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Francis Bacon

(1561-1626), englischer Philosoph und Staatsmann, trug mit seinen Schriften maßgeblich zur Begründung des Empirismus bei. Unter seinen zahlreichen juristischen, literarischen und philosophischen Abhandlungen kommt vor allem den in lateinischer Sprache abgefassten Novum organon scientiarum, die als eine Art ‚Gründungsdokument’ neuzeitlicher Methodenforschung gelten können, eine zentrale Bedeutung zu.

Nachdem Bacon als Staatsmann unter James I. eine glänzende Karriere gemacht hatte, wurde er der Bestechlichkeit bezichtigt und vom Parlament verbannt. Nach seiner Begnadigung widmete er sich bis zu seinem Tod ausschließlich der Schriftstellerei.

Zum Buch

Der Enthüller des ‚Menschlich-Allzumenschlichen’

Wer immer schon über die verschiedenen Gesichter der Wahrheit, die Natur des Todes, geschickte und weniger geschickte Verhandlungstechniken, über die Ehe, das Alleinleben, die Liebe, Neid, Rache und allerlei andere ‚menschlich-allzumenschliche’ Regungen Genaueres wissen wollte, dem ist Bacons Essaysammlung noch heute ein unverzichtbares Vademecum. In einer Sprache, deren Anschaulichkeit und Klarheit ihresgleichen sucht und ihren Verfasser als einen der vollkommensten englischen Schriftsteller ausweist, wird hier jegliches zwischenmenschliche Phänomen mit psychologischem Feingefühl und illusionslos-analytischem Scharfsinn unter die Lupe genommen.

Warum haben unverheiratete Männer einen größeren gesellschaftlichen Nutzen als verheiratete? Welche Vorteile bieten Verstellung und Heuchelei? Warum faszinieren uns Liebe und Neid mehr als alle anderen Empfindungen? Diese und viele weitere moralphilosophische Fragen sind auch knapp 400 Jahre nach Bacon’s Tod brandaktuell. Selten werden sie jedoch mit einer so entwaffnenden psychologischen Schärfe und einer ähnlich raffinierten Metaphorik diskutiert wie in dieser Essay-Sammlung.

Aus dem Englischen neu übersetzt von Michael Siefener

Francis Bacon

Essays

Francis Bacon

Essays

Neu übersetzt aus dem Englischen
von Michael Siefener

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2012
Die Übersetzung erfolgte nach der Ausgabe London 1910
Übersetzung: Dr. Michael Siefener, Hamburg
Lektorat: Stefanie Evita Schaefer, marixverlag GmbH
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0267-3

www.marixverlag.de

INHALT

1. Abhandlung:

Über die Wahrheit

2. Abhandlung:

Über den Tod

3. Abhandlung:

Über die Einheit der Religion

4. Abhandlung:

Über die Rache

5. Abhandlung:

Über das Unglück

6. Abhandlung:

Über Verstellung und Heuchelei

7. Abhandlung:

Über Eltern und Kinder

8. Abhandlung:

Über Ehe und Alleinleben

9. Abhandlung:

Über den Neid

10. Abhandlung:

Über die Liebe

11. Abhandlung:

Über die hohe Stellung

12. Abhandlung:

Über die Dreistigkeit

13. Abhandlung:

Über die Güte und Gutmütigkeit

14. Abhandlung:

Über den Adel

15. Abhandlung:

Über Aufruhr und öffentliche Unruhen

16. Abhandlung:

Über den Atheismus

17. Abhandlung:

Über den Aberglauben

18. Abhandlung:

Über das Reisen

19. Abhandlung:

Über die Herrschaft

20. Abhandlung:

Über das Ratgeben

21. Abhandlung:

Über Verzögerungen

22. Abhandlung:

Über die List

23. Abhandlung:

Über die Eigensucht

24. Abhandlung:

Über Neuerungen

25. Abhandlung:

Über die rasche Erledigung von Geschäften

26. Abhandlung:

Über den bloßen Anschein der Weisheit

27. Abhandlung:

Über die Freundschaft

28. Abhandlung:

Über Ausgaben

29. Abhandlung:

Über die wahre Größe von Königreichen und Staaten

30. Abhandlung:

Über die Pflege der Gesundheit

31. Abhandlung:

Über das Misstrauen

32. Abhandlung:

Über das Gespräch

33. Abhandlung:

Über Kolonien

34. Abhandlung:

Über den Reichtum

35. Abhandlung:

Über Prophezeiungen

36. Abhandlung:

Über den Ehrgeiz

37. Abhandlung:

Über Maskenspiele und Triumphzüge

38. Abhandlung:

Über die Charakterschwächen des Menschen

39. Abhandlung:

Über Gewohnheit und Erziehung

40. Abhandlung:

Über das Glück

41. Abhandlung:

Über das Geldverleihen

42. Abhandlung:

Über die Jugend und das Alter

43. Abhandlung:

Über die Schönheit

44. Abhandlung:

Über Missbildungen

45. Abhandlung:

Über das Bauen

46. Abhandlung:

Über Gärten

47. Abhandlung:

Über das Verhandeln

48. Abhandlung:

Über Gefolgsleute und Freunde

49. Abhandlung:

Über Bittsteller

50. Abhandlung:

Über das Studium

51. Abhandlung:

Über Fraktionen

52. Abhandlung:

Über Höflichkeit und Achtung

53. Abhandlung:

Über das Lob

54. Abhandlung:

Über die Prahlerei

55. Abhandlung:

Über Ehre und Anerkennung

56. Abhandlung:

Über Rechtsprechung

57. Abhandlung:

Über den Zorn

58. Abhandlung:

Über die Unbeständigkeit der Dinge

Fragment einer Abhandlung:

Über die Gerüchte

An den sehr ehrenwerten, meinen sehr guten Lord, den Duke of Buckingham, seine Gnaden, Lord-Großadmiral von England.

Vortrefflicher Herr!

Salomo sagt: „Besser ein guter Name als gutes Öl“, und ich bin davon überzeugt, dass der Name Euer Gnaden bei der Nachwelt eine solche Aufnahme finden wird, denn sowohl Euer Geschick als auch Eure Verdienste sind herausragend. Und Ihr habt Dinge gepflanzt, die Bestand haben werden. Ich veröffentliche nun meine [Essays- oder Abhandlungen], die von all meinen die größte Verbreitung erfahren haben, weil sie, wie es mir scheint, die Handlungen und die Herzen der Menschen im Innersten berühren. Ich habe sowohl ihre Zahl als auch ihre Gewichtigkeit erhöht, sodass es sich in der Tat um ein neues Werk handelt. Daher hielt ich es als meiner Zuneigung und Dankbarkeit gegen Eure Gnaden angemessen, ihm sowohl in der englischen als auch in der lateinischen Ausgabe Euren Namen voranzustellen. Denn ich bin der Ansicht, dass der lateinische Band (da er in der Universalsprache verfasst ist) so lange Bestand haben wird, wie es Bücher gibt. Meine Wiederherstellung widmete ich dem König, meine Geschichte Heinrichs des Siebten (die ich nun ebenfalls ins Lateinische übertragen habe) sowie meine Beiträge zur Naturgeschichte hingegen dem Kronprinzen, doch Euer Gnaden widme ich dieses Werk, das zu den besten Früchten gehört, die Gott meiner Feder und meinen Mühen geschenkt hat. Gott führe Eure Gnaden bei der Hand.

Euer Gnaden ergebenster und getreuester Diener

Fr. St. Alban.

ERSTE ABHANDLUNG:

ÜBER DIE WAHRHEIT

„Was ist Wahrheit?“, fragte Pilatus im Scherz, ohne eine Antwort darauf zu erwarten. Gewiss gibt es viele, die Freude an Leichtfertigkeit haben und es als beengenden Zwang empfinden, sich an eine bestimmte Überzeugung zu binden, denn sie lieben den freien Willen im Denken genauso wie im Handeln. Und obwohl die Sekten der Philosophen, die dieser Richtung angehörten, inzwischen verschwunden sind, gibt es doch noch gewisse beredte Geister, die zur selben Art zu zählen sind, auch wenn in ihnen nicht so viel Glut und Blut steckt wie in den Alten. Aber die Lüge wird nicht nur durch die Schwierigkeiten und Anstrengungen begünstigt, die die Menschen zur Auffindung der Wahrheit auf sich nehmen müssen, und auch nicht nur durch die Bürden, die ihnen die Wahrheit auferlegt, wenn sie endlich gefunden wurde, sondern es existiert vielmehr eine natürliche, wenn auch verdorbene Liebe zur Lüge an und für sich. Eine der späteren griechischen Denkschulen hat diese Angelegenheit untersucht und verharrt in Ungewissheit, wie sie darüber urteilen soll, dass die Menschen die Lüge lieben – nicht um des Vergnügens willen, wie bei den Dichtern; nicht einmal um des Vorteils willen, wie bei den Kaufleuten, sondern einfach nur um der Lüge selbst willen. Auch ich kann als Grund dafür lediglich angeben, dass die Wahrheit dem nackten und kalten Tageslichte gleicht und die Maskeraden und Mummereien und Triumphe der Welt nicht annähernd so prächtig und anmutig zu zeigen vermag wie das Kerzenlicht. Die Wahrheit ist zum Preis einer Perle zu haben, die am besten bei Tage erglänzt, aber sie steigt niemals zum Preis eines Diamanten oder Karfunkels an, der sich am vorteilhaftesten bei ungewissen Lichtverhältnissen zeigt. Die Hinzufügung einer Lüge verleiht jeder Wahrheit einen zusätzlichen Reiz. Bezweifelt es etwa irgendjemand, dass, wenn aus der Seele des Menschen eitle Ansichten, schmeichelhafte Hoffnungen, falsche Wertschätzungen und Vorstellungen und dergleichen mehr entfernt würden, bei einer großen Anzahl von Menschen diese Seele als armes, eingeschrumpftes Ding voller Melancholie und Unmut übrig bliebe, das ihnen selbst zuwider wäre? Einer der Kirchenväter bezeichnete in großer Strenge die Dichtkunst als vinum daemonum [Wein der Dämonen], weil sie die Phantasie erfüllt, jedoch nur mit dem Schatten der Lüge. Aber großes Leid bereitet nicht jene Lüge, die flüchtig durch die Seele hindurchfährt, sondern die Lüge, die einsinkt und sich festsetzt, so wie wir es vorhin beschrieben haben. Doch wie es auch immer um die verkommenen Urteile und Neigungen des Menschen stehen mag, so lehrt uns doch die Wahrheit, die nur über sich selbst urteilt, dass die Suche nach der Wahrheit, die dem Freien und Liebeswerben um sie gleicht, und das Wissen um die Wahrheit, das uns ein Gefühl für ihre Gegenwart verschafft, sowie der Glaube an die Wahrheit, der uns den Genuss an ihr ermöglicht, die höchsten Güter der menschlichen Natur sind. Die erste Schöpfung Gottes bei der Erschaffung der Welt war das Licht der Sinne, und die letzte war das Licht des Verstandes, und sein Sabbatwerk ist seit jeher die Erleuchtung durch seinen Geist. Als Erstes hauchte er der Materie und dem Chaos das Licht ein, dann hauchte er dem Antlitz des Menschen Licht ein, und seitdem haucht er noch immer das Licht dem Antlitz seiner Auserwählten ein und erfüllt sie damit. Der Dichter, der eine Denkschule verherrlichte, die ansonsten den anderen unterlegen war, drückte es auf die folgende ausgezeichnete Weise aus: Es ist ein Vergnügen, am Ufer zu stehen und zuzusehen, wie die Schiffe auf dem Meer hin und her geworfen werden; es ist ein Vergnügen, am Fenster einer Burg zu stehen und tief unter sich eine Schlacht und deren Wagnisse zu beobachten; aber kein Vergnügen ist mit dem zu vergleichen, auf dem erhöhten Boden der Wahrheit zu stehen (einem uneinnehmbaren Hügel, auf dem die Luft stets klar und heiter ist) und die Irrtümer, Irrungen, Nebel und Stürme im Tale drunten zu gewahren. Doch sollte dieses Zuschauen nicht in Stolz und Überheblichkeit, sondern in Mitleid geschehen. Sicherlich bedeutet es den Himmel auf Erden, wenn die Seele des Menschen vom Mitleid bewegt wird, im Glanz der göttlichen Vorsehung ruht und sich um die Pole der Wahrheit dreht.

Wenn wir von der theologischen und philosophischen Wahrheit zu jener im bürgerlichen Leben hinüberwechseln, so werden selbst jene, die sich dieser Wahrheit nicht bedienen, zugeben müssen, dass eine klare und offene Handlungsweise die menschliche Natur ehrt, während die Beimischung von Falschheit wie die Zugabe niederer Metalle in Gold- und Silbermünzen ist: Sie erleichtert die Bearbeitung, mindert aber den Wert. Denn es ist die Schlange, die sich auf krummen und gewundenen Pfaden fortbewegt. Niedrig kriecht sie auf dem Bauch, statt auf Füßen zu gehen. Kein anderes Laster bedeckt den Menschen so mit Schande wie das der Falschheit und Hinterlist. Und deshalb sagt Montaigne bei der Erörterung der Frage, warum die Lüge eine solche Schande und abscheuliche Beschuldigung sei, sehr schön: „Wenn man es recht bedenkt, was es heißt, einen Menschen einen Lügner zu nennen, so bedeutet es so viel, wie zu sagen, er sei Gott gegenüber ein Tapferer und den Menschen gegenüber ein Feigling.“ Denn Gott erkennt jede Lüge, während sie den Menschen entgeht. Falschheit und Treubruch sind ein Frevel, dessen Schwere darin ihren Ausdruck findet, dass er der letzte Glockenton sein wird, mit dem das Jüngste Gericht über die Menschheit hereinbricht, denn es steht geschrieben, dass, wenn Christus erscheint, „er keine Rechtschaffenheit auf der Erde finden wird.“

ZWEITE ABHANDLUNG:

ÜBER DEN TOD

Die Menschen fürchten den Tod, so wie die Kinder den Gang durch die Finsternis fürchten, und wie diese zweite, natürliche Furcht bei den Kindern durch grausige Geschichten verstärkt wird, so ist es auch bei der ersten. Gewiss ist die Betrachtung des Todes als Urteil über die eigenen Sünden und Übergang in eine andere Welt etwas Heiliges und Frommes, aber die Furcht davor, bei der es sich um einen Tribut an die Natur handelt, zeugt von Schwäche. In frommen Betrachtungen findet sich bisweilen eine Mischung aus Einbildung und Aberglaube. In einigen mönchischen Büchern steht über die Kasteiung geschrieben, man solle sich einmal vorstellen, wie schmerzhaft es ist, wenn einem bloß die Fingerkuppe gequetscht oder torquiert wird, und danach solle man sich ausmalen, wie grässlich die Schmerzen des Todes sind, wenn der ganze Körper verwest und zerfällt. Dabei geht doch oftmals der Tod mit geringeren Qualen als bei der Folterung eines Gliedes einher, da die lebenswichtigsten Teile zumeist nicht die schmerzempfindlichsten sind. Deshalb sagte jener, der nur als Philosoph und einfacher Mensch sprach, zu Recht: „Pompa mortis magis terret quam mors ipsa [Der Totenzug erschreckt mehr als der Tod selbst].“ Ächzen und Zuckungen, ein entfärbtes Antlitz, weinende Freunde, schwarze Farben, Beisetzungsfeierlichkeiten und dergleichen zeigen den Tod auf schreckliche Weise. Es ist jedoch bemerkenswert, dass in der Seele des Menschen keine Leidenschaft so schwach ist, dass sie der Angst vor dem Tode nicht gleichkommt oder diese gar übertrifft. Daher ist der Tod kein so schrecklicher Feind, denn der Mensch besitzt so viele Helfer im Kampf gegen ihn. Die Rache triumphiert über den Tod, die Liebe behandelt ihn geringschätzig, der Ruhm strebt nach ihm, der Kummer flieht zu ihm hin, die Furcht vertieft sich ganz in ihn, und wir lesen sogar, dass nach dem Selbstmord des Kaisers Otho das Mitleid mit ihm (das die zarteste aller Neigungen ist) viele Menschen dazu veranlasste, sich aus reiner Zuneigung zu ihrem Herrscher ebenfalls selbst zu entleiben, wodurch sie sich als die treuesten seiner Gefolgsleute erwiesen. Seneca fügt alldem noch Feingefühl und Übersättigung hinzu: „Cogita quam diu eadem feceris; mori velle, non tantum fortis, aut miser, sed etiam fastidiosus potest [Bedenke, wie lange du schon dasselbe machst. Sterben will nicht nur der Tapfere oder der Unglückliche, sondern auch der des Lebens Überdrüssige].“ Es gibt Menschen, die weder aus Tapferkeit noch aus Unglück sterben wollen, sondern weil sie müde sind, wieder und wieder dasselbe tun zu müssen. Überdies ist es bemerkenswert, wie wenig das Heranahen des Todes den Charakter zu beeindrucken vermag, denn dieser scheint bis zum letzten Atemzug unverändert zu sein. Augustus Caesar starb mit einem Abschiedsgruß auf den Lippen: „Livia, conjugii nostri memor, vive et vale [Livia, erinnere dich stets unserer Ehre, lebe und lebe wohl].“ Tiberius starb in Heuchelei, denn Tacitus schreibt über ihn: „Iam Tiberium vires et corpus, non dissimulatio, deserebant [Schon verließen Tiberius die Kräfte des Körpers, nicht aber seine Unaufrichtigkeit].“ Vespasian verstarb auf einem Schemel mit einem Scherz: „Ut puto Deus fio [Ich glaube, ich werde gerade zum Gott].“ Galba verschied mit dem Spruch: „Feri, si ex re sit populi Romani [Schlag zu, wenn es der Sache des Römischen Volkes dient]“, und bot seinen Nacken dar. Septimius Severus sagte bei seinem Abgang: „Adeste si quid mihi restat agendum [Rasch zu mir, falls es noch etwas zu tun gibt].“ Und dergleichen mehr. Sicherlich maßen die Stoiker dem Tod ein zu großes Gewicht bei, und so wirkte er durch ihre ausufernden Vorbereitungen nur noch schrecklicher. Besser ergeht es jenem, „qui finem vitae extremum inter munera ponat naturae [der das Ende des Lebens zu den Geschenken der Natur zählt].“ Es ist so natürlich zu sterben, wie es natürlich ist, geboren zu werden, und für einen Säugling ist das eine vermutlich genauso schmerzlich wie das andere. Derjenige, der bei der Verrichtung einer ernsthaften Tätigkeit stirbt, ist wie jener, der im heftigen Gefecht verwundet wird. Zunächst spürt er die Verletzung kaum, und daher wehrt sein Geist, der noch auf etwas Gutes gerichtet ist, die Qualen des Todes ab. Aber glaubt mir, über alldem schwebt das süßeste Lied, das „Nunc dimittis [Nun lass mich scheiden]“, wenn sich die Erwartungen eines Menschen erfüllt haben und er ein würdiges Ende findet. Es ist auch eine Eigenschaft des Todes, dass er das Tor zum Ruhme öffnet und den Neid auslöscht: „Extinctus amabitur idem [Nach seinem Tod wird er geliebt].“

DRITTE ABHANDLUNG:

ÜBER DIE EINHEIT DER RELIGION

Da die Religion das wichtigste Band der menschlichen Gesellschaft darstellt, ist es eine gute Sache, wenn sie selbst vom wahren Band der Einigkeit zusammengehalten wird. Die Streitigkeiten und Abspaltungen in der Religion sind Heimsuchungen, die den Heiden unbekannt waren. Der Grund dafür liegt in dem Umstand, dass die heidnische Religion eher in Riten und Zeremonien als in festem und fortwährendem Glauben wurzelte. Man kann sich vorstellen, von welcher Art ihr Glaube war, wenn man weiß, dass die Väter und obersten Lehrer ihrer Kirche die Dichter waren. Aber der wahre Gott besitzt die Eigenschaft, ein eifersüchtiger Gott zu sein, und daher duldet seine Anbetung und Religion keinerlei Vermischung oder Konkurrenz. Deshalb werden wir nun ein paar Worte über die Einheit der Kirche sowie deren Früchte, Grenzen und Mittel sagen.

Die Früchte der Einheit (neben dem Wohlgefallen Gottes, das alles andere beinhaltet) sind zweigestaltig. Es gibt zum einen jene, die die Menschen außerhalb der Kirche genießen, und zum anderen jene, welche ihnen innerhalb derselben zugute kommen. Was die ersteren angeht, so ist es gewiss, dass Häresie und Glaubensspaltung die größten aller Ärgernisse sind, schlimmer noch als die Verderbnis der Sitten. So wie in einem natürlichen Körper andauernd schwärende Wunden schlimmer sind als verdorbene Körpersäfte, so ist es auch im spirituellen Körper. Nichts hält die Menschen so sehr von der Kirche fern und treibt sie von ihr weg wie der Verlust der Einheit. Wann immer es deshalb geschieht, wenn jemand sagt „Ecce in deserto [Seht, er ist in der Wüste]“, und ein anderer sagt „Ecce in penetralibus [Seht, er ist in den Kammern]“, das heißt, wenn einige Christus in den heimlichen Zusammenkünften der Häretiker und andere in den Äußerlichkeiten eines Kirchengebäudes suchen, dann sollte ihnen ohne Unterlass eine Stimme in den Ohren klingen, die sagt: „Nolite exire“ – gehet nicht hinaus. Der Apostel der Heiden, dessen Berufung es ihm auferlegte, sich besonders denjenigen zu widmen, die außerhalb der Kirche standen, sagte: „Wenn ein Heide hereinkommt und euch in verschiedenen Zungen reden hört, wird er dann nicht sagen, dass ihr verrückt seid?“ Und es ist kaum besser, wenn Atheisten und Gotteslästerer so viele einander widersprechende und entgegengesetzte Meinungen innerhalb des einen Glaubens hören. Es macht sie der Kirche abspenstig, sodass sie „auf dem Stuhl des Spötters Platz nehmen.“ Dies ist nur eine Kleinigkeit, die für eine so ernste Angelegenheit herangezogen wird, aber sie drückt sehr wohl die Fehlentwicklung aus. Es gibt einen Meister des Spottes, der in seinem Katalog einer erfundenen Bibliothek ein Buch mit dem Titel Der Moriskentanz der Ketzer aufführt. In der Tat hat jede Sekte ihre eigene Haltung und Pose, die bei den weltlich Gesonnenen und Verderbten, die alles Heilige zu verdammen geneigt sind, unweigerlich Spott hervorrufen.

Die Frucht für all jene, die sich innerhalb der Kirche befinden, ist der unendliche Segen des Friedens. Dieser begründet den Glauben und erzeugt Mildtätigkeit; der äußere Friede der Kirche führt zum Frieden des Gewissens und lenkt die Mühen, die sonst auf das Schreiben und Lesen von Streitschriften verwendet werden, auf die Abfassung von Traktaten der Kasteiung und Andacht.

Was die Grenzen der Einheit angeht, so ist deren richtige Ziehung von äußerster Wichtigkeit. In dieser Hinsicht scheint es zwei Extreme zu geben. Einigen Glaubenseiferern ist alles Reden von Versöhnung verhasst. „ ‚Der König lässt fragen, ob nun Frieden herrscht.‘ Jesus gab zur Antwort: ‚Was hast du dich um den Frieden zu kümmern? Reihe dich in meine Gefolgschaft ein!‘ “ Ihnen geht es nicht um Frieden, sondern um Gefolgschaft und Parteiergreifung. Im Gegensatz dazu glauben einige Laodiceer und halbherzige Personen, dass sie Fragen der Religion durch Mittelwege beantworten können, indem sie auf beiden Seiten gleichzeitig Partei ergreifen und für geistreiche Aussöhnung sorgen, als ob sie Schiedsrichter zwischen Gott und den Menschen wären. Diese beiden Extreme gilt es zu vermeiden, was dadurch geschehen kann, dass sich der Bund der Christenheit, so wie er von unserem Heiland persönlich eingesetzt wurde, fest und unbeirrbar an die beiden einander ergänzenden Sätze hält: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich“ und „Wer nicht gegen mich ist, der ist mit mir“ – das heißt, wenn die wesentlichen und grundlegenden Punkte in der Religion ernsthaft und wahrhaft von solchen Punkten getrennt werden, in denen es nicht ausschließlich um den Glauben, sondern lediglich um Meinungen, Systeme oder gute Absichten geht. Dies mag manchem als unwichtig und bereits erfolgt erscheinen, aber wenn es weniger um das Kleine ginge, könnte das Große stärker in den Vordergrund rücken.

Hierfür möchte ich innerhalb meiner kleinen Abhandlung nur den folgenden Rat geben. Die Menschen sollten sich davor hüten, Gottes Kirche insbesondere durch zwei Arten von Kontroversen auseinanderzureißen. Die eine Art besteht darin, dass der Gegenstand der Kontroverse allzu klein und unbedeutend und nicht der Hitze und des Streites würdig ist, der nur durch Widerspruchsgeist angefacht wurde. Denn, wie es einer der Kirchenväter ausdrückt, „Christi Gewand hatte zwar keine Naht, aber das Gewand der Kirche hat viele Farben“, worauf er sagt: „In veste varietas sit, scissura non sit [Das Gewand darf verschiedene Farben haben, aber keinen Riss].“ Einheit und Gleichheit sind zwei verschiedene Dinge. Die andere Art besteht darin, dass der Punkt, über den verschiedene Meinungen bestehen, durchaus wichtig ist, aber mit einer übergroßen Subtilität und Unklarheit behandelt wird, sodass der Streit eher scharfsinnig als bedeutsam ist. Ein Mensch mit gutem Urteilsvermögen und Verstand hört manchmal einem Streit von Unwissenden zu und weiß dabei genau, dass sie im Grunde eines und dasselbe meinen, auch wenn sie es niemals zugeben würden. Wenn schon ein Mensch diese nur scheinbare Kluft zwischen zwei Streitenden erkennen kann, um wie vieles mehr sollte es dann nicht auch Gott, der die Herzen kennt, möglich sein, den gemeinsamen Vorsatz in den widersprüchlichen Meinungen der schwachen Menschen zu sehen und sie deshalb gleichermaßen gelten zu lassen? Die Natur solcher Kontroversen hat der heilige Paulus sehr gut in der Warnung und dem Gebot ausgedrückt, die er diesbezüglich gibt: „Devita profanas vocum novitates, et oppositiones falsi nominis scientiae [Halte dich fern von unheiligen, leeren Redereien und den Widersprüchen der fälschlich so genannten Erkenntnis].“ Die Menschen erschaffen dort Widersprüche, wo keine sind, und kleiden sie in neue Redewendungen, sodass die Begriffe den Sinn bestimmen, wo doch eigentlich der Sinn die Begriffe bestimmen sollte. Überdies kann es zwei falsche Arten von Frieden und Einheit geben. Bei der einen gründet der Friede auf stillschweigender Unkenntnis, denn im Dunkeln sind alle Farben gleich, und die andere Art fußt auf dem unmittelbaren Zugeständnis von Uneinigkeit in wesentlichen Punkten. Wahrheit und Falschheit sind in solchen Dingen wie das Eisen und der Lehm in den Zehen von Nebukadnezars Abbild. Sie mögen aneinander haften, aber sie gehen keine dauerhafte Verbindung ein.

Was die Mittel zur Erlangung der Einheit angeht, so muss die Menschheit darauf achten, dass sie bei der Einrichtung und Festigung dieser Einheit nicht die Gesetze der Nächstenliebe und Menschlichkeit verwässert oder gar außer Kraft setzt. Es sollte in der Christenheit zwei Schwerter geben: das spirituelle und das weltliche. Beide haben ihren Platz und ihre Bedeutung in der Aufrechterhaltung der Religion. Aber wir dürfen keinesfalls das dritte Schwert einsetzen, welches das Schwert Mohammeds oder zumindest dem seinen ähnlich ist; das heißt, wir dürfen die Religion nicht durch Kriege verbreiten oder das Gewissen durch blutige Verfolgung schärfen, außer in Fällen von öffentlichem Ärgernis, Blasphemie oder Hochverrat. Noch weniger dürfen Aufstände angezettelt, Verschwörungen und Rebellionen durchgeführt oder das Schwert in die Hand des Volkes gegeben werden, damit es die Regierung stürzt, die von Gott eingesetzt ist. Denn dies würde bedeuten, die eine Gesetzestafel an der anderen zu zerschmettern und die Menschen als vollkommene Christen anzusehen, während wir vergessen, dass sie im Grunde nur Menschen sind. Als der Dichter Lukrez die Tat des Agamemmnon betrachtete, der die Opferung seiner eigenen Tochter ertrug, rief er aus:

„Tantum religio potuit suadere malorum [Zu solch schlimmen Taten vermochte die Religion zu reizen].“

Was hätte er wohl gesagt, wenn er das Massaker in Frankreich oder die Pulververschwörung in England gekannt hätte? Er wäre noch sieben Mal mehr zum Epikuräer und Atheisten geworden, als er es ohnehin schon war. Denn das weltliche Schwert darf in den Belangen der Religion nur mit großer Umsicht gezogen werden, und es ist eine Ungeheuerlichkeit, es in die Hände des einfachen Volkes zu legen. Das sollte den Wiedertäufern und anderen Furien überlassen werden. Es war eine große Blasphemie, als der Teufel sagte: „Ich will aufsteigen und wie der Höchste sein“, aber es ist eine noch größere Blasphemie, Gott zu personifizieren und ihn sagen zu lassen: „Ich will herabsteigen und wie der Fürst der Finsternis sein“. Was wäre es schließlich anderes, die Religion in die Niederungen des Fürstenmordes, des Gemetzels am Volke und des Umsturzes von Staaten und Regierungen hinabzuführen? Gewiss hieße dies, den Heiligen Geist nicht als Taube, sondern als Geier oder Rabe herabsteigen zu lassen und auf dem Schiff der christlichen Kirche die Flagge von Piraten und Mördern zu hissen. Daher ist es überaus wichtig, dass die Kirche durch Doktrinen und Dekrete, die Fürsten aber durch ihr Schwert und all ihre Gelehrsamkeit, sei sie christlich oder moralisch geprägt, alle Taten und Meinungen, die solches unterstützen, gleichsam mit ihrem Merkurstab verdammen und auf ewig zur Hölle schicken, wie dies bereits in nicht geringem Umfange geschehen ist. Gewiss sollte allen Ratschlüssen bezüglich der Religion der Rat des Apostels vorangesetzt werden: „Ira hominis non implet iustitiam Dei [Denn der Zorn eines Menschen erwirkt nicht Gerechtigkeit vor Gott].“ Es war eine bemerkenswerte und scharfsichtig ausgedrückte Beobachtung eines weisen Kirchenvaters, als er sagte: „Jene, die den Gewissenszwang verfechten und zu ihm überreden wollen, haben für gewöhnlich ein eigenes Interesse daran.“

VIERTE ABHANDLUNG:

ÜBER DIE RACHE

Die Rache ist eine Art ungezähmter Justiz, die umso gründlicher vom Gesetz ausgerottet werden sollte, je mehr die Natur des Menschen Zuflucht zu ihr nimmt. Was das vorangegangene Unrecht angeht, so verstößt es gegen das Gesetz, aber die Rache für dieses Unrecht setzt das Recht außer Kraft. Gewisslich steht derjenige, der Rache übt, auf einer Stufe mit seinem Feinde, aber wenn er verzeiht, ist er ihm überlegen, denn die Gnade ist das Vorrecht des Fürsten. Wenn ich mich recht erinnere, sagte Salomo: „Ruhm ist, über böses Tun hinwegzugehen.“ Das Vergangene ist unwiderruflich vorbei, und weise Menschen haben genug mit der Gegenwart und der Zukunft zu tun. Deshalb machen es sich diejenigen selbst schwer, die sich an den Geschehnissen der Vergangenheit abmühen. Niemand verübt ein Unrecht nur um des Unrechtes willen, sondern um sich dadurch Gewinn, Vergnügen, Ehre oder etwas Gleichartiges zu verschaffen. Warum also sollte ich auf einen Menschen wütend sein, weil er sich selbst mehr liebt als mich? Und wenn ein Mensch ein Unrecht tatsächlich nur aus bösem Willen verüben sollte, dann ist er so wie der Dorn oder der Stachel, der kratzt und sticht, weil er nicht anders kann. Die erträglichste Art der Rache ist die für ein erlittenes Unrecht, das kein Gesetz wiedergutmachen kann, doch dann soll derjenige, der Rache nimmt, darauf achten, dass sie von keinem Gesetz bestraft werden kann, denn sonst ist der Feind im Vorteil, und es steht zwei zu eins. Manche wünschen, wenn sie Rache nehmen, dass der andere weiß, aus welcher Richtung sie kommt: das sind die Wohlwollenderen. Ihr Genuss scheint nicht so sehr in der Zufügung von Schaden zu liegen, sondern darin, dass der andere seine Tat bereut. Doch gemeine und hinterlistige Feiglinge sind wie der Pfeil, der durch die Nacht fliegt. Cosimo, der Großherzog von Florenz, bediente sich eines verbitterten Sprichwortes gegen heimtückische und sorglose Freunde, deren Untaten unverzeihlich seien: „Ihr könnt lesen“, sagte er, „dass uns befohlen wird, unseren Feinden zu vergeben, aber nirgendwo könnt ihr lesen, dass uns befohlen wird, unseren Freunden zu vergeben.“ Der Geist des Hiob war hingegen milder gestimmt. „Sollen wir etwa“, sagte er, „das Gute aus den Händen Gottes entgegennehmen und nicht damit zufrieden sein, auch das Böse anzunehmen?“ Ebenso verhält es sich mit den Freunden. Es ist gewiss, dass ein Mensch, der auf Rache sinnt, seine eigenen Wunden frisch hält, die ansonsten verheilen würden, sodass es ihm wieder gut ginge. Öffentlich geübter Rache ist häufig Glück beschieden, wie zum Beispiel für den Tod Caesars, den des Pertinax, den Heinrichs des Dritten von Frankreich und anderer mehr. Doch bei persönlicher Rache verhält es sich nicht so. Vielmehr führen rachsüchtige Menschen das Leben von Hexen und Zauberern, die Schaden stiften und unselig enden.

FÜNFTE ABHANDLUNG:

ÜBER DAS UNGLÜCK

Seneca sprach große Worte, als er (in der Art der Stoiker) sagte, „dass die guten Dinge, die sich aus Reichtum und Erfolg ergeben, erstrebenswert sind, aber die guten Dinge, die aus dem Unglück folgen, bewundernswert sind“, „bona rerum secundarum optabilia, adversarum mirabilia.“ Gewiss, wenn Wunder der Natur zu gebieten vermögen, dann ereignen sie sich zumeist im Unglück. Noch größere Worte als die vorangegangenen sprach er aus (zu groß waren sie eigentlich für einen Heiden): „Es ist wahre Größe, die Gebrechlichkeit eines Menschen und die Sicherheit eines Gottes in sich zu vereinen.“ „Vere magnum, habere fragilitatem hominis, securitatem dei.“ Dies hätte er besser in einem Dichtwerk gesagt, wo solche Erhabenheit eher am Platze ist. Die Dichter haben sich in der Tat damit beschäftigt, denn dies ist es im Grunde, was in jener seltsamen Dichtung der alten Poeten dargestellt wird, die nicht ohne Geheimnis und sogar der Geisteshaltung eines Christen angenähert zu sein scheint. Als Herkules sich daran machte, den Prometheus zu entfesseln (durch den die menschliche Natur dargestellt wird), segelte er über den weiten Ozean in einem irdenen Topf oder Krug, wodurch auf lebendige Weise die christliche Entschlossenheit beschrieben wird, in der zerbrechlichen Barke des Fleisches durch die Wellen der Welt zu segeln. Doch drücken wir es auf schlichtere Weise aus: Die Tugend des Wohlstandes ist die Mäßigung; die Tugend des Unglücks ist die Tapferkeit, welche in der Sittenlehre als die heroischere Tugend gilt. Wohlstand und Erfolg sind der Segen des Alten Testaments; Unglück ist der des Neuen Testaments, welches die höhere Weihe und die deutlichere Offenbarung der göttlichen Gnade in sich trägt. Doch auch wenn man Davids Harfe im Alten Testament lauscht, wird man genauso viele Trauerklagen wie Jubellieder hören, und der vom Heiligen Geist geführte Griffel hat sich mehr in den Beschreibungen der Heimsuchungen Hiobs als in den Glückseligkeiten Salomos abgemüht. Wohlstand ist nie frei von Ängsten und Abneigungen, und Unglück ist nie ohne Trost und Hoffnung. Bei Nadelarbeiten und Stickereien ist es angenehmer, ein lebendiges Bild auf einem tristen und feierlichen Untergrund zu haben anstatt eines dunklen und melancholischen Werkes auf einem hellen Grund. Daher lässt sich aus dem Vergnügen des Auges auf das Vergnügen des Herzens schließen. Gewiss ist die Tugend wie köstliche Düfte, die am besten riechen, wenn sie verbrannt oder gepresst werden, denn im Wohlstand und Glück offenbart sich das Laster am besten, während sich im Unglück am besten die Tugend zeigt.

SECHSTE ABHANDLUNG:

ÜBER VERSTELLUNG UND HEUCHELEI

Die Heuchelei ist bloß eine schwache Abart von Klugheit und Weisheit, denn es erfordert einen scharfen Verstand und großen Mut zu wissen, wann die Wahrheit ausgesprochen werden muss, und sie dann auch tatsächlich auszusprechen. Daher sind die schwächeren Politiker die größten Heuchler.