image

PD Dr. Ulrich Thiele, Jahrgang 1954, Studium der Philosophie,Kunstgeschichte und Archäologie an der Universität Bochum; Studium der Philosophie, Soziologie und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg; Promotion im Fach Philosophie; 1995-2001 Lehrbeauftragter an den Instituten für Philosophie und Politikwissenschaft der Universität Heidelberg und dem Institut für Politikwissenschaft (II) der Universität Frankfurt am Main; 2002 Habilitation in Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Philosophie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Frankfurt am Main; seit 2003 PD für das Fach Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Philosophie; seit Juni 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der TU Darmstadt; seit Oktober 2007 akademischer Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Heidelberg.

Zum Buch

Die politischen Ideen
Von der Antike bis zur Gegenwart

Die Geschichte der politischen Ideen kreist seit der Antike um die Frage nach dem Wesen des Staates. So war man zu allen Zeiten von der Notwendigkeit politischer Herrschaft überzeugt, da andernfalls die Gesellschaft im Chaos versinken würde. Das Interesse richtet sich aber ebenso durchgängig auf die Legitimation politischer Herrschaft. Die galt deswegen als erforderlich, weil ausschließlich dem Staat die Ausübung von Gewalt gestattet sein sollte. Die souveräne politische Herrschaft musste also in der einen oder anderen Weise aus dem Willen der Untertanen hergeleitet werden. Schon früh erhob man die Forderung nach Einschränkung politischer Macht und es setzten sich nach und nach die Ideen des Rechtsstaats und der Demokratie durch. Allerdings wurde die Rechtmäßigkeit politischer Herrschaft immer auch am Grad sozialer Gerechtigkeit gemessen, den der Staat garantieren konnte.

Ulrich Thiele

Die politischen Ideen

Für Angelika Rosbach-Thiele

Ulrich Thiele

Die politischen Ideen

Von der Antike bis zur Gegenwart

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Lektorat: Dr. Lenelotte Möller, Speyer
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München
nach der Gestaltung von Thomas Jarzina, Köln
Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0242-0

www.marixverlag.de

INHALT

1. EINLEITUNG

2. GESCHICHTE DES STAATSBEGRIFFS

3. THEORIEN ÜBER DEN URSPRUNG UND DEN WANDEL VON VERFASSUNGEN

3.1. HERRSCHAFTSVERTRAG

3.2. GESELLSCHAFTSVERTRAG

3.3. VERFASSUNGGEBENDE GEWALT DES VOLKES

3.4. VERFASSUNGSEVOLUTION

4. DEMOKRATIE

4.1. SOUVERÄNITÄT UND REGIERUNGSART

4.2. VOLKSSOUVERÄNITÄT

4.3. VOLKSSOUVERÄNITÄT UND REPRÄSENTATION

5. RECHTSSTAAT UND GEWALTENTEILUNG

5.1. FUNKTIONALE GEWALTENTEILUNG

5.2. STAATSFORM UND REGIERUNGSFORM

5.3. VERTIKALE GEWALTENTEILUNG

5.4. HORIZONTALE GEWALTENTEILUNG

5.5. DIE KOMBINATION VERTIKALER UND HORIZONTALER Aspekte der Gewaltenteilung

6. SOZIALE GERECHTIGKEIT UND FREIHEITSRECHTE: EIN UNLÖSBARER KONFLIKT?

6.1. REPUBLIKANISCHER SOZIALSTAAT

6.2. DESPOTISCHER SOZIALSTAAT

6.3. DER SOZIALSTAAT ALS KOMPROMISS ZWISCHEN INDIVIDUELLER FREIHEIT UND SITTLICHKEIT

6.4. DER SOZIALSTAAT ALS REVOLUTIONSPROPHYLAXE

6.5. DIE WEIMARER SOZIALSTAATSDEBATTE

6.6. DAS SOZIALSTAATSPRINZIP DES GRUNDGESETZES

6.7. DIE GEGENWART

7. AUSBLICK

8. VERWENDETE LITERATUR

1. EINLEITUNG

Jede Darstellung der politischen Ideengeschichte steht vor zwei grundsätzlichen Problemen: Einerseits besteht die politische Theoriegeschichte nicht nur aus klassischen Texten (wie z. B. dem Gesellschaftsvertrag Rousseaus), sondern ebenso aus deren Rezeption, die oft genug deren zentrale Inhalte verfälscht, wenn nicht gar (wie im Fall der Rousseau-Deutung Carl Schmitts) unkenntlich macht. Daher steht die politische Ideengeschichtsschreibung mindestens auch vor der Aufgabe, die gröbsten Verzerrungen, die den Klassikern geschahen, aufzuzeigen und die originären Intentionen zu akzentuieren. Da auch diese sekundäre Interpretation tendenziös ausfallen kann, bleibt die Beurteilung ihrer Plausibilität letztlich dem Leser überlassen. Um dies zu erleichtern, sucht die vorliegende ideengeschichtliche Studie ihre Sicht durch die entsprechenden Originalzitate und deren jeweilige Interpretation zu belegen.

Andererseits kann kein Abriss der politischen Ideengeschichte beanspruchen, einen vollständigen Überblick zu bieten. Wer dies zu unternehmen versuchte, könnte bestenfalls eine hochabstrakte und in ihrer Abstraktion auch wieder problematische Skizze anbieten, die die Entwicklung der politischen Ideen allenfalls in groben Strichen nachzeichnen würde. So lässt sich nicht vermeiden, bestimmte Sachgebiete oder Epochen auf Kosten anderer in den Vordergrund zu stellen.

Man könnte z. B. die Entwicklung der Völkerrechtslehren oder die Geschichte der Menschen- und Bürgerrechtstheorien zum Leitfaden der Darstellung nehmen. Aber auch die Ideengeschichte der politischen Utopien wäre – zumal diese Gattung mittlerweile zu den bedrohten Arten zu rechnen ist – geeignet, die unterschiedlichen Staatskonzeptionen vorzustellen. Denn untereinander sind die Fragen nach der Legitimierbarkeit eines politischen Herrschaftsverbandes, seinem Zweck, seiner Organisation und seinen Beziehungen zu anderen Staaten auf vielfältige Weise ineinander verwoben, so dass immer auch die jeweils komplementären Aspekte der darzustellenden Theorien mitzubehandeln wären. Immer aber wirkt die Auswahl der Gesichtspunkte, unter denen die politische Ideengeschichte rekonstruiert wird, zurück auf den dargestellten Gegenstand.

Die einzig seriöse Lösung dieses methodischen Problems besteht darin, die Auswahlkriterien von vornherein zu benennen, die der jeweiligen Theoriegeschichte zugrunde liegen. In Anlehnung an die bekannte und oft verkannte Hegelsche Formel, nach der das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig ist (Hegel, Grundlinien, 24), nimmt der vorliegende Abriss der politischen Ideengeschichte das derzeitig gültige Verfassungsrecht der Bundesrepublik zum Ausgangspunkt. Dies aus drei Gründen: Zum einen sind die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes im Großen und Ganzen dieselben wie die Verfassungsordnungen der anderen westlichen Staaten (bezogen auf die postkommunistischen Staaten Osteuropas trifft dieses nur teilweise zu). Zum anderen haben sich in den grundlegenden Prinzipien des bundesdeutschen Verfassungsrechts die staatsrechtsgeschichtlichen Erfahrungen seit der Neuzeit niedergeschlagen. Das lässt sich insbesondere an der Einbeziehung des Sozialstaatsprinzips ablesen. Dessen Ausgestaltung überantwortet man allerdings vor allem dem Gesetzgeber, womit eine Lehre aus der Weimarer Verfassungskrise gezogen wird, die letztlich dem Nationalsozialismus den Weg bereitete. Schließlich reflektieren sich in Verfassungen des Grundgesetz-Typs die wesentlichen Erkenntnisfortschritte der politischen Philosophie Europas.

Die Verfassungsgrundsätze der bundesdeutschen Rechtsordnung werden in Art. 20 GG aufgezählt: (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Zunächst wird die Bundesrepublik Deutschland als ein demokratischer und sozialer Bundesstaat definiert (Art. 20 Abs. 1 GG), womit eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates ausgesprochen wird, Ungleichverteilungen des Eigentums und Einkommens jedenfalls nicht in beliebigem Grad zuzulassen; so jedenfalls der Tenor der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Keinesfalls ist hier bloß ein ‚vorsorgender‘ Sozialstaat gemeint, der z. B. mit bildungs- oder familienpolitischen Mitteln zukünftiger Armut vorzubeugen hätte, sondern ebenso der ‚nachsorgende‘ Sozialstaat, der für eingetretene materielle Notlagen zuständig ist.

Anschließend benennt Art. 20 GG das Legitimationsprinzip der Volkssouveränität: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus […] und wird innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung ausgeübt. Das heißt zunächst, dass Parlamentswahlen nur eine Artikulationsart der Volkssouveränität darstellen, denn sonst wären sowohl die Präambel als auch Art. 146 GG sinnlos. In beiden Fällen wird schließlich die verfassungsändernde bzw. verfassunggebende Gewalt des Volkes von der Volksouveränität unterschieden, wie sie sich im Rahmen der Konstitution äußert. Außerdem hat der Verfassunggeber mit dem Zusatz Abstimmungen mindestens die rechtliche Möglichkeit zur Ergänzung der parlamentarischen Gesetzgebung um Plebiszite offen gehalten.

Indem die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung […] an Gesetz und Recht gebunden werden, ist nicht nur Gewaltenteilung im Allgemeinen gefordert, sondern eine hierarchische Version der Gewaltenteilung, die alle Rechtsetzungskompetenzen der Verwaltung den Vorgaben des demokratischen Gesetzgebers unterstellt. Schließlich wird ein Widerstandsrecht des Volkes gegen etwaigen Missbrauch durch die beauftragten Stellvertretungsorgane festgeschrieben, worunter offensichtlich auch der parlamentarische Gesetzgeber fallen würde. Liest man das nicht unproblematische Postulat vom Widerstandsrecht aus der Perspektive der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes (Präambel GG), dann ergibt sich folgender Befund: Dem Menschenwürdegrundsatz des Art. 1 GG, der alle staatliche Gewalt verpflichtet, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, entsprechen genau vier Verfassungsgrundsätze, die teils formal-organisatorische, teils materiale Prinzipen für die Setzung und Durchsetzung staatlicher Normen bezeichnen: Das Prinzip der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, das Demokratieprinzip, das Prinzip des gewaltenteiligen Rechtsstaats und das Sozialstaatsprinzip.

Diese komplementären Verfassungsgrundsätze, die aus vielfältigen Gründen nicht leichtfertig um weitere ergänzt werden sollten, wird für unsere ideengeschichtliche Skizze das Grundgerüst liefern. Dieses Auswahlkriterium hat nämlich einen entscheidenden Vorzug im Vergleich mit einer chronologischen Periodisierung: Es ist nicht neutral, sondern legt den normativen Standort des Autors offen. Die genannten vier Verfassungsgrundsätze bilden einerseits das Gerüst des bundesdeutschen Verfassungsrechts. Andererseits sollen sie auch das sachliche Strukturierungsschema für die vorliegende Ideengeschichte abgeben. Vorausgesetzt wird dabei, dass die Überlegungen der Hauptakteure der politischen Theoriegeschichte objektiv Eingang in die Endredaktion des Grundgesetzes gefunden haben.

2. GESCHICHTE DES STAATSBEGRIFFS

Carl Schmitt ist darin zuzustimmen, dass die Ära des Staates in der zweiten Hälfte des 16. Jh. mit der Durchsetzung des Souveränitätskonzepts beginnt: Der politische, d. h. mehr oder minder säkulare Staat ist die Antwort auf den konfessionellen Bürgerkrieg, der dazu führte, dass die christlich-universale Vorstellungswelt ihre Integrationsfunktion einbüßte. Der moderne Staat im Sinne einer territorial geschlossenen Einheit (Schmitt, Staat, 381) entspringt einer doppelten Abgrenzung gegen mittelalterliche Ordnungskonzepte: Nach innen werden sämtliche potestates indirectae den Entscheidungen des einen Souveräns unterworfen und nach außen tritt an die Stelle des von Papst und Kaiser repräsentierten göttlichen ordo ein pluriversum gleichrangiger, d. h. gleichsouveräner Mächte.

Eine Pointe der Argumentation Carl Schmitts besteht darin, dass man von der Tatsache der historischen Kontextgebundenheit der Genese des Staates ausgehend, auf dessen zeitliche Begrenztheit schließen kann: Die geschichtsblinde, naive Erhebung des Staatsbegriffs zum allgemeinen Normalbegriff der politischen Organisationsform aller Zeiten und Völker wird wahrscheinlich mit dem Zeitalter der Staatlichkeit selbst bald ein Ende nehmen (ebd., 376).

Freilich besagt die historische Verortung der Entstehung von Staaten noch nichts über die kausalen Faktoren, die dies ermöglichen. Wie Max Weber plausibel macht, ist es die zutiefst revolutionäre Gewalt der vordringenden Marktwirtschaft, die die monopolistischen Verbände ökonomisch sprengt, ihre Mitglieder zu Marktinteressenten macht, indem er ihnen die Basis jener Interessengemeinschaft [entzieht], auf welcher auch ihre legitime Gewaltsamkeit sich entfaltet hatte. Mit zunehmender Befriedung und Erweiterung des Markts parallel geht daher auch 1. jene Monopolisierung legitimer Gewaltsamkeit durch den politischen Verband, welche in dem modernen Begriff des Staats als der letzten Quelle jeglicher Legitimität physischer Gewalt, und zugleich 2. jene Rationalisierung der Regeln für deren Anwendung, welche in dem Begriff der legitimen Rechtsordnung ihren Abschluss finden (Weber 1980, 519). Es ist demnach die rationalisierende Gewalt des Marktes, auf dem die mittelalterlichen Stände und Zünfte ökonomisch nicht bestehen können. An deren Stelle treten schließlich ‚freie‘ Arbeitskräfte und Kapitalbesitzer auf der einen Seite und ein zentralisierter, durch formelle Regeln gesteuerter Herrschaftsverband auf der anderen Seite.

Eine knappe und überaus treffende Definition lautet dementsprechend: Der Staat ist ein Anstaltsbetrieb, der die Herrschaft seines Verwaltungsstabes und seiner Ordnungen für ein Gebiet in Anspruch nimmt und gewaltsam garantiert und dessen Verwaltungs- und Rechtsordnung […] durch Satzungen abänderbar ist (29 f.).

Eine weniger anspruchsvolle, aber deswegen nicht unsachgemäße Definition verwendet den Ausdruck Staat als Synonym für einen Zusammenschluss von Menschen, die bezwecken, ihr physisches Überleben zu sichern, ihr materielles Lebens zu verbessern und schließlich ihr Leben insgesamt nach sittlichen Prinzipien gestalten wollen. Dieser Minimalbegriff des Staates entstammt einer Verdeutschung der sehr verschiedenen politischen Ordnungsbegriffe wie polis bzw. politeia [Aristoteles (384–322 v. Chr.), Platon (427–347 v. Chr.) oder res publica (Cicero (106–43 v. Chr.)]. Entscheidend ist dabei, dass die Ordnungen der Gesellschaft und des Politischen ebenso wenig getrennt gedacht wurden, wie die Moralität und die Legalität des individuellen Handelns.

Auch wenn der Ausdruck polis ursprünglich auf die jeweilige Stadt bezogen war, so wandelte sich seine Bedeutung im 6. und 5. Jh. v. Chr. doch gravierend. Nun bezeichnet der Begriff ein politisches Gemeinwesen, d. h. einen kollektiv verantwortlichen, zu verbindlicher Entscheidung im Inneren und gemeinsamem Handeln nach außen befähigten Verband. Seine Ordnung beruht auf Recht und Gesetz (worunter jedoch keinesfalls allein positivrechtliche Normen zu verstehen sind, sondern ebenso und vor allem kollektiv verbindliche Tugendnormen). Mit einem politischen Staat, wie er sich in der Neuzeit entwickelte, ist die Polis aber schon deswegen nicht gleichzusetzen, weil letztere allemal unter dem Schutz einer Gottheit stand, die ihren Bestand verbürgte. Dementsprechend konstituierte sich die Polis geradezu im gemeinsamen religiösen Kultus. Statt mit den Staats- bzw. Stadtmauern identifiziert zu werden, konstituiert sich die polis nun aus den Mitgliedern des Verbandes, den Bürgern, denen zugleich die Verteidigung gegen äußere Feinde zukommt. Die Hauptgefahr im Inneren besteht in der stets drohenden Spaltung der Bürgerschaft, die sich nicht selten bis zum Bürgerkrieg steigerte. Deswegen hing die Stabilität der Polis vorzüglich von der tugendhaften Parteinahme der Bürger für ihr Gemeinwesen, aber auch von ihrer Freundschaft (Platon, Protagoras, 322 c) und Eintracht (Demokrit, Xenophon) untereinander ab. So beruht nach Platon ein gerechter und wohlgeordneter Staat darauf, dass jeder Stand das ihm Gemäße tut, so dass in der Polis zugleich die Einheit der Bürger erscheint, insofern in ihr alle exklusiven Interessen ebenso aufgehoben sind, wie es bei der menschlichen Seele bzw. beim gesunden menschlichen Körper der Fall ist (Platon, Politeia, 434 c–e; 435 aff.; 462 c/d).

Hinsichtlich der Motive, um deretwillen die Individuen auf ihre ursprüngliche ‚wilde Freiheit‘ verzichten und sich zu einem Gemeinwesen zusammenschließen, herrscht bei den klassischen Autoren im wesentlichen Übereinstimmung: Nach Platon hätten sich die ursprünglich isoliert lebenden Menschen zunächst zum Schutz gegen die wilden Tiere in poleis, d. h. befestigten Siedlungen zusammengeschlossen (Platon, Protagoras, 322 b 1 f.). Platons Theorie der Polis-Genese geht demnach von der Prämisse aus, dass der Mensch ein Mängelwesen ist (Platon, Politeia, 369 b–372 c.)

Auch Aristoteles sieht das Hauptmotiv für die Gründung einer Polis in der Sicherung des Lebens (Aristoteles, Politik, 1278 b 18 ff.), jedoch soll dies mit der Annahme verträglich sein, nach der der Mensch von Natur auf das Leben in der politischen Gemeinschaft (koinonia politike) hin angelegt sei (zoon politikon). Die Synthese beider Teilannahmen gelingt Aristoteles mit der Formel, dass die Polis um des (Über-)Lebens willen entstanden sei, jedoch um des guten Lebens willen bestehe (ebd. 1252 b 29 f.; vgl. 1278 b 24).

Etwa seit der zweiten Hälfte des 5. Jh. kommt der neue Begriff politeia in Umlauf. Er bezeichnet die Bürgerschaft im vierfachen Sinn: 1. meint er die Gesamtmenge der Vollbürger, 2. das Bürgerrecht und 3. das bürgerliche Leben im Sinne politischer Partizipation und schließlich 4. die politische Ordnung im Sinne von Verfassung. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass nach damaligem Verständnis Bürgerschaft und Verfassung nahezu bedeutungsgleiche Ausdrücke waren, so dass man eher sagen könnte, dass die Bürgerschaft die Verfassung ist, als dass sie sie hätte (Ritter u. a., Bd. 7, 1989, 1034 f.).

Zwar wäre es müßig, unseren modernen Verfassungsbegriff im Sinne eines Systems präskriptiver All-Sätze, die insbesondere die Organisation der öffentlichen Gewalt regelten und den einzelnen Staatsorganen spezifische Kompetenzen und Kompetenzgrenzen normativ zuschrieben, in der griechischen Antike vorfinden zu wollen. Dennoch trifft es zu, dass der Begriff der politeia u. a. die Ordnung (táxis) der Polis in Hinblick auf die Einrichtung und Verteilung der Ämter bezeichnet, insbesondere die Vergabe des höchsten und wichtigsten von allen. Dies ist nämlich stets das politeuma der Stadt, wobei unter politeuma das Herrschaftssubjekt einer Polis verstanden wird (Aristoteles, Politik, 1278 b 8 ff.; 1279 a 25 ff.), das aber nur die Bürgerschaft (politeia) (1278 b 8 ff.) sein kann, genauer: die Gesamtheit der Vollbürger, die in allen griechischen Ordnungen die letztentscheidende Körperschaft war, da Repräsentation außerhalb des Vorstellbaren lag. Mit dem Begriff der politeia findet der Verfassungsbegriff im weiteren Sinne Eingang in die politische Ideengeschichte, da er die politische Ordnung im Ganzen wie die Bürgerschaft als deren oberstes Organ bezeichnet.

Schließlich trat in der römischen Antike (etwa ab dem 3. und 2. Jh. v. Chr.) der Begriff der res publica das Erbe des Ausdrucks politeia an, der seinerseits auf den neuzeitlichen Begriff der Republik verweist (engl. republic; frz. république; ital. repubblica; span. república). Der Ausdruck stand für die Angelegenheiten und Interessen des Volkes (populus), d. h. der in den Komitien zusammentretenden und politisch handelnden Bürger (cives). Für den Ursprung des modernen Staatsbegriffes ist es bedeutsam, dass res publica als Gegenbegriff zu res privata fungierte, womit das Sonderinteresse eines jeden einzelnen Bürgers gemeint war. Noch wichtiger ist allerdings, dass der Ausdruck res publica häufig in Verbindung mit status vorkam, vor allem in der Wendung status rei publicae. Status hatte die Bedeutung fester Stand, Wohlstand, Nutzen, Heil, so z. B. bei Ulpian (um 170–228), von dem die Definition stammt: Das öffentliche Recht bezieht sich auf das Wohlergehen der römischen Sache [d. h. der res publica], das Privatrecht auf den Nutzen eines jeden einzelnen: Die Angelegenheiten sind nämlich teils von öffentlichem, teils von privatem Nutzen (Ulpian, Digestae, 1. 1. 1. 2). Seit Ulpian steht der Ausdruck status rei publicae bzw. status rei Romanae nicht für einen beliebigen Zustand des populus, sondern ausschließlich für dessen gute innere und äußere Verfassung. Dies änderte sich in der Kaiserzeit: Einerseits verstand man unter res publica nach wie vor Gemeinwohl, Gemeinnutz und Interesse des Volkes, doch anderseits trat nun die Bedeutung Verwaltung bzw. Behörden hinzu, d. h. man meinte jetzt zusätzlich die organisatorische Einheit des Herrschaftsapparates. Damit war bereits der erste Schritt in Richtung auf den neuzeitlichen Staatsbegriff getan.

Augustinus’ (354–430) Schrift De Civitate Dei (Über den Gottesstaat) entstand in den Jahren zwischen 413 und 426. Ihr zweiter Teil (Bücher XI bis XXII) enthält eine spekulativtheologische Geschichtsdeutung, die von der Annahme ausgeht, dem Weltstaat (civitas terrena) stünde der jenseitige Gottesstaat gegenüber. Während die Anhänger des Gottesstaates von der selbstlosen Gottesliebe (amor dei) beseelt seien, die sich zur Demut bzw. Selbstverachtung steigern könne, würden die Anhänger des Weltstaates durch Selbstliebe (amor sui) angetrieben, deren Extrem in der Gottesverachtung erreicht würde (XIV, 13). Institutionelle Realität besäßen die beiden ideellen ‚Reiche‘ im Staat (res publica) einerseits und der Kirche (ecclesia) andererseits, deren Herrschaftsanspruch sich zum einen auf Macht und Furcht und zum anderen auf moralische Autorität gründe, die durch Sakramente und Lehre vermittelt würde. Um das harmonische Zusammenleben im Gottesstaat zu verdeutlichen, verwendet Augustinus Organismus-Metaphern (XXII, 30), während er sich in Bezug auf den weltlichen Staat einer mechanistischen Sprache bedient, in der der Vertragsgedanke zentral ist, so dass Hegels spätere Kritik des Gesellschaftsvertrages auch aus dieser Quelle schöpfen kann.

Augustins Geschichtsdeutung ist streng genommen keine dualistische, sondern eine finalistische Konstruktion, die die Menschheitsgeschichte als zielgerichteten Prozess auffasst. Denn im Weltlauf seien zwar beide Reiche einstweilen gewissermaßen ineinander verwirrt und vermengt (II, 7 f.), doch beim jüngsten Gericht würden Weltstaat und Gottesstaat getrennt und als solche erkennbar. Ewige Verdammnis und ewige Seligkeit würden darauf den Anhängern der beiden Reiche zuteil (XIX bis XXII). Zwar sei der heilsgeschichtliche Verlauf des Konfliktes zwischen Welt- und Gottesstaat durch die göttliche Vorsehung (providentia) determiniert, doch schließe das die freie Entscheidung der Menschen keineswegs aus, da auch die Freiheit Gottes Wille sei. Dies ändere nichts daran, dass das Ziel der Geschichte kein irdisches ist, sondern ewige Seligkeit in der Anschauung Gottes bedeutet, während die diesseitige Welt den Schauplatz des Kampfes zwischen Gut und Böse darstellt, in dem sich der einzelne Mensch zu bewähren habe.

Erst in der Neuzeit kam der Begriff Staat in Umlauf. Zwar sprachen noch Leibniz und Pufendorf von civitas, Thomas Hobbes von commonwealth und John Locke schließlich von body politic. Vor dem 16. Jahrhundert – soviel ist jedenfalls sicher – taucht der Begriff Staat nirgends auf. Doch spätestens bei Nicolo Machiavelli (1469–1527) wird dann der Ausdruck stato im dreifachen Sinne verwendet, nämlich als Synonym für Verfassungs- und Regimentsform, Regiment und Macht.

Die schwierige Geburt des Staatsbegriffs verweist jedoch keineswegs auf ein terminologisches Unvermögen antiker und mittelalterlicher Philosophen, sondern auf ein objektives Problem: Die scharfe begriffliche Unterscheidung der gesellschaftlichen Sphäre von der des Politischen wird erst dort möglich, wo staatliche Institutionen unabhängig von sozialen Verbänden organisiert sind und als eigenständiges und eigenlogisch funktionierendes System von den anderen gesellschaftlichen Teilsystemen separiert sind. Mit der Emanzipation des Staates von der Gesellschaft entsteht allerdings zugleich ein gravierendes Folgeproblem: Die Rechtfertigung existierender politischer Herrschaft wird jetzt, weil sie als asymmetrische Beziehung problematisch ist, als Basisproblem der politischen Philosophie erkannt. Jetzt wird eine plausible Herleitung staatlicher Befehlsgewalt aus dem Willen der Herrschaftsunterworfenen unabdingbar und die Bemühungen, dies zu leisten, zählen sicher zu den Glanzstücken der europäischen Rechtsphilosophie.

3. THEORIEN ÜBER DEN URSPRUNG UND DEN WANDEL VON VERFASSUNGEN

Die Frage, auf welche Weise es sich rechtfertigen lässt, dass Staaten rechtlichen Zwang gegenüber ihren Bürgern ausüben, zieht sich wie ein roter Faden durch die politische Ideengeschichte der Moderne. Es galt den Staat als existierende Zwangsgewalt in irgendeiner Weise mit dem freien Willen derjenigen zu versöhnen, die sich diesem Zwang zu fügen haben. Die wichtigsten, noch heute plausiblen Antworten wurden von Autoren des 17. und 18 Jahrhunderts gegeben, und sie sind in überraschender Weise aktuell geblieben.

So berühren jüngste Debatten über die Zukunft der EU-Verfassung das Thema Legitimation durch Vertrag gleich in doppelter Weise: Einerseits ist schon durch die europäischen Verträge ein supranationales politisches Gebilde entstanden, das massiv in die nationalstaatlichen Hoheitsrechte eingreift. Manche Kritiker erheben den Einwand, es hätte geradezu eine Souveränitätsentäußerung seitens der Mitgliedsstaaten stattgefunden, da die Substanz der einzelstaatlichen Verfassungen de facto verändert worden sei. Aus diesem Blickwinkel gilt eine europäische Verfassunggebung als unerlässlich. Beanstandet wird dementsprechend, das in der Bundesrepublik gewählte parlamentarische Verfahren sei unterlegitimiert gewesen, weil das Grundgesetz seine Zuständigkeit auf partielle Verfassungsänderungen beschränkt habe.

Auf der Gegenseite wird für eine allmähliche Verstetigung der institutionellen Praxis europäischer Organe geworben, die durch verfassunggebende Akte nur behindert werden würde. Eine Verfassung – so warnte schon Carl Schmitt – ist schnell gemacht, sie liegt, wenn es sein muss in wenigen Minuten fertig auf dem Tisch. Aber wenn sie einmal da ist, so wird man sie nicht leicht wieder los; sie ist dann nämlich eine Quelle der Legalität (Schmitt, Wirtschaft, 30).

Die Frage, auf welche Weise das neu entstandene staatsähnliche Gebilde legitimiert werden können und welche Relevanz dabei einer Verfassung zukäme, wird uns also zwangsläufig auch in Zukunft beschäftigen müssen. Dazu bieten uns die Strömungen der politischen Philosophie, die sich an vertragsförmigen Legitimationskonzepten orientieren, wichtige Hilfsmittel an.

Ich möchte im Folgenden eine grobe Skizze der politischen Ideengeschichte der Theorien vom Ursprung politischer Herrschaftsgewalt zeichnen, die ihren Höhepunkt im 17. und 18. Jahrhundert erreichten, wobei mit Ausnahme des Herrschaftsvertrages alle übrigen Legitimationskonzepte noch heute für Theorieentwürfe modellgebend sind.

Theorien der vertraglichen Begründung politischer Herrschaft lassen sich in zweierlei Hinsicht unterscheiden: Zum einen ist kennzeichnend, welche Stellung der Vertragsgedanke in den entsprechenden Legitimationskonzeptionen einnimmt, und zum anderen differenzieren sich die Vertragstheorien danach, ob und – wenn ja – wie das Problem der rechtlichen Kodifizierung der Staatsorganisation erörtert wird. Die klassischen Theorien des Herrschaftsvertrages, des Gesellschaftsvertrages und der verfassunggebenden Gewalt beanspruchen, hierauf eine Antwort anbieten zu können. Gemeinsam ist ihnen, dass die Vergesellschaftung der Menschen und die Entstehung von politischer Herrschaft auf Verträge zurückgeführt werden, die die Menschen untereinander oder aber das Volk mit dem Herrscher abgeschlossen haben.

3.1. HERRSCHAFTSVERTRAG

Der Herrschaftsvertrag (auch Unterwerfungsvertrag oder pactum subiectionis genannt) zeichnet sich im Unterschied zum Gesellschaftsvertrag dadurch aus, dass er eine zweiseitige Übereinkunft zwischen einem faktischen Souverän und seinen Untertanen zugrundelegt. Die beiden Vertragspartner erzeugen keinen Souverän, sondern einer von beiden ist bereits als Souverän vorhanden. Sinn dieser Art Vertrag ist es, dem Souverän Bedingungen legitimer Herrschaftsausübung abzutrotzen, die in der Regel mit der Festschreibung von bestimmten Privilegien einhergehen, die dem Vertragspartner zustehen sollen.

Die Rechtsfigur des Herrschaftsvertrages, der ein pactum zwischen Volk (bzw. Adel) und Monarch unterstellt, lässt sich auf Interpretationen der römischen lex regia, zurückführen, die im Zusammenhang mit dem Investiturstreit zwischen kaiserlichem regnum und kirchlichem sacerdotium (1075–1122) bedeutend waren. Die lex regia sollte die Befugnisse des princeps regeln und besagte, dass das Volk seine ganze Befehlsgewalt und Macht auf ihn übertragen hat. So wurde die Formel utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata es, populus ei [sc. principi] et in eum omne suum imperium et potestatem conferat dahingehend ausgelegt, dass das Volk mit diesem Akt seine Gewalt dem König endgültig und restlos übertragen habe (Reibstein, Bd. I, 131).

Die Gegenpartei wandte ein: Auch wenn das Volk dem Herrscher seine potestas übertragen hätte, könnte dies doch nicht für den Missbrauchsfall gelten. So könne kein Volk damit einverstanden sein, wenn der von ihm eingesetzte Herrscher seine Macht zum Schaden seiner Untertanen einsetzte. Ein zum Tyrann gewordener König hätte offensichtlich seine dem Volk durch Vertrag zugesicherte Treuepflicht, die gerechte Ordnung zu wahren, verletzt und könnte deshalb seinerseits vom Volk abgesetzt werden (z. B. Thomas von Aquin, De regim. princ. I, 6). Die calvinistischen und katholischen Monarchomachen (u. a. Johannes Calvin (1509–1564), George Buchanan (1506–1582), Hubert Languet (1518–1581), John Milton (1608–1674) und schließlich Johannes Althusius (1557–1638) die in den konfessionellen Bürgerkriegen die absolutistischen Tendenzen der Monarchen bekämpften, haben aus der geschilderten Konstruktion des Herrschaftsvertrages die Rechtmäßigkeit des Widerstandes und auch des Tyrannenmordes abgeleitet (vgl. Ritter u. a., Bd. 3, 476 f.).

Typisches Kennzeichen echter Herrschaftsverträge ist ein grundsätzlich anerkanntes, normiertes und institutionalisiertes Widerstandsrecht für den Fall der Rechtsverletzung seitens des Souveräns. Das idealtypische Beispiel eines Herrschaftsvertrages ist bis heute die Britische Magna Charta Libertatum von 1215 geblieben. Dort werden in 54 Artikeln die vom König zu respektierenden Sonderrechte der Kirche, der Barone und Grafen und anderer Vasallen festgelegt. Von besonderer Bedeutung sind aber auch die verschiedenen Bestimmungen am Schluss des Dokumentes. So werden in Artikel 61 Kontroll- und Beschwerderechte der Barone gegenüber der Krone im Detail geregelt, was im Falle der einseitigen Vertragsverletzung seitens des Monarchen gegebenenfalls auch eine rechtliche Erlaubnis und Verpflichtung zum organisierten Widerstand gegen den König einschließt.

Noch bei Gottfried Achenwall (1719–1772), dessen berühmtester Schüler Immanuel Kant war, muss ein besonderer Übertragungsvertrag vom Vereinigungsvertrag abgegrenzt werden, wobei jener zugleich als Unterwerfungsvertrag gedacht ist, der noch deutliche Züge des bipolaren Herrschaftsvertrages in der Tradition der Magna Charta Libertatum aufweist: Jedes Recht des obersten Herrschers beruht auf dem Unterwerfungsvertrag und auf dem Willen des Volkes, darüber hinaus hat er keines, und deshalb […], binden den Herrscher die dem Vertrag beigefügten Bedingungen […]. Was einen Vertrag im allgemeinen wahr, rechtmäßig und wirksam, oder nichtig, unrechtmäßig und unwirksam macht, das hat diese Wirkung auch für den Unterwerfungsvertrag. Schließlich […] allgemein müssen der Herrscher und das Volk in Bezug auf den Unterwerfungsvertrag wie zwei Personen betrachtet werden, die im Naturzustand einen Vertrag schließen (§ 669, 21).

Untrügliches Kennzeichen eines Herrschaftsvertrages ist demnach die positivrechtliche Vertragsgarantie eines mithin legalen Zwangsrechtes (Kant) gegen den vertragsbrüchigen Herrscher. Demnach handelt es sich beim Herrschaftsvertrag definitiv nicht um einen allseitigen Vertrag zwischen sich zum Staat zusammenschließenden Individuen, die einen Souverän einsetzen, sondern um einen bipolaren Vertrag zwischen dem faktischen Inhaber souveräner Herrschaftsgewalt und seinen Untertanen, der explizit die Bedingungen nennt, unter denen Widerstand rechtlich erlaubt bzw. geboten wäre. Dann träte der Fall ein, dass der legitime und gegebenenfalls auch legale Meta-Souverän gegen den De-Facto-Souverän aufträte, dessen Herrschaftsanspruch von diesem Augenblick an als lediglich usurpiert erschiene. Die Revolution wird damit legalisiert.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Typ des Herrschaftsvertrages und dem des Gesellschaftsvertrages besteht demnach darin, dass gemäß dem ersten Modell Herrscher und Volk vorfindliche Vertragssubjekte sind, während im zweiten Modell sowohl das Staatsvolk als auch der Souverän durch (allseitigen) Vertragsschluss allererst konstituiert werden. Eine zweite fundamentale Differenz zwischen beiden Kontraktualismen liegt darin, dass nach herrschaftsvertraglichem Denken das Recht des (monarchischen) Souveräns als ursprünglich gilt, während die Rechte der Untertanen einer zusätzlichen Verschriftlichung bedürfen, um zu gelten. In Gesellschaftsvertragstheorien dagegen ist das Volk der ursprüngliche Eigner aller Souveränität, während die Befugnisse des faktischen Herrschers nicht als gegeben gelten, sondern als Sekundärrechte aus dem Willen des Volkes abgeleitet werden, für die (in der Regel) eine schriftliche Kodifizierung erforderlich ist. Die Befugnisse des Souveräns werden als repräsentative Ausübung der Gesetzgebungsrechte des Volkes angesehen, das diese Kompetenzzuweisung jederzeit widerrufen und entweder sein Souveränitätsrecht selbst in Anspruch nehmen oder einen anderen Stellvertreter an die Stelle des ersten setzen kann. Da in Gesellschaftsverträgen nur die (jederzeit reversible) stellvertretende Ausübung der Souveränität, nicht aber das Souveränitätsrecht selbst übertragen oder entäußert wird, bedarf es keines kodifizierten Widerstandsrechtes, während dieses im Herrschaftsvertrag Residualrechte des Untertanenvolkes gewährleisten soll. Schließlich enthalten Herrschaftsverträge in der Regel lediglich materiale Limitationen in Hinblick auf die legitime Herrschaftsausübung, während Gesellschaftsverträge vor allem organisatorische Vorgaben hinsichtlich der Staats- und Regierungsform enthalten (zum mittelalterlichen Herrschaftsvertrag vgl. Kielmannsegg, 16 ff.; zur Unterscheidung der Herrschaftsvertragstheorie englischer Provenienz und der französischen Volkssouveränitätstheorie Maus 1992, 79 ff.; vgl. auch Kersting 1984, 215 ff.).

3.2. GESELLSCHAFTSVERTRAG

Die Begriffe Herrschaftsvertrag und Gesellschaftsvertrag bezeichnen Idealtypen, die in der ideengeschichtlichen wie in der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung überwiegend als Mischformen auftreten. Die theoriegeschichtliche Entwicklung lasse sich im Großen dahingehend bestimmen, dass die Anfänge im Altertum zu suchen sind, dass im Mittelalter erst vereinzelt vor das nunmehr in den Vordergrund gerückte pactum subjectionis ein besonderer Vereinigungsvertrag gelegt wird, dass sodann die Naturrechtslehre in dem Maße, in dem sie ihren individualistischen Grundzug entfaltet, den juristischen Ausbau des Gesellschaftsvertrages als Quelle der Einheit der den Herrschaftsvertrag abschließenden Volksgesamtheit vollzieht, dass endlich bei den Vorkämpfern der Volkssouveränität dieser Sozialkontrakt mehr und mehr den Unterwerfungsvertrag zurückdrängt, ihn bei Locke fast zu einem Schatten verflüchtigt und zuerst bei Rousseau völlig verschlingt (von Gierke, 380).

Eines der ersten historischen Vertragsdokumente, das ohne Abstriche dem Typus des Gesellschaftsvertrages zugerechnet werden muss, ist nach Reibstein die am 23.1.1579 unterzeichnete Union von Utrecht, auf deren Grundlage sich die sieben nördlichen Provinzen Spaniens zu den heutigen Niederlanden vereinigten. Während noch das Groot Privilegie von 1477 eindeutig herrschaftsvertragliche Grundzüge in der Tradition der Magna Charta Libertatum aufweise, werde im Unionsvertrag von 1579 interessanterweise nicht nur die Tätigkeit des Fürsten selber [als] eine übertragene, nicht eine eigenständige Autorität dargestellt, sondern dasselbe treffe für die rechtliche Stellung der Provinzialstände und der Generalstaaten innerhalb der Union zu; die Kompetenzen des Fürsten wie der Volksvertretung gelten nicht als Souveränität, sondern [als] von der Souveränität, die im strikten naturrechtlichen Sinne, nur das Volk haben kann, abgeleitet (Reibstein, Bd. 1, 199 ff.).

Ich möchte mich im Folgenden auf die mit Bodin und Hobbes einsetzende moderne Geschichte der Gesellschaftsvertragstheorie konzentrieren und dabei Theorien der Konstituierung staatlicher Herrschaft in besonderer Weise berücksichtigen. Theorien der Etablierung politischer Herrschaft werden also danach unterschieden, ob und wie sie das Problem der Kodifizierung der Staatsorganisation in Form geschriebenen Verfassungsrechts behandeln. Dabei stehen besonders profilierte Theorien des Gesellschaftsvertrages einerseits und der verfassunggebenden Gewalt andererseits im Vordergrund. Doch deren theoretische Rivalen dürfen darüber keinesfalls unbeachtet bleiben, zumal sie sich insbesondere in der deutschen Verfassungsgeschichte immer wieder als die gewichtigeren erwiesen haben.

So lassen sich zahlreiche Autoren identifizieren, die eine Theorie der Legitimität des Staates vertreten, die dem Vertragsdenken geradezu feindlich gegenübersteht. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Gesellschaftsvertragstheorien deswegen zurückweisen, weil diese nicht in der Lage seien, die Souveränität des Staates bzw. der Staatsgewalt hinreichend zu begründen. Der Kardinaleinwand, den diese im weiteren Sinne ‚etatistischen‘ Theoretiker immer wieder erheben, lautet: Den Staat aus einem (realen oder ideellen) Vertrag von Individuen hervorgehen zu lassen, bedeute, ihn dem subjektiven Belieben und der vorbehaltlichen ‚Nachachtung‘ der Bürger auszusetzen.

Als Gegenentwürfe zum Kontraktualismus kommen einerseits sittlichkeitstheoretische Konzepte in Betracht, die von Platon über Hegel bis zum heutigen Kommunitarismus reichen. Gemeinsam ist ihnen der Einwand, der Vertrag sei kein tauglicher Ansatz, um die Frage nach den Legitimationsgründen politischer Herrschaft erschöpfend zu beantworten. Der Staat und seine Rechtsordnung würden nämlich durch den Kontraktualismus in etwas nur relativ Gültiges verwandelt, dessen Bestand vom schwankenden Willen der Privatpersonen abhängig erklärt werde.

Anderseits kommen diktaturtheoretische Konzepte in Frage, die den Staat und sein Recht nicht aus einem allseitigen Konsens hervorgehen lassen, sondern aus einem einseitigen Dezisionsakt des faktischen Herrschaftsinhabers. Beiden Varianten ist gemeinsam, dass der Begriff der Verfassung in einem doppelten Sinne verwendet wird, so dass außer seiner Verwendung im Sinne eines positiven Dokumentes eine überpositive Verwendung stattfindet, sei es, dass die Verfassung eher im gewohnheitsrechtlichen Sinn verstanden wird als ein auf überkommene Sitten gegründetes institutionelles System, sei es dass das Konzept einer „lebendigen Verfassung“ gegen die Verfassung im Sinne materialer, prozeduraler und organisatorischer Normen in Stellung gebracht wird.

Die Theorien, die sich zweifelsfrei dem Oberbegriff des Gesellschaftsvertrages zuordnen lassen, müssen noch weiter spezifiziert werden. Folgende Leitfrage bietet sich dazu an: Welche Beziehungen bestehen zwischen den jeweiligen Begriffen des Gesellschaftsvertrages und normativen Aussagen zu den Verfahren, durch die Verfassungen gegeben bzw. verändert werden können? Gefragt wird danach, ob die philosophische Konstruktion des Gesellschaftsvertrages praktische Folgen für die Erzeugung sowie spätere Revisionen des Staatsrechts hat und, wenn ja, welche dies sind. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, wie groß jeweils die Nähe der Vertragstheorie zum Legitimitätsprinzip der verfassunggebenden Gewalt des Volkes ist:

Der Gesellschaftsvertrag könnte als bloßes hypothetisches Konstrukt bzw. als eine bloße Idee gedacht sein. Dann steht er in gar keiner normativen Beziehung zur Genese der Verfassung. Die Etablierung eines Staates wäre völlig unabhängig von der Frage zu behandeln, ob überhaupt eine geschriebene Verfassung vonnöten ist. Wird eine solche verlangt, bleibt offen, welche Art Verfassung auf welche Weise zustande kommen soll. Aus dieser Sicht ließe sich ein Staat beispielsweise bereits dann rechtfertigen, wenn er als gesellschaftliche Ordnungsinstanz wirksam wäre. Er benötigte jedoch keine wohldefinierte Form, die spezifische Kompetenzgrenzen für die einzelnen politischen Institutionen fixierte.

Wo die Legitimation des Staates ausschließlich auf seiner ordnungspolitischen Effizienz beruhen soll, wären allenfalls spärliche Garantien der bürgerlichen Freiheitsrechte denkbar. Im Extremfall ließe sich sogar denken, dass der Inhaber politischer Herrschaftsgewalt allen Pflichten den Untertanen gegenüber entbunden wäre. Diese Tendenz besteht zumindest dann, wenn man die den Alltag entwaffnende Wirksamkeit einer zentralen Zwangsgewalt als Zweck an sich selbst wertet. Legitimität und Effektivität politischer Herrschaft fallen im Rahmen dieser ‚etatistischen‘ Version des Gesellschaftsvertrags zusammen. Der Zweck – die Aufrechterhaltung des politischen Gewaltmonopols, d. h. die permanente Entwaffnung der Gesellschaft – heiligte in diesem Modell den Einsatz der tauglichen Zwangsmittel, die folglich allein durch ihre Zweckmäßigkeit gerechtfertigt wären.

Diese Art Gesellschaftsvertragslehre hätte demnach keinerlei interne Bezüge zum Prinzip der Volkssouveränität. Sie sollte zutreffender als Herrschaftsvertragslehren bezeichnet werden. Aber: eine kontraktuelle Theorie der Legitimität politischer Herrschaft bleibt auch diese dem Normativismus denkbar fern stehende Variante: Die Rechtmäßigkeit der Herrschaft beruht immer noch auf dem Konsens der Herrschaftsunterworfenen, auch wenn deren Einverständnis nicht aus einem förmlichen Beschluss hervorgeht, sondern sich lediglich aus konkludentem Verhalten (etwa der Permanenz des Wohnsitzes) indirekt erschließen lässt.

Auf der anderen Seite ließe sich der Gesellschaftsvertrag von vornherein als ein Akt der Volkssouveränität denken. Diese Art von Gesellschaftsvertrag würde dann in einem ersten Akt keine zentrale Zwangsgewalt begründen, sondern vor allem anderen einen gesetzgebenden Souverän auszeichnen, der mit dem Volk identisch oder aber dessen Stellvertreter sein kann. Der Gesetzgeber erhielte damit die Befugnis, eine exekutive und eine judikative Gewalt einzurichten, deren Rechtssetzungskompetenzen aber den Normbefehlen des Gesetzgebers untergeordnet blieben. Diese Art Gesellschaftsvertragslehre wäre von Grund auf volkssouveränitär konstruiert, weil eine ‚lückenlose‘ Reihe von gestuften Souveränitätsausübungsrechten zustande käme, die von der jeweils ‚höheren‘ auf die jeweils ‚niedrigere‘ Funktion übertragen würde. Allen ‚politischen‘ Funktionen wäre jedoch gemeinsam, dass sie lediglich übertragene Ämter wären, die im Falle des Missbrauchs auch wieder entzogen und anderweitig vergeben werden könnten. Auch wenn John Locke zweifellos der idealtypische Vertreter dieser Art Gesellschaftsvertragslehre ist, so findet sich doch insbesondere das Theoriemoment der gestuften Übertragung von Rechtssetzungskompetenzen bei zahlreichen Vertretern des aufgeklärten Kontraktualismus, so z. B. bei Sieyes.

Eine Variante der demokratischen Gesellschaftsvertragstheorie ergänzt das Prinzip gesetzgebender Volkssouveränität durch das der Verfassunggebung: Der Akt, in dem sich Individuen zum Staatsvolk konstituieren, legt zugleich die innere Organisation des Staates fest, insbesondere die Verteilung der Teilkompetenzen der öffentlichen Gewalt. Vor allem wird bestimmt, wer in Zukunft befugt sein soll, die speziellen Gesetze zu geben, durch die die Verfassung revidiert werden kann.

Aus der Perspektive demokratischer Theorien des pouvoir constituant ist die ursprüngliche Verfassung nichts anderes als die Artikulation des Willens der Gesellschaft, die sich vertraglich als Staatsvolk konstituiert. Folglich müsste dieser konstituierende Vertrag so beschlossen werden, dass jeder von ihm Betroffene maßgeblich an seiner Inkraftsetzung beteiligt wäre. Dieses prozedurale Legitimitätsprinzip impliziert auch, dass alle späteren Revisionen des positiven Verfassungsrechts maximalen, mindestens aber doch: gesteigerten demokratischen Ansprüchen genügen müssen. Begnügt man sich, wie in der Bundesrepublik, mit der Forderung nach qualifizierten parlamentarischen Mehrheiten, dann können Kontroversen darüber entstehen, ab wann eine Verfassungsrevision keine bloße Änderung mehr darstellt, sondern eine Verfassungssubstanzänderung, etwa indem die gesetzgebende Souveränität ganz oder teilweise auf andere als die verfassungsrechtlichen Organe übertragen würde. Republiken des eidgenössischen Typs sind dieser Problematik enthoben, insofern buchstäblich jede Verfassungsänderung – und sei es die Einfügung eines neuen Satzzeichens – allein durch obligatorische Referenden beschlossen werden kann.

Eine vierte Theorievariante beruft sich auf die Theorie der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, um sie für eine antidemokratische Legitimationskonzeption nutzbar zu machen. Die französische Lehre vom pouvoir constituant wird aller prozeduralen Aspekte beraubt und dient in dieser diffundierten Gestalt zur Rechtfertigung einer Diktaturlehre, die sich missbräuchlich als demokratisch bezeichnet.

Im Groben lässt sich sagen, dass die erste und die vierte Theorievariante den Gesellschaftsvertrag (bzw. die verfassunggebende Gewalt des Volkes) als bloßes theoretisches Konstrukt betrachtet, während sie gemäß der zweiten und der dritten Konzeption eine praktische Idee ist, die normative Festlegungen enthält: Sowohl das Verfahren der Verfassunggebung als auch die Qualität des in Geltung zu setzenden Staatsrechts kann nun nicht beliebig ausfallen. Zwischen diesen gedanklichen Extremen sind selbstredend zahlreiche Zwischentypen möglich, deren Nähe zu dem einen oder anderen Idealtyp sich dann auch spezifizieren lassen sollte.

Der Philosoph, der in der Regel als Begründer der neuzeitlichen Gesellschaftsvertragslehre angesehen wird, ist Thomas Hobbes (1588–1679). Zwar zeichnet er den Naturzustand in denkbar düsteren Farben, doch lässt sich dies kaum seinem angeblichen anthropologischen Pessimismus zuschreiben, sondern ist – angesichts der heute in afrikanischen failed states herrschenden Bürgerkriege – als großes Verdienst zu werten, weil Hobbes die unausweichlichen praktischen Folgen eines Zusammenbruchs des staatlichen Gewaltmonopols in aller Konsequenz schildert.

Unter dem Naturzustand versteht Hobbes einen gesellschaftlichen Zustand, in dem es keine, alle Individuen an Macht übertreffende Zentralgewalt gibt. Insofern der Mensch naturgesetzlich dazu bestimmt ist, sich selbst zu erhalten, habe er auch das Recht, sich die Mittel für sein Überleben zu beschaffen (Hobbes, Leviathan, Kap.14, 99). Da die benötigten Güter jedoch knapp sind, wird jedes Individuum genötigt, seine Selbsterhaltung auf Kosten anderer zu betreiben. Denn er kann sein Überleben nur auf Dauer sichern, wenn er den, der ihn in seiner Existenz (jedenfalls potenziell) bedroht, unterwirft. Also hat in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles (ebd.) und also auch die Befugnis, präventiv Gewalt gegen potenzielle Feinde auszuüben, was jedoch dazu führt, dass niemandes Leben auf Dauer gesichert sein kann. Dieser Zustand, in dem sich das Leben nur durch permanente gegenseitige Aufrüstung verlängern lässt, sei der Zustand des Krieges aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) – ein Zustand, in dem es beispielsweise sinnlos wäre, einen Acker zu bestellen. Das Leben der Individuen sei unter diesen Bedingungen einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz (Leviathan, I, 14, 98).