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Hans-Christian Kirsch

Bluesballaden

Amerikanische Erzählstücke

FUEGO

Über dieses Buch

Blues ist nicht nur die Bezeichnung für ein musikalisches Genre, es ist darüber hinaus auch die Beschreibung für ein Lebensgefühl des Zorns, der Trauer, der Verzweiflung und der Klage über soziale Ungerechtigkeit.

Entstanden ist der Blues unter den Schwarzen im ländlichen Süden der USA. Er hat sich aber vom Süden aus rasch, auch mit einer von dort verdrängten Minderheit, in den Großstädten des Nordens ausgebreitet. Das Wort ist von der Musik her, zu einer Stimmung unter Menschen auf der ganzen Welt geworden.

So ist es nur folgerichtig, dass die Texte dieses Buches nicht nur von schwarzen Musikern in den USA handeln, sondern auch von Personen, in deren Biographie sich der Blues spiegelt.

Die Folge der Balladen beginnt mit einer Paraphrase über den Folk-Hero, Paul Bunyan, dem legendären Schutzpatron der Holzfäller. Neben der Bluessängerin Billie Holiday und dem Bluespionier Muddy Waters stehen Texte über das Lebensschicksal von Menschen, die am Amerikan Way of Life zerbrachen - wie der Tramp und Volkssänger Woody Guthrie, der Dichter Ezra Pound, der bildende Künstler Jackson Pollock und die unschuldig hingerichteten italienischen Einwanderer Sacco und Vanzetti. Von einem obdachlosen schwarzen Jungen aus Los Angeles wird erzählt, der sich für Charlie Parker begeistert, vom Autor der Beat Generation Jack Kerouac und von der Filmschauspielerin und Fotographin Tina Modotti, schließlich von einem GI türkischer Abstammung im heutigen Bagdad.

Davon handeln die Erzählstücke dieses Buches - Geschichten, in deren Biografie der Blues sich unverwechselbar spiegelt.

Vorstrophe

Ursprünglich ist der Blues die Musik des Schwarzen Amerika, aber darüber hinaus die Musik Nordamerikas schlechthin.

Mit der Ausbreitung der amerikanischen Zivilisation in Europa gelangte der Blues auch zu uns.

In den USA gehen die ersten Aufnahmen des Blues auf die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück.

Er wurde gesungen und gespielt in den Hintergassen der Städte des Südens wie Memphis oder St. Louis, auf heruntergekommenen Farmen, in Kleinstädten wie Spartanburg oder Macon. Seine Sänger verschlug es schließlich in die Slums von New York und Chicago.

Die Stimmung des Blues, sein „true feeling“, ergibt sich daraus, dass der Musiker jene Erfahrungen, die sein Lied ausdrückt, selbst gemacht hat. Ein Bluessänger sagte einmal: „Der Blues handelt von etwas, das wirklich ist. Der Blues erzählt, wie ein Mann sich fühlt, wenn ihn seine Frau verlassen hat, von einer Enttäuschung, die übermächtig ist, gegen die er nichts auszurichten vermag. Deswegen können Junge auch nicht wirklich den Blues singen. Sie haben die Zustände, die in den Blues einfließen, noch nicht am eigenen Leib erfahren.“

Wenn man einen Musiker wie Henry Townsend nach jenen Eigenschaften fragt, die einen guten Bluessänger ausmachen, so wird er lachen und antworten: „Ärger, Kummer. Ja, darum geht es. Verstehen Sie, ein wahres Gefühl kann man nur ausdrücken, wenn man ehrlich davon spricht. Man kann nur etwas ausdrücken, was einem selbst zugestoßen ist.“

Und Furry Lewis meinte, der innere Zustand bei einem Menschen, der den Blues „hat“, sei von dem des Schreibens und des Singens eines Blues nicht zu trennen. „Wenn man einen Blues schreibt, denkt man nicht darüber nach, was der Blues ist. Man selbst hat den Blues und darüber schreibt man.“

Aus dieser Direktheit des Ausdrucks entspringen auch die vorherrschenden Themen des Blues, nämlich Liebe, Enttäuschung und Zorn.

Im Blues findet also eine Abführung von Gefühl statt. Baby Tate beschreibt es so: „Ich werde Ihnen sagen, was mir den Blues eingibt. Wenn meine Frau mich wild macht, greif ich mir meine Gitarre, geh aus dem Haus. Ich versuche so einem Streit aus dem Weg zu gehen.“

Das korrespondiert mit der Wirkung auf den Zuhörer.

Er entdeckt sich, sein Leid, seinen Zorn wieder.

Dass dies jemand ausspricht, tröstet ihn.

Dies ist die Tradition, in der dieses Buch steht.

Der Autor ist viel in den USA gereist, er hat in McComb, Mississippi, Märchen des Schwarzen Amerika gesammelt, und irgendwann ist er dann in Deutschland auf den Bluessänger John Kirkbride gestoßen. Der hat ein verrücktes Leben hinter sich. Ein Blues-Leben. Geboren in Schottland, erzogen in einer englischen Internatsschule. Dann Royal Airforce. Flieger. Captain. Abgeschossen bei einem Flug über Aden. Der einzige Überlebende. In Zypern zum Ausheilen seiner Verwundung. Dort seine Gitarrentechnik verbessert. In die USA gereist. Auf der Straße gelebt. Mit Joan Baez, Bob Dylan, Eric Clapton und anderen Legenden gespielt. Wegen einer Frau nach Deutschland gekommen. Hier hängen geblieben. Den Blues auf und ab durch deutsche und europäische Städte gespielt und gesungen. Wenn man ihn auf seinem Handy anruft, kann es sein, dass man ihn in Moskau, Sarajevo oder Casablanca erreicht.

Es mag damit zusammenhängen, dass Autor und Musiker beide am gleichen Tag das Licht dieser besten aller möglichen Welten erblickt haben, aber mehr noch hat uns verbunden die Erfahrung gemeinsamer Reisen und Auftritte.

Wenn man vier Wochen jeden Abend vor wechselndem Publikum zusammen singt und vorliest, – mal waren es Nonnen und Klosterschülerinnen in Augsburg, dann wieder Rocker in einer Bar in Schleswig-Holstein oder Passanten in einem Bücherkaufhaus in Hamburg – wenn man tagsüber zum nächsten Gig fährt, in Staus stecken bleibt, in mehr oder minder schäbigen Hotels übernachtet, weiß man, was man voneinander zu halten hat. Was John Kirkbride und mich angeht, so sind wir so etwas wie „soul brothers“ geworden. Es muss eine gemeinsame Schwingung in unserem Lebensgefühl geben, die der eine mit Worten, der andere mit Musik ausdrückt.

Wenn man mich darüber hinaus fragen würde, was dieses Buch soll, wie es zustandegekommen ist, was sich darin ausdrückt, so wären eine ganze Reihe von Faktoren zu erwähnen: Liebe zu Amerika und Trauer über die politische und soziale Entwicklung, die die USA in den letzten Jahrzehnten genommen haben, Zorn über den Verfall vom Humanität und demokratischer Freiheit. Staunen über das Leben der Menschen zwischen New York und Los Angeles, Chicago und New Orleans, Freude am gesprochenen und gesungenen Wort, über die Möglichkeiten, mit ihm Stimmungen und Erfahrungen auszudrücken, seine Lockerheit, Spontaneität, seine direkte Verbindung zum Zustand in der Seele des Menschen.

Schließlich muss hier auch erwähnt werden die Bekanntschaft mit einem Mann, mit Erich Jooß, dem Verleger dieses Buches, der ein geschärftes Gehör für die Möglichkeiten der Sprache und der Wunder des Blues hat, der John Kirkbride und mir Mut machte, jeder solle auf seine Art den Blues spielen, singen, sagen, erzählen.

Ohne sonst ein Freund englischer Titel zu sein, müsste dieses Buch eigentlich „Talkin’ the Blues“ heißen, weil diese drei Worte einschließen, worum es uns geht. Von Menschen in Amerika mit dem Blues zu erzählen: von ihren Hoffnungen, Utopien, Wünschen, Gefährdungen, ihrem Leid, ihrem Zorn, aber auch von ihrer Freude, ihrem Lebens­willen, ihren Niederlagen und ihren Siegen.

Limburg a. d. Lahn, Frühjahr 2005

Die Ballade von Paul Bunyan

Dies ist die Geschichte von Paul Bunyan, der bis heute als der Schutzpatron der Holzfäller gilt.

Paul Bunyan war ein Mann, übergroß und kräftig, das Urbild eines amerikanischen Mannsbildes überhaupt.

Man sagt, zu Anfang wollte er der Patron des Nützlichen und Schönen werden.

Über das, was er war, ehe er sich seiner großen Aufgabe widmete, darüber gibt es zwar auch Geschichten, aber von denen reden wir hier nicht, denn, wie wir längst wissen, hat jede Geschichte eine Geschichte vor der Geschichte.

Nur soviel soll gesagt sein. Er saß zu jener Zeit, da wir unsere Erzählung beginnen lassen, in einer riesigen Höhle nicht weit von der Hudson Bay entfernt. Und es gab in dieser Höhle mindestens die Hälfte aller Bücher, die damals auf der Welt schon geschrieben oder gedruckt worden waren.

Und Paul Bunyan las sie alle, eines nach dem anderen, nichts anderes tat er, las und träumte von den Geschichten, die er gelesen hatte, bis dann der Winter mit dem Blauen Schnee kam.

Der Blaue Schnee fiel dünn während der ersten Stunden. Die Flocken tanzten auf den Wellen eines milden Winterwindes, glitzerten in einem mattgoldenen Licht.

Dann war die harte, graue Ebene des menschenleeren Landes bedeckt mit einer dunkelblauen Decke.

Und all die vielen Seen und Flüsse, die stillen Täler und winddurchtosten Schluchten des Landes dort oben versanken unter einem Schnee, der die Farbe des blauen Himmels hatte.

Mit dem letzten Licht des Tages ging plötzlich eine Veränderung vor sich. Ein kräftiger Wind kam auf, und die Flocken, die nun viel größer waren, verbanden sich zu Schleiern und Klumpen. Der Schnee bildete blauen Erhebungen um die Bäume herum.

Als das letzte Licht des Tages erlosch, ächzten die Zweige der großen Fichten unter der schweren Last der Schneemassen, die aussahen wie Ballen blauer Baumwolle. Vor der Zeit des Winters mit dem Blauen Schnee lebten die Geschöpfe des Waldes ein freies und leichtes Leben. Menschen, die auf sie geschossen hätten, gab es nicht. Das einzige Problem war, dass es zu viele Tiere in den Wäldern gab. Die riesigen Elchherden, die die Wälder bevölkerten, waren sich gegenseitig im Wege, und es war für die Raubtiere ein Kinderspiel, ihre Beute zu finden.

Die Elche ihrerseits lebten behaglich von dem saftigen Elchgras, das vor dem Winter mit dem Blauen Schnee in Hülle und Fülle wuchs. Als aber der Blaue Schnee fiel, bekamen die Elche Angst, aber keiner von ihnen wollte sich das als erster anmerken lassen.

Aber am Ende des Tages, als es immer noch schneite und schneite, begann das eine oder andere Tier zu zittern und mit den Augen zu rollen. Und erst recht bekamen es alle mit der Angst zu tun, als die Bäume ganze Lasten Schnee auf ihren Rücken fallen ließen.

Ein großer Elchbulle, bisher der unbestrittene König aller, stieß ein angstvolles Gebrüll aus und damit begann die Flucht der Elche – das erste bemerkenswerte Ereignis im Winter des Blauen Schnees.

Der Wind nahm an Wucht und Stärke in der Nacht immer mehr zu, und gegen Morgen wütete ein blauer Blizzard. Die Tiere des Waldes rannten und rannten auf der Suche nach einem Zufluchtsort.

Ach ja, und da war Niagara, der große Hund von Paul Bunyan, der ihn gewöhnlich mit Wild versorgte. Er sah nichts mehr, als er rannte, und folgte nur der Witterung, vor sich eine immer mehr anwachsende Elchherde.

Paul Bunyan, Student der Geschichte und unersättlicher Leser, lebte damals in einer Höhle, in der gut und gern zehn Mammuts Platz gefunden hätten. Für Paul war die Höhle nicht zu groß – nicht für einen Mann, so groß wie eine ganze Stadt gewöhnlicher Männer. Die Zeltbahnen und Decken bedeckten ein Viertel des Höhlenbodens, seine Jagdkleidung, die Fallen und Schleppnetze ein weiteres Viertel, und den Rest nahmen der Feuerplatz, seine Papiere und die Bücher ein. Zu dieser Zeit studierte Paul Bun­yan noch. Sein liebstes Nahrungsmittel war rohes Elchfleisch. Und seitdem er Niagara im Großen Wolfs-Land gefunden hatte, brauchte er selbst nicht mehr zum Jagen und Fischen auszugehen.

Jede Nacht trottete Niagara hinaus in die Dunkelheit, stillte zunächst seinen eigenen Hunger und brachte dann genügend Elchfleisch als Nahrung für seinen Herrn in die Höhle.

Am Tag, als der Blaue Schnee fiel, war Paul in bester Stimmung. Er saß den ganzen Tag über vor dem Feuer und träumte. Dann häuften sich Schneewehen vor dem Eingang zu seiner Höhle, und er sah draußen den Nebel aus Blauem Schnee. Er hörte das Toben des Windes.

Er suchte im Schnee vor dem Höhleneingang nach Elchfleisch, fand aber keines. Er begann sich etwas zu sorgen und überlegte, ob Niagara sich im Blizzard verirrt haben könnte.

Hoch oben im Norden flohen die Elchherden, blind vom Schneetreiben. Hinter ihnen liefen die Braunbären. Sie waren etwas langsamer. Als es dunkler wurde, strengte sich Niagara gewaltig an und hatte die Elche fast eingeholt. Er kam jetzt in eine Gegend, in der die Wälder aufhörten. Trotzdem er sehr scharfe Augen hatte, sah er jetzt nichts mehr. So stieß er schließlich auf den Nordpol, spürte sich plötzlich in die Luft geschleudert, stürzte herab. Eis splitterte und dann versank er in den Tiefen des arktischen Meeres und ertrank.

Von all dem wusste Paul Bunyan nichts. Am nächsten Morgen schien die Sonne an einem blauen Himmel. Der Schneefall hatte aufgehört, aber es war immer noch eisig kalt. Paul Bunyan band seine Schneeschuhe unter und machte sich auf die Suche nach Niagara.

Bunyan war so groß, dass er selbst die höchsten Baumwipfel noch überragte. Seine weinrote Jägerkappe hob sich von seinem schwarzen Haar gut ab. Er trug eine Jacke, orangefarben mit purpurnen Punkten, und um den Hals hatte er sich einen gelben Wollschal gebunden. Die Wollsocken waren oben über die Ränder der schwarzen Stiefelschäfte umgeschlagen. So eilte er durch die Wälder dahin. Hoch lag der Schnee und von den Bäumen und Sträuchern sprühte ein mattes Goldlicht.

Fünf Tage suchte Paul Bunyan nach Niagara – vergebens. Auch traf er kein einziges Stück Wild. Man kann sich vorstellen, was für einen Hunger er danach hatte. Er kehrte in seine Höhle zurück und fand dort gottlob noch einige Bärenschinken.

Einsam war er und schlaflos wälzte er sich des Nachts auf seinem Lager. Es war dunkel in der Höhle. Nur ab und zu sprangen ein paar Funken aus der Feuerstelle und jagten wie Sternschnuppen durch die Finsternis.

Plötzlich hörte Paul ein gewaltiges Krachen und ein Splittern, so, als ob Millionen von Baumstämmen zerbrochen wären. Er horchte, und nun war es ihm, als ob er draußen ein klägliches Muhen gehört habe. Er sprang auf, ging zum Eingang zur Höhle und sah im Mondlicht, wie sich eine hohe Welle am Strand der Tonnere-Bay brach. Das Wasser schwappte fast bis zu dem Stein neben dem Eingang der Höhle.

Paul zog seine Stiefel an, und zwei Schritte brachten ihn zum Ufer. Das Wasser war wochenlang mit einer zehn Meter dicken Eisschicht bedeckt gewesen. Nun war das Eis geborsten, und Paul entdeckte zwischen den Schollen etwas, das wie zwei riesige Elchohren aussah. Er watete ins Wasser, bis er den seltsamen Gegenstand, der eine Meile vom Strand entfernt zwischen dem Eis trieb, erreicht hatte. Er griff nach ihm, furchtlos zog er, hob schwer … ein Kopf kam aus dem Wasser … die Augen waren geschlossen … Schultern, Vorderbeine … Körper … Hinterbeine, endlich der gelockte Schwanz. Es war ein neugeborenes, männliches Elchkalb. Er nahm es auf die Arme, trug es an Land und rief aus:

„Nom d’nom, pauvre pétite bleue bête.“ Denn das Kalb hatte ein blaues Fell, geradeso wie die Farbe des Schnees in diesem Winter.

Paul fühlte eine vorher nie gekannte Regung von Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Das Kälbchen schlug erstaunt die Augen auf, als er es streichelte, und sah ihn mit einem weichen, klugen Blick an.

Das Tier wird hungrig sein, dachte sich Paul, wo bekomme ich jetzt nur Milch her? Er lief wieder in die Wälder hinein, um die Elchherde zu finden, in der das Tier geboren sein musste, aber wie weit er auch suchte, er fand nirgends eine Spur. Da pflückte er Rentiermoos, eilte zurück in die Höhle und kochte dort einen Sud, den er dem Kälbchen einflößte. Dem Tier schien die Nahrung gut zu schmecken, es schmatzte und leckte, und als der Frühling kam, war es groß und stark geworden. Bald wurde die Höhle zu klein, und Paul musste sich daran machen, einen großen Stall zu bauen. Bis er mit dieser Arbeit fertig war, hatte der Ochse wiederum an Größe und Stärke zugenommen und ein noch größerer Stall war nötig.

In dieser Zeit, da der Blaue Ochse groß und größer wurde, hatte Paul einen Traum, in dem in leuchtenden Lettern die Worte DAS WAHRE AMERIKA erschienen. Als er über dieses Traumgesicht nachdachte, kam ihm der Gedanke, dass er wohl in diese Gegend, die DAS WAHRE AMERIKA hieß, gehen sollte und dass er dort jene Arbeit finden werde, die ihm und seinem Blauen Ochsen aufgetragen war zu erledigen. Er marschierte über das Hügelland an der Grenze zwischen Kanada und den USA.

Es bedurfte unterwegs aber noch einiger weiterer Träume, bis ihm dabei DIE GROSSE IDEE kam. Wie alle großen Ideen war auch diese höchst einfach. DAS WAHRE AMERIKA war mit Wald bedeckt, und der Wald bestand aus lauter Bäumen. Wenn man einen Baum fällt und zersägt, gibt es ein unbehauenes Stück Holz, das sich zu vielerlei verwenden lässt. Wunderbar, begeisternd!

DIE GROSSE IDEE inspirierte Paul zu seiner ersten Rede. Noch hatte er nur einen Zuhörer, nämlich den Blauen Ochsen. Aber das sollte sich bald ändern. Wenn man ein Ziel hat, braucht man es nur zu verwirklichen. Und nach der Rede wusste Paul Bunyan, dass es seine Aufgabe war, den ganzen Kontinent mit Holz zu beliefern.

Paul Bunyan gründete also ein Holzfällercamp, und sein Blauer Ochse, der mächtig stark war, bewährte sich vortrefflich bei der Arbeit, die abgehauenen Stämme, die mit eisernen Ketten zu großen Bündeln zusammengeschnürt wurden, hinunter zu den Flüssen zu schleifen. Bald war Paul der angesehenste Mann unter allen Holzfällern und Bau­unternehmern in Kanada und in den Vereinigten Staaten. Er hielt immer alle Liefertermine ein, weil er inzwischen die Massenproduktion von Brettern und Balken erfunden hatte.

Das Holzfällen ging den Männern in Paul Bunyans Lager schließlich so rasch von der Hand, dass die Buchhaltung nicht nachkam. Zu dieser Zeit gab es noch keine Zahlen von der Art, wie wir sie heute kennen, und von doppelter Buchhaltung hatte auch noch niemand in der Neuen Welt etwas gehört. Also musste Paul alle Rechnungen im Kopf ausführen oder bei schwierigen Aufgaben die Finger zu Hilfe nehmen. Und was gibt es in einem Holzfällerlager nicht alles zu rechnen! Acht Tage und siebenundvierzig Stunden brachte Paul allein mit der Lohnliste zu; von den Kommissionslisten, den Einschlaglisten, den Heu- und Futterlisten gar nicht zu reden!

Vom vielen Zählen bekam er Blasen an den Fingern, aber er zählte weiter. Und als er an den Fingern keine Blasen mehr bekommen konnte, bildeten sich vom Zählen Blasen am Handgelenk und auf dem Arm, und schließlich brauchte Paul einfach einen Erholungsurlaub, wenn er nicht vor lauter Blasen verbrennen wollte. Also fuhr er zum Nordpol. Dort stand immer noch die Tagesstreckmaschine, die er einmal erfunden hatte, als er in der Arktis Holz schlug. (Später verkaufte er sie an die Eskimos, die guten Nutzen aus ihr zogen.)

Mit der Tagesstreckmaschine machte er sich einen ganz langen Tag und dachte über seine Buchhaltungsprobleme nach. Es wollte und wollte ihm aber keine erleuchtende Idee kommen, was nicht erstaunlich ist, denn am Nordpol ist es auch an langen Tagen nicht sehr hell. So kehrte er wieder um und durchstreifte die Wälder an der Hudson Bay.

Müde von der langen Wanderung setzte er sich auf einen Berg, und als er dort grübelnd hockte, kam ein Bursche des Weges, der fast so groß war wie Paul Bunyan selbst. Er hatte eine hohe Stirn, und um sie auch recht zur Geltung kommen zu lassen, ging er ohne Mütze oder Hut. Das galt damals als Zeichen großer Gelehrsamkeit. Was Paul an der Kleidung dieses Menschen gleich zu Anfang am meisten verwunderte, war der Kragen. Er war hoch und steif und blütenweiß und sah sehr unbequem aus. Später waren an jedem Sonntag neununddreißig Männer in Pauls Lager allein damit beschäftigt, diese Kragen zu waschen!

Paul bot dem Fremden von seinem Kautabak an, und dann nannten beide ihre Namen. Der Fremde hieß Jonathan. Paul verstand diesen seltsamen Namen nicht gleich. Und was tat der Fremde? Er holte einen riesigen Bleistift hervor, den ersten, den man in den großen Wäldern je gesehen hat, schrieb seinen Namen auf ein Stück Papier und überreichte Paul diese Visitenkarte.

„Wenn du schreiben kannst, kannst du vielleicht auch rechnen?“, fragte Paul vorsichtig.

„Nichts leichter als das“, sagte Jonathan verächtlich.

„Könntest du mir dann schnell einmal sagen, wie viel Festmeter Holz zwischen hier und der Hudson Bay stehen?“

„Nichts leichter als das“, antwortete Jonathan.

Seine Augen bekamen einen etwas glasigen Ausdruck, und Paul meinte hinter seiner hohen Stirn etwas rattern zu hören, aber ehe er noch ganz sicher war, ob da wirklich etwas ratterte, sagte Jonathan: „Es sind genau 43.000.432 Festmeter.“

Paul staunte.

„Wie hast du das nur so schnell herausbekommen?“, wollte er wissen.

„Höhere Mathematik, mein Lieber. Wozu ist man auf die hohe Schule in Stockholm geschickt worden, wenn man solche Kleinigkeiten nicht im Handumdrehen herausbekommt.“

„Nun gut“, sagte Bunyan, „im Kopfrechnen bin ich auch nicht schlecht, aber ich träume immer davon, Zahlen zu erfinden, solche die man aufschreibt und die nicht wieder verlöschen.“

„Sind schon erfunden“, sagte Jonathan, „von mir.“

Wieder holte er seinen Bleistift hervor und schrieb die lange Zahl, die er eben genannt hatte, neben seinen Namen auf die Visiten­karte.

„Du bist mein Mann“, sagte Bunyan und verpflichtete Jonny Ink­slinger, der damals noch Jonathan hieß, als Buchhalter für sein Holz­fällercamp.

Der erste Vorarbeiter im Lager wurde Gun Gunderson, allgemein der „Schuss“ genannt, weil er so leicht explodierte. Auf ihn geht das Highball-System zurück, das immer noch in einigen Holzfällercamps praktiziert wird. Auch das hartgesottene Vokabular in den Lagern führte er ein. Eine seiner bevorzugten Redensarten lautete: „Besser du steckst den Stiel fest ins Eisen, oder ich drück ihn dir in die Stirn.“ Oder: „Nun mal los, du Fliegendreck von einem Scherenschleifer, oder ich schleif ein gewisses Teil an dir platt!“

Er verlor an Ansehen, als die Holzfäller seinen Sprachgebrauch nachahmten. Sein Sturz ereignete sich im zweiten Winter am Tapole River im Ochsenfrosch-Land. Das war der Winter des Großen Windes, der vier Monate so stark blies, dass Gunshot Gunderson immer aus voller Kehle brüllen musste, damit die anderen seine Kommandos verstanden. Seine Stimme kippte, und damit war es mit seiner Stellung vorbei. Er wurde wieder ein gewöhnlicher Logger, und sein Nachfolger war Chris Crosshaulsen.

Dieser fleißige Mann war ein guter und beliebter Boss, aber er hatte auch eine fatale Schwäche. Er hatte eine solche Vorliebe für Floßfahrten, dass er mit dem Floß nie am Zielort stoppte, vielmehr die Stämme immer vier Meilen weiter sausen ließ und dann mit ihnen zurückfuhr. Das Flößen stromaufwärts war schreckliche Mühsal. Jeder Mann konnte immer nur einen Stamm schieben und musste aufpassen, dass er dann nicht in die Strömung abwärts geriet. Also fand man, was Chris soviel Spaß machte, sei reine Kraftverschwendung, und Paul setzte ihn ab.

Der nächste Chef war Ole Olsen. Er war so beliebt, dass zahllose Holzfäller sich nach ihm nannten, aber letztlich scheiterte er als Boss an seiner Gutmütigkeit. Andere Bosse waren Lars Larsen, Swan Swanson, Pete Peterson, Ole Johnson, Jens Jensen, Anders Anderson, Hans Hansen und Erik Eriksen. Sie waren alle tüchtige Burschen, aber nicht tatkräftig genug, um sich neben Paul Bunyan zu behaupten.

Ein besonderer Typ unter allen Loggern war Ford Fordsen. Ein Schlaumeier war das, ein Neunmalkluger, angefangen hatte er als Schlafsaalkehrer, aber seine Prophezeiungen, das stellte sich bald heraus, gingen meist in Erfüllung. Überhaupt war er der Typ, der klein und unbedeutend anfängt und dann langsam mehr und mehr zulegt, bis man sich nur wundern kann, was für ein Ansehen er hat und was er sich alles einfallen lässt.

Wir haben zuvor erwähnt, dass Jonny Inkslinger damals, als Paul ihn anwarb, noch einen anderen Namen führte. Und nun soll erklärt werden, wie er zu seinem späteren Namen kam, jenem, unter dem ihn die Männer aus Bunyans Lager kannten.

Die Holzfäller gaben sich in den Camps gegenseitig immer ganz eigene Namen, denn sie meinten, es sei schließlich auch eine ganz eigene, höchst besondere Welt, in der sie lebten und arbeiteten. Sie waren sehr stolz auf diese Namen, und wer zu ihnen kam, war zuerst ein Namenloser und musste sich seinen Namen erst noch verdienen.

Und jetzt hören wir, wie aus dem namenlosen Jonathan der berühmte Jonny Inkslinger wurde.

Eines Tages fragte ein Besucher Paul Bunyan, wie viele Holzfäller denn eigentlich in seinen Diensten stünden. Paul wusste es nicht
genau. Da gab es den Heißen-Biskuit-Slim und seine sechzig Köche. Da war Ole, der Große Schwede, und Timmy Tim und nicht zu vergessen Ford Fordsen und dann noch hundert andere mehr.

Paul versuchte einmal, seine Mannschaft beim Essen zu zählen. Aber es war ein ständiges Kommen und Gehen und nie saßen alle zusammen an den langen Tischen. Da fragte Paul den Süßen-Sahne-Dick, wie viel Nachspeisen er eigentlich austeile. Der gab Auskunft darüber und Paul meinte: „Bestens. Dann ist ja alles klar. Wir haben dann also achttausend Männer im Lager.“

„Nun mal langsam“, bekam er zur Antwort, „so einfach ist das nicht. Es gibt ein paar Männer, die essen keine Nachspeise, aber Ole, der Große Schwede, isst siebenmal Nachspeise, ausgenommen an Tagen, an denen es Erdbeerkuchen gibt. Da isst er zehnmal.“

Paul Bunyan sah ein, dass er dieses Problem allein nie würde lösen können. Also schickte er nach Jonny, seinem Buchhalter. Der addierte und subtrahierte Tag und Nacht. Er rechnete so lang, bis sein ganzer schöner Bleistift abgeschrieben war.

Da wurde ihm klar, dass er dieser Rechenaufgabe mit einem Bleistift nicht zu Leibe gehen konnte, und er erfand einen Füllfederhalter. Es war ein sehr großer Füllfederhalter, aber es war ja auch eine sehr große und lange Rechnung, wie sich vorstellen lässt, und so verbrauchte Jonny sechs Gallonen Tinte. Dann aber konnte er stolz verkünden, dass siebentausend und dreiviertel Männer in Bunyans Holzfällercamp arbeiteten.

Weil aber die Rechnerei mit der vielen Tinte beim Jahresabschluss ziemlich hoch zu Buche schlug und der Bonus für die Holzfäller herab­gesetzt werden musste, um die Tintenkosten zu decken, bekam John den Namen Inkslinger. Das heißt in der Sprache der gewöhnlichen Sterblichen „Tintenschlucker“.

Paul Bunyan wusste so gut wie nichts von Frauen, und was ihm von anderen über sie erzählt wurde, machte auf ihn wenig Eindruck. Geschichte, Industrie, Erfindungen und die Redekunst beschäftigten ihn. Die Frauen, die in den Geschichten der Holzfäller vorkamen, waren offenbar Wesen, die mit diesen Dingen wenig im Sinn hatten. Frauen, so hieß es, seien gute Köchinnen, aber den Dosenöffner und die Pfannkuchen hatten die Männer erfunden, von den schweren Wollmänteln und den gekalkten Stiefeln gar nicht zu reden. Frauen, so hieß es, waren angeblich eifrige Leserinnen von Gedichten, aber erfunden hatten die Verse die Männer.

Paul Bunyan hatte sich oft gewundert, wenn die Holzfäller in Jubel ausbrachen und aufstampften, wenn von Wesen die Rede war, die als hübsche Frauen bezeichnet wurden. Er begriff ihren Nutzen für die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht. Aber als er die Männer, die bei ihm schafften, näher kennen gelernt hatte, entschied er, Frauen seien eine Erfindung ihrer Phantasie, und freilich benahmen sie sich dann unglaublich und sahen fabelhaft aus.

Die Holzfäller bei Paul Bunyan wollten Dinge spüren. Sie verwandelten jede Einbildung, die sie überkam, in Realität. Als man ihnen sagte, sie schrieben Geschichte, hörten sie diese Nachricht mit Erregung, gaben aber vor, nicht wirklich zu wissen, was das bedeutete. Was Erfindungen anging, so benutzten sie sie gern, aber sie stellten sich vor, wenn es etwas Neues gab, das sei vom Himmel gefallen.

„Unsere Äxte haben wir immer an den die Hügel herabrollenden Steinen geschärft“, pflegten sie zu sagen. Aber im Land des Großen Staubs gab es nun einmal keine Berge und keine Felsen. Darum erfand Paul Bunyan den Schleifstein.

Also, wenn Frauen gelegentlich erwähnt worden waren, hatte Paul Bunyan dies bald wieder vergessen.

Bei den Reden, die Paul von Zeit zu Zeit hielt – denn große Reden waren wirklich seine Stärke – pries er das Holzfällen als die größte und wichtigste Beschäftigung auf der Welt und erklärte, dass Holzfäller somit die besten und tüchtigsten Arbeiter seien. Er hieß sie keinen Gedanken auf irgendetwas außerhalb der Holzfällerei zu verschwenden. Bei solcher Unschuld ihrer Seelen wäre es wohl auch geblieben, wäre die Vierzig-Tage-Flut auch nur eine Woche kürzer gewesen. In der erste Woche waren die Männer beeindruckt von dem Brausen schäumenden Wassers, das von China herüberströmte und das Tal unterhalb ihres Zufluchtsortes füllte. Aber dann wurde all das Brausen und Fluten alltäglich, und sie begannen, mit den wilden Tieren, die Paul Bunyan ins Küchenhaus gebracht hatte, ihre Spielchen zu treiben. Aber die Tiere waren so verschreckt von der Flut, dass sie keine Tricks lernten. Paul Bunyan erfand die Spielkarten für seine Männer, und die Spiele, die aufkamen, waren Poker, Rommé und Scrabble.

Aber die Bursche benahmen sich dabei so gewalttätig, dass Paul Bun­yan die Spiele verbieten musste. Danach konnten die Holzfäller immer nur Geschichten erzählen und singen und zu ihrem Vergnügen tanzen.

In der letzten Woche der großen Flut gingen ihnen auch noch die Geschichten aus. Da erinnerten die Holzfäller sich wieder einmal daran, dass es ja wohl auch noch Frauen auf der Welt gab, und Anek­doten und Lieder über Frauen wurden sehr beliebt.

Als die Flut nun vorbei war, kam eines Morgens der Frühling über das Land. Und an diesem Morgen rief Paul: „Nun mal raus aus den Plünnen und ran an die Arbeit!“ Aber es kam keine Bewegung in die Mannschaft. Paul war erstaunt. Er ging in die Schlafsäle, niemand mehr da, er ging ins Küchenhaus. Er sah Shanty Boy und drei andere dort stehen, die Arme um die Schultern des Nebenmannes gelegt. Und im Quartett sangen sie:

„Hier sitz ich im Knast

Und nichts geht voran

Und nur eine rothaarige Frau

Ist schuld daran …“

„Rothaarige Frau?“, murmelte Paul und strich sich den Bart. „Frau …, muss das Wort schon mal gehört haben. Frau … ah ja, jetzt fällt‘s mir ein. Diese Geschöpfe, die auf einfache Gemüter unter den Männern eine solche Anziehungskraft ausüben. Ich hoffe, ich begegne nie so einer. Ich habe gerade Ärger genug mit meinen Einfällen, der Dichtkunst und den Unwettern. Jetzt kriegen meine Männer wieder harte Arbeit, dann werden sie diese Versuchung bald vergessen haben.“

Noch einmal ließ Bunyan seinen Arbeitsruf erschallen. Die Holzfäller liefen herbei, einige lächelten und schienen zu erröten, worauf Paul eine aufmunternde Rede hielt, und als er damit fertig war, dachten die Männer wieder nur noch an ihre Werkzeuge und die stattlichen, wohlriechenden Stämme, die die unberührten Abhänge in der Gegend bedeckten.

Sie bekamen neue Werkzeuge aus dem Lagerbüro, und als die Sonne goldene Spuren durch die Fichtenbäume zog, stand den Holzfällern schon der ehrliche Schweiß auf der Stirn und viele Bäume lagen bereits am Boden. Sie arbeiteten mit großer Hingabe, denn sie hatten sich in den Wochen der großen Flut gut ausgeruht.

Die Art, in der sie schafften, gefiel Paul Bunyan, und auch Babe, der Blaue Elchbulle, war gut in Fahrt und bewährte sich beim Fortschleifen der Stämme zum Stapelplatz.

Plötzlich, Paul war sehr zufrieden, wehte ihm der sanfte laue Frühlingswind ein Stück Papier vor die Füße. Mehr, weil es seinen Sinn für Naturschönheit verletzte, denn mit der Absicht es anzuschauen, hob er es auf, und eben da geschah etwas Verrücktes. Es begann mit dem vollen schmeichelnden Ton eines Saxophons, obwohl Paul dieses Instrument nicht hätte nennen können, weil er noch nie ein Saxophon gesehen oder gehört hatte. Der Ton war mit einem Gefühl verbunden, so als fahre ihm eine weiche Hand über die eine Wange, dann unter das Hemd und über seine mächtigen Schultern, und da erst sah er auf das Bild auf dem Blatt. Es war die Fotografie einer rothaarigen Frau, mit nichts bekleidet als mit einem Badeanzug, eine Frau, die lässig, die Schultern zurückgebogen, die Brüste vorgestreckt, am Stamm einer Palme lehnte. In diesem Augenblick ereignete sich etwas Unerhörtes mit Paul. Unter normalen Umständen hätte er sich wohl gefragt, was für ein merkwürdiger Baum das sei, den er noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Aber das interessierte ihn jetzt plötzlich nicht im Geringsten.

Was ihn verzauberte, ihn mit einem nie gekannten Gefühl erfüllte, war dieses rothaarige Wesen. Er sah plötzlich die Geschichten und Lieder, die er bei seinen Holzfällern gehört hatte, in völlig anderem Licht. Es war, als sitze im Mund dieser rothaarigen Frau ein Magnet und dieser Magnet ziehe seine Lippen an. Tatsächlich beugte er seinen Kopf vor und seine Lippen berührten die der Frau auf dem Bild.

Danach aber geschah etwas noch Wahnwitzigeres. Es war, als ob er im Augenblick alles, was ihm bisher wichtig gewesen war, vergessen habe und nur noch diese rothaarige Frau zähle. Etwas in ihm sagte: Du musst sie finden, du musst mit ihr reden. Wie wohl ihre Stimme klingen mag? Ja, wie der Ton dieses merkwürdigen Instruments vorhin, von dem ich den Namen nicht weiß! Du musst sie suchen. Sie wird sich wohl finden lassen. Irgendwo. Und wenn ich sie gefunden habe, dann schließe ich sie in meine Arme und lasse sie nie mehr los.

Er ging nach Westen und mit ein paar Schritten war er am Pazifik. Irgendwo dort sah er ein riesiges Plakat mit dem Bild jener Frau, mit dem er so merkwürdige Erfahrungen gemacht hatte.

Nur dass die Frau auf dem großen Bild nicht ganz so anziehend aussah wie auf jenem kleinen, das er im Wald gefunden hatte. Irgendjemand erklärte ihm dann, dass die Frau eine Filmschauspielerin sei, und wenn er ihre Bekanntschaft machen wolle, müsse er nach Hollywood gehen, denn dort drehe sie gerade einen neuen Film.

Also erschien er in den Filmstudios, und der erste Gedanken eines der Produzenten, der ihn über den Hof stiefeln sah, war: Mit dem könnte man großartig den ersten Teil von Gullivers Reisen drehen. Es stellte sich aber heraus, dass dieser Riesenkerl nichts anders wollte, als den Star kennen zu lernen.

Zunächst lehnte sie ein Rendezvous rigoros ab.

Bunyan schickte ihr einen Rosenstrauß, so groß, dass man sämtliche Hochzeitssträuße der Stadt daraus hätte binden können. Zuerst war die Hollywood-Schönheit, die sich als Star Marion nannte, aber tatsächlich Berta hieß, von dem Ausmaß des Gebindes völlig eingeschüchtert. Aber als sie merkte, welche Publicity der Strauß auslöste, stimmte sie nach vielem Zureden des Regisseurs und des Produzenten zu, sich mit Bunyan zu treffen. Die Begegnung sollte im Hof der Filmstudios stattfinden, und Bunyan hatte sich schon eine seiner berühmten Reden zurechtgelegt. Zur verabredeten Zeit stiefelte er auf den Hof, da waren schon zweihundert Photographen und Pressefritzen versammelt, aber von Marion war weit und breit nichts zu sehen.

Endlich kam sie – winzig, zerbrechlich, aber als sie den riesigen Bunyan sah, brach sie in hysterisches Geschrei aus, machte kehrte und rannte davon. Bunyan mochte ihr nachrufen, was er wollte, sie war fort, und man gab ihm zu verstehen, sie habe einen Nervenzusammenbruch erlitten und lehne es ab, ihn je wieder zu sehen.

Er ließ sich auf dem Hof nieder, und sein Warten war und blieb ein Presseereignis.

Er war weiter von den Reportern umringt. Der Fall erschien auf den Frontseiten aller großen Zeitungen von Küste zu Küste. Und die Radio­stationen berichteten in ihren Acht-Uhr-Nachrichten von den letzten Neuigkeiten in dem Fall.

Bunyan trat nämlich in eine Art Hungerstreik und war töricht genug, auch nichts zu trinken Weil er keine Flüssigkeit zu sich nahm, wurde er schließlich ohnmächtig und stürzte hin, lag ausgestreckt auf dem Boden.

In ein normales Krankenhaus bringen konnte man ihn nicht. Dazu war er zu groß.

Auf die Dauer wurde es für die Journalisten und die Fotoreporter auch etwas langweilig, immer nur den bewusstlosen Paul abzulichten.

Also wenn es am ersten Tag noch fünfhundert Reporter gewesen waren, so waren es am zweiten Tag nur noch zweihundertfünfzig, aber fünften Tag nur noch drei und am zehnten ließ sich gar keiner mehr blicken.

Unterdessen beriet die Produktionsdirektion der vereinigten Film­gesellschaften von Hollywood, was denn geschehen solle, damit man diesen riesigen Lümmel loswürde. Man musste nämlich Kulissen und Kameras über den Hof hin bewegen und dabei war er im Weg. Die Arbeiten in den Studios drohten zum Erliegen zu kommen. Man sprach mit Marion und bat sie, dem armen Riesen doch wenigstens noch ein paar freundliche Worte zu sagen. Zuerst wollte sie nicht, aber als man ihr androhte, ihre Gage zu kürzen, stimmte sie zu.

„Aber ich will keine Journalisten und Fotografen dabei haben“, beharrte sie. Also ließ die Direktion den Hof weiträumig durch vierhundert Beamte der Polizei von Los Angeles absperren. Und dann, in einer Vollmondnacht, kam sie. Sie war stark beeindruckt von der Hilflosigkeit des riesigen Mannes und mehr noch von seinem Stöhnen.

Ihr Mitleid mit ihm gewann schließlich die Oberhand über ihre Furcht. Sie trat ganz nahe an sein linkes Ohr und flötete: „Bunnie, hier bin ich!“

Sofort hörte das Stöhnen auf und Paul fragte, noch reichlich benommen: „Wer wagt es, mich Bunnie zu nennen?“

„Ich, Marion, mein armer Schatz!“

„Na gut“, sagt er und richtete seinen Oberkörper auf. „Du darfst das.“

„Du musst hier fort“, sagte sie, „du bist zu groß, für Hollywood und für mich.“

Bunyan nahm all seinen Mut zusammen und nach einem weiteren Seufzer sagte er: „Aber ich liebe dich doch.“

„Armes Häschen“, flötete Marion, „hat dir nie jemand gesagt, dass nicht immer alle Männer die Frauen kriegen, die sie lieben?“

„Ach“, sagte er, „so ist das.“

„Genau so“, sagte sie, „das ist der Lauf der Welt. Ich bitte dich, geh jetzt.“

„Nein.“

„Du musst.“

„Vielleicht, wenn du mir einen Kuss gibst.“

Jetzt war es an ihr zu seufzen, aber tapfer – sie hatte Erfahrung in solchen Szenen, denn sie drehte gerade den Film „Tarzan und Jane“ – erklomm sie seine Beine, hastete über seinen Bauch hin, mühte sich durch das Bartgestrüpp und dann – wirklich, dann gab sie ihm einen Kuss.

Als sie wieder festen Boden unter ihren Füßen hatte, sagte sie mit kleiner Stimme: „Nun geh aber …“

Da erhob er sich und sie liefen in entgegengesetzter Richtung über den Hof.

Man kann davon ausgehen, dass nach diesem Ereignis Paul sehr traurig und betroffen war und die Bluesmusik, die man überall in Amerika hörte, war ihm ein großer Trost.

Es war später Nachmittag, als Paul Bunyan wieder den Großen Fichten-Strich erreichte, der die Abhänge am Dazumal-Tal bedeckte. Durch die Bäume sah er ein Blau, das blauer war als das des Himmels. Und dann sah er dort unten Dächer und Menschen und wollte zu ihnen. Da stolperte er über etwas. Er sah zu Boden. Da lag der Kadaver des Blauen Ochsen. Er beugte sich über das Tier und sah, dass es durch mehrere Stiche in den Leib getötet worden war. Er vergoss mehr als nur ein paar Tränen, denn er hatte das Tier nicht nur wegen seiner Nützlichkeit geliebt. Es war wie ein Teil von ihm selbst, und nun war es tot.

Er richtete sich auf, schüttelte den Kopf, wischte sich die nassen Augen trocken, und als er weiterging, sah er, dass Rauch aus einem merkwürdigen Ding aufstieg. Es war wie ein großer Kasten mit Hebeln und so etwas wie eine Walze, von der sich ein Kabel abwickelte, die wie eine Schlange durchs Unterholz lief, und vorn war ein Baumstamm befestigt, der krachend und im Boden eine Furche hinterlassend, herankam. Dann ruckte Ford Fordsen, der vor dem Ding stand, an einem anderen Hebel, und der Stamm wurde angehoben, bewegte sich durch die Luft und landete auf einem Wagen, der auf zwei glänzenden Schienen stand.

„Was geht hier vor?“, fragte Paul Bunyan.

„Ach, Ihr seid zurückgekommen, Boss!“, sagte Ford Fordsen, „Wir sind davon ausgegangen, wir würden Euch nie wiedersehen. Wisst Ihr, wie lange Ihr fort gewesen seid?“

„Wie lange ich fort war, spielt keine Rolle. Jetzt bin ich wieder da“, erwiderte Bunyan.

„Das habt Ihr gesagt“, meinte Ford Fordsen frech, „aber die Dinge ändern sich nun mal mit der Zeit.“

„Ich verstehe, aber ich verstehe nicht, zu was dieser verdammte Kas­ten da gut sein soll.“

„Das seht Ihr doch. Das ist eine neue Erfindung, eine Maschine. Sie schleppt ohne Menschenkraft die Baumstämme von der Stelle, an der sie gefällt werden, bis hierher, zu unserer Werkbahn, die sie abtransportiert. Schwere Arbeit, die bisher eine Gang von zwanzig Männern machen musste.“

„Hmm“, knurrte Paul Bunyan, „und wer hat Blue Babe abgeschlachtet?“

„Ich“, sagte Ford Fordsen. „Ihr müsst wissen, Blue Babe war krankhaft eifersüchtig auf die Maschine. Er hat sie angegriffen. Er hat zwei davon ruiniert. Habt Ihr eine Vorstellung davon, was so eine Maschine kostet? Ehe er sich an der dritten vergreifen konnte, hab ich ihn hingemacht.“

„Du hast meine Seele getötet!“, brüllte Paul.

„Ich kenne Arme, Beine, Augen, Magen und Lungen, … aber ich hab noch nie etwas von einer Seele gehört“, erwiderte Ford Fordsen.

„Wo sind meine Männer? Ich will zu Ihnen sprechen“, stieß Paul Bunyan hervor.

Ford Fordsen hob die Schultern.

„Ich habe nichts dagegen, wenn Ihr wieder einmal eine Eurer großen Reden loslassen wollt. Statt vor ihnen Reden zu halten, habe ich ihnen den Zehn-Stunden-Tag gegeben und ihnen mit dieser Maschine ein leichteres Leben beschert.“

„ … bis es eines Tages für sie gar keine Arbeit mehr geben wird, weil alles die Maschinen tun“, sagte Bunyan nachdenklich.

Paul dachte nicht daran, mit Ford Fordsen über die Errungenschaft des Zehn-Stunden-Tages zu streiten. Er ärgerte sich nur, dass er diesen Menschen je eingestellt hatte. Er machte sich auf, um ins Irgendwann-Tal hinabzusteigen. An einer Stelle, an der zahlreiche Hütten standen, blieb er stehen. Das also waren offenbar die neuen Schlaf­häuser. „Merkwürdige Schlafhäuser“, murmelte er, als er sich die buntbemalten Außenmauern ansah und die Gardinen an den Fenstern. Und dann war da vor jedem Häuschen ein Fleck Gras und ein Blumenbeet. Bei sich wunderte sich Paul, dass dies seinen Trampeltieren von Holz­fällern gefallen sollte.

Und dann begann er seine Rede. Seine Reden hatten früher nie ihre Wirkung verfehlt. Sie hatten immer den Mannschaftsgeist wieder hergestellt, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen drohte.

Aber diesmal kamen die Holzfäller nicht aus den hellen Spielzeughäusern hervor.

Hin und wieder erschien ein Gesicht hinter dem Fenster, aber es war immer das Gesicht einer Frau, das eher feindlich oder nur neugierig dreinblickte.

Plötzlich – er redete immer noch zu niemandem – überkam ihn Furcht. Er dachte daran, was das Bild der rothaarigen Frau bei ihm bewirkt hatte. Was, wenn seine Männer einer ähnlichen Erfahrung ausgesetzt gewesen waren, nur mit glücklicherem Ausgang als in seinem Fall?

Dann trat eine der Frauenspersonen aus einem der Häuser. Sie blieb stehen und betrachtete den riesigen Mann, wie man einen Leuchtturm oder den höchsten Berg in den Rocky Mountains betrachtet.

Und Paul betrachtete sie. Merkwürdig, dass so ein kleines unscheinbares Wesen eine solche Macht über Männer haben sollte.

Und nun tat Paul etwas, was wohl jeder Mann in seiner Situa­tion getan hätte, ob er nun ein Straßenbauarbeiter oder ein König gewesen wäre. Er hob die Frau auf, setzte sie auf seinem Handteller ab und betrachtete sie mit der Gewissenhaftigkeit, mit der ein Naturforscher eine Maus untersucht, oder diese von einer Katze beobachtet wird.

Der Frau schien das nichts auszumachen.

Bunyan wollte sie ausschimpfen, aber ihm, dem großen Redner, fielen angesichts dieses Wesens nicht die richtigen Worte ein, stattdessen spürte er, dass er aufgeregt war.

„Sag mir nur eines“, fragte er sie schließlich, „wie habt ihr Frauen es geschafft, meine Männer herumzukriegen?“

„Oh“, erwiderte die kleine Person und wurde nun auch etwas rot dabei, „ganz einfach. Wir wünschten uns Ehemänner und Babies!“

Das waren auch zwei Worte, die für Paul nichts besagten.

Er schüttelte verständnislos den Kopf.

Sie lächelte ihn an, und es war ein ganz besonderes Lächeln, in dem aber eine große Macht lag.

„Ihr müsst jetzt fortgehen“, sagte sie dann, „wir sind alle so glücklich.“

Er setzte sie ab und mit einer tänzerischen Bewegung ging sie auf die Tür eines der merkwürdigen Schlafhäuser zu und verschwand dann.

Da stand er nun, wusste sich keinen Rat. Er war sich sicher, dass er seine Mannschaft für immer verloren hatte. Und was ist ein Holzfällerboss ohne Mannschaft?

Und die rothaarige Frau hatte er auch nicht gewonnen. Er kam sich sehr allein vor.

Und dann hörte er aus dem Wald jene Töne, die er schon einmal gehört hatte. Nur dass er jetzt wusste, dass diese Töne ein Saxophon hergab, wenn man es recht zu spielen verstand. Und es fiel ihm auch auf, dass die Musik etwas trauriger klang als damals, als er sie zum ersten Mal gehört hatte. Sie war traurig, aber schön traurig.

Es war ein Blues, aber das wusste er nicht.

Er wusste nur, dass diese Musik bei aller Traurigkeit auch etwas Trös­tendes hatte, und dass sie von jemandem gemacht wurde, der seine Empfindungen kannte. Und diese Vorstellung war es eben, die ihn tröstete.

Er ging dem Klang dieser Musik nach. Hinein in die Wälder, ohne Blue Babe, seinen blauen Ochsen, aber je weiter er nach Norden gelangte, desto mehr begeisterte ihn diese Musik. Woher sie nur kam? Und wer sie nur machen mochte?

Unsereiner aber weiß, dass Paul Bunyan den Blues hatte, und dass die Musik, die er hörte, ein Blues war, ein Blues, geblasen auf einem Saxophon. Er aber wusste das nicht. Er war noch auf der Suche, wie diese Musik heißen könnte, und je weiter er ging, desto sicherer war er, dass dies die amerikanische Musik schlechthin war, dass sie immer Männer trösten würde, wenn sie die Liebe der wunderbaren Frau nicht hatten erringen können, wenn sie alles, was ihnen lieb und teuer war, verloren hatten, wenn sie die Welt nicht verstanden, wenn ihnen ein geliebtes Wesen gestorben war.

Er ging immer weiter nach Norden, und die Musik wurde immer lauter, bis es ihm vorkam, als sei er selbst diese Musik.

Was dann aus ihm geworden ist? Ich, der diese Geschichte erzählt, kann es euch nicht sagen.

Es gibt wie immer mehrere Möglichkeiten.

Möglich, dass ihn dasselbe Schicksal wie seinen Jagdhund Niagara ereilt hat. Das kommt mir ziemlich wahrscheinlich vor, denn dann triebe er jetzt als eine traurig schöne Melodie im Kosmos. Und manchmal hört einer, der einen neuen Blues erfindet – sagen wir: jemand wie John Kirkbride – ein paar Takte davon, schreibt sie auf und erfindet auch noch ein paar Worte dazu.

Kann aber auch sein, dass Paul Bunyan dort oben erfror, dass sein gewaltiger Körper zerfiel, dass, was davon übrig blieb, verweht wurde vom Wind, und dass damit der Blues eben erst zu jener amerikanischen Musik wurde, die wir kennen und die unsterblich ist, während wir Menschen eben irgendwann sterben müssen.