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Dr. GOTTFRIED HIERZENBERGER wurde 1937 in Wien geboren. Ausbildung als Volksschullehrer und Studium der Theologie; Religionslehrer in Wiener Neustadt und München; Verlagslektor im Herder-Verlag; Pressereferent im Staatsdienst; Autor zahlreicher religiös-theologischer Bücher; seit 1990 freiberuflich als Lektor im Tyrolia-Verlag tätig. Zahlreiche Publikationen.

Zum Buch

Der Islam

Der Islam ist nach dem Christentum die zweitgrößte unter den Weltreligionen. Er hat in den vergangenen Jahrzehnten eine rasante Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen, zugleich aber durch seine stellenweise Verknüpfung mit der Terrorismus-Szene alte Feindbilder wach gerufen. Im vorliegenden Buch bekommt der Leser u.a. Einblick in das Leben, die Offenbarungen und das Auftreten des Propheten Muhammad; in die schnelle Entfaltung und reiche Geschichte des Islam; in den Koran, die Glaubenslehre, Ethik und Mystik sowie das strenge islamische Religionsgesetz; die großen Herausforderungen, vor denen sich der »Reform-Islam« im deutschen Sprachraum heute befindet.

Gottfried Hierzenberger

Der Islam

Gottfried Hierzenberger

Der Islam

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0212-3

www.marixverlag.de

INHALT

Grundwissen Islam

Eine Weltreligion im politischen Zwielicht

Muhammad und die Entstehung des Islam

Die Kaaba – ein uraltes Heiligtum

Die Berufung zum Propheten

Der Auszug aus Mekka (Hidschra)

Die muslimische Gemeinde eint die Arabische Halbinsel

Kontakte mit Juden und Christen

Das »Volk« der Muslime

Auseinandersetzungen mit den Mekkanern

Beginn der arabischen Einigung

Der frühe Tod des Propheten

Die Entwicklung des Islam unter den ersten Kalifen

Abu Bakr (632 bis 634)

Umar ibn al-Hattab (634 bis 644)

Uthmān ibn Affan (644 bis 656)

Ali ibn Ali Talib (656 bis 661)

Der politische Entwicklungsweg des Islam bis zur Gegenwart

Die Dynastie der Umaiyaden (661 bis 750)

Die Dynastie der Abbasiden (750 bis 1258)

Das Osmanenreich (1291 bis 1924)

Anteile der Muslime an der Weltbevölkerung

Die »kalifenlose« Zeit (1924 bis zur Gegenwart)

Die Glaubenslehre des Islam

Die »fünf Säulen« (Arkān)

Die Gotteslehre

Ansätze einer islamischen Ethik

Muhammad – das »Siegel der Propheten«

Islamische Mystik (Sufismus) und Philosophie

Die Anfänge der islamischen Mystik

Islamische Mystik in der Blütezeit islamischer Philosophie und Lyrik

Das islamische Religionsgesetz (Scharīa)

Die Quellen der Scharīa

Sunniten und Schiiten

Das islamische Rechtssystem

Die rechtliche Stellung der Frau

Muslime in Deutschland

Muslimische Riten und Feste

Überblick über Sekten, Orden und Erneuerungsbewegungen

Verwendete Literatur

GRUNDWISSEN ISLAM

Die jüngste unter den Weltreligionen ist zugleich die zahlenmäßig stärkste unter den außerchristlichen Religionen und die am schnellsten wachsende – vor allem auch in Europa und im deutschen Sprachraum.

Es sind aber kaum die andersartige Spiritualität oder das exotische Lebensgefühl, wodurch das Interesse der Europäer am Islam geweckt wurde und was zu »Übertritten« geführt hat. Es waren einerseits die Wellen von Gastarbeitern, die seit der Mitte des vorigen Jh. aus südlicher, südöstlicher und östlicher Richtung nach Westeuropa strömten, andererseits gewaltige Migrations- und Flüchtlingsströme in den vergangenen Jahren, durch die sich die Zahl der Muslime im deutschen Sprachraum, aber auch in Skandinavien und in fast allen EU-Ländern vervielfacht hat.

Natürlich spielt dabei auch das energiewirtschaftliche Potenzial eine gewisse Rolle, das vor allem im Vorderen Orient – durch die reichen Öllager – hinter der Religion des Islam steht und zu regen Geschäftsbeziehungen, zahlreichen Auslandsinvestitionen und Geschäftsniederlassungen muslimischer Unternehmer in vielen Ländern Europas, Afrikas und Asiens – und umgekehrt – geführt hat.

Zum ursprünglichen Verbreitungsgebiet im Vorderen Orient (Arabische Halbinsel, Palästina, Jordanien, Syrien), in Nordafrika bis Spanien, in Südosteuropa, in der Türkei und in Persien kamen auch weite Gebiete im südlichen Zentralasien (Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan), dazu Afghanistan, Pakistan und große Teile Indiens sowie Südostasiens (Malaysia, Indonesien) bis nach China und Korea und im späten 19. sowie im 20. Jh. auch viele schwarzafrikanische Länder.

Insgesamt schätzt man, dass sich gegenwärtig etwa 1,3 Milliarden Menschen zum Islam bekennen, die sich vor allem auf etwa 50 Staaten mit einem Bevölkerungsanteil von mehr als 10 Prozent verteilen. In Deutschland leben derzeit etwa 3.300.000 (4 Prozent) Muslime, in Österreich etwa 350.000 (4,3 Prozent).

Die starke Bedrohung, die von einzelnen radikalen Gruppierungen (z. B. von der Moslem-Bruderschaft) oder Anschauungen (Islamistische Fundamentalisten) bzw. von Terror-Organisationen (Al-Fatah, Hamas, Hisbollah, Al-Qaida etc.) ausgeht, hat das Interesse einer breiten Öffentlichkeit am Islam beträchtlich verstärkt, weil viele Menschen fragen, ob es zur Natur des Islam gehört, eine kämpferische oder gar gewalttätige Religion zu sein, oder ob es nur wegen der besonders starken Verquickung von Frömmigkeit und Politik zu solchen terroristischen Auswüchsen kommt, die zu Beginn des neuen Jahrtausends die Völkergemeinschaft bedrohen und die Errungenschaften der freien Bürgergesellschaft in Frage stellen.

Der Anspruch des Islam, unter den monotheistischen Religionen eigentlich die älteste zu sein, auf alle Fälle aber den strengsten, reinsten und konsequentesten Monotheismus zu vertreten, überrascht viele Christen. Sie sind zwar bereit, beides dem Judentum zuzugestehen – und damit auch für die eigene Religion in Anspruch zu nehmen –, sprechen es aber vehement dem Islam ab, weil sie in ihm hauptsächlich eine politische Größe sehen, mit dem immer bedrohlicher werdenden Terrorismus oder mit einem anachronistisch-brutalen Strafvollzug (Handabhacken für Diebe, Steinigung für Ehebrecherinnen) und den allgemeinen Menschenrechten widersprechenden Benachteiligungen z. B. der Frauen in Zusammenhang bringen. Sie sind daher geneigt, ihn als eine »orientalische Volksreligion« ohne ernst zu nehmende Theologie und ohne nennenswerte spirituelle Werte misszuverstehen.

Solche Positionen verraten aber mangelndes Wissen, einseitige Perspektiven und unreflektierte Vorurteile. Zwischen Christentum und Islam gab es viele positive und noch viel mehr – für beide Seiten – negative Berührungspunkte, insgesamt eine immerhin vierzehn Jahrhunderte umspannende gemeinsame Geschichte, die zum Teil sicherlich noch der Aufarbeitung in Richtung Vergangenheitsbewältigung bedarf.

Das mangelnde Wissen voneinander und die Gefahr, dass im Zusammenhang mit dem Terror-Fanal vom 11. September 2001 ein neues »Feindbild Islam« aufgebaut wird, ist umso bedauerlicher, als es sich beim Islam um die zweitgrößte der fünf großen Weltreligionen handelt und um eine, deren Vertreter neben uns arbeiten und mit uns leben, deren Mentalität und Spiritualität aber trotzdem vielen Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz ein »Buch mit sieben Siegeln« ist.

Um diesem Wissensdefizit abzuhelfen, die Diskussion der vielen mit dem Islam zusammenhängenden Fragen und Probleme besser mitverfolgen und verstehen und Rückschlüsse auf Querverbindungen zur eigenen religiösen Tradition, Lehre oder Position ziehen zu können, ist für den Interessierten ein GRUNDWISSEN ISLAM nötig, das hier vermittelt wird.

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Die Kaaba in Mekka ist das Zentrum der islamischen Frömmigkeit

EINE WELTRELIGION IM POLITISCHEN ZWIELICHT

Die Geographie des Islam zeigt seine große Verbreitung: Zu Beginn des 9. Jh., also etwa 180 Jahre nach der Hidschra (= Auswanderung Muhammads von Mekka nach Medina im Jahr 622 n. Chr. und Beginn der islamischen Zeitrechnung) dominierte der Islam in Ländern und Gebieten, die heute unter den folgenden Namen bekannt sind: Spanien, Portugal, Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Saudi-Arabien, Irak, Oman, die Arabischen Emirate, Jemen, Südjemen, Kuwait, Israel, Jordanien, Syrien, Libanon, Iran, Georgien, Afghanistan, Pakistan, Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Aserbaidschan.

Spanien und Portugal wurden zwar nach langen blutiger Auseinandersetzung im 13. Jh. von den Christen zurückerobert (Reconquista), die anderen Staaten blieben aber bis heute entweder vom Islam dominiert oder zumindest wesentlich von ihm bestimmt.

Während der wechselvollen Kämpfe im Westen Europas ging die Expansion des Islam im Osten weiter: auf dem Balkan bis nach Ungarn und Wien (1529 und 1683); in die gesamte Türkei; die ostafrikanischen Küstenländer vom Sudan bis Sansibar; die Sahararouten nach Nigeria und weit hinein in die verschiedensten Staaten Schwarzafrikas; ebenso von Pakistan aus ost- und südostwärts nach Nepal und Indien – wo die islamischen Moghuln (= Mongolen) von Delhi aus weite Teile des Subkontinents beherrschten – und weiter nach Malaysia, die Philippinen und vor allem Indonesien – bis nach China.

Im 18. und 19. Jh. machte sich dann eine Gegenbewegung breit, die vor allem vom europäischen Kolonialismus getragen wurde und den drei islamischen Imperien, die damals den größten Teil der islamischen Welt beherrschten, Schritt für Schritt ein Ende bereitete: dem seit 1504 bestehenden Moghul-Reich auf dem Indischen Subkontinent; dem Safawiden-Reich im Iran (seit 1501) und dem Osmanenreich, das seit 1291 Kleinasien und den Balkan, und seit 1516 auch die gesamte arabische Welt, nämlich Syrien (Palästina), die arabische Halbinsel, Ägypten und später auch den größten Teil Nordafrikas (Libyen, Tunesien, Marokko, Algerien) beherrschte. Die Herrscher dieser drei Großreiche – von deutschsprachigen Europäern scherzhaft »Groß-Moghul«, »Groß-Sephi« und »Groß-Türke« genannt – lieferten Rückzugsgefechte gegen die Portugiesen und Russen, vor allem aber gegen die Briten und die Franzosen. Diese erlangten im Zuge der industriellen Revolution und der damit verbundenen rasant wachsenden Zivilisation, durch die Installierung der Welthandelskompanien, nicht zuletzt auch durch den Siegeszug von Aufklärung und Bürgergesellschaft seit der Französischen Revolution und durch die deutliche Trennung von Staat und Religion zunehmend die Kontrolle über die islamischen Gesellschaften.

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Dies hinterließ tiefe Spuren im Selbstbewusstsein der Muslime, die sich – obwohl die vier genannten Kolonialmächte durchwegs in einer christlichen Tradition standen – unter einer »Fremdherrschaft der Ungläubigen« fühlten. Diese zuerst anti-europäischen, vor allem anti-britischen, ab der zweiten Hälfte des 20. Jh. zunehmend anti-amerikanischen und dann anti-westlichen Ressentiments spielen eine große Rolle bei den islamischen Erneuerungsbewegungen oder Befreiungskämpfen, aber auch bei den Assimilations- oder Integrationsbemühungen der im Zuge der Arbeitsmigration als Minderheiten in viele Staaten der westlichen Welt eingewanderten und dort ansässig gewordenen Muslime.

Dabei darf man nicht übersehen, dass der Islam keineswegs eine einheitliche Struktur hat und auf den Europäer nur infolge einer weit verbreiteten Ignoranz bzw. eines ausgesprochenen Desinteresses einen homogenen Eindruck macht. Sowohl in der Geschichte wie in der Gegenwart gab und gibt es riesige Unterschiede zwischen den einzelnen muslimischen Gruppierungen, die aber von den meisten Menschen kaum bemerkt und beachtet werden. Die Vorstellungen, die man sich vom Islam macht, beschränken sich auf gewisse Klischees, die nur wenig über eine Mischung aus exotisch-orientalischem Flair und 1001-Nacht- beziehungsweise Karl May-Romantik hinausreichen. Viele Menschen sind daher sehr überrascht, wenn sie von der bunten Vielfalt der »Konfessionen« und »Rechtsschulen«, »Orden« und »Sekten« der Muslime hören, die in vieler Hinsicht der großen Vielfalt der »Christentümer« nicht nachsteht.

Unser Interesse an der komplexen Struktur und wechselvollen Geschichte und Entwicklung der auf den Araber Muhammad (570–632 n. Chr.) zurückgehenden Islamischen Weltgemeinschaft ist beträchtlich gewachsen. Das hat viele Ursachen: Der Vormarsch des islamischen Fundamentalismus und der Moslem-Bruderschaft (seit 1928 in Ägypten); die permanenten Auseinandersetzungen zwischen Israeli und Palästinensern (seit 1948), in die sich viele arabische Länder und islamische Gruppierungen des Vorderen Orients einmischten oder hineingezogen wurden und werden; das starke politische Engagement angesehener Ayatollahs und der 180.000 Mullahs im Iran (seit 1978); und in jüngster Zeit durch das Terrornetz der mit dem Namen Osama bin Laden verbundenen Al-Qaida und die Anschläge vieler autonom und verdeckt agierender Einzelkämpfer oder kleiner Terror-Gruppen, die in mehr als dreißig Ländern tätig sein sollen.

Das große Ungleichgewicht zwischen Sunniten (vier Fünftel aller Muslime) und Schiiten (ein Fünftel) – was eine erste grobe Einteilung der muslimischen Gruppierungen bedeutet – ist heute prozentuell ungefähr gleich wie in der Frühzeit des Islam. Diese grobe Unterscheidung hat aber doch eher nur statistische Bedeutung, denn unter den Schiiten gehören z. B. die persischen Mullahs und Ayatollahs zur sogenannten Zwölfer-Schia (Imamiya), die zwölf Imame anerkennt und in Persien von 1572 bis 1941 (und dann wiederum seit 1979) die Staatsreligion darstellt. Vor ihr gab es aber schon seit etwa tausend Jahren eine zweite Hauptrichtung, die Siebener-Schia, die mit dem extremen Ismailitentum im Zusammenhang steht. Unter der Führung von Hassan Sabbah, des »Alten vom Berg«, entstand daraus die Sekte der Assassinen, die von Jordanien bzw. dem Nordiran aus mit terroristischen Aktionen am Sturz des sunnitischen Kalifats arbeitete. Andere Gruppen wie die Karmaten bestehen heute nicht mehr. Bis heute von Bedeutung sind dagegen zwei Zweige, die in Indien ihren Sitz haben, nämlich die Bohoras – eine reiche Kaufmannskaste, die im »Mullahdschi« ihr geistiges Oberhaupt verehren – und die Khodschas, die Agha Khan als ihren »göttlichen Imam« verehren. Bei all diesen ismailitisch-schiitischen Gruppierungen gibt es auch eine traditionelle Geheimlehre, die dem sunnitischen Islam völlig fremd ist. Im Jemen gibt es außerdem noch die Fünfer-Schia – sie sieht in Zaid, dem Urenkel Husains, den 5. Imam; ihre Anhänger wurden deshalb zeitweise auch Zaiditen genannt.

Doch auch die Sunniten (zu denen sich heute mehr als eine Milliarde Muslime rechnen) vertreten sehr unterschiedliche Modelle des Islam, die vor allem von den verschiedenen Rechtsschulen geprägt werden. Da gibt es die konservative und rigorose Schule des Ibn Hanbal (Hanbaliten), die ungleich stärker verbreitete des Abu Hanifa (Hanafiten), die vor allem in Nordafrika und im Vorderen Orient tätige Schule des Malik (Malikiten) und die zweitgrößte und zugleich liberalste Schule des Schafi´i (Schafiiten). Die Zugehörigkeit zu einer dieser Schulen ist stark traditions- und familienabhängig – man wird wie in eine christliche Konfession hineingeboren.

Innerhalb der einzelnen Rechtsschulen gibt es aber wieder Reformatoren, die großen Einfluss erlangten und Spaltungen bzw. Neuorientierungen verursachten. So orientierten sich z. B. viele Muslime auf der Arabischen Halbinsel – die sogenannten Wahhabiten – an den Lehren des Mohammed ibn Abd-al Wahhab (1696–1787), der nur das am Islam gelten ließ, was auch zur Zeit Muhammads Richtschnur und Praxis war. Mit großem Fanatismus bekämpfte er den Heiligenkult und die übertriebene Verehrung des Propheten Muhammad, den Gebrauch der Gebetskette, den Tabakgenuss und z. B. die Freude an Musik, Spiel, Tanz und kostbarem Schmuck. Seine asketischen Prinzipien wurden auch von den osmanischen Machthabern bekämpft, von anderen aber als Reform und Neubelebung des Islam begrüßt – wie vom arabischen Stammesführer Ibn Sa’ud, der den Niedergang des osmanischen Reichs und das endgültige Ende des Kalifats (1924) nutzte, um die Kontrolle und Schutzherrschaft über die heiligen Stätten an sich zu ziehen. Bis heute – nicht zuletzt aufgrund des Ölreichtums im saudiarabischen Territorium – übt Saudiarabien auf diese Weise großen Einfluss auf die gesamte sunnitisch-islamische Welt aus. Die Saudis finanzieren z. B. mit dem Öl-Geld eine ausgedehnte Buchproduktion in vielen islamischen Ländern, leisten Zuschüsse zum Bau von Moscheen (wie z. B. in Bosnien) und verstehen es, das wahhabitische Gedankengut auf diese Weise sehr erfolgreich »unter das Volk« zu bringen. Über weitere Gruppierungen wird später noch berichtet werden.

In unseren Tagen ist der aus einer jemenitischen Baumeister-Familie stammende Osama bin Laden (geb. 1957) zu einem traurigen Ruhm als Drahtzieher in diesem Ausmaß noch nie verübter terroristischer Akte gekommen. Er lebte als angesehener Bürger in Saudi-Arabien, ehe er in den achtziger Jahren als saudischer Repräsentant zu den Mudschaheddin nach Afghanistan ging und von den Amerikanern für den Dschihad gegen die Sowjets, die damals das Land besetzt hielten, ausgebildet wurde. Osama sagt über diese Zeit: Die Waffen kamen von den Amerikanern, das Geld von den Saudis. 1990 kehrte er mit Tausenden Kämpfern nach Saudi-Arabien zurück und stellte sie nach dem Überfall Saddam Husseins auf Kuwait König Faht zur Verfügung. Der aber wusste um Osamas Pläne, die großen islamischen Wallfahrtsorte Mekka und Medina aus der saudischen und Jerusalem aus der israelischen Dominanz zu »befreien«, und vertraute lieber den Amerikanern und Briten. So erteilte er Osama bin Laden eine Absage und entzog ihm sogar die saudi-arabische Staatsbürgerschaft. Das bestärkte diesen offensichtlich, sich als »Retter aller Muslime« zu fühlen und der gesamten westlichen Welt, aber auch den kooperationswilligen Muslimen am 12. Oktober 1996 den Krieg zu erklären:

Die Menschen des Islam leiden unter Aggression, Ungleichheit und Ungerechtigkeit durch das Bündnis aus Zionisten, und Kreuzfahrern und ihren Kollaborateuren … Jeder Volksstamm auf der Arabischen Halbinsel hat nun die Pflicht, den Dschihad zu kämpfen und das Land von diesen Kreuzfahrer-Besetzern zu säubern … Meine Muslimbrüder! Eure Brüder in Palästina und im Land der zwei heiligen Stätten bitten um eure Hilfe und fordern euch auf, am Kampf teilzunehmen.

Zuerst im Sudan, dann – unter dem Schutz der Taliban – von Afghanistan aus und seit 2002 mit unbekanntem Aufenthalt (er wurde seitdem gelegentlich im Jemen oder in Indonesien vermutet) versucht er, seine fundamentalistisch orientierten, aber ins Maßlose gesteigerten Pläne zu realisieren. Die von den Amerikanern durchgezogene Säuberung Afghanistans von den fanatischen Taliban- und Al-Qa’ida-Kämpfern hat zwar Ende 2001/Anfang 2002 deren Hochburgen im Hindukusch zerschlagen und einige bekannte Anführer das Leben gekostet, sie aber andererseits veranlasst, in den Untergrund zu gehen.

Die folgenden Ausschnitte aus einem Interview, das Osama bin Laden 1998 den »News of Pakistan« gab und das 1999 im »Time Magazin« und 2001 im österreichischen Magazin »Format« veröffentlicht wurde, geben Einblick in seine Denkweise:

Jeder Dieb, jeder Kriminelle, jeder Räuber, der in ein anderes Land eindringt, um zu stehlen, sollte zu jeder Zeit damit rechnen, dass er ermordet wird. Milliarden von Muslimen sind böse auf Amerika. Die Amerikaner sollten sich also Reaktionen aus der muslimischen Welt erwarten, die den von ihnen begangenen Ungerechtigkeiten angemessen sind. (Auf die Frage nach seinem ABC-Waffen-Potenzial:) Sich für die Verteidigung der Muslime zu bewaffnen, ist religiöse Pflicht. Sollte ich diese Waffen wirklich besorgt haben, dann danke ich Gott, dass er mir dies ermöglicht hat. Wenn ich dereinst versuche, solche Waffen zu erwerben, dann übe ich eine Pflicht aus. Es wäre eine Sünde für einen Muslim, nicht alles zu tun, um an Waffen zu kommen, die geeignet sind, die Ungläubigen davon abzuhalten, den Muslimen Böses anzutun. Die Vereinigten Staaten wissen, dass ich sie – dank der Gnade Gottes – seit über zehn Jahren schon angreife. Gott weiß, dass uns die Ermordung amerikanischer Soldaten mit Freude erfüllt. Amerika hat versucht, seine wirtschaftliche Blockade gegen uns noch zu verstärken und mich zu verhaften. Das ist nicht gelungen. Diese Blockade tut uns nicht sehr weh. Gott wird uns belohnen. (Auf den Hinweis, dass nicht alle Muslime wie er denken:) Wir sollten unsere Religion genau verstehen. Der Kampf ist ein Teil unserer Religion und unserer religiösen Gesetze. All jene, die Gott, seinen Propheten und diese Religion lieben, können sich dem nicht entziehen. Feindseligkeit gegen Amerika ist unsere religiöse Pflicht, und wir hoffen, dafür eines Tages von Gott belohnt zu werden. Ich bin zuversichtlich, dass die Muslime in der Lage sein werden, die Legende von der Supermacht Amerika … zu zerstören.

Wie Osama bin Laden seine wahhabitische Herkunft nie verleugnet hat, so weist Muammar Al-Gaddafi in Libyen – im letzten Viertel des 20. Jh. einer der Drahtzieher des internationalen Terrorismus – eine gewisse Nähe zur Tradition des Sanussi-Ordens, also zum Sufismus (= islamische Mystik), auf.

Wenn vom Islam die Rede ist, übersieht man über der von den Muslimen sehr konsequent und für jedermann sichtbar vollzogenen Religionsausübung oft die innere Seite, nämlich die tiefe Frömmigkeit und Verinnerlichung vieler Gläubiger in der Befolgung der Anweisungen des Propheten, der Imame und anderer religiöser Führer und Vorbilder. Welche bedeutsame Rolle dabei der Sufismus und viele seiner Vertreter in der islamischen Geistesgeschichte gespielt haben, wird uns später noch beschäftigen.

Es waren vor allem Sufis, die den Kontakt mit anderen Religionen suchten und fanden; sie betonten Gemeinsamkeiten und tolerierten Verschiedenheiten und wussten, dass man in der konsequenten Gottsuche und Gottbegegnung von Herz zu Herz sprechen und über alle Grenzen von Sprache und Tradition, Gesetzen und Rechtsordnungen hinweg einander verstehen und sich dem einen Gott zuwenden kann.

Dies zeigt das folgende Gebet, das der katholische Priester Ernst Bannerth – als Leiter einer islamisch-katholischen Sufi-Gemeinde so etwas wie ein christlicher Derwisch (= Armer; Bezeichnung für einen islamischen Ordensangehörigen) – in einer arabischen Handschrift gefunden hat und als Einführungsgebet in eine mystische Gottbegegnung empfiehlt:

Gepriesen sei der Allerhabene – Er sagt zu seinen Dienern: Such mich, du findest mich!

Ich bin der Mächtige, der alles ins Dasein rief – Ich bin der Richter: Such mich, du findest mich!

Ich bin der reichlich Gaben Spendende – Ich bin der Geber: Such mich, du findest mich!

Ich bin der Herr, der alles Gestaltende – Ich bin der Vergebende: Such mich, du findest mich!

Ein Halt bin ich für jeden Menschen – Deine Zuflucht bin ich: Such mich, du findest mich!

Ich bin der allweise Gott, ich, der Behütende – Gegen jeden Feind: Such mich, du findest mich!

Anwalt der Witwen und Waisen bin ich – Mich sucht man: Such mich, du findest mich!

Der das Flehen erhört, bin ich – Ich erhöre den Diener: Such mich, du findest mich!

Wirfst du dich nieder, da du mich anflehst – So bin ich dir nahe: Such mich, du findest mich!

Ich sehe ja nicht auf deine Schuld – Schütze ich dich nicht? Such mich, du findest mich!

Weißt du nicht, dass ich dir näher bin als deine Schlagader? – Such mich, du findest mich!

Die Moslem-Bruderschaft – 1928 von Hasan al-Bannā in Ägypten begründet – oder die Islamische Gemeinschaft des Pakistani Abul A’la Maududi (gest. 1979) gehen einen anderen Weg, nämlich den Weg des Fundamentalismus oder Islamismus, also der politisch akzentuierten Ideologie und des antikolonialistischen, später antiwestlichen Ressentiments. Beide haben wesentlich zur starken Polarisierung des Islam in der heutigen Zeit beigetragen – wobei sie auf ein Verständnis zurückgreifen, das man tatsächlich vielfach im Koran finden kann; dort gibt es aber auch viele gegensätzliche Äußerungen, die jede Radikalisierung verbieten – es kommt dabei jeweils auf den »Sitz im Leben« und die konkrete Situation an, in der bestimmte Sätze verkündet wurden. Es gibt also im Koran ebenso wenig wie in der Bibel eine völlig »übergeschichtliche« Wahrheit

Der folgende Text drückt die Zielrichtung dieser radikalen Islam-Mission – deren verschiedene Strömungen und Organisationen untereinander durchaus nicht einig sind – recht drastisch aus und lässt erkennen, wovon das heutige Feindbild eines radikalen Moslem genährt wird:

In früheren Zeiten hat es eigene Propheten für die verschiedenen Völker gegeben … Diese Zeit des mehrfachen Prophetentums ging mit dem Auftreten Muhammads zu Ende. Die Lehren des Islam wurden durch ihn vervollkommnet, ein fundamentales Gesetz wurde für die ganze Menschheit formuliert, und er wurde zum Propheten für die ganze Welt gemacht. Seine Botschaft war weder für ein bestimmtes Volk oder Land noch für einen begrenzten Zeitraum gedacht. Sie ist vielmehr für alle Menschen und alle Zeiten gültig. (Text von Abul A’la Maududi, gest. 1979.)

Für heutige Christen klingen solche Töne eher ungewohnt, besser gesagt: Sie haben sie »verdrängt«, aber sie kennen sie aus ihrer eigenen Geschichte, als Kirche und Staat noch nicht so deutlich getrennt waren wie heute und Kaiser und Papst übereinander abwechselnd »Acht« und »Bann« verhängten.

Im Islam ist die Theokratie (= Gottesherrschaft) noch weithin Bestandteil des religiösen Selbstverständnisses. Die Absicht der kämpferischen Vereinnahmung der ganzen Welt für den eigenen Glauben ist im vergangenen Jh. unter manchen Muslimen neu erwacht und zu Beginn des neuen Jh. wieder von neuem aktuell, ja mit dem 11. September 2001, durch die Zerstörung des World Trade Center in New York durch islamistische Terrorkommandos, äußerst brisant geworden.

Freilich darf man nicht dem Fehler der Pauschalierung verfallen, sondern muss genau zusehen, wer was in welchem Zusammenhang sagt und glaubt.

Der in Deutschland lebende Mitbegründer der »Arabischen Organisation für Menschenrechte«, Bassam Tibi (geb. 1944), nennt drei Hauptströmungen des gegenwärtigen Islam, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden: den Volks-Islam, den Scharīa-Islam und den Reform-Islam. Während der Volks-Islam nicht dogmatisch-schriftgläubig ist und bestimmte Freiheiten einräumt, allerdings auch gewisse Volkssitten verbreitet, die menschenrechtswidrig sind – z. B. die Beschneidung der Frauen –, steht der Scharīa-Islam ganz eindeutig im Widerspruch zur neuzeitlichen Deklaration der Menschenrechte, weil er eine radikale Rechtsordnung (= Scharīa) aus einer längst vergangenen Zeit perpetuiert und in fundamentalistischer Weise verabsolutiert. Reform-Muslime hingegen versuchen durch eine offene bzw. flexible Deutung der islamischen Religionsgesetze und des Koran die Menschenrechte im Sinne der UN-Deklaration zu definieren und dadurch eine Integration der Muslime in die moderne Gesellschaft zu ermöglichen.

Bassam Tibi weist auch darauf hin, dass das Wort Scharīa (= Gesetze, die das islamische Leben regeln) nur ein einziges Mal im Koran vorkommt. Aber zur Autorisierung der sehr einschneidenden traditionellen Vorschriften beruft man sich ständig auf den Koran und autorisiert die Scharīa auf diese Weise als »göttliche Offenbarung«, obwohl sie als Rechtssystem erst ein volles Jh. nach Abschluss der islamischen Offenbarung fixiert worden ist und bis heute zahlreiche und auch sehr unterschiedliche Ausfaltungen erlebt hat.

Christen kommt diese Handhabung des Offenbarungsbegriffs zur Stützung gesellschaftspolitischer oder theologischer Absichten sehr bekannt vor, da man auch in den christlichen Gesellschaften gerne politische Entscheidungen oder Verordnungen durch den Hinweis auf Offenbarung (»Gott will es«) autorisiert hat.

Für die gegenwärtig etwa 15 Millionen Muslime, die in Europa als Migranten leben, ist es natürlich existenziell wichtig, dies mit den Verfassungen der jeweiligen Gastländer und mit den modernen Menschenrechtsdeklarationen in Einklang zu bringen. Nur so kann es gelingen, aus dem muslimischen Ghetto auszubrechen und einen Euro-Islam zu begründen, der den Behauptungen, dass der Islam aus seinem Wesen heraus radikal sei, das Fundament entzieht. Ob man sich damit aber im Gesamt des Islam als authentische Gruppierung behaupten kann, wird erst die Zukunft erweisen.

Das sehr komplexe Gebilde des Islam, der uns heute als dritte monotheistische Weltreligion neben dem Judentum und dem Christentum mit einer fast 1.400-jährigen Geschichte vor Augen steht, ist die jüngste der großen Weltreligionen – nach eigenem Selbstverständnis aber die neueste, älteste und universalste Religion zugleich. Hans Küng fasst diese Sicht so zusammen:

Warum hat diese Religion so verschiedene Menschen wie nomadische Berber, schwarze Ostafrikaner, nahöstliche Araber, aber auch Türken, Perser, Pakistani, Inder, Chinesen und Malaien zu einer großen religiösen Familie zusammenbringen können? Für die Muslime ist der Islam die neueste und deshalb auch die beste Religion. Juden und Christen hatten zwar vorher schon Gottes Offenbarung erhalten, aber dann leider verfälscht. Erst der Islam stellte sie unverfälscht wieder her. Deshalb ist er für die Muslime auch die älteste und universalste Religion. Denn schon Adam, der erste Mensch, ist Muslim gewesen. Warum? Weil schon Adam »islam« praktizierte, was wörtlich heißt:«Unterwerfung, Unterordnung, Ergebung« in Gottes Willen im Leben und Sterben.

Diese paradoxe Ansicht bedarf der näheren Analyse, deshalb fragen wir dorthin zurück, wo die Geschichte des Islam begonnen hat, nämlich im späten 6. Jh. im Westen der Arabischen Halbinsel.

MUHAMMAD UND DIE ENTSTEHUNG DES ISLAM

Die Heimat des IslamJemenSüdjemen