Enz, Carole

Waldkauz Hannu – Sieben Tier-Fabeln

für Kinder und Junggebliebene

Originalausgabe – 3. Auflage – Horgen 2016

Sistabooks GmbH, Churfirstenstr. 5, 8810 Horgen

Homepage: www.sistabooks.ch

(Sistabooks – Natur)

© Sistabooks GmbH

ISBN 978-3-907860-91-5

3. Auflage 2016 (2. Aufl. 2014; 1. Aufl. 2008)

Alle Rechte vorbehalten

Zeichnungen: Carole Enz

Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Inhalt

für Elisabeth Moana

Viel Spass

beim Hören

oder beim Lesen

der Geschichten . . .

und beim Ausmalen der Bilder!

«s’Gotti»

Waldkauz Hannu

«Guten Tag, liebe Menschenkinder! Ich heisse Hannu und bin ein Waldkauz – eine Eule. In meinem langen Leben habe ich schon viel gesehen.

Einige Waldtiere sagen, dass ich klug und weise bin. Nun, vielleicht stimmt es. Ich weiss viel und kann manchmal gute Ratschläge geben. In den folgenden Geschichten könnt ihr nachlesen, wie ich sieben junge Tiere dabei begleitet habe, erwachsen zu werden.»

Der Herr des Erlenwaldes

Im tiefen Wald erreichen nur wenige Sonnenstrahlen den Boden. Die Blätter der Bäume bilden ein dunkles Dach. Die Bäume rauschen im Wind. Vielleicht sprechen sie miteinander. Vielleicht erzählen sie einander die Geschichte vom kleinen Rehbock Remo.

Remo war kleiner als die anderen Rehböcke. Schon als kleines Rehkitz war er schwächlich gewesen. Die anderen Rehkitze waren immer schneller und kräftiger gewesen als er. Jeden Tag hatte er sich sehnsüchtig gewünscht, wenigstens ein Mal beim Spielen zu gewinnen. Doch er verlor immer und bekam jeweils einen Wutanfall. So kam es, dass bald niemand mehr mit ihm spielen wollte.

Er war allein und hatte keine Freunde. Da er inzwischen etwas älter geworden war, trug er auf seinem Kopf ein kleines Geweih.

Andere Rehböcke besassen grössere Geweihe. Remo war deshalb sehr unglücklich. Und es machte ihn wütend, dass er schon wieder der Schwächste war.

Eines Tages, auf der Wiese, traf Remo seinen Bruder, der noch ein kleines Kitz war. Remo schaute ihn böse an und rief: «Geh weg, du Feigling!» Remo senkte seinen Kopf und drohte ihm mit dem Geweih.

«Aber du bist doch mein grosser Bruder, Remo. Lass uns zusammen durch den Wald gehen», bat der kleine Bruder. «Hau ab! Geh zur Mutter!», befahl Remo mit einem aggressiven Blick.

«Mama hat gesagt, ich soll heute mit dir gehen», flüsterte der kleine Bruder ängstlich. Jetzt wurde es Remo zu bunt – er sprang auf den Bruder los und schlug ihn mit dem Geweih. Schreiend rannte Remos Bruder weg. Nun fühlte sich Remo besser. Er hatte seinem Bruder gezeigt, wer der Stärkere war.

Remo wurde von Tag zu Tag brutaler. Er verprügelte alle jungen Rehe, die kleiner und schwächer waren als er. Aber Remo versteckte sich vor den grossen und starken Rehböcken, weil er Angst vor ihnen hatte.

Hannu, der weise Waldkauz, sah, wie Remo immer einsamer wurde. Alle Rehe hassten ihn. Die jungen Rehe hassten ihn, weil er grausam zu ihnen war. Und die älteren Rehe hassten ihn, weil Remo ein Feigling war und den jungen Rehen wehtat.

Eines Nachts flog Hannu zu Remo und fragte ihn: «Remo, wie geht es dir?» Der Rehbock ging an Hannu vorbei und sagte nichts. «Remo, warum bist du unglücklich?», fragte Hannu. Remo drehte sich nach Hannu um und schrie: «Kümmere dich um deine eigenen Probleme, du alter Kauz!» Doch Hannu erwiderte sanft: «Du möchtest gross und stark sein. Du möchtest ein grosses Geweih haben.» Remo wurde wütend: «Hör auf damit, du alter Kauz! Du machst alles nur noch schlimmer!»

«Schlimmer», sagte Hannu, «schlimmer kann ich es nicht mehr machen. Remo, komm mit mir an den Teich. Ich möchte dir zeigen, wo dein Glück versteckt ist.»

«Mein Glück?», antwortete Remo. «Ich habe kein Glück. Na ja, zeig es mir trotzdem, ich habe sowieso nichts Anderes vor heute. Aber wehe, es gefällt mir nicht, was du mir zeigst. Dann bekommst du mein Geweih zu spüren. Mein Geweih ist sehr spitzig!»

Der alte Waldkauz Hannu flog zum Teich. Remo beeilte sich, ihm zu folgen. Am Teich angelangt, sagte Remo ungeduldig: «Wo ist nun das Glück? Zeig es mir endlich!»

Hannu landete auf einem Ast über dem Wasser und sprach: «Schau hinein.» Als Remo ins Wasser sah, erschrak er, schrie auf und sprang zurück. «Ein grosser Rehbock ist dort drin! Was für ein Geweih er hat! Hilfe!»