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Gottfried Hierzenberger

Der Hinduismus

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ISBN: 978-3-8438-0247-5
 
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Inhalt

Über den Autor

Zum Buch

Grundwissen Hinduismus

Die Wurzeln des Hinduismus

Frühe Induskulturen

Die Arier erobern Indien

Die vedische Religion

Der Brahmanismus oder Ältere Hinduismus

Die Schriften des Brahmanismus

Brāhmanas

Aranyakas

Vedāngas

Upanishaden

Der Umbruch zum Hinduismus

Das Kastenwesen

Karma und Samsāra

Der Yoga

Der klassische Hinduismus

Wichtige Schriften des Hinduismus (in Sanskrit)

Upanishaden

Epen

Purānas

Tantras

Sutras und Dharmas

Lyrik

Drei Wege zur Erlösung

Karma-mārga (= Weg des Handelns)

Jnāna-mārga (= Weg der Erkenntnis)

Yoga

Die 7 Chakren

Überblick über die verschiedenen Yoga-Wege

Bhakti-mārga (= Weg der Gottesliebe)

Die Religion des klassischen Hinduismus

Die »Lieblingsbibel« der Hindus (Bhagavad-Gītā)

Krishna, über sich selbst

Die Gottesvorstellungen im Hinduismus

Vishnu (= der Alldurchdringende)

Shiva (= der Gütige, Freundliche, Gnädige)

Brahmā (= der mit der Kraft des heiligen Spruchs Erfüllte)

Niedere Götter und Gottheiten

Geister und Dämonen

Heroen

Tierkulte und andere Formen der Natur-Verehrung

Hinduistische Feste

Hinduistische Sekten (= Religionssysteme)

Shivaitische Sekten

Tantrische Sekten

Shaktische Sekten

Vishnuitische Sekten

Das hinduistische Weltbild

Nachklassische Periode und Neohinduismus

Begegnung mit dem Christentum

Begegnung mit dem Islam

Die Kolonialzeit (Mahātma Gāndhī)

Der Neohinduismus (Übersicht)

Der Glaube der Jaina (Jainismus)

Der Glaube der Sikh (Sikhismus)

Verwendete Literatur

Kontakt zum Verlag

Grundwissen Hinduismus

Unter den großen Weltreligionen nimmt der Hinduismus aus mehreren Gründen eine Sonderstellung ein: Er ist nicht nur die älteste heute noch lebendige Religion – jene der Ägypter und Mesopotamier sind zwar älter, bestehen aber seit langem nicht mehr –, sondern zugleich das Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung über 5.000 Jahre hinweg. »Der Hinduismus hat keinen Stifter, keinen Propheten, keine ›kirchliche‹ Organisation und kein Glaubensbekenntnis« (Raymond Hammer), er ist eigentlich gar keine Religion wie die anderen, sondern »ein Kollektiv von Religionen« (Heinrich von Stietencron) bzw. »das vielgestaltigste religiöse Gebilde, das die Gegenwart kennt« (Helmuth von Glasenapp).

Charakteristisch für die Hindus ist es, dass ihnen jeder Absolutheitsanspruch fremd ist. Wenn es scheinbar diametral gegenüberstehende Meinungen gibt, erklären sie nicht die eine für richtig und die andere für falsch, sondern suchen nach dem übergreifenden Zusammenhang, der sie als zwei Seiten einer Medaille erscheinen lässt. Sie lassen sich in ihrem Bewusstsein nicht einengen, sondern akzeptieren und anerkennen einander auch in all ihren Verschiedenheiten, weil sie ein einheitliches letztes Ziel aller Religiosität postulieren und einsehen, dass es wegen der ungeheuren Vielfalt der menschlichen Individuen, die auf sehr verschiedenen Entwicklungsstufen stehen, höchst unterschiedliche Wege geben muss, auf denen die Menschen zum gleichen Ziel unterwegs sind. Das hat dazu geführt, dass die Hindus eine ungewöhnlich große Fähigkeit entwickelt haben, Elemente anderer Religionen zu integrieren, Fremdeinflüsse zu assimilieren und bei all dem doch ihre eigene Tradition zu bewahren.

Das gilt aus ihrer Perspektive für die verschiedenen Hindu-Religionen ebenso wie für die Wege der »Häretiker« (z. B. Buddhisten oder Jainas) und auch der »andersgläubigen Barbaren« (z. B. für die europäischen Christen oder die Muslime). Für einen Hindu betrifft Vielheit immer nur die Oberfläche, er sieht dahinter die »übergreifende intentionale Einheit, insofern alle Religionen versuchen, dem Menschen einen Zugang zur Gottheit (oder zur letzten Realität, zum Absoluten) und zum wie immer definierten ›Heil‹ zu öffnen […]. Das betrifft alle Religionen der Menschheit«. (Heinrich von Stietencron)

Was Muslime oder Christen glauben und wie sie handeln sollen, ist im Wesentlichen festgeschrieben, weil es eindeutige Kriterien der jeweiligen Orthodoxie beziehungsweise Orthopraxie gibt, zu denen sie sich bekennen und an denen ihr Handeln zu messen ist. Nicht so bei einem Hindu, denn er gehört gleichzeitig ganz verschiedenen religiösen Systemen an, die einander sogar deutlich widersprechen können, denn ein Hindu hat – nach unserem westlichen Verständnis – nicht eine, sondern mehrere verschiedene Religionen. Und er behauptet selbst ja gar nicht, ein Hinduist zu sein. Dieser Name wurde erst vor rund 200 Jahren von europäischen Gelehrten geprägt, als sie sich im Zuge der Kolonialisierung mit dem Glauben der Hindus beschäftigten und der seltsamen exotischen Blume, die sie da unversehens entdeckten, einen Namen gaben, der sich im Laufe der Zeit zwar als unpassend herausgestellt hat, aber nicht mehr so leicht abzulegen ist. Schon allein dieses Faktum zeigt, wie wichtig es ist, unvoreingenommen nach dem eigentlichen Glauben der Hindus zu fragen, wenn man sich um ein Grundwissen des Hinduismus bemüht.

Für indische Verwaltungsbeamte ist jeder Inder ein Hindu, wenn er sich nicht ausdrücklich zu einer anderen Religion bekennt. Die neuere indische Rechtsprechung geht sogar noch weiter, indem sie auch Buddhisten (0,7 Prozent), Jainas (0,5 Prozent) und Sikhs (0,2 Prozent) zu den Hindus rechnet und nur Muslime (11 Prozent), Christen (2,4 Prozent) und Juden davon ausnimmt. Das bedeutet, dass 85 Prozent der Inder in diesem Sinne Hindus sind.

Nicht jeder Hindu praktiziert seine Religion. Auch hier hat sich die moderne Säkularisierungs-Bewegung ausgewirkt. Und die aktuellen Konflikte zwischen Indien und Pakistan haben nicht wirklich einen religiösen Ursprung, wie man in politischen Kommentaren oft zu hören bekommt, sondern wurzeln in teilweise sicherlich weit zurück reichenden, sehr komplexen politischen und ökonomischen Problemen.

Sicherlich ist der Hinduismus aufs engste mit der Mutter Indien, mit ihrer uralten Gesellschaftsordnung, langen Geschichte und auch mit ihrer Natur verbunden, die er voll von Leben sieht. Vor allem die Berge und Flüsse spielen im Alltag und im religiösen Leben eine bestimmende Rolle. Sie sprechen zu den Indern von den Mächten, die das menschliche Gestalten leiten oder ihm entgegen stehen und vermitteln ihm Erfahrungen von göttlichen und dämonischen Kräften, die seit Ewigkeiten wirksam sind. Deshalb nennen Hindus ihren Glauben gerne sanātana dharma (= ewige Religion). Daher wird oft behauptet, dass man »ein Hindu sei, weil man als Hindu geboren wurde«. Und von Rādhākrishnan, dem ehemaligen Staatspräsidenten Indiens, stammt der Ausspruch: »Hinduismus ist mehr eine Kultur als ein Glaubensbekenntnis«.

Die Entwicklung in den letzten Jahren ging leider insofern in eine andere Richtung, »als fundamentalistische Hindu-Gruppierungen (Welt-Hindu-Rat = VHP) und Parteien (BJP) nach einem nicht nur indischen, sondern hinduistischen Staat rufen: ›Hindi, Hindu, Hindustan gehören zusammen: Hindustan den Hindus!‹. Das sind gefährliche Parolen, denn rund ein Sechstel des indischen Staatsvolkes würde auf diese Weise an den Rand gerückt oder gar kulturell-politisch ausgeschlossen. Hindu-Massaker an Muslimen und neuerdings auch gewalttätige Übergriffe auf christliche Kirchen und Einrichtungen sowie Angriffe auf Priester und Nonnen lassen für die Zukunft des bisher so toleranten indischen Staates fürchten.« (Hans Küng)

Dass Indien und Pakistan im Besitz eines jederzeit verfügbaren Nuklearpotenzials sind, verleiht solchen Konflikten eine zusätzliche, höchst brisante überregionale Bedeutung.

Der Name Hindu geht zurück auf den Indus, den großen Strom im heutigen Pakistan, in dessen Bereich in der Mitte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts überaus interessante Funde gemacht wurden, die auf die Existenz einer uralten Induskultur schließen lassen, die bereits lange vor der indoarischen bestanden hat, in einer direkten Beziehung zu ihr steht, ja in ihr aufgegangen ist. Dies berechtigt uns nämlich erst dazu, den Hinduismus »die älteste lebendige Religion der Menschheit« zu nennen.

Im Sanskrit heißt der Indus Sindhu, davon stammt der alte Name Sind für das Land, das er durchfließt; dieser Name war bereits im 7. Jh. n. Chr. im Mittelmeerraum als der von Handelspartnern bekannt und ist heute noch der Name jener pakistanischen Provinz, die vom Indus durchflossen wird. Der griechischen Übersetzung des Namens aus der Zeit Alexanders d. Gr. – Indos bzw. lat. Indus – verdanken wir die deutsche Bezeichnung Indus und Indien. Auf persisch heißt Indus das Land, das der Indus durchfließt, und die Menschen, die dort leben, heißen Hindus. Erst die Europäer haben zwischen Indern und Hindus unterschieden und das erste Wort politisch-säkular, das zweite dagegen als religiös-kulturelle Bezeichnung verwendet. Alle eben genannten Völker werden uns in den folgenden Kapiteln wieder begegnen, wenn wir uns mit den Ursprüngen und den einzelnen Entwicklungsphasen und Details des Glaubens der Hindus beschäftigen.

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Über den Autor

Über den Autor

Dr. Gottfried Hierzenberger wurde 1937 in Wien geboren. Ausbildung zum Volksschullehrer und Studium der Theologie; Religionslehrer in Wiener Neustadt und München; Verlagslektor im Herder-Verlag; Pressereferent im Staatsdienst; Autor zahlreicher religiös-theologischer Bücher; seit 1990 freiberuflich als Lektor im Tyrolia-Verlag tätig. Zahlreiche Publikationen.

Zum Buch

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Der Hinduismus ist die älteste der Weltreligionen, seine Wurzeln reichen weit in die Vorgeschichte zurück. Das Besondere dieser bis heute lebendig gebliebenen, ungeheuer komplexen Religion ist ihre Vielschichtigkeit, Toleranz und Kreativität, aus der heraus sich nicht nur der Buddhismus und Jainismus entwickelt haben, sondern – in der Auseinandersetzung mit dem Islam – auch die Religion der Sikh.

Durch die Begegnung mit dem modernen Europa wurde die indische Geistesgeschichte auch westlichen Menschen erschlossen.

DER HINDUISMUS vermittelt einen allgemein verständlichen Zugang zur bunten und faszinierenden Welt dieser ältesten lebendig gebliebenen Weltreligion.

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Die Wurzeln des Hinduismus

In der Illustrated London News vom 20. September 1924 veröffentlichte John Marshall einen Bericht über Funde im unteren Industal bei Mohenjo Daro, die auf die Existenz einer uralten, bisher unbekannten Kultur im Industal schließen lassen. 1931 erschien dann sein vollständiger Bericht »Mohenjo-daro and the Indus Culture I–III«. Nach der Veröffentlichung neuer Grabungsergebnisse durch Stuart Piggott (»Prehistoric India«, 1950), die auch Funde einbezog, die bereits 1856 beim Bau der Eisenbahnlinie Karachi – Lahore bei Harappa am Ravi-Fluss, im Bereich des oberen Indus, gemacht, aber damals in ihrer Bedeutung nicht erkannt wurden, war klar, dass man eine um tausend Jahre ältere Kultur in Indien nachgewiesen hatte, als vorher bekannt war.

Frühe Induskulturen

Die beiden voll ausgegrabenen Städte zeigen eine einheitliche Bauplanung, was auf eine Zentralverwaltung des Harappischen Reiches schließen lässt; die Städte besitzen ein richtiges Straßennetz mit Haupt- und Nebenstraßen, von denen wieder Gassen abzweigen, durch die Häuserblocks entstehen. Die Häuser sind aus gebrannten Lehmziegeln gebaut.

Auf burgartigen Erhöhungen gibt es in beiden Städten je ein zitadellenartiges Bauwerk, das wahrscheinlich als Tempel mit Nebengebäuden anzusehen ist und aus sehr dicken – an die Megalithkultur erinnernden – Felsmauern besteht. Symmetrisch angelegte Treppen führen zu einem Doppeltor. Bedeutsam sind außerdem die vielen aufgefundenen Statuetten und Siegel aus Speckstein, Kalkstein und Alabaster mit Tierdarstellungen – z. B. auch mit dem später in Indien nachweisbaren Einhorn – sowie insgesamt elf Figuren bärtiger Männer in mantelartigen Gewändern, welche mit einem auffälligen Kleeblattmuster verziert sind; möglicherweise handelt es sich um Abbildungen der Priesterkönige dieser Indus- oder Harappakultur.

Leider haben wir keine Texte, die uns Aufschluss über die Religion dieser Frühzeit Indiens geben könnten. Dabei gibt es sogar schriftliche Zeugnisse – nämlich Schriftzeichen auf mehr als zweitausend ausgegrabenen Siegeln –, doch ist es bis heute nicht gelungen, diese Schrift zu entziffern, so dass man, gerade, was die Religion anlangt, weitgehend auf Mutmaßungen angewiesen bleibt. Es gibt allerdings doch ein wichtiges Indiz, das den Zusammenhang der Induskultur mit den Hindu-Religionen plausibel macht, und das ist die typische Sitzhaltung des Hindu-Yogi, die in keiner anderen Kultur aus dieser Zeit nachzuweisen ist – außer auf Abbildungen, die eindeutig zur Induskultur gehören.

Mohenjo Daro und Harappa waren vielleicht zwei Zentren einer erstaunlich weit ausgedehnten Kultur, denn es gibt mehr als 20 vergleichbare Fundstellen z. B. im Südwesten (Sutkagon) am Meer oder 1.500 km entfernt in der Nähe des oberen Ganges (Alamgirpur) im Jumna-Becken. Es ist ein Gebiet von etwa 1,3 Millionen qkm, das in Nordwestindien in der Zeit zwischen 2550 und 1750 v. Chr. zur Harappakultur gehörte.

Noch viel größer dürfte aber das Gebiet gewesen sein, auf dem sich bereits zwei oder drei Jahrtausende vorher eine Vorharappische Kultur ausgebildet hatte. Darüber wurde man sich klar, als im Quettatal in Ostbelutschistan – also an den südöstlichen Ausläufern des iranischen Hochlandes, westlich des Indus – Überreste megalithischer Bauten gefunden wurden – eine Art von Zikkurats (= Stufentürme) und Überreste von mehr als hundert Gebäuden und – nachdem man zu den Fundamenten dieser Gebäude vorgedrungen war – großformatige kreisförmige Steinformationen (Zeremonienplätze?) und Steinstraßen, die erkennen lassen, dass es dort schon lange vor Mohenjo Daro und Harappa eine hochentwickelte Kultur gab.

Diese Funde in Belutschistan lassen zwar noch viele Fragen offen, zeigen aber doch deutlich, dass es sich auch hier schon um eine Stadtkultur gehandelt haben muss und dass es damals Kontakte zu den großen Stadtkulturen im Vorderen Orient gab, was deutliche Übereinstimmungen gewisser Details an Geräten und anderen Fundobjekten über Tausende Kilometer hinweg mit vergleichbaren Funden in Mesopotamien nahe legen. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Agrarkultur bzw. um eine Fruchtbarkeitsreligion, was viele aufgefundene Figuren schwangerer Göttinnen nahe legen.

Wie alle ältesten Städte wurden auch die vorharappischen »im Umkreis von Heiligtümern erbaut, bzw. in der Nähe eines ›Weltmittelpunktes‹, an dem man die Kommunikation zwischen Erde, Himmel und Unterwelt für möglich hielt«. (M. Eliade)

Die reichen Funde und die Vergleiche, die man anstellte, ließen darüber hinaus den Schluss zu, dass der Übergang von der vorharappischen zur harappischen Kultur fließend gewesen sein dürfte, während die harappische Kultur plötzlich abbrach. In der jüngsten Schicht sowohl in Mohenjo Daro wie in Harappa fand man nämlich viele Skelette von Männern, Frauen und Kindern, die offensichtlich eines gewaltsamen Todes gestorben waren und nicht – wie in älteren Schichten – (rituell) begraben wurden. Man fand bei diesen Skeletten Kupferstreitäxte mit einem in der harappischen und vorharappischen Kultur unbekannten Schaftansatz, der auf indoarische Formen verweist, so dass man daraus schließt, dass sie Opfer der im 18. Jh. v. Ch. erfolgenden arischen Invasion in Indien geworden sein könnten. Dies sind aber nur Rückschlüsse aufgrund einiger weniger außergewöhnlicher Funde, die unter Umständen auch anders gedeutet werden können.

Leider wissen wir sehr wenig Konkretes vom Leben dieses Indusvolkes, das den Indern ihren Namen gegeben hat. Aus den zahlreichen Funden lässt sich ohne entschlüsselte schriftliche Zeugnisse nur mit einiger Wahrscheinlichkeit schließen, dass die Induskultur neben der Nilkultur in Ägypten und der Euphrat-/Tigriskultur Mesopotamiens als die dritte Wiege der Hochkulturen der Menschheit betrachtet werden kann und den Anfang der indischen Kultur und des Hinduismus darstellt.

Aus anthropologischer Perspektive scheinen fünf der sechs ethnischen Gruppen, aus denen die heutige Bevölkerung des indischen Subkontinents zusammengesetzt ist, schon im 3. Jahrtausend fest etabliert gewesen zu sein: »Die frühesten waren die Negritos, gefolgt von den Proto-Australoiden, den Drawiden oder Mittelmeermenschen, den Mongoloiden am Nord- und Nordostrand Indiens und den vor allem im Westen Indiens nachgewiesenen Brachycephalen. Ihre allmählich sich entwickelnden Siedlungen waren am Ende des 4. Jahrtausends weit über Sind, Belutschistan und Radschastan verstreut, und es begann schon eine Art von städtischem Leben […]. Die Indus-Kultur verschwand zwar ohne deutlich sichtbare Spuren, sie ist aber fast sicher mit dem Aufstieg der sechsten großen Volksgruppe Indiens verbunden, die wegen ihrer indoeuropäischen Sprachen gewöhnlich als die arische bekannt ist.« (G. Barraclough)

Die Arier erobern Indien

Das Auftauchen der Indoeuropäer (die man früher auch Indogermanen nannte) in der Geschichte ist von einer beispiellosen Expansionsdynamik in sprachlicher, kultureller, politischer und religiöser Hinsicht getragen – und sie ist von schweren Verwüstungen begleitet: Die Zerstörung von Troja um 2300 v. Chr. geht wohl ebenso auf ihr Konto wie die Vernichtung verschiedener befestigter Orte in Griechenland, in der Ägäis und in Mesopotamien, oder die Zerstörung von etwa 300 Städten und Siedlungen zwischen 2300 und 1900 v. Chr. in Anatolien. Etwa zweihundert Jahre später finden sich solche Gewaltspuren der Indoeuropäer – die in den schriftlichen Aufzeichnungen unter sehr verschiedenen Namen auftreten (z. B. als Hethiter, Luwier oder Mitanni) – auch in Belutschistan, im Bereich der südöstlichen Ausläufer des iranischen Hochlandes und im östlich anschließenden Indusgebiet, dessen nördlicher Teil (der heutige Pandschab) sapta sindhavah (= Sieben Flüsse) genannt wird.

Hier werden sie Arier (āriya = die Edlen) genannt, und etwa um 800 v. Chr. wird fast das gesamte riesige Vorderindien bereits von ihnen dominiert – darin wurzelt der in der Zeit des Nationalsozialismus geprägte Ausdruck arisieren. »Dieser charakteristische Vorgang – Wanderung, Eroberung neuer Gebiete, Unterwerfung der Bewohner, gefolgt von deren Assimilation – kam erst im 19. Jahrhundert unserer Zeitrechnung zum Stillstand. Diese weitgreifende sprachliche und kulturelle Expansion hat in der Geschichte nicht ihresgleichen« (M. Eliade).

Die ursprüngliche Heimat der Indoeuropäer liegt wahrscheinlich nördlich des Schwarzen Meeres zwischen den Karpaten und dem Kaukasus, wo sogenannte Protoindoeuropäer bereits im 5. Jahrtausend als Träger der Tumuli(Kurgan)-Kultur nachgewiesen sind. Das bedeutet, dass die Ursprünge der indoeuropäischen Kultur bis in die Mittelsteinzeit zurückreichen und dass ihre Kultur von der Ausbildung der alten Hochkulturen im Vorderen Orient stark beeinflusst wurde. Sie betrieben Ackerbau, Rinder-, Schweine- und Schafzucht und kannten und domestizierten auch bereits Pferde. Sie entwickelten zwar auch eine Weidewirtschaftsform, doch ihr Hirtennomadentum war die Wurzel der gewaltigen Expansionsdynamik.

Diese richtete sich aber nicht nur nach Süden (Vorderer Orient) und Südosten (Iran, Zentralasien, Indien), sondern auch nach Südwesten (Balkan, Italien, Griechenland) und Westen (Zentral-, Nord- und Westeuropa) und erfasste schließlich den gesamten europäischen Kontinent.

Die Indoeuropäer sind Nachfahren der steinzeitlichen Jägerkultur, sind patriarchalisch – in Form von Männerbünden – organisiert und bilden einen deutlichen und bewussten Kontrast zur Sesshaftigkeit der bäuerlichen Kulturen, in die sie eindringen, der sie sich schnell assimilieren und die sie bald dominieren. Damit setzten sie die große Tradition der paläolithischen Jäger nicht nur im Mesolithikum fort, sondern hielten diese kriegerischen Strukturen in geradezu anachronistischer und trotzdem höchst wirksamer Weise aufrecht.

Der Religionswissenschaftler Mircea Eliade vergleicht diese Mentalität mit der eines Wolfsrudels: »Die Mitglieder der indoeuropäischen Männerbünde und die Nomadenreiter Mittelasiens verhielten sich hinsichtlich der von ihnen angegriffenen sesshaften Völker wie Raubtiere, die die Pflanzenfresser der Steppe oder das Vieh der Bauern jagen, töten und fressen; viele indoeuropäische Stämme trugen Raubtiernamen und hielten sich für Abkömmlinge eines mythischen Tierahnen. Zu den militärischen Initiationen der Indoeuropäer gehörte auch eine rituelle Transformation in einen Wolf«.

Die Indoeuropäer hielten also diese Jägermentalität nicht nur über eine sehr lange Zeit hin unverändert aufrecht, sondern sie kommunizierten auch mit den Kulturen in den eroberten Gebieten – besonders deutlich in Indien – in Form einer sehr kreativen und wirkungsvollen Symbiose bis hin zur Synthese.

Bevor sich die aus der Geschichte bekannten indoeuropäischen Sprachgruppen (z. B. griechische, germanische, keltische und slawische Idiome) herausbildeten, gab es offensichtlich bereits eine gemeinsame proto-indoeuropäische Sprache, Kultur und Religion, die man jedoch nur durch eine mühsame Analyse der späteren Mischformen mit ansässigen, einheimischen Kulturen herausfiltern und darstellen kann. Das Ergebnis bleibt deshalb auch eher synthetisch – nicht so die Religion der Brahmanen in der sogenannten vedischen Zeit, wovon gleich die Rede sein wird.

Ein paar Beispiele: Die indoeuropäische Wurzel deiwos (= Himmel), findet sich z. B. in allen Wörtern, die Gott oder göttlich bedeuten: lat. deus und divus aus altlat. deivos, iranisch dio aus altiranisch dia, altindisch deva-h, avestisch daeva, keltisch duro, litauisch dievas, lettisch dievs, italisch deivai, altgermanisch tivar usw. Das weist deutlich auf eine gemeinsame indoeuropäische Himmelsgott-Vorstellung und begründet ihre Herrschaftsvorstellung und Schöpferkraft. Der Himmelsgott ist der Vater schlechthin und seine Bezeichnung in den verschiedenen indoeuropäischen Sprachen macht die Verwandtschaft auch dem Laien klar: altindisch dyauspitar = griech. Zeus-pater, illyrisch Daipatures, lat. Jupiter, umbrisch Jupater, phrygisch-thrakisch Zeus-Pappos, skythisch Zeus-Papaios.

Die Indoeuropäer entwickelten wohl auch eine eigene Mythologie und Theologie, brachten Opfer dar, verwendeten sakrale Worte und Lieder, Tanz und Dramatik mit magisch-religiöser Bedeutung in ihren Ritualen und Weihungen. Typisch ist aber das Fehlen ausgesprochener Heiligtümer (z. B. Tempel) und die mündliche Weitergabe der religiösen Traditionen. Erstaunlich spät erst gibt es schriftliche Sammlungen.

Doch obwohl es durch die großen zeitlichen und räumlichen Entfernungen der wandernden Indoeuropäer viele bodenständige Überlagerungen gab, die das zugrunde liegende indoeuropäische Kulturgut aufs erste verdecken, stimmen die mythologischen Elemente z. B. bei so verschiedenen (und zeitlich weit auseinander liegenden) Zeugnissen wie dem Rig-Veda im brahmanischen Indien, den bei Titus Livius gesammelten Überlieferungen oder der in der Edda des Snorri Sturluson bewahrten nordischen Überlieferung in allen wichtigen Punkten überein. Dies wird aus der nachfolgenden Gegenüberstellung ersichtlich:

Indien

brāhmanas

ksatriya

vaisya

(Priester)

(Militär)

(Bauern)

Iran

äthra-van

rathaé-shtar

vāstryō

(Priester)

(Militär)

(Bauern)

Kelten

Druiden

Flaith

bo airig

(Priester)

(Militär)

(Bauern)

Römer/Etrusker

Romulus

Lukomon

Tatius und die Sabiner

(Priesterkönig)

(General)

(Bauern)

Germanen

Othin

Thor

Freyr

(Götterkönig)

(Kämpfergott)

(Fruchtbarkeitsgott)

Dabei gibt es aber in den einzelnen Entwicklungssträngen auch beträchtliche Unterschiede: Wo die Römer geschichtlich und national denken, denken die Inder dichterisch und kosmisch, wenn bei den Römern ein empirisches, relativistisches, politisches und juridisches Denken dominiert, neigen die Inder zu einem philosophisch-reflexiven, dogmatisch-moralischen und mystischen Denken.

Die vedische Religion

Von den Ariern stammen die Veden, die ältesten heiligen Texte der Hindus. Sie sind in Sanskrit geschrieben, der heiligen Sprache der Hindus. Wie andere heilige Sprachen (z. B. Althebräisch) hat sich Sanskrit über die Jahrhunderte hinweg kaum verändert, so dass wir damit über eine relativ reine indoeuropäische Sprache verfügen, die mit der deutschen Sprache (und den meisten europäischen und einigen asiatischen Sprachen) aus den oben bereits angeführten Gründen verwandt ist.

Wir kennen Namen einzelner Dichter und Seher, die als Urheber der Veden gelten und die einzelne Hymnen »erschaut« haben sollen. Zugleich gelten diese Texte aber als »ewige, anfangslose, nicht einmal von den Göttern geschaffene und von den Sehern nur vermittelte Offenbarungen« (Heinrich von Stietencron). Daraus erklärt sich auch der Name: Die Einzahl (der) Veda bedeutet Wissen und wird sowohl für einzelne Schriften (Sammlungen) – z. B. den schon genannten Rig-Veda (= Wissen der Verse) als auch für das gesamte heilige Wissen der frühen indoarischen Zeit verwendet. Die Universität Gurugal in Haridwar am Ganges ist heute das wichtigste Studienzentrum dieser klassischen heiligen Schriften der Hindus. Dort befindet sich auch das spirituelle Zentrum Shantikunj, das sich auf der Linie der von Dayanand Sarasvati (1824-1883) begründeten Arya Samaj (= Gemeinschaft der Arier), einer nationalistisch geprägten sozialreformerischen Bewegung, befindet, welche die moralisch-geistige Erweckung der Hindus aus dem Geist der Veden zum Ziel hat.

Der gesamte Veda besteht aus vier Sammlungen (samhita) von Offenbarungen, Gebeten, Sprüchen und Ritualen der nach Indien eingewanderten Arier, deren Entstehung sich über mehrere Jahrhunderte hinzog und deren (kanonisierte) Gestaltung etwa um 1000 v. Chr. erfolgte. Nachher wurde nichts mehr hinzugefügt, wohl aber gibt es Nachträge, die man als solche überliefert hat. Sie enthalten das gesammelte Wissen der am vedischen Opferritual beteiligten Priester – wobei die Sammlung Rücksicht auf die wichtigsten vier Priesterfunktionen nahm und die vier Veden diesen vier Priesterklassen zuschrieb:

1. Die älteste Sammlung ist der Rig-Veda (= Wissen der Verse), der aus 1028 Hymnen und mehr als 10.000 Strophen besteht, die in zehn Kreisen (Mandalas) oder Büchern angeordnet sind und wohl weitgehend während der Okkupation der Induskultur – also zwischen 1700 und 1200 v. Chr. – entstanden sind. Vorherrschend sind Bitt- und Lobgebete an die Götter, welche der Hotar (= leitender Priester) verwendete, der die Götter zum Opfer einlud und die Gussopfer (Schmelzbutter ins Feuer) vollzog.

Der Rig-Veda ist von hohem literarischem Wert, weil er das älteste und zugleich am besten erhaltene dichterische Werk aus der indoeuropäischen Sprachfamilie darstellt. Den Kern bilden die sogenannten Familienbücher (II-VII), die bestimmten Sängerfamilien zugeschrieben werden. Buch IX enthält alle dem Gott Soma zugeschriebenen Hymnen, I und VIII haben verschiedene Inhalte, der X. Teil enthält die zeitlich jüngsten Texte. Im folgenden Text geht es um die Schöpfung des Alls:

»Tausend Köpfe hatte Purusha (= Urwesen), tausend Augen, tausend Füße. Er bedeckte die Erde allerseits und überragte sie um zehn Finger.

Dieser Purusha ist alles, was geworden ist und was werden wird.

Der Unsterblichkeit Herr ist er und Herr über das, was durch Speise aufwächst.

So gewaltig ist seine Größe, ja größer noch ist Purusha.