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Klaus-Rainer Martin

Heimerziehung im Wandel der Zeiten

am Beispiel der Stiftung Kinderheim Sonnenschein Hamburg





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vorbemerkungen

 

Die Heimerziehung ist in Verruf gekommen. Zahlreiche Frauen und Männer, welche ihre Kindheit und Jugendzeit in Heimen verbringen mussten, melden sich zu Wort und schildern ihre schrecklichen Erlebnisse, wie etwa Peter Wensierski, dessen Buch „Schläge im Namen des Herrn“ 2007 die Öffentlichkeit aufschreckte. Thilo Andres arbeitete seine Erlebnisse und dieses Problem in seinem Buch „Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Ein Bericht zur Situation der Nachkriegsheimkinder gestern und heute“ wissenschaftlich auf. Und der „Verein ehemaliger Heimkinder“ erreichte es, dass der Deutsche Bundestag im November 2008 einen „Runden Tisch“ einrichtete, um das Schicksal der Heimkinder aufzuarbeiten. Die bisherigen Arbeitsergebnisse sind jedoch ernüchternd. Mit finanziellen Entschädigungen allein ist in vielen Fällen die verlorene Kindheit nicht wieder gut zu machen. Da sich rund 80 Prozent der Heime in christlicher Trägerschaft von Diakonie (evangelische Kirche) oder Caritas (katholische Kirche) befanden, ist die Mitwirkung der Kirchen hierbei unerlässlich. Bereits 1970 schrieb die spätere Terroristin Ulrike Meinhoff ein Theaterstück mit dem Titel „Bambule“, in welchem die Zustände in einem Mädchenheim dargestellt werden. 1990 wurde Bambule als Fernsehspiel ausgestrahlt.  Gudrun Enslin prangerte in Süddeutschland die Missstände in der Heimerziehung an. Doch da sich beide Frauen als linke Terroristinnen der Rote Armee Fraktion (RAF) anschlossen, blieb ihre Kritik an der Heimerziehung außerhalb der linken Szene weitgehend ungehört. Im Sommer 2015 erschütterte der Film „Freistatt“ die interessierte Fachwelt mit den Zuständen einer Einrichtung für Jugendliche unter christlicher Trägerschaft in der Nähe Bremens in Niedersachsen und dem Schicksal des Jugendlichen Wolfgang Rosenkötter. In erschütternder Weise beschreibt dieser Film die "schwarze Pädagogik", welche damals nicht nur in Freistatt, sondern auch in vielen anderen Heimen vorherrschte.

 

Stets beriefen sich dabei die Pädagogen christlicher Heime auf das Bibelwort aus dem Brief des Apostels Paulus an die Hebräer: „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er; er schlägt mit der Rute jeden Sohn, den er gern hat. Haltet aus, wenn ihr gezüchtigt werdet.“ (Hebräer 13, 6-7). Allerdings wurde dabei übersehen, dass Paulus das Verhältnis der Menschen zu Gott beschreibt, nicht aber das Verhältnis von Pädagogen zu den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen. Und Paulus beschreibt das aus der Sichtweise und den Werthaltungen seiner Zeit heraus. Ein Bezug auf unsere Zeit verbietet sich ebenso, wie auch bei einigen anderen Bibelstellen, wie z.B. beim „Rat“ des Apostels Paulus: „Das Weib schweige in der Gemeinde“ (1. Korinther 14,34).

 

Zwar ächtete die UN-Kinderrechtskonvention 1989 die Prügelstrafe. Doch in Deutschland wurde diese erst im Jahre 2000 gesetzlich verboten. Bis dahin richteten sich viele Pädagoginnen und Pädagogen nach der Ansicht des Schweizer Heilpädagogen Paul Moor (1899 – 1977), welcher die körperliche Züchtigung ablehnte, jedoch der Auffassung war, dass da, wo eine Ohrfeige Gutes bewirkt habe, eine bessere Erziehungsmaßnahme Besseres bewirkt hätte. – Eine Ohrfeige war damit eine Bankrotterklärung des Pädagogen, der damit zum Ausdruck brachte, dass ihm in der konkreten Situation nichts Besseres eingefallen ist. So manchem Pädagogen aus jenen Jahren – auch mir - werden im Nachhinein Situationen einfallen, wo sie sich schuldig fühlen. „Kein Pädagoge geht ohne Schuld von dieser Welt“, meinte hierzu Emil Kobi (1935 – 2011), Pädagogik-Professor in Basel.

 

In Hamburg wirkte Johann Hinrich Wichern (1808 – 1881). In der von ihm gegründeten Einrichtung „Rauhes Haus“ sagte er zu jedem neu aufgenommenen Jugendlichen: „Wir binden dich nicht durch Mauern und Zäune, sondern durch unsere Liebe“. Die Erzieher, angehende Diakone, wurden von den Kindern und Jugendlichen mit „Bruder“ angeredet. Das sollte keine dahergesagte Floskel sein, sondern immer aufs Neue daran erinnern, in welchem Verhältnis der Erzieher zum Kind stehen soll. Im Rauhen Haus in Hamburg, in welchem ich in den Jahren 1959 bis 1963 meine ersten pädasgogischen Erfahrungen machte, herrschte eine der damaligen Zeit entsprechende autoritäre Pädagogik vor. Doch Schläge und Essensentzug als Strafe waren verboten. - Und das galt in der damaligen Zeit als fortschrittlich.

 

Johannes Trüper (1855 – 1921) setzte in der Sophienhöhe in Jena auf die „Selbstentfaltung durch liebevolle Vorbilder“ und führte in der Einrichtung die „Koedukation“ ein, d.h. die gemeinsame Erziehung und Bildung von Jungen und Mädchen.

 

Heimerziehung, auch fortschrittliche, orientierte sich nicht vorrangig am Schicksal des einzelnen Kindes oder Jugendlichen, sondern war zuerst Gruppenpädagogik. - Und wenn es um den Einzelnen ging, orientierte man sich an seinen Defiziten, die es zu korrigieren galt. Eine "ressourcenorientrete Pädagogik", in welcher die Stärken im Vordergrund stehen, wie wir sie heute kennen, kannte man in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch nicht. Ein Umdenken nahm seinen Anfang mit dem Schweizer Heilpädagogen Paul Moor, der damals den Satz prägte: "Nichts gegen den Fehler, aber alles für das Fehlende tun". Erziehungspläne für jedes Kind waren unbekannt. Ebensowenig hatten Pädagogen gelernt, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren, über ihr Verhalten selbstkritisch nachzudenken.

 

Wer in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Sozial- oder Heilpädagogik studierte, wurde von Auffassungen geprägt, wie sie Paul Moor und Emil Kobi vertraten. Und sie verschlangen geradezu das Buch „Wie man ein Kind lieben soll“ von Janusz Korczak (*1878), dem jüdisch-polnischen Arzt, Kinderbuchautor und Pädagogen, der am 5. August 1942 gemeinsam mit den Kindern des von ihm geleiteten jüdischen Waisenhauses „Dom Sierot“ Warschau in die Gaskammern des Vernichtungslagers Treblinka ging, um sie auf dem Weg in den Tod nicht allein zu lassen. Zugleich setzten sie sich mit der Frage auseinander, was der jüdisch-österreichische Kinderpsychologe Bruno Bettelheim (1903 – 1990) mit seinem Buch „Liebe allein genügt nicht“ sagen wollte, welches er während der Zeit der Emigration in den USA geschrieben hat.

 

Ein Beispiel dafür, wie man mit Kindern und Jugendlichen, welche ohne eigenes Zutun in Not geraten sind, umzugehen hat, gab auch die heute nicht mehr bestehende Stiftung Kinderheim Sonnenschein Hamburg. Deshalb soll im Folgenden ihr Wirken und das Engagement ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschrieben werden, denn es soll ebenso wenig wie das Schicksal der Heimkinder in der Vergessenheit versinken. Nartürlicherweise nimmt die Beschreibung der Jahre 1965 bis 1996, in welchem ich das Heim geleitet und mit meiner Familie auch im Heim gelebt habe, den größten Raum ein. Hier muss ich mich nicht auf Archivmaterial beziehen, sondern kann anhand eigenem Erlebens, meiner Erinnerungen und meinen Aufzeichnungen berichten. Damit trägt das Buch weithin auch autobiographische Züge.

 

Stets suchte ich nach Möglichkeiten, meine Auffassungen von Pädagogik in Referaten oder Beiträgen in Fachzeitschriften einem größeren Kreis von Interessenten zu vermitteln. So hatte ich Gelegenheit, im Mai 1970 vor den Heimleiterinnen des Diakonischen Werkes Hamburg zu referieren. Damals war ich der erste und einzige Heimleiter männlichen Geschlechts unter über zwanzig „gestandenen“ Frauen. Erst im Verlauf der folgenden Jahre hat sich der männliche Anteil erhöht:

 

Wie verwirklichen wir den Anspruch des Kindes auf Erziehung und Freizeit?

 

"Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit." (§ 1 Jugendwohlfahrtsgesetz). Werden wir in unseren Heimen diesem Rechtsanspruch des Kindes in vollem Umfange gerecht?

 

Der Begründer des Waisenhauses Halle, August Hermann Francke (1663 - 1727) hielt in seinem Waisenhaus strenge Zucht und Ordnung. Freizeit und Spiel gab es selbst für die Kleinkinder nicht.

 

Ziel seiner Erziehung war:

1. die möglichst einfältige und kindliche Vermittlung der christlichen Lehre

2. das Erklären und Lernen von Bibelsprüchen

3. Schulung des Willens

4. tägliche Gebetsübungen

5. Pflege der Wahrheitsliebe, des Gehorsams und des Fleißes

6. nützlicher Zeitvertreib durch Unterhaltung und Gesellschaft mit gottesfürchtigen Menschen.

 

Jedoch keine Musik, kein Kommödienspiel.

 

In der Schule wurden gelehrt: Sprachen, Mathematik, Geographie, Geschichte, Redekunst, Schönschreiben; Der Erholung zwischen den einzelnen Unterrichtsfächern dienten Handarbeiten wie Drechseln, Glasschleifen, Kupferstechen. Der Tageslauf ließ den Kindern keine Zeit zum freien Spiel. Selbst in den Pausen zwischen dem sich über den ganzen Tag erstreckenden Unterricht durfte kein unnützes Wort gesprochen werden.

 

Der Engländer Alexander S. Neill, jüngst bekanntgeworden durch sein Buch "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung", geht in seinem Therapieheim "SummerhilI" in England andere Wege. Bei ihm ist alles erlaubt, was nicht die Rechte eines anderen Menschen beeinträchtigt: Niemand zwingt die Kinder, am Schulunterricht teilzunehmen. Die Kinder dürfen morgens aufstehen, wann sie möchten und abends schlafen gehen, wann sie möchten. Im Heim gibt es keine Gruppen, die von Erziehern geführt werden. Jedes Kind schließt sich dem Erzieher an, der ihm angenehm erscheint.

 

Und das Erstaunliche:

 

August Hermann Francke hatte mit seinem autoritären, nicht kindgemäßen Erziehungs- und Bildungssystem Erfolg und prägte damit ein ganzes Jahrhundert (Zinsendorfschulen).

 

Aber auch Alexander S. Neill hat Erfolg und schickt sich ebenfalls an, eine ganze Epoche mit der antiautoritären Erziehung zu prägen.

 

Welches System ist das richtige? - Diese Frage kann nicht beantwortet werden.

 

Vielleicht darf man nur fragen: Welches System ist für welches Kind das bessere?

 

 

Haben wir für unsere Heime bereits bewusst eine Position bezogen oder werden wir von einer Bewegung in eine andere hineinmanipuliert und geraten dadurch selbst in Unsicherheit?

 

Der österreichische Pädagoge Dr. Otto Wilfert unterscheidet in seinem soeben erschienen Buch "Heimerziehung gestern, heute und morgen" zwischen drei Erziehungssystemen:

 

a) das autoritäre System

b) das sozialpädagogische System

c) das antiautoritäre System

 

D.h. Dr. Wilfert sieht das Heim heute zwischen den beiden extremen Strömungen und erkennt ihm ein eigenes System, das sozialpädagogische System, zu.

 

Haben wir bereits in unseren Heimen ein eigenes System? Gestalten wir die Erziehung des Kindes autoritär, sozialpädagogisch oder antiautoritär?

 

- Und die Freizeit?

 

Mir ist noch folgende Begebenheit aus einem Heim gut in Erinnerung, in welchem ich als Praktikant war:
Die Erzieherin sagte häufiger: "Es wird nicht rumgetobt! Ich erwarte von jedem, dass er sich sinnvoll beschäftigt!". Was taten die Kinder? Sie legten ein aufgeschlagenes Buch auf den Tisch und tobten -wenn auch geräuschloser- so doch intensiv weiter. Sobald die Erzieherin wieder in die Nähe dieses Zimmers kam, saßen die Kinder blitzschnell wieder vor dem Buch und waren damit in den Augen der Erzieherin sinnvoll beschäftigt. - Die Erzieherin verstand ihre Aufgabe darin, darüber zu wachen, dass jedes Kind einer sinnvollen Freizeitbeschäftigung nachgeht.

 

In einer anderen Gruppe wird vielleicht der tägliche Spaziergang sehr gepflegt. Für die Kinder ist es täglich das gleiche Erlebnis:

 

Gummistiefel, Anorack, Schal und Mütze - wenn es kälter ist auch noch die Handschuhe- anziehen. Die beiden Kleinen in den Bollerwagen gesetzt. Die Kinder kennen den tägliche Weg schon sehr gut: Erst über die verkehrsreiche Straße, dann in den Waldweg eingebogen, bis zur Schneise und dann wieder zurück. Die Kinder haben sich an diesen Weg so gewöhnt, dass kaum Zwischenfälle zu erwarten sind. Und die Erzieherin kann auf dem Spaziergang ihren eigenen Gedanken nachgehen, denn die Kinder fragen sie nichts mehr, weil sie schon alles auf diesem Weg kennen.

 

Friedrich Fröbel sagte: "Die Spiele der Kinder sind die Herzblätter des künftigen Lebens." Und er erwartete von der Kindergärtnerin, dass sie das Kind anleitet, damit es sich spielend entfaltet und in allen seinen Fähigkeiten angesprochen wird. Diese Erkenntnis Fröbels gilt noch heute: sich spielend entfalten. Wir unterscheiden im Heilpädagogischen Kinderheim "Sonnenschein" in Reinfeld zwei Arten von Spiel:

 

a) das freie Spiel

b) das kompensatorische Spiel.

 

Wieweit darf der Erzieher das freie Spiel des Kindes zugunsten des kompensatorischen Spiels einschränken, um das Kind auf diese Weise zu einer Entfaltung seiner Fähigkeiten zu bringen? Wir lassen uns von folgenden Überlegungen leiten:

 

Unsere verwahrlosten, verhaltensgestörten, neurotischen, hospitalisierten und hirngeschädigten Kinder werden durch den geregelten Tagesablauf im Heim, durch den Besuch der Schule sowie durch die Erledigung der Hausaufgaben zeitlich so stark gefordert, dass ihnen eigentlich nur die Zeit nachmittags von 15.00 - 18.00 Uhr zum Spielen bleibt. Diese Zeit ist zu schade, als dass sie einfach totgeschlagen wird. Sie sollte aber auch nicht vom Erzieher für seine ganze Gruppe so verplant werden, dass das einzelne Kind in dieser Zeit keine Erfüllung seiner Spielwünsche findet, weil es sich wiederum der Gruppe unterordnen muss. Deshalb nimmt der Erzieher zunächst eine wartende Haltung ein und lässt die Kinder zunächst Beschäftigungen suchen.

 

Der Nachmittag des 14.April 1970 gestaltete sich in einer Jungengruppe folgendermaßen:

 

1. Dieter ist Verwalter der Heimbücherei und geht für den ganzen Nachmittag dorthin, um schadhafte Bücher zu reparieren.

2. Michael . holt sich sein Fahrrad, um auf dem Heimgelände zu fahren. Später repariert er sein Rad.

3. Rainer und Bernhard gehen zur Schrottkuhle, um sich eine neue Vordergabel für das Rad zu suchen. - Sie finden eine und kommen gegen 16.30 zurück und montieren dann an ihren Rädern.

4. Uwe, Jürgen und Klaus arbeiten bereits seit drei Tagen an jedem Nachmittag auf unserem "Bauspielplatz", an dem im letzten Herbst nicht vollendeten Aussichtsturm.

5. Lediglich Bernd, Klaus und Thomas wissen an diesem Nachmittag nichts mit sich anzufangen.

 

Hier setzt die Aufgabe des Erziehers ein. Er macht ihnen verschiedene Angebote, die sie ausschlagen. Thomas entscheidet sich schließlich dafür, einwenig zu lesen; schließlich gammelt er aber auf dem Gelände des Heimes herum. Klaus und Bernd einigen sich mit dem Erzieher, ein paar kleine Reparaturen im Hause durchzuführen. Sie reparieren am Fahrradschuppen das Türschloss, nageln das lose gewordene Kabel von der Fernsehantenne an der Hauswand wieder fest, befestigen einige Zaunlatten am Jägerzaun und reparieren schließlich noch das Fahrrad einer Erzieherin. -

 

Damit war es dem Erzieher gelungen, den Kindern ein "kompensatorisches Spiel" anzubieten. Der Erzieher war genötigt dabei zu bleiben, weil es technische und praktische Fragen zu lösen galt, die die beiden Jungen allein nicht lösen konnten:

 

Resümee:

 

Die Kinder waren am Abend fast ausnahmslos zufrieden mit dem Verlauf des Tages. Ihr Anspruch auf Freizeit wurde ihnen weitgehend erfüllt. - und der Anspruch auf Erziehung ebenfalls, denn mit Ausnahme von Thomas, der fast den ganzen Nachmittag "gammelte", gingen die Kinder selbstgewählten, funktionsfördernden Spielen nach.

 

Es kommt aber auch häufig vor, daß der Erzieher von der ganzen Gruppe oder einem großen Teil der Gruppe zum gemeinsamen Spielen aufgefordert wird. Dann tut er gut, bei der Auswahl der Spiele auf deren therapeutischen Wert zu achten. Mit unruhigen, unkonzentrierten Kindern wird er häufiger Spiele spielen, die Ausdauer und Konzentration entfalten, fördern und trainieren. Mit motorisch gehemmten Kindern dagegen geschicklichkeitsfördernde Spiele. Da jedoch diese Art der Freizeitgestaltung bei unseren Kindern mit erheblichen Störungen zwar zur Normalisierung ihres Verhaltens beiträgt und einen Teil ihrer Störungen kompensiert, jedoch nicht in vollem Umfange, sind bei vielen Kindern noch spezielle heilpädagogische Behandlungen erforderlich. - Unter diesem Aspekt sehen wir auch unsere Ferienfahrten im Sommer und Winter.

 

- In diesem Winter waren wir mit 16 schwer gestörten Kindern für 14 Tage in Südtirol zum Skilaufen. Wir waren vom Ergebnis dieser Fahrt verblüfft.

 

Um Formen des kompensatorischen Spieles (wie wir es nennen) zu finden, ist eine fortlaufende Schulung der Mitarbeiter erforderlich. Das geschieht in den allwöchentlich stattfindenden Fallbesprechungen, in welchen festgelegt wird, welche Förderung des einzelnen Kindes vom Gruppenerzieher erwartet werden kann und welche speziellen Methoden daneben erforderlich werden.

 

Neben den Fallbesprechungen versuchen wir auch an allen möglichen Fortbildungsveranstaltungen teilzunehmen. Jeder Mitarbeiter nimmt einmal pro Jahr auf Kosten des Heimes an einem einwöchigen Fortbildungslehrgang teil. Das halten wir dennoch für zu wenig. Vielleicht sollten wir in diesem Rahmen an eine fortlaufende berufsbegleitende Zusatzausbildung denken.

 

Klein Wesenberg, im Januar 2016

 

 

Die Anfänge in Augustenborg

1889 - 1920

 

Eine Hamburger Kaufmannstochter, Frau Agnes Hüniken, errichtete 1889 in Augustenborg in Nordschleswig, welches damals zum preußischen Schleswig-Holstein und damit zu Deutschland gehörte, mit ihrem ererbten Vermögen ein Kinderheim für „bedürftige Kinder unbemittelter Eltern aus Hamburg“, das sie bis zu ihrem Tod 1917 selbst leitete. Vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg wurde das Kinderheim nach ihrem Tod als „mildtätige Stiftung“ anerkannt, eine Stiftungssatzung erlassen und ein Stiftungsvorstand eingesetzt. – In Augustenborg wurden 32 „Mädchen unter 15 Jahren und vereinzelt auch Knaben unter 5 Jahren“ sowie „ferner 8 eben konfirmierte Mädchen als Zöglinge zur Ausbildung als Dienstmädchen“ aufgenommen.

 

 

Das Kinderheim Sonnenschein 1889 in Augustenborg/Dänemark

 

Augustenburg (dänisch Augustenborg) auf der Insel Alsen (dänisch Als) hatte damals etwa 1.500 Einwohner, nach der Volkszählung 2015 waren es ca. 3.270, mit den umliegenden Dörfern und einzelnen Gehöften, welche ebenfalls zur Kommune Augustenborg gehören, ca. 6.570 Einwohner. 6 bis 8 % gehören heute der deutschen Minderheit an.

 

Nach dem 1. Weltkrieg, im Februar 1920, fand im Landesteil Nordschleswig eine Abstimmung statt, um durch Mehrheitsvotum festzulegen, ob dieser Landesteil weiterhin zu Deutschland gehören oder Dänemark angegliedert werden soll. So war es im Versailler Vertrag vereinbart worden. Die Mehrheit entschied sich für Dänemark. Daraufhin verließen etwa 100 deutsche Personen, zumeist preußische Beamte, Augustenborg und das Eigentum der deutschen Institutionen und Organisationen ging in dänisches Eigentum über. Damit verlor auch die Hamburger Stiftung Grundstück und Gebäude in Augustenborg. Alle anderen Menschen, die im bis dahin preußischen Augustenburg lebten, nahmen die dänische Staatsbürgerschaft an und blieben im Lande.

 

Grundstück und Gebäude der Stiftung Kinderheim Sonnenschein ging in dänisches Eigentum über. 1920 übernahm der dänische „Nationalverein zur Tuberkulosebekämpfung“ das Anwesen und richtete dort ein Sanatorium ein. Da in Augustenborg die Zahl der Einwohner zunahm, geriet das ehemals in einer Randlage gelegene Grundstück in den Ort. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde das baufällige Gebäude abgerissen, das Grundstück verkauft und Eigenheime darauf errichtet.

 

 

Der Neuanfang in Reinfeld (Holstein) und die Zeit des Nationalsozialismus

1920 - 1945

 

Mit dem restlichen Vermögen der Stiftung wurde 1925 in Reinfeld das Grundstück „Segeberger Straße – Feldweg“ (heute Bolande – Pommernweg) in Reinfeld gekauft und ein neues Gebäude durch die Reinfelder Baufirma Möller errichtet.

 

Das Kinderheim Sonnenschein 1925

 

1937 wurde noch das „Wichmann’sche Haus“ (heute Bolande 28) nebst Scheune hinzugekauft.

 

Das Wichmann´sche Haus 1937

 

Auch bei der Stiftung Kinderheim Sonnenschein hinterließ der Nationalsozialismus seine Spuren. Am 21. November 1938 ordnete der Reichsstatthalter von Hamburg an, die Satzung der Stiftung zu ändern: „Es ist notwendig, daß in dem Zweck-Paragraphen festgelegt wird, daß die Arbeit nur deutschen Volksgenossen zugute kommen darf“. Und im April 1942 beschlagnahmte der Landrat des Kreises Stormarn das Hauptgebäude des Heimes samt Inventar. Die Kinder und Mitarbeiter mussten im Wichmann’schen Haus und in der dazugehörigen Scheune eng zusammenrücken. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) brachte durch Bombenangriffe obdachlos gewordene Mütter mit Säuglingen des Säuglingsheimes Lübeck unter. – Doch schon im November 1944 musste das gesamte Heim völlig geräumt werden, da die Wehrmachtsverwaltung das Gebäude zur Abhaltung von „Wehrertüchtigungs-Lehrgängen“ brauchte. Jeweils 80 Jugendliche wurden in Schnell-Lehrgängen zu Soldaten ausgebildet. Sie sollten noch die drohende Niederlage des Hitler-Regimes abwenden. Die 34 Kinder des Heimes im Alter zwischen 1 und 12 Jahren, die 9 Mitarbeiterinnen sowie die letzten 4 Mütter mit Säuglingen wurden teils in der Alten Schule, teils im Konfirmandensaal, teils im Museum in Reinfeld untergebracht.

 

Über das Ende des zweiten Weltkrieges schreibt die damalige Leiterin des Kinderheims Frau Elsa Sprenger am 21.05.1945 an den damaligen Stiftungsvorsitzenden, Herrn Pastor Donndorf, Vorsteher des Rauhen Hauses in Hamburg:

 

„Am 2.5. wurde Reinfeld unter ziemlicher Schießerei von den Engländern besetzt. Am 3.5. wagte man sich noch nicht auf die Straße. Am 4.5. gingen wir in unser Heim. Die HJ hatte am 2.5. fluchtartig das Lokal verlassen. Wir fanden ein gänzlich verwahrlostes Haus vor. Den Schmutz und die Verkommenheit kann man nicht beschreiben, man muß beides gesehen haben.…In den nächsten Tagen versuchten wir Ordnung unter den Möbeln zu schaffen. Da besetzte am 7.5. der Engländer das Haus mit etwa 100 Menschen und enorm vielen Panzerautos, Lastwagen und Autos, die alle im Garten, auf dem Rasen und hinter dem Haus gelegenen Felde standen. Wir gingen sofort hin und baten, ob wir wohl die Stube hinter dem Spielsaal selbst ausräumen dürften; denn dort hatten wir ja alle Kinderbetten mit Matratzen, die schon alle vom Engländer herausgerissen waren. Leider erhielten wir keine Erlaubnis. So mussten wir die Sachen preisgeben.

 

Am 12.5. abends rückte plötzlich der Engländer wieder ab, mit dem Vermerk, es würden andere kommen. Wir räumten nun wieder alles mühsam zusammen und verstauten noch mehr in der Scheune. Da wurden uns am 15.5. Flüchtlinge geschickt. Der Engländer hatte als Ersatz für unser Haus, was ihm nun wohl doch zu verkommen war, eine Anzahl Villen mit Beschlag belegt, in denen diese Flüchtlinge untergebracht waren. Die Polizei ging mit mir durchs Haus und bezeichnete jeden Raum mit der Personenzahl, die unterzubringen wäre. Es sind jetzt 41 Personen im Haus. … Ganz arg ist die Verschmutzung der Klosetts, gänzlich verstopft und bis obenhin verschmutzt. Es muß eine Aufgrabung vorgenommen werden, die die Stadtverwaltung angeordnet hat, aber nicht bezahlt; wir müssten die Sache dann als Kriegsschaden anmelden. … Die Leute tun mir ja fast leid, die in einem solchen verkommenen Hause wohnen müssen. Dem Bürgermeister habe ich klargelegt, wie die HJ das Haus verlassen hat und an der Hand des Inventar-Verzeichnisses gemeldet, welche Sachen noch vorhanden sind; man kann fast sagen, daß 90 % der Sachen so gut wie fort oder unbrauchbar sind.“

 

Den Brief erreichte Pastor Donndorf im Rauhen Haus in Hamburg auf Umwegen durch einen persönlichen Überbringer.