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Titelseite

Für Inge

Prolog

Es gibt da ein Gerät. Was man sich auch vorstellt, wird darin erscheinen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Möglichkeit, die eine Chance, alles Erdenkliche zu erschaffen. Was würden Sie wählen?«

Die Stimme des Professors hallte durch das gewaltige Theater. Er nippte an seinem Wasser und atmete bedächtig ein und aus. Angespannt ließ er den Blick über die Menge schweifen. Dies war ein großer Moment für ihn.

Das Publikum wartete schweigend ab, Hunderte von Männern und Frauen – ein Meer aus Gesichtern. Zu den Anwesenden zählten Akademiker, Presseleute und handverlesene Vertreter der Öffentlichkeit, die allesamt über seiner Frage brüteten. Auf dem Tisch neben ihm stand ein würfelförmiger Gegenstand, der ungefähr die Größe einer Mikrowelle hatte. Obwohl das Objekt von einem Tuch aus purpurfarbenem Samt verdeckt wurde, ruhten sämtliche Blicke darauf. Während er tief Luft holte, sortierte der Professor die Notizen auf dem Lesepult vor ihm, betätigte den kleinen Knopf an seinem Mikrofon, räusperte sich und ergriff erneut das Wort.

»Solch ein Gerät klingt in der Tat unmöglich …«

Seine Nerven hatten sich ein wenig beruhigt – als er den Blick senkte, war das Zittern seiner Hände kaum noch zu spüren. Nun nahm der Professor das Mikrofon aus der Halterung und schritt selbstbewusst über die Bühne zu dem abgedeckten Tisch.

»Und doch, meine Damen und Herren«, sagte er, »stehen wir, jetzt und hier, vor einem Durchbruch. Es ist mir ein großes Vergnügen, Ihnen auf dieser bescheidenen Bühne, an diesem bescheidenen Samstag, meine Erfindung zu präsentieren …« Er riss das Tuch von dem Objekt. Im Raum herrschte vollkommene Stille. Gebannt verfolgte die Menge das Geschehen …

1

Das Hotel Morgenstern gab einen imposanten Anblick ab, selbst im Regen. Über der Stadt braute sich ein Hitzegewitter zusammen. Tim saß in der ausladenden, gut erleuchteten Empfangshalle des Hotels am Fenster und beobachtete konzentriert das hektische Getümmel von Pendlern auf dem Heimweg.

Es war der erste Tag der ersten Woche der Sommerferien. Wie immer war Tim mit Zeichnen beschäftigt. Unter seinem emsigen Stift entstanden die vorbeieilenden Regenschirme aus der Vogelperspektive. Weil er ein leicht schlampiger Künstler war, glich sein Bild der verregneten Straßenszene nicht wirklich. Aber immerhin wusste er, was es darstellen sollte, und das war es doch, was zählte.

»Finger weg vom Sofa!«, kreischte Elisa, die durch die Lobby geeilt kam.

Sie preschte auf Tim zu, als wären drohende Flecken auf dem Polster ein gigantischer Notfall, der dringliches Einschreiten erforderte. Nachdem sie ihren Putzlappen mit dem Reinigungsmittel aus der Sprühflasche in ihrer Hand getränkt hatte, machte sie sich daran, an Tims Händen herumzuschrubben. Sie schnaubte verärgert, als sie die verschmierten Bleistiftspuren in seinem Gesicht entdeckte, und rubbelte mit dem Tuch über seine Wange. Der Geruch des Lappens stieg Tim in die Nase und angeekelt schnitt er eine Grimasse. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn wie irgendeinen Gegenstand reinigte. Zu Tims Entsetzen landete ein großer Tropfen Seifenlauge auf seinem Meisterwerk. Empört schlug er sein Notizbuch zu.

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du hier unten nichts zu suchen hast?!«, keifte Elisa.

»Ich hab die Leute auf der Straße gemalt.«

»Der Berater kommt jeden Moment. Und das Letzte, was er sehen will, ist, wie du von oben bis unten mit Buntstiften vollgekritzelt in der Rezeption hockst.«

»Das Letzte, was er sehen will, ist das bestimmt nicht«, murmelte Tim. Trotzdem sammelte er seine Stifte ein und stand auf.

»Und, Tim, Finger weg von den Kuchen! Die sind für die Angestellten – Donald hat eine Besprechung einberufen.«

Tim marschierte aus der Empfangshalle und stieß die breiten Eichentüren auf, die in den langen, mit einem rotgoldenen Läufer ausgelegten Flur führten. Die Augen auf den Boden zu seinen Füßen gerichtet, ließ er seiner Fantasie freien Lauf. In seiner Vorstellung war das alles andere als ein Teppich, nein, es war ein Fluss aus Lava und die Spiralen darin waren seine Trittsteine. Auf die helleren Stellen zu treten, würde einen grauenhaften Tod zur Folge haben. Also hüpfte Tim von Stein zu Stein, vorbei an den einheitlichen Türen der Zimmer im Erdgeschoss, die sich lediglich durch die aufsteigenden Zahlen aus Bronze unterschieden.

Moment, was war das? Herrliche Düfte aus dem Saal neben ihm verlangsamten seinen Schritt. Schokolade? Ohne Zweifel. Erdbeertörtchen? Ganz gewiss. Er blieb stehen. Leckere, frische und – am verlockendsten von allem – verbotene Kuchen. Wie um alles in der Welt sollte er so einer Versuchung widerstehen?

Doch halt: Tim erspähte Mary, das Zimmermädchen, das auffällige Ähnlichkeit mit einem Knödel hatte. Sie deckte sich soeben am Putz- und Wäscheschrank für ihre Runde ein. Ihr Wagen verströmte einen Hauch von Bleichmittel und frisch gewaschenen Handtüchern.

»Hallo«, sagte Tim. Zur Antwort erhielt er ein breites Lächeln.

Mary sprach nicht viel Englisch, doch es würde ausreichen, um ihn bei Elisa zu verpetzen, falls die Wahrheit über die bevorstehende Kuchenmission ans Licht kommen sollte. Daher wartete er wie eine Art Konditorei-Ninja geduldig auf seinem Stein, während glühende Lava an seinen Schuhen leckte. Mary trampelte ungerührt durch das blubbernde Magma, als existierte es nicht einmal, schob ihr Wägelchen vor sich her und verschwand um die Ecke.

Über Tim, an der Wand nahe der Decke, war eine Überwachungskamera angebracht – eine von Hunderten, die vor Kurzem im Hotel installiert worden waren. Gemächlich richtete sie ihre Linse in den Gang, erst nach links, dann nach rechts und wieder zurück. Tim geduldete sich, bis sie sich von ihm abgewandt hatte, bevor er zur Saaltür schlich.

Diese Art von Raubzug war für ihn ein recht gängiger Zeitvertreib. Wenn man wie Tim im Morgenstern wohnte, musste man sich um Unterhaltung selbst kümmern. Es war nämlich so, dass er keine wirklichen Freunde in seinem Alter hatte (seit letztem Monat war er zehn) und den Großteil seiner Zeit entweder allein oder mit Erwachsenen verbrachte. Aber das ging schon in Ordnung, da er vor langer Zeit ohnehin beschlossen hatte, dass er am liebsten für sich blieb. Papier, Stifte und die endlosen Möglichkeiten seiner Fantasie – mehr brauchte Tim nicht. Nie wäre ihm die Idee gekommen, dass ihm etwas fehlte.

Seit der Adoption vor rund drei Jahren war das Hotel Tims Zuhause. Es lag im Zentrum von Glassbridge, einer drolligen Stadt voller Geschichte – inklusive alter Häuser, schiefer Dächer, Pflasterstraßen, verrosteter Metallgeländer und Statuen von Leuten auf Pferden. Auf Touristen wirkte der Ort wie Marmelade auf Wespen, daher war das Hotel durchgehend ausgebucht und in den Straßen herrschte stets reges Treiben.

Im Saal standen sämtliche der majestätisch-roten Stühle um einen langen, gut polierten Tisch. Das Zeichenbuch unter dem Arm und die Stifte in der Hand, ging Tim weiter. Auf der gegenüberliegenden Zimmerseite standen einige kleinere Tische, auf denen jede Menge Essen angerichtet war, unter anderem Tabletts mit Schnittchen in perfekter Dreiecksform und, wie erwartet, Kuchen. Außerdem gab es die preisgekrönten Morgenstern-Schokoladen-Karamelldesserts in kleinen Glasschalen mit dem Hotellogo darauf – tragischerweise waren sie symmetrisch angeordnet. Jedes fehlende Schälchen würde sofort auffallen. Doch dann erblickte Tim einen Teller mit einem ganzen Berg aus großen Schokobrownies. Wie bei einem klebrigen Jenga-Spiel griff er nach einem der Brownies hinten in der Pyramide und zog ihn vorsichtig heraus, ohne die übrigen zu Fall zu bringen. Noch warm, fiel ihm auf. Perfekt.

Zeit, zu verschwinden. Tim machte auf dem Absatz kehrt, blieb jedoch wie angewurzelt stehen und ließ vor Schreck sein Buch fallen. Ein alter Mann in einem derben Laborkittel, unter dem er ein weißes Hemd mit Krawatte trug, versperrte ihm den Weg. Auf der Nase des Fremden prangte eine Brille mit dicken Gläsern. Ein Wissenschaftler, vermutete Tim. Das Notizbuch war offen auf den Boden gefallen und der Mann betrachtete das Regenschirmbild, während er sich bückte, um es aufzuheben.

»Tja, ja, so einen hätte ich durchaus gebrauchen können«, sagte er, als er Tim das Skizzenbuch reichte.

Sein Kittel war nass und auf seinen Schultern glitzerten Regentropfen. Büschel aus grauen Locken standen ihm seitlich vom Kopf ab und seine Brille mit dem Goldrand hatte diese halbmondförmigen Lupeneinsätze, mit denen man besser lesen konnte.

Tim nahm das Buch mit der freien Hand entgegen, ohne einen Laut von sich zu geben.

»Das sind doch Regenschirme, oder?«, vergewisserte sich der Fremde. »In deiner Zeichnung?«

»Ja«, antwortete Tim.

Da er selten Dinge aus dem wahren Leben malte, überraschte es ihn, dass man sein Bild tatsächlich erkennen konnte. Das einzige andere echte Ding, das er hin und wieder zu Papier brachte, war sein absolutes Lieblingstier: ein Zwergseidenäffchen. Ungefähr von der Größe einer Maus, sind sie so winzig, dass sie sich um einen menschlichen Finger wickeln können. Doch für gewöhnlich schuf Tim seine besten Werke, wenn er aus den Tiefen seiner Vorstellungskraft schöpfte; die Realität bot nur wenig Inspiration. Tim konnte ferne Länder und Tiere heraufbeschwören, die – soweit er wusste – nie existiert hatten. Zu seinen jüngsten Schöpfungen gehörten ein fesselndes Fledermausdelfinscherenschwein und eine recht geniale Interpretation von »Bob«, der mexikanischen Kuhschnecke, in Kreide und Kohle. Zwischen den Buchdeckeln seines Lieblingsskizzenbuchs pulsierte eine ganze fantastische Welt, endlos und voller Leben.

»Hmmm, ja … Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«, flüsterte der Mann und hatte sofort Tims Aufmerksamkeit. Er spähte durch seine dicken Brillengläser. »Ich bin hier, um ein Stück Kuchen zu stibitzen. In der Tat.«

»Ich auch«, gab Tim zu und zeigte dem Fremden seine Beute, während er sich darüber freute, einen Komplizen zu haben.

»Ich habe dich nicht gesehen und du hast mich nicht gesehen, abgemacht? Versprochen?«

»Versprochen.« Bevor er sich zum Gehen wandte, fragte sich Tim, was jemand, der offensichtlich ein Professor war, hier zu suchen hatte. »Sagen Sie, warum sind Sie eigentlich im Morgenstern?«

»Tja …« Der Mann schüttelte den Kopf. »Sagen wir einfach, das ist streng geheim, wie unser kleiner Raub hier …«

2

Tims Zimmer, früher einmal Zimmer Nummer zwanzig, hatte genau dieselbe Aufteilung wie alle Gästesuiten im Gebäude, nur dass es »bewohnter« aussah, also weit mehr Unordnung zu bieten hatte. Im Schneidersitz auf seinem Bett legte er letzte Hand an seine Zeichnung und verwandelte Elisas Wasserklecks in eine Pfütze auf dem Gehsteig.

Da klingelte das Telefon auf seinem Nachttisch. Es war Elisa, die ihn zum Abendessen rief. Sie kontaktierte ihn oft über die interne Rufanlage des Hotels, wodurch Tim sich nur noch mehr wie ein Gast vorkam und nicht wie ihr Sohn. Elisa und Chris Green, die Betreiber des Morgenstern, hatten ihn, eine oder zwei Wochen bevor sie eingezogen waren, adoptiert. Damals war für sie ein Traum in Erfüllung gegangen, weil Elisa schon seit ihrer Kindheit ein Hotel hatte führen wollen – was Tim komisch vorkam, denn hier schien sie nie glücklich zu sein. Ganz im Gegenteil sogar. Andauernd war sie angespannt und verbrachte ihre Zeit hauptsächlich damit, sich um Geld zu sorgen, sich darüber zu beklagen, wie schwer alles war, oder darüber zu schimpfen, wie anstrengend sie es fand, sich mit Tims Nonsens herumzuschlagen – wobei »Nonsens« so ziemlich alles einschloss, was Tim sagte oder tat. Allerdings war Tim das ganz recht, da er sowieso viel lieber alleine in irgendeiner Ecke hockte, als gezwungenermaßen Zeit mit Elisa zu verbringen.

Was Chris anging … Nun, Tim mochte ihn sehr, aber er hatte kaum etwas von ihm, da Chris viel geschäftlich unterwegs war. Er arbeitete für irgendeine Internetfirma und flog regelmäßig kreuz und quer durch die Welt, um zu kaufen, zu verkaufen oder … irgendwelchen Kram zu besprechen. Doch wenn er da war, fragte er Tim jedes Mal, was er so trieb, und war immer an der Antwort interessiert. Tim fand es seltsam, dass Chris der perfekte Vater wäre, wäre er nur öfter zu Hause, und Elisa die perfekte Mutter, wäre sie nur öfter weg.

Tim war klar, dass die Adoption eine dauerhafte Angelegenheit war und Papiere unterzeichnet worden waren, die Elisa und Chris in jeder Hinsicht zu seinen gesetzlichen Vormunden machten. Trotzdem wurde er einfach das Gefühl nicht los, dass die beiden nicht für immer seine Eltern sein würden. Früher oder später, so vermutete er, würde er wieder in einer der zahllosen Einrichtungen enden, in denen er sein Leben vor der Adoption verbracht hatte.

Mehr als alles andere jedoch fand Tim das Hotel fürchterlich langweilig, trotz des Flurs aus Lava. Selbst ein Bruder oder eine Schwester hätte die Lage entscheidend verbessern können.

»Ich bin viel zu beschäftigt für Kinder«, entgegnete Elisa jedes Mal seufzend, wenn er diesen Vorschlag unterbreitete, und schob ein schuldbewusstes Stirnrunzeln hinterher, da Tim selbstverständlich am besten wusste, wie recht sie damit hatte.

Chris und Elisa bewohnten die ehemals größte Suite des Hotels, die zu einer Wohnung umgebaut worden war. Hier kamen sie als »Familie« zusammen, um gemeinsam in schweigsamer und für gewöhnlich verkrampfter Atmosphäre zu essen.

Dieser Abend stellte keine Ausnahme dar. Elisa jammerte eine Weile, weil der Chefkoch des Hotels gekündigt hatte, bevor sie sich darüber beschwerte, dass alles so teuer wurde, insbesondere die Überwachungskameras, die sie hatte anbringen lassen, und die zusätzlichen Kosten des Beraters, den sie engagiert hatte. Außerdem erzählte sie Tim, dass in Zimmer Nummer neunzehn – das seinem Zimmer gegenüberlag – ein »wichtiger Gast« übernachtete. Er sollte sich also zusammenreißen und benehmen.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte Chris gekocht, was bedeutete, dass das Essen im besten Fall fragwürdig war. Die Würste erinnerten an Kohle und das Püree war … na ja, Tim konnte nicht mal mit Sicherheit sagen, dass es aus Kartoffeln bestand. Ihm war es viel lieber, wenn Elisa kochte, auch wenn das für noch angespanntere Stimmung sorgte.

Nach dem Abendessen zog sich Tim in sein Zimmer zurück und just in dem Moment, als er die Tür hinter sich schloss, hörte er draußen im Gang Gepolter. Er schnappte sich seinen Drehstuhl, rollte ihn über den Teppich, kniete sich darauf und spähte durchs Guckloch. Vor Zimmer neunzehn entdeckte er einen Mann, der mit einer großen Pappschachtel beladen war – es war der Wissenschaftler, sein Kuchenklau-Kumpel, und offensichtlich der »wichtige« Gast, den Elisa erwähnt hatte. Tim war fasziniert. Der alte Mann fummelte an dem Schloss herum, während er mit der anderen Hand die riesige Kiste balancierte, die scheinbar viel zu schwer für ihn war. Durch den Spion wirkte das Ganze umso komischer – verzerrt und gedehnt.

»Komm schon, du rutschiger kleiner Wackel…«, murmelte der Mann unverständlich. Schon purzelte ihm der Schlüssel aus der Hand.

Tim kletterte von seinem Ausguck und öffnete seine Tür.

»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«, bot er an.

Langsam drehte der Mann sich um und reckte den Hals. Er rang sich ein Lächeln ab, obwohl man in seinem Gesicht deutlich die Anstrengung ablesen konnte, die seine Fracht ihn kostete.

»Ach, hallo. Gerne, wenn du mir den Schlüssel aufheben könntest? Da, auf dem Boden.« Er neigte den Kopf in besagte Richtung und zwinkerte dabei wie verrückt. Tim bückte sich und las den Schlüssel auf.

»Ah, wunderbar«, fuhr der Mann fort. »Wenn du ihn mir jetzt in den Mund werfen könntest, dann kann ich die Tür womöglich mit den Zähnen aufsperren …« Der Wissenschaftler beugte sich vor und öffnete erwartungsvoll die Lippen.

»Ähm, ich könnte … die Tür einfach für Sie aufsperren?«

»Hmmmm, nein … warte … Ja! Viel bessere Idee. Machen wir es so.«

Nachdem Tim ihn ins Zimmer gelassen hatte, stellte der Mann den Pappkarton vorsichtig auf den Boden und richtete sich ächzend auf. »Oh, oh, schon besser … Schön, den Rücken wieder durchstrecken zu können. Du bist das, nicht wahr? Tatsächlich.« Er linste mit zusammengekniffenen Augen durch seine Brillengläser.

»Ich?«

»Du, ja, ja, in der Tat, der Junge. Ich hoffe, du hast dein Versprechen gehalten und niemandem etwas verraten …«

»Hab ich nicht. Obwohl Elisa in meinem Gesicht Schokolade entdeckt hat – ich bin also aufgeflogen.« Er hatte sich beim Abendessen ein höllisches Donnerwetter eingehandelt. Elisa hatte Tim an den Kopf geworfen, er täte nie, was man ihm sagte, und würde überhaupt nie richtig zuhören … oder so was in der Art.

»Gewiss, ja, natürlich … Nein, warte … Elisa?« Sein neuer Zimmernachbar runzelte die Stirn.

»Sie ist die Besitzerin, die Direktorin«, erklärte Tim.

»Die Direktorin der Brownies? Was für ein schöner Beruf.«

»Nein.« Tim lachte. »Sie ist die Hoteldirektorin. Meine Adoptivmutter – sie kümmert sich um mich. Na ja, sie sorgt dafür, dass ich nicht verhungere, und hat mir ein Zimmer gegeben, in dem ich schlafen kann …«

»Oh ja, ja. Ich kenne Elisa. Und ich bin froh, dass du dein Versprechen gehalten hast. Ein Versprechen zwischen Freunden – nein, fürwahr, das darf man nicht brechen! Ich bin George Eisenstein.« Er reckte Tim den Arm entgegen.

»Timothy Hart.«

Sie gaben sich die Hand.

»Elisa meint, dass ich Sie nicht stören darf«, fügte Tim hinzu und wandte sich zum Gehen.

»Aber nein, nicht doch.« George lächelte. »Das hier ist mein Zimmer, für das ich keinen geringen Betrag gezahlt habe. Wahrhaftig nicht. Es ist allein meine Sache, wer hier kommt und geht. Außerdem, nun ja, hast du mir mit meiner Schachtel geholfen.«

»Sie hat gesagt, ich soll Ihnen nicht auf den Wecker gehen.«

»Zweifellos hat sie dir auch gesagt, dass du keinen Kuchen stehlen sollst. Du gehst mir nicht auf den Wecker, junger Mann. Nein, nein.« Eisenstein setzte sich aufs Bett, nahm die Brille ab und reinigte sie mit einem kleinen gelben viereckigen Tuch.

Das Einzige, was Tims Fantasie noch übertraf, war seine Neugier. »Und … was ist in der Schachtel?«, wollte er wissen.

Eisenstein warf einen Blick über die Schulter. »Meine Arbeit. Sie ist äußerst wichtig.«

Die ungenaue Antwort machte Tim nur aufgeregter. »Und was genau heißt das?«

»Geheim.« Der Professor lächelte verschwörerisch. »Ohnehin fürchte ich, dass es nichts großartig Interessantes ist. Meine Arbeit ist … noch nicht abgeschlossen. Und jetzt …«, Eisenstein zog eine kleine silberne Uhr aus seiner Brusttasche, um zu sehen, wie spät es war, »… muss ich los. Ich habe zu tun.«

»Okay.«

Eisenstein erhob sich. »Es war mir ein Vergnügen, dich kennenzulernen«, sagte er.

Auf dem Weg nach draußen linste Tim ein letztes Mal sehnsüchtig zu der Kiste. Sein Wissensdurst war schon immer seine größte Schwäche gewesen, doch große geheimnisvolle Schachteln, in denen Geheimnisse verborgen lagen? Das war reinste Folter.

Zurück in seinem Zimmer, kniete Tim sich erneut auf den Drehstuhl und sah durch den Spion zu, wie der Professor davonging. Dieser Mann war wirklich faszinierend, beschloss Tim. Ganz und gar ungewöhnlich und eindeutig Nachforschungen wert …

Moment mal.

Aus Zimmer neunzehn fiel ein Strahl Tageslicht in den Gang. Die Tür stand offen, nur einen winzigen Spaltbreit, aber immerhin. Professor Eisenstein hatte wohl angenommen, das Schloss sei mit dem ersten Klicken eingerastet. Aber tatsächlich war es so, dass diese alten Türen einen ordentlichen Ruck brauchten, um vollständig zu schließen.

Interessant …

Tim verließ noch einmal sein Zimmer. Alleine stand er im Flur und kaute auf seinem Daumennagel herum, während er sich diese Versuchung durch den Kopf gehen ließ.

Könnte er?

Nein, das ging nicht. Es wäre nicht richtig.

Aber … vielleicht … vielleicht nur ein kurzer Blick. Was könnte schlimmstenfalls schon passieren?

Also schob er die Tür des Professors ein wenig auf und spähte verstohlen in den Raum. Der Pappkarton lag auf dem Bett, und zwar auf der Seite. Er war leer.

Kurz überlegte Tim, ob er umkehren sollte. Wenn Professor Eisenstein zurückkam und ihn erwischte, wäre er bestimmt wütend – womöglich würde er ihn sogar bei Elisa verpetzen. Nur ein kleines Stückchen weiter …

Auf dem Boden entdeckte Tim verschiedene Kabel. Rote, weiße, grüne, blaue und gestreifte, alle verheddert und mit Gummibändern zusammengeschnürt. Sein Blick folgte den Leitungen zu einem großen silbernen Gerät, das auf der Holzkommode neben dem Bett stand. Es sah aus wie eine Mikrowelle, nur … anders. Mehrere Schaltkreise waren offen gelegt und auf der Oberseite präsentierte sich ein Durcheinander an kompliziert wirkenden Knöpfen und Schiebereglern. Was es auch war, es hatte den Anschein, als wäre es selbst gebaut und noch nicht fertig. Da fiel Tim eine kleine Klappe am Gehäuse ins Auge. Er schob einen Metallriegel, wie man ihn an manchen Toiletten fand, beiseite und hob den Deckel an. Die Maschine war hohl, leer. Wozu ist dieses Ding gut?, fragte sich Tim verdutzt.

Zu seinen Füßen ruhte etwas auf dem Teppich, das ein höchst ungewöhnlicher Hut zu sein schien, der mit dem Gerät verbunden war. Bevor Tim sichs versah, hatte der Helm seinen Weg auf Tims Kopf gefunden.

Er fühlte sich schwer und unbequem an, während Tim sich daranmachte, die Maschine vor sich näher zu untersuchen. Rechts oben befand sich ein auffälliger Knopf. Zwar gab es keinerlei Beschriftung, doch war er groß, kreisförmig und grün – Grün heißt normalerweise »An«, und Kreise … na ja, die sind hübsch rund.

Schon war seine Hand wie von selbst vorgeschnellt und hatte darauf gedrückt.

Upsi.

Als er den Arm zurückzog, ertönte ein leises Piepsen. Tim sah gebannt zu, wie oben auf dem Gerät ein kleines blaues Licht anging. Sonst jedoch geschah nichts.

Er seufzte, enttäuscht, so weit gekommen zu sein und noch immer keinen Schimmer zu haben, was dieses Ding darstellen sollte. Die Uhr an der Wand tickte sachte. Irgendetwas steckte zwischen Tims Zähnen und er fuhr mit der Zunge darüber, während er sich an Chris’ neuesten Kochversuch erinnerte. Angewidert verzog er das Gesicht, als er an diese grässlichen, viel zu knusprigen, schwarz verkohlten Würste dachte … Die waren einfach …

Mit einem zweiten, lauteren Piepsen fing die Maschine auf der Kommode an zu blinken und zu vibrieren. Erschrocken trat Tim einen Schritt zurück. Das Gerät ächzte, wackelte und gab ein ganzes Orchester an Tönen von sich. Schnell riss Tim sich das Hutding vom Kopf und warf es zu Boden, dann wich er sicherheitshalber noch etwas weiter zurück. Die Maschine, die auf dem Holz herumdröhnte, -tanzte und -schepperte, schien auf einmal lebendig. Gut zwanzig Sekunden lang machte sie lautstark … irgendetwas.

Schließlich kam sie stotternd und summend zur Ruhe, wie ein Staubsauger, dem man den Saft abgedreht hatte. Sämtliche Lichter im Gehäuse erloschen, abgesehen von der kleinen blauen Glühbirne, die nach wie vor blinkte.

Nachdem Tim sicher war, dass der komische Würfel mit seiner Arbeit auch wirklich fertig war, trat er wieder näher. Friedlich saß die Maschine an ihrem Platz, während aus einem Belüftungsschlitz an der Rückseite kaum merklich etwas Rauch stieg. Ein schwacher Geruch lag in der Luft, wie vom Gebläse eines Computers, ein staubiger elektronischer Plastikdunst.

Tim legte die Hand auf die kleine Klappe an der Oberseite, spürte die ausströmende Wärme und machte sie langsam a–

»TIMOTHY HART!«, brüllte eine Stimme.

Erschrocken wirbelte er herum und erblickte Elisa auf der Türschwelle.

Zurück in seinem Zimmer, ging das Geschrei noch eine ganze Weile weiter. Tim hatte längst auf Durchzug geschaltet.

»Eine Woche lang kein Zeichnen!«, verkündete Elisa schließlich – damit hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. »Eine andere Strafe wirkt bei dir ja nicht, Tim. Ich kann dir nicht mal Hausarrest geben – du hast ja keine Freunde.« Sie richtete den Blick zu Boden und wandte sich ab. Tim vermutete, dass sie ihre Worte noch im selben Moment bereute, was sie allerdings nicht davon abhielt, seine Zeichensachen einzusammeln. Sogar das Papier aus dem Drucker riss sie an sich. Jetzt hatte sie endgültig den Verstand verloren.

»Elisa, mir würde ja im Traum nicht einfallen, deine Erziehungsmethoden zu kritisieren«, setzte er vorsichtig an. »Ich verstehe voll und ganz, warum du das hier machst. Ich kapier’s echt. Aber eigentlich soll man die Kreativität von Kindern fördern. Mir das Malen zu verbieten, ist wahrscheinlich keine so gute Idee.«

Eigentlich machte es ihm nicht halb so viel aus, wie sie vermutlich annahm – für Notfälle wie diesen hatte er im ganzen Haus Stifte und Papier versteckt.

»Natürlich hältst du es für eine schlechte Idee, das ist ja der Sinn einer Bestrafung.«

Sie packte seine letzten Utensilien zusammen, warf sie in einen Müllsack und öffnete die Tür. Auf der anderen Seite des Flurs entdeckte Tim den Professor, der eben an seinem Zimmer ankam.

»Ah«, sagte Elisa. »Mr Eisenstein, Sie kommen wie gerufen. Tim, komm her und entschuldige dich, und zwar ein bisschen plötzlich!«

Nach einigen erfolglosen Ansätzen erklärte Tim kleinlaut die Angelegenheit.

»Hmmm.« Eisenstein dachte nach. »Entschuldigung angenommen.«

»Und jetzt nach oben mit dir«, bestimmte Elisa. »Heute darfst du den gesamten Abwasch erledigen.«

Um bei der Wahrheit zu bleiben, tat es Tim wirklich leid. Nicht weil er gegen die Regeln verstoßen hatte, sondern weil er das Vertrauen des Professors missbraucht hatte. Allerdings würde das schon bald keine Rolle mehr spielen, denn – auch wenn Tim nichts davon ahnte – in Zimmer neunzehn wartete etwas auf Eisenstein, das die Welt für immer verändern würde.

3

Als Teil seiner Strafe für das unerlaubte Betreten von Eisensteins Zimmer musste Tim in Chris’ und Elisas Wohnung eine wahnwitzige Anzahl von Tellern, Töpfen und Pfannen spülen und trocknen. Als er fertig war, verzog er sich schnurstracks in sein Zimmer, wo er auf dem Teppich einen kleinen Zettel fand, den jemand unter der Tür durchgeschoben hatte.

Er hob ihn auf, faltete ihn auseinander und las:

Tim, wenn du diese Nachricht liest, komm zu mir. George Eisenstein.

Die Botschaft war mit der prächtigsten Unterschrift unterzeichnet, die Tim je gesehen hatte. Sie bedeckte einen großen Teil des kleinen linierten Papiers. Das »G« von George war mit wilden Spiralen versehen und zog sich schwungvoll über die Spitze des »E« von Eisenstein.

Während er sich das Hirn zermarterte und überlegte, worum es wohl gehen mochte, klopfte Tim an der dicken Holztür von Zimmer neunzehn.

Der Professor ließ ihn ein. »Setz dich, Tim«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. Er selbst nahm auf der Bettkante Platz.

Es war schwierig, seine Laune einzuschätzen – besonders wütend wirkte er nicht gerade, doch als Tim sich niederließ, überkam ihn trotzdem der Drang, sich noch einmal zu entschuldigen.

»Es tut mir wirklich, wirklich leid«, fing er an. »Ich hab nur gesehen, dass die Tür offen stand und –«

»Tim, Tim, ist schon gut. Das macht mir nichts aus. An deiner Stelle hätte ich das Gleiche getan. Ehrlich. Neugier ist … nun … etwas Gutes – lass dir bloß von niemandem das Gegenteil einreden.«

»Okay.« Tim war verwirrt.

»Aber, Aber-Rhabarber, aber, aber, aber … lass mich dich etwas fragen – und es ist wichtig, dass du ehrlich bist … Was hast du dir dabei gedacht, als du auf den Knopf gedrückt hast?« Der Wissenschaftler zeigte auf das Gerät. Bisher hatte Tim sich besonders große Mühe gegeben, es nicht anzusehen.

»Es tut mir so leid. Ich weiß selber nicht, was da über mich gekommen ist.« Tims Stimme war zittrig; er mochte es nicht, ausgeschimpft zu werden (außer Elisa tat es – auf eine verdrehte Art und Weise genoss er das sogar).

»Nein, nein. Tim. Nein. Du hast mich falsch verstanden. Ich will wissen, woran du gedacht hast. Sag mir – und das meine ich wortwörtlich –, was hast du in dem Moment gedacht, als du auf den Knopf gedrückt hast? Du hast dabei doch den Leser getragen, richtig?«

»Den Leser?«, wiederholte Tim.

»Den Leser. Das Hutdingens. Das … Ding … das man auf den Kopf setzt.«

»Ich …« Tim blickte beschämt zu Boden.

»Ja?« Eisenstein beugte sich wissbegierig vor.

»Ich … ich habe gedacht … Ich weiß nicht …« Tim durchforstete sein Gedächtnis und schloss die Augen, um sich zu erinnern. »Ich habe gedacht, dass ich ganz schön dämlich aussehe. Ich hab mich im Spiegel gesehen. Der Hut … Helm … das Leserding war viel zu groß für mich. Ich hatte Angst, dass Elisa reinkommen könnte. Ich hatte Angst, dass Sie mich erwischen könnten. Aber dann habe ich auf den Knopf gedrückt und gewartet und lange ist gar nichts passiert … Ich dachte an … an … Ich habe auf die Uhr geschaut … dann hab ich ein paar Essensreste aus meinen Zähnen gepult.«

»Ja?!« Aufgekratzt beugte Eisenstein sich noch weiter vor. »Und woran hast du dabei gedacht?!«

»Es war, ähm … ich habe ans Abendessen gedacht. Daran, was Chris für ein schlechter Koch ist.«

»JA! Warum? Was ist so schlecht an seinen Kochkünsten?«

Tim schlug die Augen auf. »Alles. Also, verstehen Sie mich nicht falsch. Chris ist ein super Typ, aber sein Essen grenzt schon an ein Verbrechen. Wenn das Sozialamt vorbeikäme, würde ich es verstecken. Jedes Mal macht er diese ekligen, schrecklichen, harten, vertrockneten, schwarzen, total verbrannten –«

»Lass mich raten«, wisperte Eisenstein und hob eine Augenbraue. »Würste?«

»Ja«, antwortete Tim verblüfft.

Mit strahlender Miene erhob sich der Professor und klatschte in die Hände. Dann packte er Tim an den Schultern.

»Das ist großartig!«, schrie er und schüttelte ihn. »In der Tat! Weißt du, was das bedeutet?«

»Nein, keinen Schimmer.«

Eisenstein schäumte über vor Begeisterung. Wie überdreht tigerte er auf und ab und murmelte dabei vor sich hin. Schließlich deutete er zur Decke, blieb stehen und wandte sich an Tim.

»Du hast keine Ahnung, wie unglaublich du bist, oder?«

»Ich hatte schon immer so eine Vermutung.« Tim war nicht sicher, wovon der Professor da faselte, trotzdem lächelte er.

»Was du getan hast, ist …« Eisenstein blickte sich im Zimmer um, auf der Suche nach den richtigen Worten. »… brillant!« Er ballte die Fäuste. »Du bist ein Genie, mein Junge. Ein Genie. Obwohl es ein Geheimnis bleiben muss. Fürs Erste. Doch später, wenn alles dokumentiert und abgeschlossen ist … Nach dem Patent und allen Studien … Du hast mein Wort. Wenn alles vollendet ist. Das Potenzial! Die Möglichkeiten!«

»Professor Eisenstein«, sagte Tim ruhig. »Was genau ist denn so aufregend?«

»Ich zeige es dir!«

Tims Blick fiel auf eine Schuhschachtel, die neben dem geöffneten Gerät stand und aus der Eisenstein nun etwas holte, bevor er den Pappkarton übermütig quer durchs Zimmer schleuderte. Eilig kam er zu Tim gerannt, eine Brotzeittüte in der Hand.

»Streck die Hand aus«, wies er ihn an.