseminar, die uns Anfängern das schulpraktische Rüstzeug vermitteln sollten, erleuchteten mich auch nicht. Unsere Ausbilder pochten darauf, dass es in der Klasse absolut ruhig sein sollte, bevor man anfing zu sprechen (da konnte ich gleich zu Hause bleiben). Sie waren der Ansicht, dass Schüler im Unterricht nicht herumlaufen sollten (wo blieb das Bedürfnis des Kindes nach Bewegung?), und sie legten großen Wert darauf, dass gearbeitet werden sollte (das machte doch keiner bei mir!).

Die anderen Referendare waren im Großen und Ganzen ebenso mit den Nerven zu Fuß und klagten über die ungezogenen Kinder und viele fachliche Schwierigkeiten. Aber niemand arbeitete wie ich in zwölf Klassen. Das fiel nach zwei Monaten endlich auch meinen Ausbildern auf. Inzwischen weinte ich mich abends in den Schlaf und züchtete eine Schulphobie heran.

Nach einem Gespräch mit der Schulleitung kam die große Wende. Eine meiner Kolleginnen mit Burnout-Syndrom (den Begriff kannten wir damals noch nicht – ihre Krankheit hieß «Siekannsichnichtdurchsetzen») war frühpensioniert worden. Ich könnte doch ihre Klasse übernehmen, hieß es auf einmal. Eine reizende sechste Klasse! Diese Idee entwickelte mein Schulleiter. «Dann können Sie endlich mal Biologie unterrichten, zwei Stunden», lockte er mich. «Allerdings, Frl. Krise, trauen Sie sich zu, Deutsch zu geben?»

Ich nickte heftig. Deutsch! Das konnte doch jeder.

Ich hätte auch Hindi und Atomphysik unterrichtet, sogar gleichzeitig, nur um die vielen Klassen loszuwerden. Ich konnte die dreihundert Kinder, mit denen ich zu tun hatte, immer noch nicht unterscheiden, geschweige denn mir ihre Namen merken.

Zwei Stunden Bio, zwei Kunst, drei Deutsch in der neuen Klasse – das sind sieben Stunden, rechnete ich. Blieben nur zwei, höchstens drei andere Lerngruppen übrig.

Ich war gerettet.

So tickt Schule

Gleich wird es zur ersten Stunde klingeln. Nesrin aus meiner Klasse steht vor dem Lehrerzimmer und wartet auf mich.

«Frl. Krise, ich hab die abgeholt von Sekretariat, wie versprochen. Die neue Schülerin für unsere Klasse.» Nesrin ist ganz aufgeregt und zeigt auf das Mädchen, das neben ihr steht.

Die Neue! Gestern hatte mir Herr Fischer, unser Schulleiter, angekündigt, dass wir Zuwachs bekommen.

«Necla heißt sie! Spricht tipptopp Deutsch! Wäre allerdings jetzt sitzengeblieben im Gymnasium. Ist aus Bonn. Umzug.» Mein Chef liebt es, so abgehackt zu sprechen. Ich glaube, er ist der Meinung, das klingt besonders wichtig.

«Herzlich willkommen! Ich bin Frl. Krise, deine Klassenlehrerin», sage ich und denke: Sie könnte fast Nesrins Schwester sein – lange schwarze Haare, große braune Augen, hautenge Klamotten und ein bisschen viel Make-up. Sie passt gut zu den Schülerinnen unserer achten Klasse.

«Du heißt Necla, stimmt’s?»

Die Neue nickt verlegen.

Ich zeige auf die Treppe. «Na, dann lasst uns mal gleich raufgehen, bevor die anderen alle erscheinen. Unsere Klasse liegt leider ganz oben, im vierten Stock.»

«Frl. Krise, Necla ist voll Professor!» Nesrin hat sich schon bestens informiert. «Sie kommt von Gymnasiumsschule!»

«Oha, Gymmi!» Aynur, Nesrins Freundin, drängelt sich plötzlich von hinten zwischen uns. «Bist du neu? Bist du in unsere Klasse? Da bist du in mein Englischkurs!»

«Kurs?» Necla wirkt ein bisschen überfordert.

«Wir sind doch Gesamtschule», klärt Aynur sie auf. «Da sind alle Kinder zusammen, also von Hauptschule oder Realschule oder Gymnasium. Alle in eine Klasse. Aber in manche Fächer ist man in schwererem oder leichterem Kurs. Zum Beispiel in Englisch und Mathe. Die Gymmi-Kinder sind in schwererem Kurs. Bei uns sind aber fast alle in leichtem Kurs.»

«Das besprechen wir noch, Necla», sage ich. «Jetzt hast du erst mal Deutsch bei mir.»

«Wir haben fast alles bei sie», bemerkt Aynur.

Necla zuckt ein bisschen zusammen, ich hoffe, nur wegen des Grammatikfehlers.

«Bei ihr», verbessere ich automatisch.

Nesrin rollt mit den Augen und schubst Necla mit dem Ellenbogen in die Seite. «Deutsch, Bio, Kunst, Ethik und Wahlpflicht Theater haben wir bei … ihr.»

«Und wir haben noch ein Klassenlehrer! Herr Wolf! Der gibt Mathe, Chemie und Physik.»

«Zwei Klassenlehrer?» Necla schaut mich fragend an.

«Genau!», sage ich. «Und an unserer Schule unterrichten auch ganz oft zwei Lehrer zusammen.»

«Du bist türkisch, wa?», fragt Nesrin neugierig.

«Janein. Ich habe einen deutschen Pass», erklärt Necla. «Aber meine Familie kommt ursprünglich aus der Türkei. Mann, ist das hoch hier!» Sie schnauft.

«Ja, wa! Wir haben kein Aufzug.» Aynur guckt mich strafend an.

«Dafür kann ich nichts», beteuere ich, zücke meinen Schlüssel und schließe den Klassenraum auf.

«Bei uns sind nur Türken und Araber in der Klasse, außer Hanna und Jenny», berichtet Aynur. «Aber die meisten haben auch deutschen Pass.»

«In Bonn, wo ich bisher gelebt habe, gibt es auch viele Türken», erzählt Necla. «Aber nicht so viele wie hier in diesem Bezirk.»

Bestimmt hat sie ein bisschen Heimweh, denke ich.

«Hm», sagt Nesrin, die garantiert keinen Schimmer hat, wo Bonn liegt. «Du kannst dich hier hinsetzen!» Sie bietet großzügig den freien Platz neben Fuat an.

«Niemals», protestiert Aynur. «Spinnst du, Hässlichkeit? Wer will neben dem sitzen?»

«Necla sitzt neben Leila.» Ich entscheide. «Da am Fenster! Und dann schreibst du dir am besten gleich den Stundenplan ab.»

«Bis 16 Uhr heute. Neunte Stunde!», sagt Aynur mit Grabesstimme.

«Vallah! Fast jeden Tag neunte Stunde! Voll todesschrecklich!», echot Nesrin.

«Jetzt jagt ihr mal keine Angst ein», sage ich. Und zu Necla: «Du weißt doch, dass die Julie-Manet-Schule eine Ganztagsschule ist, oder?»

Necla nickt.

Laut und drängelnd betritt allmählich der Rest unserer Belegschaft die Klasse: Emre, Gamze, Ali, Jenny, Azzize, Merve, Hassan, Leila, Ömür, Gülten, Hanna, Mariam und Erkan. Einige stürzen sich gleich auf Necla und überschütten sie mit Fragen. Necla lacht und scheint sich wohl zu fühlen.

Mustafa und Sam sind weiterhin krank, registriere ich. Turgut, Mohamed, Abdul, Rahim und Fuat kommen zu spät … wie fast immer.

Es klingelt.

«So, Kinder, dann lasst uns mal anfangen», sage ich und klappe die Tafel auf.

Seiteneinsteiger

Seiteneinsteiger – gibt es noch welche? An meiner jetzigen Schule habe ich keinen. In meinen ersten zwanzig Schuljahren war das anders. Fast in jeder Klasse der Gesamtschule-Süd gab es welche. Sie erschienen aus heiterem Himmel, oft mitten im Schuljahr. Sie waren der «Nachzug» aus der Türkei, kamen aus Gründen der «Familienzusammenführung». Es waren Kinderschicksale, von denen wir wenig wussten.

«Frl. Krise, hier ist Mohamed, der soll in Ihre Klasse. Er spricht leider kaum Deutsch.» Der Stufenleiter schob einen verschüchterten Jungen in meine Richtung.

«Hallo Mohamed», sagte ich. Der Junge senkte den Kopf und schwieg. Na toll.

Ich seufzte. «Ist er wenigstens alphabetisiert?», fragte ich.

«Ja, ja, ich glaube schon», sagte der Stufenleiter beruhigend und ließ uns stehen.

Oder: «Da ist Nimet. Sie war ein halbes Jahr in der Auffangklasse einer anderen Schule zum Deutschlernen.» Wenigstens etwas! Das bedeutete, man würde sich über das Allernötigste verständigen können.

Diese Kinder ließen uns Lehrer nicht in Begeisterungsschreie ausbrechen. Ich sage es ehrlich: Wir schleppten sie oft nur so mit. Die Klassen waren riesig, man unterrichtete allein – und kümmerte sich nebenbei, so gut es ging, um die Seiteneinsteiger. Aber es ging eben nicht besonders gut.

Manchmal gab es zwei, drei Extrastunden Deutsch für sie, während des normalen Unterrichts, versteht sich. Da fiel dann eben für sie Mathe oder Sport aus. Man vertraute darauf, dass sie sich irgendwie reinfummeln würden in den Schulbetrieb, in die deutsche Sprache, in die fremde Gesellschaft. Kinder lernen ja so schnell! Und wer weiß, ob sie in Deutschland bleiben würden! Nur nicht zu viel investieren.

Ich erinnere mich an Yussuf und Hasan aus der Türkei. Sie sprachen kein Wort Deutsch und waren in Wirklichkeit mindestens zwei, wahrscheinlich sogar drei oder vier Jahre älter als meine Schüler der achten Klasse. Solche Kinder hatten oft am ersten Januar Geburtstag, ein Hinweis darauf, dass man ihnen ein neues Geburtsdatum verpasst hatte – eine damals in der Türkei nicht unübliche Praxis. Vermutlich hatten ihre Eltern sie deutlich jünger gemacht, um ihre Einreise nach Deutschland zu ermöglichen, denn Kinder über achtzehn konnten nicht ohne weiteres nachgeholt werden. An einem Seitentisch platziert, betrachteten sie voll Verwunderung das in ihren Augen wohl ziemlich kindische Geschehen um sie herum, schrieben brav in ungelenker Schrift ihre Arbeitsblätter voll und unterhielten sich flüsternd in ihrer Muttersprache. Zum Glück waren beide außerordentlich nette, wohlerzogene junge Männer. Nach einem Jahr verließen sie die Schule. Warum? Weshalb? Ich weiß es nicht mehr. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, sie sprachen immer noch kein Deutsch – was sollte aus ihnen werden?

Vor fünfzehn Jahren habe ich Hasan zufällig wiedergesehen. Er klingelte an meiner Haustür und hielt mir die bestellten Pizzen entgegen. Wir erkannten uns sofort, er zerquetschte mir fast die Hand und freute sich. «Leben sehr schwer», antwortete er auf die Frage, wie es ihm gehe. Er habe nichts gelernt, sei Aushilfe im Geschäft eines Verwandten. Dabei müsse er eine Frau und zwei Kinder ernähren. «Kinder gehen Schule», sagte er, «sprechen gut Deutsch, besser als Baba!»

Ich entschuldigte mich bei ihm, ich hätte ihm so wenig beigebracht in dem einen Jahr, aber er winkte ab. «Schule bei dir war schöne Zeit. Sonst immer nur arbeiten!»

Ich schämte mich trotzdem.

Schönes Theater

Ich war heute so was von am Ende mit meinem pädagogischen Latein! Seit über einem halben Jahr proben wir im Wahlpflichtkurs Darstellendes Spiel an einem kleinen, unter Schmerzen selbst entwickelten Theaterstück über eine unglückliche Teenagerliebe. Wir hatten das Stück genau auf unser «Ensemble» abgestimmt, das sind dreizehn Schüler aus vier Klassen. Dreizehn! Das hätte mich gleich misstrauisch machen müssen, aber ich bin noch nicht so abergläubisch, wie man es als echter Theatermensch zu sein hat. Ich bin ja auch bloß «angelernt» und leite den Kurs aus «Neigung» – wie unser Chef zu sagen pflegt.

Anfangs konnten wir alle Rollen sehr kommod besetzen, ja, wir hatten sogar eine Souffleuse und einen Ersatzspieler.

Dann zog der erste Schauspieler aus der Stadt weg – da waren’s nur noch zwölf.

Dann ging der zweite an eine andere Schule, da waren’s nur noch elf.

Dann verliebte sich Tina real in einen kleinkriminellen Jugendlichen aus ihrer Nachbarschaft und kam in der Folge nur sporadisch in die Schule. Schließlich schwänzte sie ganz. Da waren’s nur noch zehn.

Dann fiel Nigel aus, er zog mit seinen Eltern in irgendein fremdes Land, ich glaube, England, da waren’s nur noch – richtig! – neun.

Ich strich zwei relativ große Rollen, mir tat es weh und dem Stück nicht gut.

Meine Kollegen beneideten mich um meine schrumpfende Gruppe, und ich hätte mich sicher auch gefreut, wenn es sich um einen Kunst- oder Deutschkurs gehandelt hätte. Aber wir wollten Theater spielen, und die Sache wurde langsam kritisch. Wir konnten schließlich nicht auf beliebig viele Rollen verzichten, ohne unser Stück restlos zu ruinieren. Immerhin: Tina tauchte plötzlich wieder auf, wenn auch nur selten. War sie zufällig anwesend, forderte sie vehement ihre alte Rolle zurück. Aber kaum hatten wir das Stück entsprechend umgekrempelt, verschwand Madame wieder wochenlang von der Bildfläche.

Langsam verzweifelte ich.

 

Heute waren genau sechs Schüler zur Probe da (zehn Spieler brauchen wir mindestens), vier kamen verspätet. Am 30. haben wir Aufführung. Alle kauten Kaugummi (streng verboten). Auf der Bühne herrschte ein heilloses Chaos. Niemand baute richtig auf und ab. Am 30. haben wir Aufführung. Tina, die uns mal wieder beehrte, zankte sich mit Tarik, die «Hurensöhne» flogen uns nur so um die Ohren. Ich rief schließlich ihren Vater an und ließ sie abholen. Am 30. haben wir Aufführung. Hülya konnte ihren Text nicht, und Samet ging konsequent im falschen Moment von der Bühne ab. Hinter der Bühne redeten die Gerade-nicht-Spieler so laut, dass man die Schauspieler auf der Bühne nicht mehr verstand. Mitten in einer Szene begann man sich zu streiten, darüber, ob sich am Ende alle verbeugen sollen oder zuerst nur die Hauptdarsteller – wahrlich ein Luxusproblem.

Da legte ich meinen Kopf auf den kleinen Tisch vor mir und machte vier Minuten gar nichts. Ich atmete nur ein und aus. Langsam.

«Frl. Krise, is was?», fragte Tarik nach ungefähr dreieinhalb Minuten. Die anderen hatten noch gar nichts gemerkt. Ein Teil zankte sich immer noch, und die übrigen verbeugten sich unter Lachkrämpfen.

Ich hob langsam meinen Kopf und schüttelte ihn.

Dann wurde ich manisch. Ich zerriss wie eine Verrückte den Flyer für die Vorstellung, den ich eigentlich gleich nach der Probe zum Drucken bringen wollte, und warf die Papierschnipsel dramatisch in die Luft. Dazu schrie ich: «Die Aufführung ist gestorben. Aus und vorbei! Es hat ja keinen Sinn, wenn ihr nicht wollt! Ihr könnt gehen! Geht auf den Hof! Jetzt!»

Alle wirkten leicht geschockt.

«Echt jetzt?»

«Frl. Krise?»

«Was ist los mit Sie?»

«Aber es hat doch noch nicht geklingelt!»

Ja! Es war eine Viertelstunde zu früh. Aber das war mir egal. Ich konnte nicht mehr.

Ich wollte bloß noch, dass alle gingen. Und zwar sofort. Vielleicht merkten sie dann endlich, dass es mir ernst war.

Die Schüler trotteten leicht verwirrt aus der Aula.

Den Vordruck für den Flyer habe ich übrigens noch im Computer – aber das fiel mir erst später wieder ein …

Golden Boys

Meine achte Klasse ist ein Altersheim. Wenn ich schnaufend meinen Klassenraum entere, quält sich hinter mir noch Ömür die Treppe rauf. Sein Oberkörper ist abgeknickt wie ein Taschenmesser, seine Fingerspitzen berühren fast den Boden. So, und nur so, schafft er die letzten fünfzehn der siebenundachtzig Treppenstufen. Er schmeißt sich danach breitbeinig auf seinen Stuhl und keucht wie eine alte Lok.

Dann kommen noch Fuat und Mustafa, sie nehmen’s meist sportlicher, sind aber auch ziemlich außer Puste. Immerhin haben sie noch genug Restsauerstoff, um zu lamentieren: «Mannfräulein Krise, voll ungerecht! Immer wir! Warum haben wir nicht Klassenraum im ersten Stock! Oder wenigstens Aufzug!»

Diese armen alten Menschen …

Und ihr Gedächtnis! Das lässt zu wünschen übrig, und nicht zu knapp! Egal was auch immer wir besprechen, es flutscht durch die Gehirnwindungen und wird wahrscheinlich von Fresszellen absorbiert.

«Wer hat denn heute zufällig an den Zettel für den Wandertag gedacht?», frage ich betont niederschwellig. Es handelt sich um eine simple Einverständniserklärung der Eltern, die unterschrieben zurückgegeben werden sollte.

«Hä, was für ’n Zettel?» (Jenny, extrem vergesslich)

«Frl. Krise, ich hab Zettel nicht bekommen.» (Erkan, voll verpeilt wie immer)

«Natürlich, alle haben den Zettel bekommen, Erkan, du auch. Gestern.» (Ich, milde)

«Zettel? Niemals! Wie sah der aus?» (Hanna, Hauptsache widersprechen)

«Weiß! Wer hat ihn denn nun dabei? Den Wandertagszettel!» (Ich, leicht gereizt!)

«Machen wir Wandertag? Geilomat!» (Fuat, der gestern noch auf keinen Fall mitgehen wollte! «Will nicht wandern! Mach nich so, Frl. Krise!»)

«Was’n für ’n Zettel?» (Jenny nun wieder)

Und so können wir uns stundenlang beschäftigen … Grenzt das schon an Ergotherapie?

Vielleicht bin ich auch zu streng. Vielleicht tue ich ihnen unrecht. Vielleicht liegt es daran, dass sie aufgrund ihres Alters alle so schlecht hören. Wenn ich am Ende der Stunde flöte: «Das Arbeitsblatt fertig machen. Für morgen!», prallt der Schall dieser Worte an den in den allermeisten Fällen vermutlich stark vernarbten Trommelfellen ab und kann nicht bis ins Innenohr vordringen.

Das mit den Trommelfellen wiederum liegt wahrscheinlich an den häufigen, meist schwer verlaufenden und langwierigen Infekten von Hals, Nase, Ohren. Bei alten Menschen ist es ja bekanntlicherweise mit der Immunabwehr nicht mehr so doll, deshalb erreichen meine Schüler Traumwerte, was die Anzahl der Krankheitstage angeht. Zwanzig Tage für kleine Malaisen wie Muskelkater, Augenschmerzen, Läuse, Beinbrennen, Fieber am Morgen, Mückenstiche oder Sonnenbrand zweiten Grades kommen leicht zusammen. Von den Klassikern Bauchschmerzen, Kreislauf, Kopfschmerzen und Mir-ist-Schlecht will ich gar nicht reden. Vielleicht hat die Schwerhörigkeit aber auch nur mit dem ständigen überlauten Gedudel zu tun, das aus den Kopfhörern der iPhones auf die angeschlagenen Innenohre prallt – und das seit Jahren. Sollten meine Schüler demnächst alle ein Hörgerät benötigen, ist ihnen jedenfalls der Umgang mit dem Knopf im Ohr vertraut.

Eigentlich tun sie mir leid, meine Schüler. So jung und schon so eingeschränkt. Ich will mich damit nicht abfinden. Da muss noch was zu machen sein!

Und so rufe ich Ignorantin den Jungen zu, die sich in der anschließenden Pause langsam von einer Ecke des Hofs in die andere schleppen: «Mensch, geht doch auch mal auf den kleinen Bolzplatz! Die Jungs von der 8c spielen da immer soooo schön Fußball!»

Erkan dreht sich um, verzieht schmerzhaft das Gesicht, legt die Hand in die Nähe der linken Niere und flüstert nur ein Wort: «Rücken!»

Wie schafft man das?

«Frau Schuster, könnten Sie sich vielleicht vorstellen, meine Tutorin zu werden?» Frau Schuster war nur wenig älter als ich, schon Mutter von zwei Kindern und ein etwas freudloser Charakter. Aber sie hatte Biologie als Fach. In Kunst gab es sowieso niemanden für mich – der Oberstufenkunstkollege agierte in ganz anderen Sphären.

Frau Schuster guckte mich erschrocken an und setzte ihre Teetasse mit einem kleinen Ruck ab. Wir hatten gerade große Pause, und man sah ihr an, dass sie eigentlich ihre Ruhe haben wollte.

Ausgerechnet Tutorin! Dieser unbeliebte Job! Als solche ist man Anlaufstelle für die Referendarin oder den Referendar bei allen täglichen kleinen und großen Problemen, die sich in der Schule auftun. Als Tutorin muss man sich kümmern, beraten, helfen, Mut zusprechen und trösten – eine Menge Mehrarbeit ohne Bezahlung.

«Tutorin? Nein, lieber nicht», sagte sie freundlich, aber entschlossen und öffnete eine Plastikdose mit Apfelschnitzen. «Ich habe zu viel zu tun. Wirklich, das schaffe ich nicht. Ich bin ja auch erst seit zwei Jahren an der Schule …»

Den Rest ihrer Rede habe ich vergessen. Ich weiß aber noch genau, dass ich dachte: Himmel! Zwei Jahre! So lange ist die schon Lehrerin! An dieser Schule! Unvorstellbar! Wie hat sie das bloß geschafft?

Das ist übrigens eine Frage, die mir heute oft Schüler, Eltern, Kollegen, Freunde und Fremde stellen: «Neununddreißig Jahre Schuldienst, Frl. Krise! An mehreren Schulen haben Sie unterrichtet, sich von West nach Ost quer durch die Republik gearbeitet. Und Sie gehen noch gern in die Schule? Wie haben Sie das bloß geschafft?»

Dazu kann ich nur sagen: Ich weiß es nicht.

Vermutlich deshalb, weil ich jeden Tag hingegangen bin, außer – ich war krank, natürlich. Jeden Tag hingehen, das ist schon die halbe Miete. Und dann nahm ich mir auch jeden Morgen vor, heute endlich einmal guten Unterricht zu machen. Schon bei dem Gedanken daran erwachte eine gewisse Kampfeslust in mir. Inzwischen gelingt es mir ab und an, allerdings ging das nicht von heute auf morgen. Auf jeden Fall fällt mir das Unterrichten heute viel leichter als früher.

Anscheinend lernt man Unterrichten nur durch Unterrichten …

Liebe Referendare, die ersten zehn Jahre sind hart, aber dann wird’s langsam besser. Stellt euch gleich drauf ein!

Nicht gleich sterben

Merve kommt in der Fünf-Minuten-Pause zwischen zwei Stunden an mein Pult. Ich nutze gerade die kurze Zeit, um weiter in meinem Notenheft herumzurechnen. Scheiße, diese Notengeberei macht mich echt fertig. Hunderte von Noten muss ich in wenigen Tagen ausrechnen, und Rechnen ist nicht mein Ding. Schon gar nicht Kopfrechnen.

53 Notenpunkte : 4 Arbeiten = das geht doch nicht auf!

«Frl. Krise», fängt Merve an. «Frl. Krise, ich muss Sie mal was fragen.»

«Frag, frag», sage ich und versuche innerlich verzweifelt weiterzurechnen: 40, Rest 13 im Sinn, geteilt durch 4, gibt …

«Meine Oma ist krank», sagt Merve mit Grabesstimme.

«Hm, hm», sage ich. Gibt 3, Rest 1 … «Was hat sie denn, deine Oma?»

«Ich weiß nicht. Ich glaube, sie hat Herz!»

Ich rechne blitzschnell zu Ende: 13! Also 13 Punkte. Was, so viel? Kann nicht sein! Ich lege den Stift beiseite.

«Herz, oje! Aber du wolltest mich doch was fragen, Merve», ermuntere ich meine Schülerin. Inzwischen dämmert es mir längst, worauf das alles hinauslaufen wird.

«Ja, sie liegt Krankenhaus», sagt Merve weinerlich. «Wir wollen bisschen früher Türkei gehen, bestimmt sie stirbt bald! Und ich wollte fragen, ob ich darf.»

«Merve.» Ich blicke sie ernst an. «Verstehe ich das richtig, ihr wollt früher in die Türkei fahren, weil deine Oma …? Mmh, das ist ja alles ziemlich schwierig, aber ich kann dir da überhaupt nicht helfen, leider. Vor den Ferien darf ich dir keinen Tag freigeben, das darf nur unser Schulleiter oder der Schulrat. Wenn überhaupt. Da gehst du mal morgen schön zur Schulleitung mit einem Brief von deinen Eltern, und dann seht ihr mal, ob das klappt.»

Ich weiß natürlich genau, dass das nicht erlaubt wird. Aber ich weiß auch so sicher wie das Amen in der Kirche: Merve wird dennoch fahren. Schließlich wollen ihre Eltern nicht die hohen Preise für die Flugtickets in den Sommerferien bezahlen. Oder sie scheuen die vollen Autobahnen. Oder sie machen das schon immer so, ohne je darüber nachgedacht zu haben. Merve wird also pünktlich krank werden, zum Arzt gehen, ein Attest bekommen und einige Tage früher als erlaubt in die Ferien abdüsen. Und wegen angeblich hinscheidender Omas und Opas oder heiratender Tanten und Onkel wird meine Klasse halb leer sein, wenn es Zeugnisse gibt.

Mein Blick fällt auf Nesrin, die sich gerade neben mir auf mein Pult geschwungen hat und in mein Notenbuch schielt. Sie hat ein wenig Schwierigkeiten, sich hier oben zu halten, denn ihr Kleid ist so eng, dass sie sich kaum rühren kann. Die hat noch ganz schön Babyspeck auf den Rippen, denke ich. Und warum toupiert sie sich neuerdings so komisch die Haare?

«Wollt ihr in den Ferien auch in die Türkei fahren, Nesrin?», frage ich.

«Nö», sagt Nesrin und schielt weiter. Ich klappe mein Buch zu.

«Aber letztes Jahr seid ihr früher gefahren, stimmt’s?»

Mir fällt ein, dass Nesrin mit ihrer Familie diesen kranken Cousin besuchen musste, diesen todkranken Cousin. Der so blutjung war. Knochenkrebs hatte der, meine ich mich zu entsinnen. Oder war es Blutkrebs?

«Wie geht es eigentlich deinem Cousin?», frage ich mitfühlend.

«Welchem Cousin? Ich hab Tausende», kichert Nesrin. (Sprach ich schon davon, dass meine Schüler ein sehr schlechtes Gedächtnis haben?)

«Na, dieser kranke Cousin! Der, der im Sterben lag; fünfzehn Jahre war der alt oder so, wenn ich mich recht erinnere. Wegen dem ihr letztes Jahr so früh in die Türkei musstet, weil er jeden Moment sterben konnte.»

Nesrins Gesicht hellt sich auf. «Ach der! Der ist wieder gesund.»

«Das ist ja super, was hatte der noch mal?» Jetzt will ich es wissen.

Nesrin zuckt mit den Schultern.

«Vergessen!», sagt sie fröhlich und hopst vom Pult runter.

Schöner Reinfall

Das ganze Wochenende überlege ich schon hin und her. Sollen wir nun das Theaterstück aufführen, ja oder nein? Ich bin wirklich ratlos. Dass mir aber auch niemand sagen kann, was ich tun soll.

Frau Freitag, meine beste Freundin und Beraterin, ist selbst seit Tagen gedanklich einzig und allein in Sachen Ausflug unterwegs. Ihre Schüler wollen unbedingt in den Heidepark, und sie kann sich nicht entscheiden, ob sie sich das antun soll. Sie ist mir also keine Hilfe. Wir jammern uns nur noch gegenseitig am Telefon vor, wie schwer wir es haben.

Ich hab die Faxen dicke, wenn ich daran denke, wie bescheuert sich meine Schauspieler in den letzten Wochen benommen haben. Aber auf der anderen Seite wünsche ich meinen Schülern so dringend einen Erfolg, Applaus, eine halbe Stunde Aufmerksamkeit, das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Ich möchte ihre strahlenden Augen sehen, wenn sie sich verbeugen …

Ja, Kitsch, lass nach!

Ich brauche mich bloß an letztes Jahr zu erinnern. Strahlende Kinderaugen – von wegen!

Wir führten ein Stück über eine deutsch-türkische Familie auf, und am Abend der großen Premiere erschienen drei Darsteller nicht zur verabredeten Zeit: Tarik, Nigel und Jenny. Die drei hatten zwar keine Hauptrollen, mussten aber in fast jeder Szene auftreten.

Wir, die wir zur Premiere erschienen waren, regten uns natürlich mörderisch auf. Meine Schauspielerinnen, alles sensible Gemüter, wurden geradezu hysterisch, und ich schwankte zwischen einem Wutanfall und irrem Gelächter. Mittendrin reichte mir Merve ihr Handy und sagte: «Hier, Frl. Krise, ich hab Tarik erwischt!» Die Gute!

«Tarik, spinnst du komplett? Wo bleibst du? Wir fangen in zehn Minuten an! Mach, dass du herkommt! Sonst knallt es!», fauchte ich ihn pädagogisch wertlos an. (Hätte ich ihm lieber milde zureden müssen? «Tarik? Schön, dich zu hören! Wie wär’s, hast du Lust, ausnahmsweise mal abends die Schule aufzusuchen?» Aber das hätte wohl auch nichts gebracht!)

«Frl. Krise, ich hole gerade Nigel ab. Wir sind in einer Viertelstunde da», beteuerte Tarik. Im Hintergrund hörte ich Vogelgezwitscher. Wo waren die, zum Teufel? Wenigstens würden sie demnach zu zweit auftauchen. Ich schöpfte Hoffnung.

Nur Jenny, das dumme Huhn, war nicht zu erreichen. Ihr Handy blieb stumm. Wahrscheinlich hockte sie vor einem der siebzehn Flachbildschirme in ihrer Wohnung und guckte irgendeine schnulzige Seifenoper, oder sie machte H&M unsicher. Also kletterte ich mit rotem Kopf auf die Bühne und verklickerte dem geneigten Publikum, das aus wenigen Eltern, aber ziemlich vielen lauten, ungeduldigen und irgendwie ein bisschen auf Krawall gebürsteten Schülern bestand, dass wir etwas später anfangen würden. Man johlte und pfiff und begann in der Aula herumzutoben.

Super Anfang, schönen Dank auch, Tarik, Nigel und Jenny!

Meine Schauspieler drehten inzwischen hinter der Bühne echt am Rad. Sie gebärdeten sich wie die Verrückten:

«Vallah, ich hab meinen Text vergessen!»

«Das ist mein Hut!»

«Halt die Fresse, Hässlichkeit, das ist meiner!»

«Frl. Krise, mir ist voll schleeecht!»

«Abo, mit wem mache ich die Küchenszene, wenn Tarik nicht kommt?»

«Ich hau Nigel aufs Maul, ich schwör’s!»

Usw. usw.

Ich hielt mir die Ohren zu, mir war auch schon ganz anders. Schließlich hat man als schulbekannte Regisseurin einen Ruf zu verlieren. Es macht nämlich keinen Spaß, wenn einem die Kollegen am nächsten Tag mitleidig den Rücken tätscheln und sagen: «Ach, du Arme, da hast du dir solche Mühe gegeben, und dann diese Pleite. Das tut mir soooo leid für dich. Ja, ja, mit unseren schwierigen Schülern geht das eben alles nicht.» Und denken tun sie: Geschieht ihr ganz recht, was macht die auch für ’ne Welle mit ihrem Theaterstück!

Was soll ich sagen? Weder Nigel noch Tarik und schon gar nicht Jenny erschienen an jenem Abend. Wir spielten ohne sie. Wir versuchten es jedenfalls. Und es ging grandios daneben. Es ging so was von grandios daneben.

Bis Montag muss ich jetzt wissen, ob wir am 30. spielen. Ich muss mich entscheiden. Den Flyer im Computer habe ich in Druck gegeben. Vorsichtshalber. Falls ich es mir noch anders überlege und wir doch spielen …

Vielfältige Vervielfältigung

«Frl. Krise! Sie sind da ganz blau!»

«Wo?»

«Da! Im Gesicht! Neben der Nase.»

Die Kinder kicherten. Dabei kannten sie es nicht anders. Frl. Krise war immer irgendwo blau. Meine Schultasche war innen blau und meine Kleidung außen; mein Federmäppchen, meine Ordner und Bücher waren übersät mit blauen Flecken. Ich glaube, ich war die erklärte Meisterin des Blaumachens! Ich musste nur in die Nähe einer Matrize kommen, schon war es um mich geschehen.

Das ging sehr lange so, denn in den Siebzigern konnte man nur mit Matrizen und der sogenannten Nudelmaschine sein Arbeitsmaterial vervielfältigen. Mittels einer Flüssigkeit, es war wohl Ethanol, wurde die meist blaue Farbe der Matrizen auf das DIN-A4-Papier gebracht. Aber wehe, man spannte die Matrize falsch herum auf die Umdruckwalze! Dann vermischte sich die blaue Matrizenfarbe mit dem Ethanol und verteilte sich gleichmäßig über und in alle Geräteteile. Diese elende Schweinerei ließ sich nur mit so einer Art Putzwolle und noch mehr Ethanol beseitigen. Natürlich geschah das bevorzugt kurz vor Unterrichtsbeginn, und die verärgerten Kollegen, die hinter mir Schlange standen, ergingen sich in teils höhnischen, teils anfeuernden Bemerkungen.

Zum Entzücken der Schüler rochen die Arbeitsblätter immer intensiv schnapsig – die Schule tat ihr Bestes, um aus jungen, aufstrebenden Menschen begeisterte Schnüffler zu machen.

Erst Jahre später eroberten Druckmaschinen und Kopierer das Feld. Als schlichter Lehrer ohne jedes technische Hintergrundwissen durfte man diese Geräte jedoch nicht selbst bedienen. Man musste seine Vorlagen schon Tage vor dem avisierten Unterrichtstermin in einem Kellerraum abgeben und darum beten, dass sie zur gewünschten Zeit fertig waren.

Mir war das zu spannend, deshalb fuhr ich lieber zwei- bis dreimal in der Woche nachmittags zum nächsten Copy Shop. Es handelte sich dabei um einen großen neonbeleuchteten Laden mit riesigen Fensterfronten, in dem eine extrem verbiesterte und unfreundliche Angestellte alles daransetzte, die Kunden möglichst schlecht zu bedienen.

Am schönsten war es in dem Laden im Winter. Wenn es draußen fror und schneite, war es hier mollig warm. Eine monströse Druckmaschine ratterte ohrenbetäubend im Hintergrund, und es stank unglaublich nach garantiert giftigen Stoffen. An den Nachbarkopierern machten sich Studenten zu schaffen, und man traf die Lehrer sämtlicher umliegender Schulen. Leider musste man die Kopien selbst bezahlen, was dazu führte, dass ich meine Arbeitsblätter verteidigte wie eine Löwin ihre Jungen und sie nur zögernd und sparsam an meine Schüler, die sie gar nicht zu schätzen wussten, herausrückte.

Die Situation wurde durch die Einführung von für alle zugängliche Kopierer an den Schulen nicht besser. Der jeweilige Benutzer musste nämlich vor Gebrauch eine Kopierkarte käuflich erwerben. Dies erboste mich. Hat man schon jemals einem Angestellten des Finanzamts zugemutet, sein Schreibpapier selbst mitzubringen? Oder muss eine Krankenschwester die Mullbinden für ihre Station von ihrem Lohn in der Apotheke kaufen?

Heute ist das Kopieren – jedenfalls an meiner Schule – frei, und wir tun’s mit Freude.

Außer es gibt mal wieder keinen Toner, oder eine nicht kopierfähige Folie verklebt alle Eingeweide des Geräts …

Nackt unter Wölfen

Wandertag! Es ist kühl und windig. Gibt es eigentlich einen Paragraphen im Schulgesetz, der vorschreibt, dass an Wandertagen immer schlechtes Wetter sein muss? Warum scheint an solchen Tagen nie die Sonne?