Meinen Eltern

und der Familie Zisler

Inhalt

Rehgeweih: Nur die männlichen Rehe tragen ein Geweih. Es wird jährlich abgeworfen und wächst wieder nach. Im Gegensatz zum männlichen Rothirsch besitzen Rehböcke nur kleine Geweihe von maximal dreissig Zentimetern Länge. Drei Enden pro Geweihstange sind üblich. Das Rehgeweih wird vor allem im Kampf gegen Rivalen eingesetzt, manchmal auch als Waffe gegen Raubtiere. Besonders starke und schöne Rehgeweihe sind bei Jägern sehr begehrt. In der Jägersprache (siehe Seite →) wird ein Rehgeweih auch Gehörn oder Krone genannt.

Prolog

Im Herbst vor neun Jahren nahm das halbe Dorf an einer grossen Treibjagd teil. Jeder Schütze träumte davon, das prächtige Geweih des starken Rehbocks Alt-Fao als Jagdtrophäe nach Hause zu holen. Weil der Bock schon alt war, nannte man ihn so. Wegen seines zehnendigen Kapitalgehörns war er weit herum bekannt. Schon als ich meine Stelle als Förster angetreten hatte, war der damals noch junge Bock berüchtigt. Er kämpfte in der Brunft so wild wie kein anderer, entkam den Jägern geschickt und dominierte die Rehgruppe im Winter, wenn er mit seinem spitzen, noch nicht abgeworfenen Gehörn die andern Tiere, ja selbst die führende Ricke, vor sich her jagte. Auf dem starken Haupt dieses wilden Kerls wuchs alljährlich eine mächtige Rehkrone heran – perlenreich, massig und knorrig. Die ausladenden Enden blitzten blank. Für ein Rehgehörn waren die dreissig Zentimeter Länge etwas Aussergewöhnliches. Uns Jägern war klar: Derjenige, der Alt-Fao erlegen sollte, würde als bester Jäger des Dorfes gefeiert. Deshalb machte ich mich mit meinem Jagdkollegen Georg auf, Alt-Fao aufzuspüren.

Alt-Faos Revier lag jenseits der Hauptstrasse. Von unserem Dorf aus war es das am weitesten entfernte Bockrevier. Wir mussten die Bahngeleise, die Äcker und den Bach überqueren. Dann waren wir allerdings erst im Gebiet, das ich den Moorwald nannte, denn östlich davon lag ein weites Moor. Westlich war dieser Wald von einer Kiesgrube begrenzt. Als nördlicher Abschluss gab es die Hauptstrasse. Dahinter lag Alt-Faos Revier.

Den Moorwald teilten sich vier erwachsene Rehböcke. Unabhängig von diesen hatten ebenfalls vier Rehgeissen ihr Revier dort. Manche Geissenreviere erstreckten sich über mehrere Bockreviere. Alt-Faos Tochter beispielsweise konnte die Reviere von vier Böcken besuchen: die Reviere ihres Vaters, ihres Onkels sowie zweier junger Böcke. Einen dieser Jünglinge hatte sie zu ihrem Gefährten gemacht – echte Rehliebe verband die beiden.

Meine Gedanken sind abgeschweift – nun zurück zur Treibjagd. Damals schloss ich mit meinem Jagdkollegen Georg eine Wette ab, ich hätte Alt-Faos Trophäe eher an der Wand, als er eine altersschwache Sau erlegt. Mit einem Lachen verabschiedete ich mich von Georg und begab mich zu meinem Ansitz, von wo aus ich das an mir vorbeifliehende Wild erlegen wollte.

An diesem nebelverhangenen Herbstmorgen, als das Johlen und Schlagen der Treiber den Wald erzittern liess, sah ich vorerst kein Rehwild. Rothirsche waren hier selten, deshalb rechnete kein Jäger damit, Hochwild vor das Gewehr zu bekommen. Aber Rehe gab es viele, deshalb war es sonderbar, dass ich kein Reh sah. Ich erlegte drei Füchse und zwei Wildschweine. Das war alles, Alt-Fao war nicht erschienen. Sollte ich meine Wette verlieren?

Als ich mich enttäuscht vom Ansitz entfernt hatte, um meine Beute zusammenzusammeln, war die Treibjagd bereits zu Ende. Es war schon spät am Morgen, die Nebelschwaden jedoch hatten noch an Intensität zugenommen. Unwohl und kalt war es mir. Anklagend still war der Wald. Im Zwielicht tauchte dann doch noch ein Rehbock auf, das mächtige Haupt mit den hohen Geweihzacken erhoben wie ein Fürst, aufrecht stehend in selbstsicherer, strammer Haltung. Doch er war nicht vor den Treibern geflohen – nein, der kluge Kerl war ihnen entwischt und wog sich fernab des Geschehens in vermeintlicher Sicherheit. Ich nahm meine Flinte von der Schulter und brachte mich so leise wie möglich in Schussposition. Mein Puls raste.

Als der Bock mich gewahrte, lag mein Finger bereits am Abzug. Alt-Faos Augen blitzten, aus seiner Nase strömte sichtbar der warme Atem. Ich hörte und spürte mein Herz schlagen. Alt-Faos Haupt drehte sich blitzartig in meine Richtung, die Lauscher zu mir gerichtet. Ich drückte ab. Der getroffene Bock sprang nochmals auf, und sein starker Körper trug ihn noch zwanzig Meter weit, bevor er tot im Unterholz zusammensackte.

Ich wurde damals wie ein Held gefeiert, und Georg, der tatsächlich nur eine altersschwache Sau erlegt hatte, ging leer aus.

Alt-Fao war tot. Doch allein ich wusste, dass seine Tochter lebte. Ich ahnte, dass einer ihrer Söhne dereinst das Erbe von Alt-Fao antreten würde.

Ich… ach Verzeihung, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Förster und passionierter Jäger. Davon zeugen die ausgestopften Wildschweinköpfe, die mit gläsernen Augen unter verstaubten Brauen hervorblinzeln, und die blanken Rehgeweihe, die von den Wänden meines Hauses herabdrohen. Ich jagte jeden Herbst mit heissem Jägerherz nach kapitalen Trophäen, auf die ich sehr stolz war. Doch dann trat Fao in mein Leben, der Enkel von Alt-Fao. Fao erbte von seinem Grossvater aber nur die Veranlagung zu einem kapitalen Geweih, dafür die elegante Erscheinung von seinem Vater und die vorsichtige Natur von seiner Mutter. Fao beeindruckte mich in einer ganz anderen Weise als sein Grossvater, denn Fao sollte meine Einstellung zum Wald, zu Wildtieren und zur Jagd grundlegend verändern.

Der kleine Fao begann sein Leben als schutzbedürftiges Kitz, das zu einem jungen, einsamen Rehböcklein heranwuchs. Jahre später wurde aus ihm ein schöner, faszinierender Kapitaler. Als erfahrener, grauer Alter endete sein ereignisreiches Dasein. Weil mich Fao beeindruckt hat, erlege ich als Jäger nur noch schwache, kranke und alte Tiere. Manch ein Jagdkollege lacht über mich, und manch einer bezeichnet mich sogar als Waldgeist, da ich tagelang draussen herumstreichen kann, um die Tiere zu beobachten. Doch die wahren Waldgeister sind die Geschöpfe des Waldes – wilde Seelen, die es verstehen, im harten Kampf ums Dasein zu überleben. Von diesem Kampf handelt die Geschichte von Fao. Es ist eine Geschichte, die jeden Frühling ähnlich wieder neu beginnen könnte, denn Faos Verwandte sind da, im tiefen, dunklen Wald, versteckt im Maisfeld oder am Rande einer Lichtung, eingehüllt im Dämmerlicht.

1 – Neues Leben

Über die Wiese strich ein leichter Wind und liess die Gräser schwanken – wie Wellen auf einem See. Doch nur vom Hochsitz aus war das Spiel des Windes so schön zu sehen. Ich blickte immer wieder durch mein Fernglas. Im Dämmerlicht der hereinbrechenden Nacht lag der Wald. Die Luft war kühl, dennoch spürte man die Wärme des zaghaft aufziehenden Frühlings. Noch waren einige Vogelstimmen zu hören, doch mit dem zur Neige gehenden Tag verstummten sie allmählich.

Ungemütlich war es in meinem Versteck, oben in einigen Metern Höhe. Viele Jäger hatten hier schon frierend ihrem Rehbock abgepasst, nur vom heissen Tee der Thermosflasche aufgewärmt. Den Feldstecher in Händen, wartete auch ich auf ein Lebenszeichen der Geschöpfe dieses Waldes. Ich jedoch war nicht auf der Jagd, sondern bloss als interessierter Naturbeobachter hier. Nun begann die Geschichte, die mein Leben verändern sollte.

Ein rotbrauner Schatten lenkte meine Aufmerksamkeit auf sich. Bewegungslos und fast verborgen im Gestrüpp stand eine Rehgeiss am Waldesrand. Ich erkannte sie als Alt-Faos Tochter. Ängstlich sicherte sie mit nur halb erhobenem Haupt, ihr Näslein prüfte den Wind, die tiefschwarzen Äuglein glänzten aus den langen Wimpern hervor. Sie liess die Lauscher spielen, mal nach vorn, mal zurück horchend. Ein leises Zittern setzte sich über ihren Körper fort. Schwach hob sie das Haupt, äugte scheu über die Wiese und schlüpfte dann schwerfälligen Schrittes hinaus. Sie suchte einen von Blicken geschützten Ort, um ihr Kitz zu setzen. Mit der Gewissheit des Wildtieres, dass es nirgendwo anders sicher sein konnte, blieb sie schliesslich an einer von Kräutern und Gräsern stark überwucherten Stelle stehen.

Lange trat sie unruhig hin und her, dauernd nach ihrer Flanke blickend. Nach mehrmaligem Niedertun und Hochwerden begannen die Wehen. Ihr Körper spannte sich, abwechselnd leicht vor- und zurückgebeugt, und schon kurz darauf lag ein feuchtes, winziges Kitz im hohen Gras. Die Ricke stand gleich wieder auf und fuhr ihm mit ihrer warmen Zunge über den zitternden, weiss gesprenkelten kleinen Körper, bis es vollkommen trocken und sauber war. Die weissen Rückentupfen schimmerten zart auf dem dunklen, fuchsrot glänzenden Fell. Einzig über seinem schwarzen Näslein blitzte es weiss. Diesen hellen Muffelfleck sollte er zeitlebens behalten. Fao sollte er heissen, zu Ehren seines berühmten Grossvaters Alt-Fao.

Fao

* * *

Wärmebedürftig schmiegte sich der winzige, zitternde Fao an seine Mutter, verspürte bald Hunger und suchte ihre Zitzen. Bereitwillig legte sich die Mutter zur Seite, um ihn im Liegen zu säugen. Saugend verharrte Fao, schlürfte die stärkende Milch und fühlte sich geborgen. Die Nacht hatte die beiden unterdessen eingehüllt, und Stunde um Stunde verging in langsamer Stille. Schwach erhellte der Mond die Wiese und liess die Umrisse der Bäume erkennen. Unruhig sicherte die Mutter mehrmals, um sich zu vergewissern, dass keine Gefahr drohte. Dann kam sie hoch, die Lauscher spielten, und sie umkreiste ihr Kleines einige Male. Schliesslich tat sie sich erneut neben ihn nieder.

Eulen liessen ihre nächtlichen Strophen aus unterschiedlicher Richtung hören. Die Rehmutter horchte aus dem Dösen auf, beruhigte sich aber sogleich wieder. Sie hörte die unscheinbarsten Laute und schien meist um deren Ursache Bescheid zu wissen. Diese Nacht schien ruhig, als würde das eben geborene Geschöpf nicht nur von der Vegetation und dem mütterlichen Instinkt geschützt, sondern auch von der Nacht selbst, in welcher sonst die meisten Gefahren lauerten.

Einmal witterte die Ricke den huschenden Fuchs in weiter Entfernung, doch es blieb beim Hauch der Gefahr, und die schwere Nacht des ersten Tages war an Fao vorbeigeflossen. Auf dem Bretterboden des Hochsitzes war auch ich eingeschlafen. Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch die schmale Sichtluke und kitzelten mich wach. Nach dieser ersten Begegnung mit dem jungen Fao wollte ich so viel wie möglich über sein weiteres Leben erfahren. Deshalb hielt ich in jeder freien Minute nach Fao Ausschau.

* * *

In seiner Nähe stand die Mutter bei Sonnenaufgang und äste. Sie schien von allem zu naschen, denn sie wählte nur das Beste aus der üppigen Wiesenvegetation, kaute zuerst an einem auserlesenen Kraut, dann an einem Grashalm, den sie sorgsam aus dem Pflanzenteppich herausgepflückt hatte. Hin und wieder hielt sie inne, um zu sichern, schüttelte darauf das Haupt wie zum Zeichen, dass alles in Ordnung war. Schliesslich zog sie zu Fao, legte sich zu ihm und säugte ihn erneut im Liegen. Lange blieb er schmatzend am Gesäuge. Während und auch nach der Mahlzeit leckte sie ihn zärtlich, um seine Verdauung anzuregen und ihn sauber zu halten.

Schliesslich wurde die Ricke hoch und trat einige Schritte weg, worauf das kleine Kitz, von der Milch gestärkt, sich auf die langen, schlanken Läufe zu stellen versuchte, um die ersten Schritte zu wagen. Seine längeren Hinterläufe folgten den Vorderläufen. Da er aber noch unsicher war, konnte er sich nicht lange halten und fiel ins weiche Gras zurück. Entschlossen versuchte es Fao ein zweites und drittes Mal, bis er stand. Doch er schwankte zur Seite, wollte durch einen unbeholfenen Sprung ins Gleichgewicht zurückgelangen und fiel, allen Bemühungen zum Trotz. Um ihn zu einem erneuten Versuch zu veranlassen, entfernte sich die Mutter noch weiter. Da raffte sich Fao noch einmal auf und schwankte auf zittrigen Läufen zu ihr.

Die Mutter zog eine kurze Strecke voran, und Fao fiepte nach ihr, im schwachen, zerbrechlichen Ton eines Kitzes der ersten Stunden. Der Kleine stolperte und fiel hin. Die Mutter wandte sich sofort um und säugte ihn kurz, um ihn zu beruhigen. Dann liess sie ihn allein in seinem Grasversteck zurück, denn vorerst boten ihm sein geradezu perfektes Tarnkleid und seine Geruchlosigkeit Schutz genug vor Raubtieren. Faos Schritte waren noch zu zaghaft, um mit denen der Mutter mithalten zu können. Im Versteck wusste sie ihn sicher. Darauf entfernte sie sich, blieb aber in Reichweite. Ihre Sinne waren stets auf das Versteck ihres Kitzes gerichtet.

Fao verbarg sich in seinem gut gewählten Graslager, spielte scheu mit den Lauschern und lernte faszinierende neue Geräusche, Gerüche und Mitgeschöpfe kennen. Das ratternde Klopfen vom Specht ertönte, und schon waren Faos kleine Lauscher zur Geräuschquelle hin gerichtet. Vogelgezwitscher war überall zu vernehmen, darunter der neckische Ruf des Kuckucks, der seine Eier andern Vögeln ins Nest legt, um sie von diesen ausbrüten zu lassen. Selbst winzige Singvögel werden dazu benutzt, die Brut der Kuckucke hochzupäppeln.

Natürlich fehlte der Blumenduft nicht, doch Fao vermochte mit seinem Näslein wohl viel mehr zu wittern als ein Mensch. Schmetterlinge gaukelten in der Luft, Mücken schwirrten herum, und eine Hummel liess den unerfahrenen Fao zurückschrecken. Er lauschte dem Zirpen einer Heuschrecke und verfolgte mit seinen dunklen Augen die vorüberkrabbelnden Ameisen, die Beutetiere und Pflanzenteile mit sich schleppten, die grösser waren als sie selbst. Schliesslich musste die Brut der Ameisenkönigin gefüttert werden, die in verwinkelten Kammern im aufgehäuften Nest aus Tannennadeln auf Nahrung wartete. Doch dies blieb für Fao unsichtbar.

Auf diese Weise schärfte Fao seine jungen Sinne, und als die Sonne hoch oben am Himmel stand, vernahm er Mutters Ruf in einiger Entfernung. Fao wurde hoch, taumelte hungrig fiepend zu ihr hin und begann zu trinken, während ihre Zunge über seinen Körper fuhr. Bereits war Fao bedeutend besser auf seinen Läufen, und zum ersten Mal trank er im Stehen. Das Säugen beendet, trat die Mutter weg und schickte sich an, zu verschwinden, doch Fao folgte ihr erwartungsvoll. Unverhofft kehrte sie sich nach ihm um und gab ihm mit der Stirn einen leichten Schubs. Fao gehorchte unverzüglich, stakste zurück und verbarg sich in seinem Versteck, dort, wo ihn die Mutter sicher glaubte.

Fao schlief, denn er brauchte viel Ruhe in den ersten Tagen. So verging auch der Nachmittag, warm und hell, doch der junge Fao hatte davon nichts mitbekommen. Die Mutter hatte im Niederwald Äsung zu sich genommen, um sich zu stärken, dabei jedoch das Versteck ihres Kleinen nie aus den Augen gelassen, und als die Dämmerung hereingebrochen war, erwachte Fao hungrig und fiepte die Mutter heran. Bereits stand sie am Waldrand, doch um sein Versteck nicht zu verraten, blieb sie sorgsam in Deckung und wartete, bis ihr Kleines bei ihr war. Fao wurde hoch, suchte seinen Weg durch das hohe Gras, ganz leise fiepend. Die Mutter war ungewöhnlich unruhig, säugte Fao nur kurz und wies ihn diesmal früher ab. Zielsicher fand er sein Abliegeplätzchen, verbarg sich und döste still.

Die Nacht verbrachte er alleine, doch unerfahren wie er war, kannte er noch keine Furcht. Hin und wieder lag Fao wach und lauschte aus seinem getarnten Plätzchen in die Nacht hinaus und erkannte die Gerüche, welche ihm bereits tagsüber aufgefallen waren. Doch plötzlich flog lautlos ein Schatten über ihn hinweg. Ein ersticktes Piepsen lenkte Faos Aufmerksamkeit auf sich, und kurz darauf flog eine Eule auf – mit einer toten Maus im Schnabel. Verängstigt rief er nach der Mutter und beeilte sich, bei ihr Trost zu suchen. Sie verhielt sich äusserst unruhig – doch nicht wegen der Eule. Etwas anderes, etwas Gefährliches hatte sie wahrgenommen. Dennoch liess sie Fao nach einiger Zeit allein auf der Wiese zurück.

Wach lag Fao in seinem Versteck, als er plötzlich einen eigenartigen Geruch wahrnahm, der ihn instinktiv alarmierte. Kein Geräusch, nur dieser entsetzliche Geruch lag in der Luft. Fao schmiegte sich enger und enger an die Erde, bis er kaum noch atmete. Sein Duckreflex liess Fao in dieser Lage erstarren. Hochbeinig, mit dunklen Sprenkeln auf hellbraunem Grund und kurzem Kopf mit Pinselohren und gelben Augen, stand der Luchs gefährlich nahe. Angst, Geruch und Erscheinung vereinigten sich in Faos Wahrnehmung zu einem nimmer aus seinem Gedächtnis weichenden Bild.

Dass irgendwo ein Kitz liegen musste, wusste der Luchs aus Erfahrung, doch er konnte es nicht wittern, auch nicht erspähen oder hören. Hungrig schlich er sich heran. Am Waldesrand stand angespannt die Mutter, bereit, notfalls ihr Kitz allein mit der Schärfe ihrer Hufe gegen den fast rehgrossen Luchs zu verteidigen, denn ihre Muttergefühle waren stärker als die Angst. In Faos unmittelbarer Nähe hielt der Luchs im Lauf inne und blitzte das erstarrte Kitz mit durchdringenden Augen an. Fao atmete einen Moment lang nicht. Er hatte die Lider halb geschlossen, so dass kaum erkennbar die seidigen Äuglein durch die langen Wimpern glänzten. Der Luchs zögerte, spitzte die Ohren und liess die glimmenden Augen schweifen, bis er unverrichteter Dinge weiterzog und im nahen Buschwald mit der Vegetation verschmolz.

Fao kam zitternd hoch, sah Mutters fahlrote Flanke vor sich, schmiegte sich an sie und wurde zum Trost gesäugt. Dann veranlasste sie ihn, ihr ganz dicht zu folgen. Der Luchs war in dieses Gebiet zurückgekehrt, also mussten sie diesen Teil ihres Reviers verlassen.

2 – Den Wald entdecken

Fao war der Wald fremd, und so geschah es, dass er unerwartet ganz allein im Blättergewirr zurückblieb. Ein ängstliches Fiepen aber holte die Mutter gleich heran. Fao musste zuerst lernen, sich im Wald zurechtzufinden, nachdem er nur die Wiese gekannt hatte.