Bernhard Kegel
Das Ölschieferskelett
Eine Zeitreise
FISCHER E-Books
Bernhard Kegel, Jahrgang 1953, ist promovierter Biologe und leidenschaftlicher Jazzgitarrist. Er lebt als vielfach ausgezeichneter Schriftsteller von Romanen und Sachbüchern in Berlin und Brandenburg. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind lieferbar seine Romane »Das Ölschieferskelett«, »Der Rote« und »Ein tiefer Fall«. Zuletzt erschien von ihm »Tiere in der Stadt. Eine Naturgeschichte«.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: aus dem ›Buch der Palmen‹ von Karl Friedrich Philipp von Martius
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Die Originalausgabe erschien 1996 im Ammann Verlag, Zürich
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402769-2
Im Gedenken an Karel Zeman
Wäre mein Leben ohne seinen Film anders verlaufen?
In mancher Hinsicht leben auch Paläontologen so; ihr physisches Leben folgt dem geradlinigen Trend der Zeit, aber ihre Gedanken bewegen sich vorwärts und rückwärts durch die Äonen und springen von Pfad zu Pfad, auf denen die Zeit manchmal rätselhafte Schritte tut.
Peter Douglas Ward, Der lange Atem des Nautilus
»Eine unmäßige Vorliebe für Käfer«, antwortete der berühmte britische Populationsgenetiker J. B. S. Haldane auf die Frage eines Kirchenmannes, welche Eigenschaften des Schöpfers sich ihm durch das Studium der Natur offenbart hätten.
Die Zahl der heute bekannten Käferarten liegt bei etwa 400000. Sie sind damit die mit großem Abstand artenreichste Tiergruppe der Erde.
Lustlos stocherte Max Behringer mit seinem Spaten in dem lockeren Schiefer. Dann stützte er sich mit einem Seufzer auf den abgewetzten Holzstiel und blinzelte in die Sonne, deren letzte Strahlen gerade noch auf den Boden der Grube fielen. Der schwarze Schiefer schien das Licht wie ein Schwamm in sich aufzusaugen. Es wurde früh dunkel hier unten, und mit dem Licht verschwand auch die Wärme, sogar an einem heißen Sommertag wie diesem. Sobald sich Schatten über den Grubenboden senkte, kroch durch dicke Schichten feuchten Gesteins die Kälte empor.
Das Gelände lag wie ausgestorben. Kein Mensch, selbst dort hinten in der Nähe des schon im Schatten liegenden steilen Grubenrandes, wo die Belgier im Augenblick ihre Ausgrabungen durchführten, überall nur zersplitterter Schiefer und dreckige Plastikplanen. Ganz in der Nähe standen die verlassenen Gerätschaften der Geologen herum. Sie hatten hier in den letzten Wochen alles auf den Kopf gestellt, zahllose meterlange Bohrer in den Schieferboden getrieben und waren Max mit ihren Sonderwünschen und einem unsäglichen Kommandoton auf den Wecker gegangen. Das zurückgelassene Bohrgestänge sah in der kargen Umgebung der Grube aus wie eine zerschellte Weltraumsonde.
Seltsam, dachte Max, sonst wühlten diese Gastforschergruppen doch bei Wind und Wetter so lange in dem Schiefer herum, wie es nur irgendwie ging, bis es so dunkel geworden war, dass man nichts mehr erkennen konnte und sich mit dem Spaten womöglich in den eigenen Fuß hackte. Die hofften natürlich bis zur letzten Minute, doch noch ihr Urpferdchen zu finden, ihren Ameisenbären, ihre Beutelratte oder irgendetwas anderes, Spektakuläres, das den ganzen Aufwand lohnte und ihnen eine triumphale Heimkehr garantierte. Aber so ging das natürlich nicht. Mit Gewalt war da nichts zu machen. Niemand wusste das besser als Max. Schließlich arbeitete er nicht erst seit gestern hier.
Max hatte immer wieder seinen Spaß, wenn er den auswärtigen Gästen bei der Arbeit zuschauen konnte. Brachte wenigstens mal etwas Abwechslung in den Laden, andere Stimmen, neue Gesichter, nicht immer nur diese Langweiler oben aus der Station. Einige, die das erste Mal in die Grube kamen, liefen anfangs wie auf Eiern, weil sie fürchteten, mit ihren klobigen Gummistiefeln kostbare Fossilien zu zertreten.
Na ja, irgendwie konnte er sie schon verstehen. Messel war etwas Besonderes. Sie mussten sich erst daran gewöhnen. Stieg ihnen dann der Geruch des berühmten Schiefers in die Nase, waren sie nicht mehr zu halten. Sie stürzten sich in die Arbeit, ackerten und schufteten, als hinge ihr Leben davon ab. Sie waren ja nur ein paar Tage hier, und vielleicht war der Sensationsfund genau in dem Stück Schiefer, das sie noch nicht aufgebrochen hatten. Viele Museen überall auf der Welt hätten sich gerne mit einem echten Messeler Urpferdchen geschmückt.
Am Anfang freuten sie sich über die alltäglichsten Fundstücke wie Kinder. Mit vor Aufregung geröteten Gesichtern rannten sie umher, stießen in ihren seltsamen Sprachen unverständliche Triumphschreie aus, und wenn Max dann hinzutrat und sich anschaute, was sie gefunden hatten, gab es selten mehr als winzige Fische oder ein Farnblatt zu bestaunen. Davon hatte er schon Hunderte zutage befördert. Man musste sich schon ziemlich dämlich anstellen, wenn man es fertigbrachte, hier keine Fossilien zu finden.
Die Belgier waren sowieso in Ordnung, auf die ließ er nichts kommen. Sie gruben hier regelmäßig und hatten immer einen Kasten Bier neben der Ausgrabungsstelle stehen, aus dem auch er sich bedienen durfte. Jetzt hockten sie wahrscheinlich in irgendeinem Gasthof und soffen sich die Hucke voll. Ganz schön trinkfest, diese Belgier.
Typisch! Es war Freitagnachmittag, und alle waren ausgeflogen, nur er musste hier noch seine Zeit totschlagen, er und Rudi, der ein paar Meter links von ihm auf dem Boden hockte und eine Zigarette rauchte.
Vielleicht waren die Belgier schon abgereist. Ihm erzählte man ja nichts. Er war ja hier nur für die Dreckarbeit zuständig. Diese studierten Weißkittel wollten sich die Hände nicht schmutzig machen. Teufel noch mal, wie er diesen Job manchmal hasste. Wenn er sich zu Hause die völlig verdreckten Gummistiefel auszog, schwor er sich immer wieder, dass das nicht mehr so weitergehen könne. Bei Regen wurde das Zeug so glatt, dass man alle naselang ausrutschte und sich von oben bis unten einsaute. Eine Müllkippe wollten sie aus der Grube machen. Ha, wenn das kein Witz war! Eine Müllkippe, das war dieses Loch doch schon lange.
Er seufzte, stieß den Spaten wieder in den schwärzlichen Grund und brach ein neues Stück Schiefer heraus, das aussah wie dunkelgrauer, an manchen Stellen grünlich schimmernder Blätterteig.
Er blickte auf die Uhr. In einer knappen Stunde war Feierabend, und dann konnten die ihn hier alle mal kreuzweise.
»Biste eingeschlafen oder was?«, rief er Rudi missmutig zu, der immer noch unbeweglich im Schiefer hockte, obwohl seine Zigarette schon lange verglüht war. Jetzt brummte der unwillig, schnappte sich seinen Spaten und schlurfte auf die andere Seite der Ausgrabungsstelle.
Fauler Hund, dachte Max, aber im Grunde mochte er den Rudi ganz gern. Rudi redete nicht viel, er war sogar ziemlich maulfaul. Aber das störte Max nicht. Besser, als plappern wie ein Wasserfall. Das hätte ihm gerade noch gefehlt.
Das Schöne an dem Job war, dass ab und zu und unvorhersehbar etwas richtig Aufregendes passieren konnte. Das Ganze erinnerte ihn manchmal an die Wundertüten, die man früher für ein paar Groschen beim Zeitungshändler kaufen konnte. Man wusste nie, was einen erwartete. Entweder derselbe Scheiß wie immer oder etwas Neues, das man noch nie zuvor gesehen hatte.
Meistens fanden sie natürlich nur diese kleinen Fische, Hunderte, die nahmen sie kaum noch zur Kenntnis. Riesige Schwärme musste es davon gegeben haben, damals, als das hier alles noch ein See war. Aber letztes Jahr, als er das Urpferdchen gefunden hatte, da war was los. Donnerwetter! Die Wissenschaftler oben aus der Senckenberg-Station waren völlig aus dem Häuschen, wie wild gewordene Bienen. Später kamen dann auch noch die Leute von der Presse und knipsten, was das Zeug hielt.
Und er hatte es gefunden, er, Max Behringer. Einer der Pressefritzen bestand sogar darauf, ihn zu interviewen. So etwas passierte einem auf dem Bau natürlich nicht. Bisher gab es nur ganz wenige von diesen Skeletten, und das, was er entdeckt hatte, war vollständig gewesen, ein Urpferdchen mit allem Drum und Dran. Sogar was das Biest gefressen hatte, konnten sie später feststellen. Das muss man sich mal vorstellen, fünfzig Millionen Jahre alt, und die können dir sagen, was es zum Frühstück gefuttert hat.
Vor einigen Wochen hatte er eine Fledermaus gefunden. Die waren zwar ziemlich häufig hier, aber sie stellte sich als eine bisher unbekannte Art heraus, schon die sechste in Messel. Max war das egal, und er konnte die Aufregung kaum nachvollziehen, aber da oben in der Station gab es die Schäfer, und die war ganz heiß auf die Dinger. Schon komisch, womit sich die Leute ihr ganzes Leben beschäftigen. Fledermäuse, na ja, ihm sollte es recht sein.
Sogar für fossile Krokodilscheiße gab es begeisterte Abnehmer. Überhaupt schien diese versteinerte Tierkacke besonders wichtig zu sein. Sie waren ganz versessen darauf. Die Senckenberg-Stiftung hatte ein Sonderforschungsprogramm über diese Koprolithen aufgelegt. Bei Rudi und Max hießen sie einfach Scheißfossilien.
Tatsächlich schien die Grube voll davon zu sein, die reinste Kloake. Wenn man erst einmal wusste, wonach man suchen musste, fand man überall Koprolithen. Es gab große klumpenförmige, kleine krümelige und, besonders auffällig, spiralförmig gedrehte, richtig kunstvoll, wie ein Schneckengehäuse. Die Wissenschaftler versuchten jetzt herauszufinden, zu wem welche Form gehörte. Kürzlich war hier in der Station ein internationales Treffen zu diesem Thema. Es war unfassbar: zwanzig, dreißig erwachsene und eigentlich ganz normal aussehende Männer und Frauen, allesamt Doktoren und Professoren, die sich für nichts anderes als versteinerte Scheiße interessierten.
Aber was soll’s, jeder hat so seine Schwächen. Immerhin konnten sie mitunter auch ganz nett sein, vor allem, wenn man sie mit einem ihrer Forschungsgegenstände beglückte. Die Fledermaustante war über seinen Fund so happy, dass sie ihm eine Flasche Schampus geschenkt hatte, echten französischen Champagner. Das war doch ein anständiger Zug von ihr. Vorher hatte er die Schäfer immer so arrogant gefunden mit ihrer spitzen Nase und dem ungewöhnlich großen Mund. Die kann Spargel quer fressen, meinte Rudi.
Jetzt saß sie wahrscheinlich da oben und kratzte und polkte das Skelett aus dem Schiefer. Mit Zahnbürsten, kleinen Spachteln und Sandstrahlgebläsen rückten sie den Funden zu Leibe, wochenlang. Er hatte schon öfter dabei zugesehen. Musste wohl ziemlich kompliziert sein, wegen des hohen Wassergehaltes. Nee, das wär nichts für ihn, dann schon lieber mit dem Spaten arbeiten. Da hatte man wenigstens was in der Hand.
Er atmete einmal tief durch und legte einen Zahn zu. So verging die Zeit schneller. Er schaute auf das Stück Schiefer hinunter, das er gerade losgebrochen hatte.
Komisches Zeug, dieser Ölschiefer! Stein, aber weich wie Blätterkrokant. Als er hier anfing, hatte einmal jemand versucht, ihm zu erklären, dass der Name ziemlicher Unsinn sei, weil es sich streng genommen weder um Schiefer handele noch um Öl. Max hatte nicht viel davon verstanden. Es war ihm doch schnuppe, wie das Zeug nun wirklich hieß und was es genau darstellte. Früher hatten sie hier jedenfalls tatsächlich Öl gewonnen und Benzin daraus hergestellt, aber das lohnte sich schon lange nicht mehr. Jetzt stritten sich die Fossilienfritzen und die Gemeindeverwaltung um die Grube. Diese Schreibtischhengste wollten eine Müllkippe daraus machen. Na klasse, dann konnte er seinen Job sowieso vergessen. Im Augenblick herrschte Waffenstillstand, aber man konnte ja nie wissen, wie lange so etwas anhielt.
Halt! Er stutzte. Da war etwas.
Nachdem er schon ein paar ungewöhnliche, größere Funde zutage gefördert hatte, kannte Max das Gefühl in seinen Händen, wenn zwischen zwei Platten etwas verborgen war. Sie klebten dann irgendwie anders aneinander.
Vorsichtig steckte er sein Messer zwischen die Schieferbruchstücke und versuchte sie zu lockern. Nach einigem Hinundherruckeln löste sich endlich die obere Platte mit einem schmatzenden Geräusch. Tatsächlich, sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht, da war etwas Weibliches, Knochiges. Sah irgendwie seltsam aus, wie, ja, wie … Ach, darüber sollten sich die Herren Spezialisten den Kopf zerbrechen, dafür wurden sie ja schließlich bezahlt.
»Rudi, komm doch mal her«, rief Max und beugte sich über seinen Fund. »Was sagst’n du dazu?«
»Hm«, machte Rudi nachdenklich und hockte sich neben das Fundstück, eine Gruppe kleiner Knochen, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur.
»Scheiße, ausgerechnet jetzt«, fluchte Max, dem langsam klar wurde, was er sich eingebrockt hatte. Wenn die Verrückten oben in der Station davon erfuhren, waren sie imstande, ihm sein ganzes Wochenende zu vermiesen. So langweilig und lahmarschig sie normalerweise auch sein mochten, angesichts von frischem Fossilienmaterial konnten sie einen beängstigenden, durch nichts und niemanden zu bremsenden Fanatismus an den Tag legen. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie von ihnen verlangten, ein Fundstück am Wochenende zu bergen. Meistens kamen sie in solchen Fällen mit irgendwelchen obskuren Fossilienräubern, die sich hier herumtreiben und ihnen zuvorkommen könnten. Dabei ging es nur um ihre eigene Gier.
»Hm«, sagte Rudi.
»Wenn das was Interessantes ist, dann sitzen wir hier noch mindestens zwei Stunden fest, das ist dir doch klar, oder?« Max bückte sich und kratzte mit seinem Taschenmesser vorsichtig neben dem Fundstück herum. »Da ist noch mehr«, sagte er. »Hab ich jedenfalls noch nicht gesehen so was.«
Rudi nickte bedächtig und brummte: »Du musst Hackebeil Bescheid sagen!«
Hackebeil hieß eigentlich Dr. Helmut Axt und leitete oben die Außenstation des Senckenberg-Museums, aber sie nannten ihn nur Hackebeil, wegen seines Namens und wegen seines spitzen Kinns.
»Du weißt, was das bedeutet?«, fragte Max und sah seinen Kollegen eindringlich an. Mann, hatte der eine lange Leitung. »Dein Wochenende kannst du dann vergessen.«
»Hm …« Das gab Rudi zu denken. »Und wenn du einfach bis Montag wartest?«
Max nickte. Na bitte, endlich, genau das hatte er hören wollen. Rudi machte eine Geste, dass sein Mund versiegelt sei.
Vorsichtig legte Max die Schieferplatte wieder an Ort und Stelle, besprühte das Ganze mit Wasser und deckte dann zusammen mit Rudi eine Plastikplane über die Ausgrabungsstelle. Wenn der Messeler Schiefer trocken wurde, begann er sich zu wellen wie feuchtes Papier und zersprang schließlich in zahllose kleine dünne Plättchen. Alles, was sich darin befand, zersprang natürlich mit. Da war dann nichts mehr zu machen. Es war das A und O ihrer Arbeit. Sie mussten immer darauf achten, dass die Grabungsstellen feucht und gut abgedeckt waren. Das hatte ihnen Hackebeil x-mal eingeschärft. Direkte Sonneneinstrahlung war Gift, tödlich.
Gemeinsam stiefelten Max und Rudi anschließend auf den Maschendrahtzaun zu, der den Ausgrabungsbereich der Grube Messel umgab und von dem Gebiet abtrennte, das schon für die zukünftige Müllkippe hergerichtet worden war.
»Also dann«, sagte Max, als sie am Tor angekommen waren, wo sein Fahrrad stand. »Bis Montag!«
»Ja, bis Montag«, sagte Rudi und hielt nochmals zum Zeichen der Verschwiegenheit den Zeigefinger an die Lippen.
In der Rechten eine schaukelnde Plastiktüte, schleppte sich Michael Hofmeister schweren schlürfenden Schrittes die Knesebeckstraße entlang. Am Zeitungsladen überflog er kurz die Schlagzeilen der Tagespresse KLIMACHAOS! IST DIE KATASTROPHE NOCH AUFZUHALTEN? KLIMAFORSCHER WARNEN: HANDELN, BEVOR ES ZU SPÄT IST! Danke, kein Interesse, dachte er. Das Ganze stank doch zum Himmel.
Er hatte kürzlich von einer neuen Theorie über den Untergang der Dinosaurier gelesen, nach der diese Riesen aus ihren kilometerlangen Darmwindungen derartige Mengen von Methan ausgeschieden hätten, dass ihr Verdauungstrakt heutzutage unter das Bundes-Immissionsschutzgesetz gefallen und nur unter erheblichen Auflagen genehmigungsfähig gewesen wäre. Folglich war irgendwann das Klima gekippt. Die Theorie mit dem Meteoriteneinschlag und dem anschließenden atomaren Winter sagte Micha eigentlich mehr zu, schon deshalb, weil es zu den Riesenechsen irgendwie besser gepasst hätte, wenn ihr Ende mit einem solchen Paukenschlag eingeläutet worden wäre, aber er musste zugeben, dass auch die Saurierfurzhypothese nicht ohne Reiz war. Er machte sich da gar nichts vor. Die Menschen bekamen das auch hin, nur machten sie sich nicht selbst die Mühe, sondern überließen das Vergiften ihren Maschinen und jetteten solange lieber in den Urlaub. Jeder Organismus machte die Erde auf seine Weise kaputt. Wo blieb denn der evolutionäre Fortschritt, wenn die Menschheit es den Dinos einfach nachmachte. Den anderen Tier- und Pflanzenarten, kaum mehr als bloße Trittbrettfahrer, die mit in den Strudel gerissen wurden, war es letztlich egal, ob sie wegen Reptilienfurzen, Autoabgasen oder sonstigen Naturkatastrophen ausstarben.
Meine Güte! Micha schüttelte verärgert den Kopf und riss sich von den Zeitungsüberschriften los. Warum war er nur plötzlich so schlecht gelaunt?
Mit letzter Kraft steuerte er ein Café an, ließ sich an einem der wenigen freien Tische erschöpft in den weißen Plastikstuhl fallen und versuchte zwischen den engstehenden Tischen Platz für die langen Beine zu finden. Es war heiß, für seinen Geschmack definitiv zu heiß. Schon seit Wochen brannte die Sonne auf die Stadt herab, und wer konnte, hatte schon lange das Weite gesucht.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte missmutig auf die klebrige Speisekarte. In seinem Schädel hatte sich zunächst eine träge, dumpfe Müdigkeit breitgemacht und in ihrem Schlepptau eine erste Androhung von Übellaunigkeit. Aber jetzt war sie voll da, ausgereift, unverkennbar, unbeherrschbar, ein besonders schwerer Fall. Die Zeitungen hatten ihm den Rest gegeben. Dabei hatte doch alles so gut angefangen.
Vor ein paar Stunden hatte er die letzte Lehrveranstaltung des Sommersemesters absolviert, die Vorlesung in Spezieller Zoologie von Gechter. Er hatte sich zunächst wie alle anderen auch in wirklich prächtiger Stimmung befunden. Mit seinen Kommilitonen hatte er in einem Dahlemer Gartenlokal das Semesterende gefeiert und sich für seine Verhältnisse einen ziemlich heftigen Rausch angetrunken. Wie so oft, hatten sie über Gechter gelästert.
Während sich normale Menschen ihren Haustieren anglichen, hatten es Zoologieprofessoren schwerer. Sie passten sich ihrer Spezialtiergruppe an, in Gechters Fall den »Nurfüßern« oder Pantopoden. Diese Tiefseebewohner waren weitläufige Verwandte der Spinnen und sahen auch so aus: lange dürre Beine und ein ebenso dürrer Körper. Trotz der Schwere der Aufgabe war Gechter die Metamorphose bemerkenswert gelungen. Er war ein freundlicher, gutmütiger Mensch und ein hervorragender Zoologe und Lehrer, aber er sah einfach zum Piepen aus.
Die Versammlung löste sich langsam auf. Auch Micha hatte sich in einer relativ langwierigen Prozedur verabschiedet, war mit der U-Bahn zum Zoo gefahren und hatte etwa eine Stunde in verschiedenen Buchläden herumgestöbert. Langsam, aber sicher verwandelte sich dort sein nachmittäglicher Alkoholrausch in bleierne Müdigkeit, was wiederum angesichts der in den Läden angebotenen Büchermassen zu einer eklatanten Entscheidungsschwäche führte. Voll der besten Vorsätze, trug er schließlich Dostojewskijs Idiot und Walsers Halbzeit zur Kasse.
Die Bedienung kam. Er bestellte einen Kaffee, zündete sich eine Zigarette an, fläzte sich träge in den federnden Stuhl und blätterte ohne großes Interesse in seinen Neuerwerbungen. Nach dem zweiten Kaffee begann seine Müdigkeit bohrenden Kopfschmerzen zu weichen. Nur die schlechte Laune blieb. Sein Gehirn schien irgendwie periodisch anzuschwellen, jedenfalls drückte es mit zunehmender Kraft von innen gegen den Schädel und pochte an seine Schläfen. Das kann ja heiter werden, dachte er, packte die Taschenbücher wieder in die Tüte zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ seinen Blick über die Leute schweifen. Sie schienen alle durcheinanderzureden. In seinem Tran schnappte er zahllose Gesprächsfetzen auf: Strand, Sonne, Wein, Urlaub. Das hellte seine miese Stimmung wieder etwas auf.
Einzelne spitze Lacher einer großen Blonden am Nebentisch bohrten sich schmerzhaft in seine Gehörgänge. Sofort war er hellwach. Eigentlich genau sein Typ, nur ihr Organ war etwas zu schrill. Ein warnendes Stechen in seinem Kopf erinnerte ihn sofort daran, dass dies nun schon die zweite Sommerreise hintereinander war, die er ohne weibliche Begleitung antreten musste, und das war alles andere als ein erfreulicher Gedanke. Irgendwie lief es in letzter Zeit nicht besonders gut. Aber dieser Sommer würde die Wende bringen. Es musste einfach so sein. Er warf seiner Nachbarin einen flüchtigen Blick zu und musste grinsen.
Plötzlich trafen seine Augen mit denen eines hageren Typen zwei Tische weiter zusammen. Der Kerl musste irgendwas falsch verstanden haben, denn er grinste herausfordernd zurück, so als ob sein Lächeln ihm gegolten hätte, ja, in plumper Vertraulichkeit zwinkerte der ihm sogar zu. Micha schaute schnell in eine andere Richtung. Aber etwas an diesem Kerl ließ seinen Blick wie an einem Gummiband wieder zurückschnellen. Als sich ihre Blicke erneut trafen, grinste sein Gegenüber immer noch. In seinem rechten Schneidezahn blitzte irgendetwas. Mit eisiger Miene starrte Micha zurück.
Da der Gesichtsausdruck des Fremden unverändert blieb, beschloss Micha schließlich, ihn zu ignorieren. Er war einfach zu schlapp, um sich auf solche albernen Spielchen einzulassen. Vielleicht ein Schwuler, der auf ihn abfuhr. Wäre nicht das erste Mal, irgendwie standen die auf ihn. Manchmal war das ja ganz witzig, aber nicht jetzt, stöhnte er innerlich, bitte, nicht jetzt.
Er stand auf, holte sich von einem Ständer eine Tageszeitung und vertiefte sich ostentativ in die Sportseite.
Keine drei Minuten später hörte er eine Stimme hinter der Zeitung: »Tag, Micha!«
Noch bevor er die Zeitung sinken ließ, wusste er, wem die Stimme gehörte. Zwar zeigte der Hagere nicht mehr dieses impertinente Grinsen, aber da Micha sich nun wirklich gestört fühlte, machte das kaum noch einen Unterschied.
»Woher kennst du meinen Namen?«
»Du kennst meinen auch!«, sagte der Hagere nur, und sein Grinsen wurde wieder breiter. Als seine Lippen sich öffneten, kam eine Reihe schiefer Zähne zum Vorschein. Seine Gesichtszüge wurden plötzlich weicher, runder, kindlicher, und dann wusste Micha, wen er vor sich hatte. Ihm klappte der Unterkiefer herunter.
»Tobias! Das gibt’s doch nicht!«
»Na bitte. Ich hab dich sofort erkannt.«
»Ja, tut mir leid. Es ist schon so lange … Also … das ist ja ein Ding«, stammelte Micha. »Tobias Haubold. Nein, also wirklich.« Damit war sein Pulver vorerst verschossen. »Tja …«
Was sagte man nur in einem solchen Fall? Er hatte sich immer schwergetan, wenn er unvermittelt solchen Figuren aus seiner Vergangenheit gegenüberstand. Und diese hier stammte geradezu aus grauer Vorzeit. Wie lange hatten sie sich nicht gesehen? Es mussten so um die fünfzehn Jahre sein. Damals waren sie noch Kinder gewesen, echte Rotzbengel, die nichts als Blödsinn im Kopf hatten. Aber in diesem Fall gab es wohl kein Entkommen mehr.
»Setz dich doch!«, sagte er.
Tobias ließ sich auf dem freien Stuhl neben ihm nieder. »Weißt du, irgendwie wundert es mich gar nicht, dass ich dich heute hier treffe«, sagte er. »Komischerweise habe ich gerade in den letzten Tagen öfter an dich denken müssen, an die alten Zeiten.«
»Ah ja.« Micha war noch immer nicht besonders glücklich über den unerwarteten Verlauf dieses Nachmittags und wehrte sich nun auch gegen ein aufkeimendes schlechtes Gewissen. Er hatte so gut wie nie an Tobias gedacht.
»Ja, mir fielen die Abenteuer ein, die wir uns gemeinsam ausgemalt haben. War wirklich eine schöne Zeit damals.«
»Hmm …«, nuschelte Micha mit einer Verlegenheitszigarette zwischen den Lippen. Er fand Tobias aufdringlich.
Sie winkten nach der Bedienung. Micha bestellte einen dritten Kaffee, Tobias ein Bier. Er fragte Micha nach einer ganzen Reihe von Leuten aus, deren Namen ihm kaum noch etwas sagten.
»Aber an Schmidt kannst du dich doch noch erinnern?«, fragte Tobias.
Jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, irritierte Micha dieser mal schwarze, mal glitzernde Fleck auf seinem Schneidezahn. Tobias hatte schon immer schlechte Zähne gehabt.
»Welchen Schmidt?«
»Na, den fetten Erdkundelehrer.«
Trotz der bohrenden Kopfschmerzen schien dieser Name irgendetwas in ihm auszulösen. Widerwillig setzte sich sein Gehirn in Bewegung und brachte schließlich unter Mühen ein verschwommenes Bild zustande. »Ach so, den. Klar erinnere ich mich.«
Gefühle von Demütigung und Scham stellten sich ein. Neue Bilder kamen, grinsende Klassenkameraden, gackernde Mädchen, Turnhallengeruch, ein riesiger Bauch, ein krebsrotes Gesicht.
Schmidt! Fett war gar kein Ausdruck. Der Mann war eine einzige kugelrunde feste Fleischmasse gewesen. Jede normale Bewegung schien ihm solche Anstrengungen zu verursachen, dass er kaum noch in der Lage war zu sprechen, geschweige denn, sich fortzubewegen, so hatte er herumgeschnauft. Aber dieser Schmidt war nicht nur ihr Erdkunde-, sondern vor allem ihr Sportlehrer gewesen. In dieser Funktion hatte er es zu einem der meistgehassten Menschen in Michas Leben gebracht.
Kaum zu glauben! Er fasste sich an die Stirn. Daran hatte er schon eine Ewigkeit nicht mehr gedacht. »Die Seile«, flüsterte er vor sich hin und schüttelte ungläubig den Kopf. Typisch, dass Tobias Schmidt als Erdkunde- und nicht als Sportlehrer in Erinnerung hatte. Ihm hatte das alles nichts ausgemacht.
»Ja, und Sebastian, die alte Heulsuse«, sagte Tobias und kicherte.
Micha schreckte auf, überrascht, dass Tobias ihn verstanden hatte. Er sagte nichts, trank nur einen Schluck Kaffee und überließ sich wieder seinen Erinnerungen.
Sebastian Hollert war ein kleiner schwabbliger Fettsack, der zudem dadurch auffiel, dass er während der Schulpausen unvermittelt in hysterische Weinkrämpfe ausbrach und wild um sich schlagend alles und jeden wüst beschimpfte. Sebastian, Micha und Tobias bildeten das Schlappschwanztrio, dem es in den Sportstunden trotz verzweifelter Versuche nicht gelingen wollte, sich diese vermaledeite Hallendecke aus der Nähe anzusehen. Schmidt, der fette Sadist, stellte ihr Unvermögen an Seilen und Stangen immer wieder von neuem zur Schau. Tobias ließ diese Demütigungen damals mit erstaunlicher Gelassenheit über sich ergehen.
Das Gespräch schleppte sich zäh und mühsam dahin, und irgendwann gab Micha seinen Widerstand auf. Vielleicht spürte Tobias, dass Michas Bereitschaft, in Kindheitserlebnissen zu schwelgen, nicht sehr groß war, und er unterließ weitere Anspielungen auf ihre gemeinsame Vergangenheit.
Was dann folgte, war der unvermeidliche Austausch ihrer Kurzlebensläufe. Tobias war hocherfreut zu hören, dass Micha Biologie studierte und sich mit Begeisterung der Entomologie, insbesondere der Käferkunde, widmete. Er selbst erzählte, dass er nach einer Lehre als Steinmetz auf der Abendschule das Abitur nachgemacht und dann in derselben Firma wie sein Vater gearbeitet hatte. Nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern sei er vor einem guten halben Jahr nach Berlin gekommen, um Geologie zu studieren. Sie hatten sich beide den Naturwissenschaften zugewandt und stellten mit einem Lächeln übereinstimmend fest, dass sie damit gut auf Kurs geblieben waren. Ein Forscherdasein war ihnen schon damals als das Größte erschienen.
Nun war eine so angeregte Unterhaltung im Gange, dass Micha seine Kopfschmerzen bald vergessen hatte. In den kurzen Gesprächspausen, die nichts Peinliches mehr hatten, betrachteten sie sich gegenseitig, suchten nach vertrauten Zügen in ihren Gesichtern, und Michas mürrische Zurückhaltung war regem Interesse und einem eigentümlich vertrauten Gefühl gewichen.
»Ich habe jetzt endlich eine Wohnung in Kreuzberg gefunden. Du musst mich unbedingt mal besuchen kommen«, sagte Tobias voller Begeisterung, und die Erregung brachte Farbe in sein kantiges Gesicht. Micha musste unwillkürlich grinsen, so sehr glich Tobias jetzt dem Bild, das in irgendeinem bisher verschlossenen Hinterstübchen seines Gehirns die Jahre überdauert hatte.
»Ich bin nur noch eine Woche in Berlin«, sagte Micha. »Dann fahre ich in den Urlaub.«
»Na, dann treffen wir uns eben, wenn du wieder zurück bist. Wo soll’s denn hingehen?«, fragte Tobias.
»Ägäis, ’n paar griechische Inseln abklappern.«
»Oh, toll, Kreta und so, ja? Na, ich muss erst mal renovieren, aber in drei, vier Wochen will ich auch wegfahren. Bin ein bisschen knapp bei Kasse, weißt du.«
»Und wo willst du hin?«
Wieder eroberte dieses charakteristische Grinsen das schmale Gesicht seines alten Schulfreundes. Ein Backpfeifengesicht, dachte Micha. In dieser Beziehung hatte Tobias sich wenig verändert. Er war nur noch kantiger geworden. Außerdem war da jetzt dieses seltsame Ding in seinem schiefen Schneidezahn. Schon damals sprossen seine Zähne unbändig in alle Richtungen. Braune Haare hingen ihm ungekämmt und fettig um den Kopf. Seine Lippen waren meist trocken und aufgesprungen gewesen, und da er andauernd an den trockenen Hautstückchen herumknabberte, oft auch blutig und verschorft, nicht gerade ein hübsches Kind. Heute könnte er ohne weiteres als Bösewicht in einem James-Bond-Streifen durchgehen.
»Ich wollte mich mal ein bisschen in der Slowakei umsehen«, antwortete Tobias nach kurzem Zögern, so als ob daran irgendetwas Geheimnisvolles wäre.
»Ungewöhnlich!«
»Ja, ich weiß. Aber preiswert und nicht so weit weg. Die Hohe Tatra soll sehr schön sein.«
»Klar, warum nicht?«
Ein Blick auf die Uhr zeigte Micha, dass es schon ziemlich spät geworden war. Er rief nach der Bedienung, um zu zahlen.
Er schrieb seine Adresse und Telefonnummer auf einen Bierdeckel und verabschiedete sich. »War nett, dich zu treffen, wirklich. Ich bin wahrscheinlich Anfang September wieder zurück. Du kannst dich ja dann mal melden.«
Tobias stand auf, um ihm die Hand zu geben. Er hatte, was seine Körpergröße anging, erheblich an Boden gutgemacht.
Früher war er ein Hänfling gewesen. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, reichte er Micha gerade bis an die Schultern, eine halbe Portion, ein Spargeltarzan mit dünnen Ärmchen und dürren knochigen Beinen, aus denen die Kniegelenke hervorstachen wie Geschwüre. Er wirkte als Kind zerbrechlich und kränklich. Sein hohlwangiges Gesicht hatte ausgesehen, als bekäme er nie genug zu essen. Vielleicht war dieser Eindruck gar nicht so falsch, denn Micha hatte mit eigenen Augen gesehen, wie dieses spacke Bürschchen im Schullandheim jeden Morgen sage und schreibe neun belegte Brote verdrückt hatte, ohne jemals den Eindruck zu vermitteln, jetzt sei es genug. »Schlechter Futterverwerter«, meinte Michas Mutter, als er ihr davon erzählte.
Er winkte Tobias aus ein paar Meter Entfernung noch einmal zu und marschierte dann in Richtung U-Bahn.