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Über den Autor

Prof. Dr. Michael Tilly, geb. 1963, ist Hochschuldozent für Judaistik in Mainz, Vertreter der Professur für Neues Testament in Landau und Verfasser von Fachbüchern, Aufsätzen und Lexikonartikeln zu judaistischen und exegetischen Themen.



Das Judentum

Wissen über die Weltreligion Judentum in Geschichte und Gegenwart ist unverzichtbar für ein umfassendes Verständnis der europäischen Kultur. Die vorliegende 3. korrigierte und ergänzte Auflage des erfolgreichen Standardwerks bietet zunächst einen allgemeinverständlichen und übersichtlichen Überblick über die wichtigsten Entwicklungen, Ereignisse und Wendepunkte in der Geschichte des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart, stellt sodann die Haupttexte des Judentums vor und informiert schließlich umfassend über die vielfältigen jüdischen Lebensformen, religiöse Praktiken, Sitten und Gebräuche. 

Einleitung

Das Judentum ist trotz der vergleichsweise geringen Anzahl seiner Bekenner (ca. 13 Millionen Menschen auf der Welt sind jüdischen Glaubens) eine überaus lebendige und vielgestaltige Weltreligion. Jüdische Gemeinden sind heute in allen Teilen der Erde anzutreffen.

Das Judentum ist die älteste monotheistische Weltreligion. Seine wichtigsten Voraussetzungen und Grundlagen sind der strenge Monotheismus, d. h. der Glaube an den einen und einzigen Gott Israels, und die zentrale Bedeutung der als unmittelbar von Gott geoffenbart geltenden fünf Bücher Moses, der Tora. In dem vorliegenden Buch soll in differenzierend gewich­tender Weise aktuelles Grundwissen über wesentliche und beispielhafte Aspekte des Judentums vermittelt werden. Diese Vermittlung geschieht aus drei Blickwinkeln. Das erste Kapitel soll zunächst in Raum und Zeit orientieren, indem wichtige Phasen und Ereignisse in der bewegten Geschichte des Judentums als eines komplexen kulturellen Systems von seinen nachbiblischen Anfängen bis in die Gegenwart knapp und übersichtlich dargestellt werden, ohne dabei die Geschehenszusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Die Darstellung des Judentums im Altertum konzentriert sich auf die drei antiken Zentren jüdischen Lebens in Babylonien, im Mutterland und in Ägypten, von denen jedes seinen eigenen Beitrag zur Entwicklung des jüdischen Glaubens geleistet hat. Schwerpunkte bei der Skizzierung jüdischen Lebens im Mittelalter sind Palästina, die östliche Diaspora, die Iberische Halbinsel, das Frankenreich und Deutschland. Aus der Fülle der Lebensäußerungen des neuzeitlichen und gegenwärtigen Judentums sind beispielhaft die wechselhafte Geschichte des Judentums in Palästina und im modernen Staat Israel sowie das überaus lebendige deutsche Judentum ausgewählt.

Juden in aller Welt verbindet bei aller religiöser und kultureller Vielfalt die Hingabe an den einen gnädigen und gerechten Gott und die Auseinandersetzung mit seinen Geboten. Seit der Antike bemühte sich das Judentum fortwährend, sich seiner Existenz und dem verpflichtenden Charakter seiner Erwählung denkend zu vergewissern. Im zweiten Kapitel werden deshalb einige bedeutende Glaubensdokumente, Werke und Persönlichkeiten des Judentums aus drei Jahrtausenden vorgestellt, die als Ausdruck dieser fortwährenden Vergewisserung gelten und zugleich die faszinierende Vielfalt und Lebendigkeit der jüdischen Religion zeigen.

Die gelebte jüdische Frömmigkeit wird traditionell von den Geboten der Tora bestimmt. Sie stiftet Heil und Orientierung, ermöglicht ein Leben in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes und gibt dem Alltag wie dem Festtag Struktur und Bedeutung. Die jüdischen Feste und Bräuche im Jahreszyklus stellen die Gottesbeziehung regelmäßig wiederkehrend dar und dienen der Stärkung und der Erneuerung der jüdischen Identität. Im dritten Kapitel werden deshalb zunächst Lebensformen und Symbole des Judentums im Lebenszyklus und im Jahreszyklus beschrieben. Schließlich widmet sich ein Abschnitt dem jüdischen Gottesdienst in Geschichte und Gegenwart und gibt Auskunft über wichtige Gebete, rituelle Handlungen, Speise- und Reinheitsgebote.

Es ist dem Verfasser dieses Buches vor allem daran gelegen, dass jüdische Geschichte, Literatur und Lebensformen als lebendige – und sich weiterhin entwickelnde – Ausdrucksformen des immensen schöpferischen Beitrags der jüdischen Religion zu den bleibenden Errungenschaften der Geistes- und Kulturgeschichte erkannt werden. Gerade in Deutschland gehört das Judentum zu den grundlegenden Faktoren bei der Entstehung der eigenen – von den Nationalsozialisten aufgegebenen – Zivilisation und Kultur. Ohne das Verständnis des Judentums bleibt das Verständnis nicht nur der gesamten deutschen Geschichte unvollkommen.

Die vorliegende 4. Auflage enthält weitere Korrekturen und Ergänzungen. Mein Dank gilt Prof. Dr. Wolfgang Kraus für seine wertvollen Hinweise und Herrn Fritz Krause für die aufmerksame Durchsicht der Druckvorlage.

Tübingen, im April 2012 Michael Tilly

1.

Aus der Geschichte
des Judentums



Antike

Babylonien

Grundlegende Kennzeichen der antiken jüdischen ­Religion sind ihr strenger Monotheismus, die Kultzentralisation, die zentrale Bedeutung der als unmittelbar von Gott geoffenbart geltenden Tora (vgl. Kap. 2, Die Tora) und durch die Tora begründete Identitätsmerkmale wie Sabbatheiligung, Reinheitsbestimmungen und Beschneidung.

Das Judentum war und ist eine Buchreligion. Die in der Zeit während und nach dem babylonischen Exil (587/586538 v. Chr.) entstandene schriftliche Tora ist die historische Voraussetzung des Judentums. Erst im Land zwischen Euphrat und Tigris südlich des heutigen Bagdad entstand auf der Basis alt­israelitischer religiöser Traditionen die jüdische Religion. Die verschleppten Judäer nahmen viele Elemente aus ihrem kulturellen und religiö­sen Umfeld auf, verknüpften sie mit ihren eigenen Traditionen und entwickelten sie in kreativer Weise weiter. Hieraus ergibt sich die Konsequenz, nicht die heilsgeschichtliche Geschichtsbetrachtung der Bibel innerhalb des Horizontes frommer jüdischer (und christlicher und islamischer) Tradition als Orien­tierungsrahmen dieser Darstellung wesentlicher Phasen der bewegten jüdischen Geschichte zu Grunde zu legen, sondern die philologisch und geschichtswissenschaftlich verantwortete Analyse und Interpretation der geschichtlichen Quellen.

Im Jahre 597 v. Chr. verlor Juda seine Unabhängigkeit, nachdem es seinen Vasalleneid gegen Nebukadnezzar II. (605562 v. Chr.), den Begründer des neubabylonischen Reiches, gebrochen hatte. Der judäische König Jojachin wurde zusammen mit Priestern, Hofbeamten und Teilen der städtischen Oberschicht aus Jerusalem nach Babylonien deportiert. Im Juli 587/586 v. Chr. eroberten die Truppen Nebukadnezzars endgültig die Stadt Jerusalem, das einstige politische Zentrum des Reiches Juda, und zerstörten den salomonischen Tempel, den uneinnehmbar geglaubten Wohnsitz des Gottes Israels. Das Königreich Juda wurde zu einer tributpflichtigen babylonischen Provinz. Viele Bewohner Jerusalems und der umliegenden Gebiete wurden in einer zweiten Welle nach Babylonien verschleppt (vgl. 2. Kön 25). Die Gemeinschaft dieser judäischen Exulanten, die zumeist in zusammenhängenden Gemeinden im südöstlichen Babylonien als Bauern und Hirten lebten und von den Babyloniern in vielerlei Berufen als Arbeitskräfte eingesetzt wurden, verstärkte sich in den folgenden Jahrhunderten immer wieder durch Zuwanderung.

Im babylonischen Exil entwickelte sich abseits der israelitischen religiösen Traditionen die monotheistische Gleichsetzung des Gottes Israels mit dem Schöpfergott. Es entstanden grundlegende kultische und rechtliche Abschnitte der Tora als schriftliche Fundamente des jüdischen Glaubens. Um dem Anpassungsdruck der fremdgläubigen Umwelt standzuhalten und die eigene Identität zu wahren, führten die Deportierten die Sitte der Beschneidung (vgl. Kap. 3, Die Beschneidung) der männlichen Erstgeborenen ein, die in Babylonien unüblich war. Sie gestalteten den Sabbattag, der wahrscheinlich in seinem Ursprung ein Vollmondfest am Jerusalemer Tempel war, als allwöchentlichen Feiertag mit Arbeitsruhe. Die Reinheits- und Speisegebote, die ursprünglich dem priesterlichen Bereich entstammten, dienten nun der sozialen Abgrenzung der Judäer zwischen Euphrat und Tigris und stärkten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl im Alltag. Aus einer ortsgebundenen Religion begann während der Exilszeit eine Religion der Schrift zu werden. Die Tora wurde zum eigentlichen Bindeglied zwischen dem Volk Israel und seinem Gott. Jedoch konnte auch im babylonischen Exil der Jerusalemer Gottesberg Zion als Ort der heiligenden Gottesnähe Orientierungspunkt religiöser und nationaler Hoffnungen bleiben. Unter den Angehörigen der aus Jerusalem verschleppten Oberschicht wurde die – nun unerreichbar weit entfernte – Heimatstadt Jerusalem zunehmend Schauplatz des erhofften endzeitlichen Eingreifens Gottes zugunsten seines bedrängten Volkes.

Auch nach der Eroberung des neubabylonischen Großreiches durch den Perserkönig Kyros II. (539 v. Chr.) und der von ihm tolerierten Rückkehr der Exulanten in ihre Heimat, wo es ihnen gestattet war, ihren Tempel wiederaufzubauen, blieb ein nicht geringer Teil von ihnen in Babylonien, wo sie seit dem ersten Jahrhundert als feudal strukturierte, autarke Bevölkerungsgruppe von einem jüdischen Exilarchen (»Resch Galuta«) angeführt wurden. Dieses bis ins 11. Jahrhundert fortdauernde Amt wurde von Generation zu Generation vererbt. Die Mehrzahl der babylonischen Juden lebte als Bauern und Handwerker. Die Unterschicht bestand aus Lohnarbeitern und Sklaven. Einige wenige babylonische Juden waren am Fernhandel beteiligt.

Zunächst noch unter seleukidischer Herrschaft lebend, gerieten die babylonischen Juden 240 v. Chr. in den Machtbereich der Arsakiden. Der Norden Mesopotamiens gehörte zeitweilig zum römischen Reich. Während der langen Herrschaft der Sassaniden (seit 224) lebten sie vorwiegend von der Landwirtschaft, von der Schifffahrt und dem Handel. Jedoch kam es in der Anfangszeit der Sassanidenherrschaft immer wieder zu lokalen Zerstörungen von Synagogen und jüdischen Grabstätten und auch zu religionspolitisch motivierten krisenhaften Perioden der Unterdrückung und Verfolgung. Im Jahre 495 ausbrechende jüdische Aufstände mit dem Ziel der Errichtung eines unabhängigen jüdischen Königreichs wurden von Chawad I. (488531) niedergeschlagen; die Anführer der Rebellen wurden hingerichtet. Erst unter dem Sassanidenherrscher Chosrau I. (531578) stabilisierte sich die Lage für das Judentum im Zweistromland dauerhaft. Jüdische Soldaten beteiligten sich am Kampf der Sassaniden gegen Rom.

Die Verbindung des babylonischen Judentums mit Jerusalem war stets weitaus enger als die Beziehung zwischen der ale­xandrinischen Diaspora (»Zerstreuung«) und dem Tempelstaat. Nach dem jüdischen Krieg und ebenso nach dem Bar-Kochba-Aufstand (vgl. Kap. 1, Exkurs: Qumran) kamen zahlreiche Flüchtlinge aus Palästina nach Babylonien. Das Aramäisch sprechende babylonische Judentum konnte über die Jahrhunderte eine eigenständige religiöse und kulturelle Tradition entwickeln, die in der im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris entstandenen reichen rabbinischen Literatur, insbesondere im babylonischen Talmud (vgl. Kap. 2, Die Talmudim), erhalten ist.


Das Mutterland

Im Jahre 587/586 v. Chr. kam es zur endgültigen Einnahme der Stadt Jerusalem durch Nebukadnezzar II. Jerusalem, das einstige politische Zentrum des judäischen Staates, und der salomonische Tempel, der uneinnehmbar geglaubte befestigte Wohnsitz Gottes, waren von den Babyloniern nahezu vollständig zerstört worden. Der mächtig geglaubte Gottesberg Zion war nur noch ein Schutthügel in einer verwüsteten und entvölkerten, machtlosen und politisch abhängigen kleinen Stadt. Allerdings gab es in Jerusalem auch in den Jahrzehnten nach der Deportation des Großteils der Priesterschaft wahrscheinlich noch einen bescheidenen Opferbetrieb.

Nach dem Sieg des Kyros II. (601530 v. Chr.) über die Neubabylonier wurde Judäa unselbständiger Teil einer persischen Provinz. Schon im darauffolgenden Jahr wurden der regelmäßige Opfergottesdienst und der Wiederaufbau des Heiligtums in Jerusalem durch ein königliches Dekret wieder gestattet. Diese Maßnahmen der Perser, die hierdurch das Problem der Kontrolle ihres weiten Herrschaftsraums zu lösen trachteten, beabsichtigten die Schaffung eines organisatorischen und räumlichen Zentrums der regionalen Verwaltung, das vor allem dem effizienten Eintreiben von Steuern und Tributen zugute kommen sollte. Sie trugen aber auch zur Förderung der ethnischen und religiösen Identität der jüdischen Stadtbevölkerung Jerusalems bei.

Unter den Bewohnern Jerusalems scheint das Bedürfnis nach einem Wiederaufbau des Tempels angesichts des allgegenwärtigen Elends zunächst gering gewesen zu sein. Dennoch propagierten priesterliche und prophetische Kreise die Notwendigkeit, das irdische Kultzentrum wieder herzurichten. Dieser Ort der rituellen Entsühnung des judäischen Volkes durch Opfer verhinderte ihrer Überzeugung nach die Anhäufung ungesühn­ter Schuld bzw. die hierdurch bewirkte Anballung unheilvoller Macht. Die Wiederherstellung des Jerusalemer Tempels sei unbedingte Voraussetzung allen von hier aus in die Welt strömenden Segens. Die Botschaft der Propheten Haggai und Sacharja, die diesen Gedanken Ausdruck verlieh, indem sie den Tempel als Quelle paradiesischen Heils schilderten, fand ihren Widerhall in der Hoffnung eines Teiles der Bewohner Jerusalems. Man glaubte, allein das baldige wunderbare Eingreifen Gottes selbst könne einerseits die überlebensnotwendige Fruchtbarkeit des Landes bewirken, andererseits der Stadt zu ihrer einstigen natio­nalen Bedeutung und Macht verhelfen und damit auch jeden Einzelnen aus seiner aktuellen Notsituation befreien.

Erst im Jahre 515 v. Chr. fand die Einweihung des mit persischer Unterstützung errichteten Zweiten Tempels in Jerusalem statt. Die in den folgenden Jahrhunderten mehrfach umgebaute und erweiterte Tempelanlage wurde nach dem Vorbild auf dem Fundament und nach den Maßen des zerstörten salomonischen Tempels errichtet, jedoch in weitaus bescheidenerem Rahmen als dieser. Ihre architektonische Grundstruktur unterteilte das Tempelgelände in verschiedene Bereiche abgestufter Heiligkeit, die als aufeinanderfolgende Höfe und Räume gleichsam konzentrischer Kreise das Allerheiligste als ideales Zentrum der göttlichen Sphäre umgaben und deren Betreten eine entsprechend abgestufte rituelle Reinheit (vgl. Kap. 3, Speise- und Reinheitsgebote) erforderte.

Vor allem das nach dem Ende des davidischen Königtums entstandene Machtvakuum in Judäa trug zu einem raschen Anstieg von Macht und Einfluss der Jerusalemer Priesterschaft bei. Als einzige auch in der Krisenzeit des babylonischen Exils noch organisierte und verfasste gesellschaftliche Gruppe trat sie gegenüber dem eigenen Volk und gegenüber den persischen Behörden zunehmend als Repräsentantin der Allgemeinheit auf. Man kann annehmen, dass die meisten dieser Priesterfamilien aus Babylonien kamen. Ihre Ansiedlung in Judäa wurde von den Persern, die so eine lokale Führungsschicht in der fernen Provinz zu installieren beabsichtigten, tatkräftig unterstützt. Es ist zu beachten, dass die aus dem Exil im babylonischen Kernland zurückgekehrten politischen und religiösen Funk­tionsträger hierdurch auch eine besondere ideelle Position in der judäischen Bevölkerung erlangten. Sie stellten nun wieder das Kultpersonal des Tempels unter der Führung der hohenpriesterlichen Dynastie mit eigenen, durch die bauliche Strukturierung des Tempelraums auch architektonisch gekennzeichneten Monopolbereichen. Ihre besondere Position ermöglichte es den Pries­tern bald, als die einzigen legitimen Hüter des religiösen und nationalen Erbes aufzutreten. Ungeachtet der Tatsache, dass die Bevölkerung Judäas und Jerusalems nun keine territoriale und staatliche Einheit mehr besaß, wuchs ihr Einfluss auf die bei der Wegführung im Land verbliebenen Judäer, die mittlerweile zugewanderten, ehemaligen Nordreichbewohner im Land und die jüdischen Gemeinden in der gesamten Diaspora.

Unter dem Statthalter Nehemia (ca. 445433 v. Chr.) wurde Jerusalem die ummauerte und wieder von ca. 1200 bis 1500 Menschen besiedelte Hauptstadt der kleinen und armen, jedoch aufgrund des Verlaufs der wichtigen Fernhandelsstraßen wirtschaftlich äußerst wichtigen Provinz Jehud im Südwesten des Perserreiches zwischen Mittelmeer und Antilibanon. Dem Jerusalemer Tempel kam wieder eine hohe Bedeutung als religiöser und nationaler Orientierungspunkt für die jüdischen Bewohner der Provinz zu. Der fortgesetzte Opferkult (vgl. Kap. 1, Exkurs: Tempel und Tempelopfer) und die gemeinschaftlichen Feste im Tempel befriedigten das Bedürfnis vieler dieser Menschen nach Absicherung vor der drohenden Gefahr einer möglichen Wiederholung der erlebten nationalen Katastrophe. Schon allein aus diesem Grund finanzierte auch die jüdische Bevölkerung durch ihre Abgaben in Form von Geld und Naturalien den laufenden Kultbetrieb, notwendige Baumaßnahmen und auch den Unterhalt der Priester und Tempelbeamten.

Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. hatte sich auf dem Gebiet des ehemaligen Nordreichs Israel die samaritanische Religionsgemeinschaft als eine jüdische priesterliche Sondergruppe gebildet. Als strikte Jahweverehrer, die wohl nur das Kultmonopol Jerusalems ablehnten, errichteten die dissidenten Priester zur Zeit Alexanders des Großen (356323 v. Chr.) auf dem Berg Garizim ein separates Kultzentrum mit eigenem Opferbetrieb gemäß den Bestimmungen der Tora. Der bei Sichem (dem heutigen Nablus) gelegene Garizim gilt den Samaritanern, von denen es gegenwärtig nur noch wenige Hundert gibt, bis heute als kultischer Mittelpunkt.

Durch die Zerstörung Sichems und des Tempels auf dem Garizim im Jahre 129 v. Chr. waren die Samaritaner genötigt, die Legitimation der eigenen Religionsgemeinschaft neu zu begründen und zu legitimieren. Es kam zur Fixierung einer besonderen samaritanischen Verständnistradition der Tora mit einer eigenständigen Schrifttradition. Im jüdischen Krieg (vgl. Kap. 1, Exkurs: Qumran) nahezu ausgerottet, kämpfte die kleine samaritanische Religionsgemeinschaft in den folgenden Jahrhunderten ums Überleben. Der Kultbetrieb auf dem Garizim kam jedoch bis heute nie gänzlich zum Erliegen.

Der Jerusalemer Tempel selbst übernahm neben seinen religiösen Aufgaben immer mehr politische und – z. B. als Bank – eine Reihe wirtschaftlicher Funktionen. Ebenso mündete die politische, gesellschaftliche und religiöse Entwicklung innerhalb des Judentums in einen immensen Machtzuwachs der priesterlichen Aristokratie. Die Bedeutungsfunktionen des Jerusalemer Heiligtums als eines kosmischen und gesellschaftlichen Zentrums verschmolzen zu einer Einheit. Für die priesterliche Oberschicht stellte der Tempel nun quasi die eigene Existenzgrundlage dar. Jedoch standen die Pläne und Interessen dieser Priester zunehmend im Widerspruch zu denen der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit.

Mit der Eroberung Syriens durch Alexander den Großen (332 v. Chr.) geriet Jerusalem endgültig in den unmittelbaren Einflussbereich des makedonischen Großreiches und der hellenis­tischen Einheitskultur. Auch den neuen Machthabern war sehr an politischer Stabilität in der Provinz gelegen. Die bereits unter der Perserherrschaft bestehende weitgehende innere Autonomie Judäas und »Hierosolymas« auf der Grundlage der Tora als Verfassung und mit dem Jerusalemer Tempel als anerkanntem politischen Zentrum bestand deshalb fort, wenn auch mit je und je unterschiedlicher Intensität. Hoherpriester und Ratsversammlung wurden dabei von den nichtjüdischen Herrschern als Repräsentanten und als privilegierte politische Vertreter der jüdischen Bevölkerung in dem tributpflichtigen Tempelstaat anerkannt. Der Seleukidenherrscher Antiochos III. (223187 v. Chr.) billigte diese Staatsform ausdrücklich. Einige Jahrzehnte später scheiterte der Versuch eines Teils der Jerusalemer Tempelaristokratie, den Tempelstaat mit Hilfe der syrischen Seleukiden gewaltsam in eine hellenistische Stadt zu verwandeln (167 v. Chr.), um so die eigene Machtposition zu festigen. Dieser Umsturzversuch einer Minderheit stieß auf den heftigen Widerstand vor allem derer, die durch diese als religiöse und kulturelle Erosion empfundenen gewaltsamen Hellenisierungsbestrebungen die politische Reichweite der Zentralität des Tempels und somit ihre statusbestimmende Lebensgrundlage, Macht und Autorität als Priester oder Tempelbeamte bedroht sahen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt stellte der Jerusalemer Tempel bzw. seine unterschiedliche Wahrnehmung den deutlichen Ansatzpunkt für polarisierende Auseinandersetzungen verschiedener konkurrierender religiöser Teilgruppierungen im antiken Judentum dar. Es ist zu beachten, dass sich diese durch Anpassung und Widerspruch gekennzeichnete Entwicklung nicht vorwiegend zwischen pro- und antihellenistischen Angehörigen verschiedener sozialer Schichten in Judäa vollzog, sondern vor allem innerhalb der Jerusalemer Oberschicht.

Den Makkabäerbrüdern, Söhnen des Priesters Mattatias aus Modein, gelang es, eine »konservative« antihellenistische Sammelbewegung zu führen und diese Bestrebungen abzuwehren. Der »Tempelreinigung« des Judas Makkabaios (164 v. Chr.) folgte die Herrschaft der in Jerusalem residierenden Hasmo­näerdynastie. Dieses jüdische Herrscherhaus legitimierte seine gesellschaftliche Machtposition nach innen vor allem durch die Selbstdarstellung als den väterlichen Gesetzen verpflichteter religiöser Streiter für Tempel und Kult. Es bewirkte so die Umwandlung der Stadt zum politischen Zentrum eines »unabhängigen« Königreiches sowie die Umwandlung des Tempels in das bedeutendste Symbol der jüdischen Selbstbehauptung. Seit 142 v. Chr. politisch unabhängig, war Jerusalem nun für mehr als sieben Jahrzehnte wieder der machtpolitische Mittelpunkt eines expansionistischen jüdischen Staates. In die Hasmonäerzeit fällt auch die eigentliche Entstehung des Begriffs »Judentum« zur Bezeichnung einer eigenständigen Gemeinschaft, die über eine bloße ethnisch-geographische Größe hinausgeht.

Die besondere Bedeutung Jerusalems und des Tempels als Symbole der nationalen und religiösen Zugehörigkeit blieb kennzeichnend für die gesamte hasmonäische Ära. Mit der römischen Eroberung der Stadt durch Pompeius Magnus (63 v. Chr.) und dem von Rom unterstützten Aufstieg Herodes’ des Großen (ca. 754 v. Chr.) nahm die Intensität der Handelskontakte und der kulturellen Beziehungen Jerusalems zu anderen städtischen Zentren im Osten des Römischen Weltreichs noch einmal beträchtlich zu. Seit 19 v. Chr. renovierte Herodes den während der römischen Angriffe beschädigten Jerusalemer Tempel als Symbol des »weltstädtischen« Charakters der Stadt am Rand des Imperium Romanum und als international beachtetes Wahrzeichen seiner Herrschaft. Der im Stil der hellenistisch-römischen Monumentalbauweise erneuerte, in Entsprechung des bereits zuvor bestehenden baulichen Strukturprinzips der konzentrischen Heiligkeit erweiterte, erhöhte und mit gewaltigen Umfassungsmauern versehene herodianische Tempel wurde zu dem erfahrbaren religiösen Zentrum des Judentums in Palästina und – unbeschadet aller Loyalität gegenüber und Teilhabe an der jeweils bestimmenden Umwelt – in der gesamten antiken Welt. Pilger aus vielen Ländern strömten zu den Wallfahrtsfesten nach Jerusalem, übereigneten dem Tempel kultische Abgaben und Weihegeschenke und wohnten am Zielort ihrer Pilgerreise den Opfern bei. Juden überall in der Dias­pora entrichteten freiwillig die jährliche (Halb-)Schekel­steuer, die in ers­ter Linie für den Unterhalt des Jerusalemer Tempels bestimmt war.

In die Zeit der Herrschaft des galiläischen Landesfürsten Herodes Antipas (ca. 20 v. Chr. – 39) fällt die Entstehung der Jesusbewegung und des Christentums. Der Jude Jesus aus der galiläischen Stadt Nazareth ließ sich von dem jüdischen Bußprediger Johannes im Jordan taufen und zog als charismatischer Wanderprediger mehrere Jahre durch Galiläa. Er heilte Kranke, lehrte in den Synagogen (vgl. Kap. 3, Die Synagoge), verkündigte öffentlich den Beginn der Heilszeit und rief das Volk Israel zur Umkehr und Nachfolge auf. Dabei verstand er sich wahrscheinlich als endzeitlicher Prediger und von Gott gesandter Heilsmittler, ohne jedoch selbst Anspruch auf den traditionellen jüdischen Hoheitstitel »Messias« (»Gesalbter«) zu erheben. Um Jesus aus Nazareth sammelte sich eine stetig wachsende Zahl von Anhängern, darunter viele Angehörige von sozialen Randgruppen. Unter dem Vorwurf der Gotteslästerung und der politischen Agitation wurde Jesus ca. im Jahre 30 in Jerusalem von der römischen Provinzverwaltung gefangengenommen, verurteilt und am Kreuz hingerichtet.

Nur kurze Zeit nach seiner Hinrichtung traf sich in Jerusalem die christliche Urgemeinde in der festen Überzeugung, angesichts der nahen Zeit des Weltgerichtes das wahre Judentum zu repräsentieren. Bald entstanden kleine Hausgemeinden, die immer größere Bereiche ihres Lebens gemeinsam gestalteten. Von der Jerusalemer Tempelaristokratie und ihrer Anhängerschaft als ketzerische Aufrührer verfolgt und von der aufgehetzten Volksmenge bedroht, flüchteten viele Anhänger des neuen Glaubens nach Samaria, an die phönizische Küste und bis nach Antiochia am Orontes, wo sie zum ersten Mal als eine eigenständige Gruppe in Erscheinung traten. Von der nichtjüdischen Bevölkerung der Stadt wurden die Angehörigen der neuen jüdischen Endzeitsekte bald »Christen« genannt, wahrscheinlich um sie durch diese Bezeichnung, die den Hoheitstitel »Christus« (griechisch für »Messias«) wie einen Eigennamen behandelte, von der gro­ßen Mehrheit des Judentums zu unterscheiden.

Waren die palästinischen Christen anfangs noch eine exklusive, enthusiastische Bewegung innerhalb des Judentums, so schlossen sich ihnen in dem multiethnischen und multireligiösen antiken Handelsknotenpunkt Antiochia auch immer mehr ehemalige Anhänger hellenistisch-römischer Zeremo­nialgemeinschaften und Mysterienkulte an, die an ihrer bisherigen Religion zweifelten. Die Griechisch sprechenden antiochenischen Christen waren die Ersten, die auf die Beschneidung (vgl. Kap. 3, Die Beschneidung), das äußere Zeichen der Zugehörigkeit zum Judentum, als Voraussetzung zur Taufe verzichteten. Ebenso hatte in ihrem alltäglichen Zusammenleben die Beachtung der traditionellen jüdischen Speise- und Reinheitsgebote (vgl. Kap. 3, Speise und Reinheitsgebote) bald keinen verbindlichen Bekenntnischarakter mehr.

Die Verehrung des gekreuzigten und auferstandenen Jesus aus Nazareth als Sohn Gottes und Messias und insbesondere der Verzicht auf das Bundeszeichen der Beschneidung konnten als Verrat am Judentum ausgelegt werden. Der unausweichliche Konflikt zwischen Judenchristen und Heidenchristen wurde nach der – durchweg nach Harmonie zwischen Judenchristen und Heidenchristen strebenden – Darstellung der Apostelgeschichte des Lukas (Apg 15) während einer Apostelversammlung in Jerusalem durch einen Kompromiss beigelegt, wonach die einen die anderen tolerierten, sofern sie eine Reihe von religionsgesetzlichen Minimalforderungen beachteten und ihre wirtschaftliche Solidarität unter Beweis stellten.

Die Christen zogen auch die Judenfeindschaft der hellenis­tisch-römischen Welt auf sich, der der antike Historiker Tacitus (ca. 55115) mit seinem böswilligen Vorwurf des »Hasses gegen das Menschengeschlecht« Ausdruck verlieh. Der Ausbruch des jüdischen Krieges im Jahre 66 (vgl. Kap. 1, Exkurs: Qumran) bedeutete auch für die christlichen Gemeinden überall im römischen Reich bald Kriminalisierung und Diskriminierung als verdächtige Zellen abergläubischer und feindseliger jüdischer Aufrührer gegen das Imperium.

Im Gegensatz zu dem hohen religiösen Gewicht des herodia­nischen Tempels auch außerhalb des Landes war seine politische und wirtschaftliche Bedeutung innerhalb Judäas im ersten Jahrhundert merklich gesunken. Das unter der Herrschaft der Perser, Ägypter und Syrer mit zahlreichen Machtbefugnissen ausgestattete, während der hasmonäischen Herrschaft mit dem Königtum verschmolzene Amt des Hohenpriesters war nun, da mit Herodes dem Großen und seinen Söhnen wieder Nichtpriester herrschten, auf seine kultischen Funktionen beschränkt. Diese von vielen Juden als schmählich und bedrohlich empfundene Entwicklung sollte nicht folgenlos bleiben. Spätestens seit der Unterstellung Palästinas unter die direkte römische Verwaltung entzündeten sich an der Frage nach der vorrangigen Funktion des Jerusalemer Tempels wieder heftige innerjüdische Auseinandersetzungen.

War das Heiligtum vor allem der unpolitische, allein religiös bedeutsame heilige Ort der Gottesgegenwart oder aber das politisch relevante Symbol einer neu zu erkämpfenden nationalen Unabhängigkeit? Über diese Frage gestritten wurde sowohl innerhalb der jüdischen Aristokratie, die die Kontrolle über den Tempel hatte, als auch zwischen dieser und den unteren Bevölkerungsschichten, die am stärksten unter der Ausbeutung durch die eigene Oberschicht litten und die sich durch die römischen Steuern und Tribute in ihrer Existenz bedroht sahen.

Für die »Zeloten« (»Eiferer«) und weitere nationalistische Widerstandsgruppen war die Freiheit Israels von eschatologischer Bedeutung. Ihre Motive setzten sich aus religiösen und sozialen Impulsen zusammen, dem Streben nach politischer Freiheit und endzeitlicher Erlösung. Ziele der jüdischen Widerstandsbewegung gegen Rom waren die konsequente Verteidigung des Königtums Gottes gegenüber dem römischen Kaiserkult bzw. die Forderung nach einer eindeutigen Entscheidung zwischen Kaiserkult und Gottesherrschaft. Alle Herrschaftsansprüche der durch den römischen Kaiser und seine Exponenten verkörperten, heidnischen Weltmacht wurden von den Zeloten kategorisch ausgeschlossen. Für sie war die Freiheit Israels eschatologisch begründet. Die Zeloten strebten nach einer Restitution der Verhältnisse bzw. der toragemäßen, theokratischen Ordnung der idealen Vorzeit Israels.

Die angespannte Situation in Jerusalem spitzte sich rasch zu; die religiös und vor allem sozial motivierten jüdischen Unabhängigkeitsbestrebungen mündeten in den offenen Aufstand gegen Rom (66). Sie fanden ihr vorläufiges Ende mit der Belagerung und Einnahme Jerusalems und der Zerstörung der Tempelanlagen durch den römischen Feldherrn Titus (70).

Im Jahre 70 schlug eine gewaltige römische Übermacht den jüdischen Aufstand nieder und nahm Jerusalem ein. Große Teile der Stadt waren nach der römischen Eroberung verwüstet, ihr prächtiger Tempel zerstört, der Hauptteil ihrer Bevölkerung tot, versklavt oder geflohen. Die wenigen Juden, die in Jerusalem geblieben waren, mussten mitansehen, wie nun römische Soldaten, Veteranen und fremde Siedler einzogen, um hier zu leben. Die Bewohner der Stadt wurden zu harten Zwangsdiensten verpflichtet und mussten hohe Abgaben leisten. Die jüdischen Kleinbauern wurden enteignet und zu Pächtern auf römischem Grund. Judäa war nun einem römischen Statthalter unmittelbar unterstellt. Das Jerusalemer Heiligtum, der wichtigste Anknüpfungspunkt für das religiöse Selbstverständnis und für die Lebensgestaltung der jüdischen Mehrheit und sämtlicher jüdischer Sekten, war zerstört. Das Opfer im Tempel war nunmehr unmöglich. Das Judentum war fortan zum Verzicht auf alle diejenigen Formen der Religiosität genötigt, die nur im Jerusalemer Tempel gepflegt werden konnten.

Die überlebenden Priester, Leviten und Tempelbeamten waren nach der Tempelzerstörung ohne Amt, ohne kultische Funktion und ohne öffentliche Macht, wenn auch ihr Landbesitz und der relative Wohlstand ihrer aristokratischen Oberschicht nicht unmittelbar von den Umwälzungen, d. h. von der wirtschaftlichen Notlage betroffen waren. Ein Teil der Priesterschaft versuchte neben der aufstrebenden jüdischen Laiengelehrsamkeit, verkörpert vor allem durch die pharisäische Bewegung, als konsolidierte Gemeinschaft fortzubestehen. Man versuchte, die für Priester geltenden besonderen Gebote und kultischen Anordnungen weiterhin zu bewahren, um dadurch eine besondere gesellschaftliche Funktion im Bereich der Rechtsprechung zu erlangen. Die den Priestern des Jerusalemer Tempels von der jüdischen Bevölkerung zuvor zuerkannte Kompetenz scheint nicht abrupt an ihr Ende gekommen zu sein. Einige von ihnen betätigten sich fortan als rabbinische Gelehrte (vgl. Kap. 2, Exkurs: Der Rabbiner). War Jerusalem bis dahin das alleinige religiöse und politische Zentrum des palästinischen Judentums gewesen, so entstand nun in Jabne, einer kleinen Stadt in der Küstenebene südlich vom heutigen Tel Aviv, unter der Leitung von Priestern und schriftgelehrten Laien ein rabbinisches Lehrhaus. Diese rabbinischen Gelehrten zogen unter römischer Duldung bald Aufgaben der früher in Jerusalem angesiedelten jüdischen Selbstverwaltung an sich. In den Texten, die sie der Nachwelt hinterließen und die für das spätere Judentum maßgebliche Geltung erlangten, ist von Jerusalem und seinem Tempel nur selten die Rede. Dies dürfte daran liegen, dass man in Jabne das Studium der Tora (vgl. Kap. 2, Die Tora) an die Stelle des Tempelopfers (vgl. Kap. 1, Exkurs: Tempel und Tempelopfer) gesetzt hatte und ihm eine vergleichbare religiöse Bedeutung beimaß.

Nur wenige Jahrzehnte nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels schlug der wirtschaftliche Niedergang des Landes in eine Krise der gesellschaftlichen Ordnung um. In und um Jerusalem flackerte erneut gewaltsamer Widerstand gegen Rom auf. Der Beschluss des Kaisers Hadrian (117138), auf den Trümmern der Stadt die römische Metropole Colonia Aelia Capitolina zu errichten (132), stieß auf den Widerstand radikaler Kreise um Simon ben Koseba (Bar Kochba). Er und seine Anhänger bewaffneten sich. Ein großer Teil der verarmten jüdischen Bevölkerung schloss sich ihnen an. Der römische Legionsstandort Jerusalem wurde rasch zum Zentrum dieser jüdischen Aufstandsbewegung. Auch der improvisierte Opferbetrieb auf dem Tempelplatz wurde von den jüdischen Rebellen nach dem Rückzug der Römer offenbar wieder aufgenommen. Nach der Niederschlagung der Erhebung durch eine gewaltige römische Übermacht wurde die Stadt in ein heidnisches Kultzentrum mit einem Jupiterheiligtum auf dem nahezu eingeebneten Tempelareal umgewandelt. Für Sieger und Besiegte war dies ein Symbol der völligen Unterwerfung des jüdischen Aufstandes und des Triumphs der überlegenen Weltmacht. Rom betrieb nun die totale Paganisierung Jerusalems. Ein kaiserliches Dekret verbot allen Beschnittenen bei Todesstrafe das Betreten der Stadt. Juden war das Betreten des Tempelbezirks und großer Teile der Stadt somit offiziell untersagt. Das Verbot, als Jude in Jerusalem zu wohnen, bedeutete für die Stadt den Verlust ihrer vormaligen identitätstiftenden Bedeutung als zentraler Ort der Versammlung und des gemeinsamen religiösen Lebens.

Der Zerstörung des Jerusalemer Tempels wurde im Judentum bald an einem jährlichen Tag der Trauer gedacht, dessen feierliche Begehung – späterhin am 9. Av (vgl. Kap. 3, Der 9. Av) – das bedrohte Gemeinschaftsgefühl immer wieder stärkte, Juden in allen Ländern verband und solidarisierte. Unter den Nachfolgern Hadrians entspannte sich die Lage wieder. In der Institutio Antoniniana gewährte Kaiser Caracalla (198–217) fast allen Provinzbewohnern, und damit auch allen Juden in Palästina, die römischen Bürgerrechte und Bürgerpflichten (212). Sie durften nun gleichberechtigt im römischen Militär dienen, mussten aber auch – mitunter kostspielige – kommunale Verwaltungsposten bekleiden. Die ersten jüdischen Jerusalempilger kehrten im dritten Jahrhundert in die verwüstete Stadt zurück.

Nach dem Zusammenbruch des Widerstandes gegen die Römer und der Tempelzerstörung im Jahre 70, endgültig nach dem Bar-Kochba-Aufstand in den Jahren 132–135, war jedoch Galiläa zum Kernland des palästinischen Judentums geworden. Die prekären Lebensbedingungen im zeitgenössischen Judäa, dessen agrikulturelle Infrastruktur weitgehend zerstört worden war und wo von den Römern zahlreiche Veteranen, Syrer und Araber angesiedelt wurden, kommen allein darin zum Ausdruck, dass nach 135 zahlreiche jüdische Ortschaften Judäas überhaupt nicht mehr erwähnt werden. Es kam zu einer starken Abwanderung der überlebenden jüdischen Bevölkerung in die Länder der Diaspora, vor allem in das benachbarte Syrien und nach Babylonien. Manche folgten den römischen Legionen oder kamen auf den Fernhandelsstraßen des Imperium Romanum bis an die Ränder des römischen Reichs. Das jüdische Leben in Judäa, dem vormaligen geistigen und wirtschaftlichen Zentrum des Judentums, war im zweiten Jahrhundert nahezu erloschen. In Galiläa hingegen, dem nördlichen Teil der römischen Provinz Syria Palaestina, existierten zu dieser Zeit nicht nur mit Sepphoris und Tiberias zwei mehrheitlich von Juden bewohnte Städte, sondern auch eine sesshafte jüdische Landbevölkerung. Dieses galiläische Judentum war zahlenmäßig zwar relativ klein, aber im zweiten Jahrhundert fraglos der bestimmende Faktor im palästinischen Judentum.

Als Ansprechpartner Roms boten sich in dieser Zeit die rabbinischen Schülerkreise an, um die Verwaltung der problematischen Provinz zu organisieren und zu erleichtern. Die Gelehrten in Uscha boten aus der Perspektive Roms das Modell eines durchschaubar organisierten jüdischen Gemeinwesens ohne Tempel und ohne bedrohliche politische Ambitionen. Nach 138 erreicht das Patriarchat sukzessive die Stellung eines offiziellen Repräsentanten der gesamten Judenschaft im römischen Reich. Die Stellung des Patriarchen als Vertreter der eingeschränkt autonomen jüdischen Volksgruppe in Palästina entsprach rechtlich der Stellung eines Vasallenkönigs. Nahezu drei Jahrhunderte sicherte das Patriarchat den Frieden im Land und verhinderte Aufstände gegen Rom. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts erlosch das Amt des Patriarchen für immer.

Nach dem Bar-Kochba-Aufstand trat Rabbi Schimon ben Gamliel als Patriarch bzw. »Nasi« (»Fürst«) an die Spitze des Rabbinats. Er erfuhr nicht nur breite Anerkennung im jüdischen Volk, sondern auch Akzeptanz durch die römischen Behör­den. Der in Uscha, später in Bet Schearim, in Sepphoris und schließlich in Tiberias residierende Patriarch war für Rom der Garant für das Wohlverhalten der Juden (Religionsfreiheit wurde im römischen Reich durch Privilegrecht geregelt). Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts wurde der Führer der rabbinischen Bewegung, Rabbi Jehuda ha-Nasi, dem auch die abschließende Redaktion der Mischna (vgl. Kap. 2, Die Mischna) zugeschrieben wird, von den Römern als Vertreter aller Juden Palästinas anerkannt. Das Patriarchat wurde im dritten Jahrhundert erblich.

Während der Herrschaft Konstantins I. (306–337/325) begann die zunehmende Bedrückung des Judentums unter dem Einfluss der Erhebung des Christentums zur staatlich privilegierten Religion. Das Edikt von Mailand (313) erlaubte die Ausübung der christlichen Religion im Reich. Konstantin II. (337–340) verbot 339 Juden das Halten nichtjüdischer Sklaven. Bekehrte ein Sklave sich zum Christentum, musste er von seinem jüdischen Herrn freigelassen werden. Das negative christliche Judenbild wurde nun zur allgemeinen Maxime. Die Ausübung der jüdischen Religion blieb zwar weiterhin erlaubt, wurde aber abhängig von der »wohlwollenden« Duldung durch die christlichen Herrscher. Damit endete die lange Tradition der Toleranz Roms gegenüber fremden Religionen und Kulten.

Mit dem Beginn der christlichen Bautätigkeit in Jerusalem scheint das alte Dekret, das Juden den Zutritt zur Stadt untersagte, wieder verschärft worden zu sein. Jüdische Pilger durften fortan nur noch an einem bestimmten Tag im Jahr auf dem Tempelplatz öffentlich trauern. Grund dieses Zugeständnisses war nicht die Anteilnahme der christlichen Machthaber an ihrem Geschick, sondern die demütigende Demonstration ihrer Verworfenheit (vgl. Mk 13,1ff.). Es wird berichtet, dass die jüdischen Besucher der Stadt den römischen Wachen Geld zahlen mussten, um auf dem Tempelplatz Tränen über die Zerstörung des Heiligtums vergießen zu dürfen.

Um 351 führten Aufstände gegen den römischen Statthalter Gallus zur Verwüstung zahlreicher jüdischer Siedlungen in Pa­läs­ti­na. Der Lehrbetrieb in den rabbinischen Schulen (»Jeschiwot«) verlagerte sich nun in die jüdischen Zentren Babyloniens, wo das Christentum nicht Fuß gefasst hatte (vgl. Kap. 1, Die östliche Diaspora). Im Jahre 362 unternahm der christliche Kaiser Julian I. »Apostata« (361–363) einen Versuch, das Jerusalemer Heiligtum wieder aufzubauen, doch tat er dies nicht aus Zuneigung zum Judentum, sondern allein aus machtpolitischen Erwägungen. Der Bau verzögerte sich jedoch durch einen Brand oder ein Erdbeben und wurde bald nach Julians überraschendem Tod eingestellt. Nachdem Jerusalem Teil des oströmischen Reiches geworden war, setzte sich die judenfeindliche Haltung der Kaiser fort. Theodosius II. (401–450) verbot 417 und 423 Eheschließungen von Juden mit Nichtjuden und untersagte die jüdische Mission. Die Judengesetzgebung Justinians I. (527–565) bedeutete weitere gravierende Eingriffe in die Religionsausübung sowie in die bürgerlichen Rechte und Schutzrechte der Juden. Unter anderem erließ er Verbote hinsichtlich des Gebrauchs der hebräischen heiligen Schriften in den Synagogen.

Spätestens im 5. Jahrhundert gab es in Palästina mehr Christen als Juden. Folgt man den spätantiken christlichen Quellen, gewinnt man den Eindruck, dass im christlich-byzantinischen Jerusalem überhaupt keine Juden mehr lebten. Diese (theologisch begründete) Behauptung eines enormen Schrumpfens des jüdischen Bevölkerungsanteils entspricht jedoch nicht dem archäologischen Befund. Zwar zeigt die Mosaikkarte der Kirche von Madaba im Ostjordanland, die das byzantinische Jerusalem unter Justinian I. (527–565) darstellt, kein einziges jüdisches Bauwerk in der Stadt, die bereits 451 durch das Konzil von Chalcedon zum Bischofssitz erhoben worden war, aber das palästinische Judentum im 5. und 6. Jahrhundert blieb, obgleich in seiner Entfaltung eingeschränkt, in demographischer und wirtschaftlicher Hinsicht stabil.


Tempel und Tempelopfer

Für das Judentum in Palästina und in der gesamten antiken Welt war der Jerusalemer Tempel das verbindende Symbol der nationalen und religiösen Zusammengehörigkeit, selbst wenn man unter einer anderen Herrschaft loyal lebte. Die Angehörigen der 24 priesterlichen Dienstabteilungen (»Mischmarot«), denen man durch Familienzugehörigkeit angehörte, kamen aus ihren verschiedenen Wohnorten im ganzen Land in regelmäßigen Abständen zur Verrichtung ihres siebentägigen Opferdienstes nach Jerusalem.

Die individuellen Aspekte des Opfers, die in den älteren Schichten der biblischen Überlieferung begegnen, etwa in den Vätergeschichten des Buches Genesis, traten in hellenistisch-römischer Zeit in den Hintergrund. Der Aspekt der allgemeinen Sühnefunktion des Tempelopfers (vgl. Lev 17,11 u.ö.) war hingegen umso bedeutender geworden; das Streben nach Sühne und Sündenvergebung wurde zum eigentlichen Beweggrund und Zweck vieler Opferhandlungen. Beides wurde dem gesamten Volk Israel und jedem einzelnen Frommen durch die fortwährenden und korrekt vollzogenen Opfer im Jerusalemer Tempel immer wieder von neuem geschenkt. Von ebenso hoher Bedeutung wie die Sühnefunktion des zentralisierten Tempelopfers war auch der Gedanke, dass der Kosmos durch den Jerusalemer Tempel als Mikrokosmos repräsentiert wird und dass die ritualgerechte Opferkult- und Festpraxis unmittelbar mit der kosmischen Ordnung zusammenhängen. Der Opferkult im Tempel sollte das Geschehen in der Welt beeinflussen. War das Tempelopfer in Ordnung, war auch die Welt in Ordnung. Darum wurde es als von größter Bedeutung für das individuelle Schicksal wie auch für das Ergehen aller Menschen verstanden, sämtliche Bestandteile und Regeln der vorgeschriebenen Opfervorschriften genauestens zu beachten und richtig auszuführen; im Glauben nahezu aller Juden in hellenistisch-römischer Zeit war dies von grundlegender Bedeutung. Ein solches Verständnis des Opfergottesdienstes im Jerusalemer Tempel muss als allgemeines und verbindendes Kennzeichen antiker jüdischer Frömmigkeit angesehen werden. Juden aller gesellschaftlichen Schichten in aller Welt entrichten deshalb anstandslos die Tempelsteuer.

Die unterschiedlichen, mehr oder weniger prestigeträchtigen Aufgaben und Arbeiten bei den täglichen Tempelopfern, den Fest- und Privatopfern wurden unter den diensttuenden Priestern ausgelost. Die Opfer kamen entweder Gott selbst, dem Heiligtum oder dem amtierenden Kultpersonal zu. Auf dem freien Platz im Priesterhof östlich vom eigentlichen Tempelgebäude befand sich der steinerne Brandopferaltar, der über eine lange Rampe auf seiner Südseite zu erreichen war. Die Darbringung des täglichen Brandopfers (»Tamid«) auf diesem Altar stand neben der Darbringung des Räucheropfers im Heiligtum im Mittelpunkt des regelmäßigen Opfergottesdienstes, der am frühen Morgen (»Schacharit«; vgl. Kap.3, Der synagogale Gottesdienst) und am späten Nachmittag (»Mincha«; vgl. Kap.3, Der synagogale Gottesdienst) vor den Augen der im Vorhof der Israeliten versammelten Gemeinde stattfand.

Beim täglichen Brandopfer stemmte ein Priester dem Opfertier zunächst seine Hände auf. Das Tier, ein einjähriges Lamm, wurde sogleich in ritueller Weise geschlachtet und sein Blut (vgl. Kap. 3, Speise- und Reinheitsgebote) aus einer Schale an die Ecken des Altars gesprengt. Der Hohepriester selbst amtierte dabei nur vor dem und am Versöhnungstag (vgl. Kap. 2, Die Tosefta), während der Sabbate (vgl. Kap. 3, Der Sabbat), an Neumondtagen und bei festlichen Anlässen. Andere Priester zerteilten den Kadaver. Darauf sprachen sie Gebete und Benediktionen (»Lobpreisungen«), bei denen die – männlichen und rituell reinen1781421

An Sabbat- und Festtagen fanden zusätzliche Opfer statt. Besonders zu den Wallfahrtsfesten wurden die täglichen Tempelopfer noch um viele private Dank- und Schuldopfer ergänzt. Als solche Fest- bzw. Heilsopfer kamen auch weibliche Tiere in Betracht. Verbrannt wurde nur ein Teil des Heilsopfertieres, nämlich die Fettteile, Nieren, Herz und Leber. Der opfernde Priester erhielt die Brust und den rechten Schenkel (Lev 7,31 f.). Der Rest musste vom Spender im Kreis seiner Familie oder Freunde innerhalb von 48 Stunden gegessen werden. Beim täglichen Kaiseropfer im Jerusalemer Tempel wurden nicht für den Kaiser, sondern zugunsten des römischen Herrschers – und von diesem selbst bezahlt – zwei Lämmer und ein Stier geopfert.

Bis heute erhalten ist die Erinnerung an das Tempelopfer im Judentum im täglichen Morgen- und Nachmittagsgebet (vgl. Kap. 3, Der synagogale Gottesdienst), deren Zeitpunkt und Bezeichnung den Opferzeiten im Jerusalemer Tempel entspricht.