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Roland Ballwieser

Petra Rinkes

 

Kunigundentod

 

Kriminalroman

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage April 2011)

 

© 2011 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Johanna Cattus-Reif

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag, unter Verwendung eines Fotos von Peter Kunz

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-461-1

 

Inhalt

Kunigundentod

 

Die Autoren

 

 

Kunigundentod

 

Grün sollte es sein.

Aber rot, immer roter wurde es.

Ein dunkles, dickes Rot.

Sie war schuld.

Besudelte das Gras mit diesem ekligen Rot.

Aber nicht die Bühne.

Die war sauber geblieben.

Das freute ihn.

Brav hatte sie einen Schritt nach vorne gemacht.

Guter Abgang.

Bis auf das Rot.

 

Verdient hatte sie es.

Sie hatten es alle verdient.

Dachten sie seien Königinnen.

Aber ein Kleid macht noch keine Königin.

Am Boden liegen und mit leeren Augen den Himmel anstarren, das war richtig.

Eine weniger.

Gut!

Er versetzte ihr einen kräftigen Tritt mit dem Fuß, so dass sie unter die Bühne rollte.

Dann verließ er den Berg.

 

***

Alfred Müller war zufrieden. Es hatte sich gelohnt, so früh auf den Kunigundenberg zu kommen. Zwar tat sein kaputtes Bein weh, aber das nahm er in Kauf.

Die Ausbeute war nämlich beachtlich. Leider hatte er keine zweite Plastiktüte eingesteckt, aber zur Not war in den Jackentaschen noch etwas Platz. Und da vorne sah er eine Einliterdose unter dem Bühnenaufbau liegen. 25 Cent war die wert.

Um diese Tageszeit kam ihm keiner in die Quere. Die schliefen alle ihren Rausch aus. Später würden sie ihn um das Pfandgeld beneiden. Nicht sein Problem. Morgenstund’ hat Gold im Mund. Er lachte in sich hinein und musste prompt husten. Kalt war’s, auch jetzt im Juni. Er zog den Gürtel fester um seinen alten Parka. Der Reißverschluss war schon lange kaputt.

Lauf an der Pegnitz lag verschlafen im Morgendunst. Aus den Hecken rund um den Festplatz kam lautes Vogelgezwitscher. In der nahen Kleingartenanlage gurrten ein paar müde Tauben.

Noch verirrte sich keiner der braven Bürger hierher. Frühestens in einer Stunde würden Leute kommen und an den Aufbauten für das Kunigundenfest arbeiten. Vielleicht probten am Vormittag Schulklassen für ihren Auftritt. Bis dahin würde er längst fertig sein mit seiner Arbeit.

Zwei Wochen blieben dem Kunigundenberg noch, dann war für ein paar Tage Ausnahmezustand. Festspiele, Bratwurstbuden und Kinderkarussell. Nach dem Feuerwerk am Kirchweihdienstag würde der Berg wieder in einen Dornröschenschlaf fallen.

Wenn es nach Alfred Müller ging, musste der Kunigundenbiergarten nicht wieder eröffnen. Nachdem der letzte Pächter aufgegeben hatte, fühlten sich die Jugendlichen ungestört, und sie ließen ihre leeren Flaschen und Dosen zurück.

Ihm war’s recht so.

Schluss für heute.

Er angelte mit seinem Spazierstock nach der Bierdose, die ein Stück unter den halb fertigen Bühnenaufbau gerollt war. Mit dem Knauf bugsierte er die Dose langsam so weit, dass er sie zu fassen bekam. Ein bisschen viel Mühe für 25 Cent. Aber er brachte es nie über sich, Geld einfach so liegen zu lassen. Er würde noch nachschauen, ob unter der Bühne weitere Schätze lagen. Obwohl er wusste, wie viel Kraft ihn das Aufstehen kostete. Wenn er dann etwas fand, hatte sich der Aufwand gelohnt.

Da war aber keine Dose mehr, auch keine Flasche. Er blickte geradewegs in die toten Augen der Kunigunde.

 

***

»Wo ist das verdammte Ding!«

Stefan Simpel durchwühlte zum zweiten Mal den Haufen mit den schmutzigen Sportsachen. Er musste sie dringend in die Wäscherei geben. In dem engen Hotelzimmer machte sich langsam ein unangenehmer Mief breit.

»Endlich!«

Er zog den Pulsmesser aus einer schwarzen Asics-Sportsocke. Weiß der Teufel, wie der dort hineingeraten war!

Es gelang ihm nicht, in dem kleinen Zimmer auch nur ein Mindestmaß an Ordnung aufrechtzuerhalten. Dabei hasste er nichts mehr als Unordnung. Aber eine Zeit lang musste er es hier noch aushalten. Seine Wohnung wurde einfach nicht fertig. Der Vermieter vertröstete ihn jeden Tag aufs Neue. Mal hatte der Installateur die Anschlüsse für den Durchlauferhitzer in der Küche noch nicht fertig, mal war der Elektriker nicht zum vereinbarten Termin erschienen. Und so hauste er seit zwei Wochen in diesem Zimmer. Seit er den Dienst als Kommissar bei der Kriminalpolizei Schwabach angetreten hatte.

Er schnallte den Pulsmesser um das linke Handgelenk und öffnete die Tür. Da klingelte das Handy. Sein neuer Chef.

»Simpel.«

»Hauptkommissar Hertle hier. Sie hören sich aber munter an für sechs Uhr morgens.«

»Ich wollte gerade zum Joggen, Herr Hauptkommissar.«

Er blickte auf die Uhr.

»Außerdem ist es schon fast halb sieben.«

»Trotzdem löblich, Herr Kollege. Mehr als zwei Stunden Fußball beim wöchentlichen Dienstsport bringe ich nicht mehr zustande. Allerdings muss ich nicht mehr auf der Straße irgendwelchen Taschendieben hinterherjagen.«

Hertle lachte, und Simpel lachte höflich mit.

»Spaß bei Seite. Wir haben eine Leiche. Höchstwahrscheinlich Mord. In Lauf an der Pegnitz.«

»Und ich soll mitkommen?«

Simpel bekam rote Flecken im Gesicht. Zwei Wochen in der neuen Dienststelle und schon bei einer Mordermittlung dabei.

»Nein, ehrlich gesagt, Sie sollen die Ermittlung leiten. Riedle, Steffel und Bauer haben sich mit Darmgrippe krank gemeldet und Sie sind meine letzte Hoffnung. Erfahrung in Mordfällen haben Sie ja schon gesammelt.«

»Der Pfarrgartenmord in Regensburg? Das war reiner Zufall. Also …«

Simpel kam ins Stottern.

»… dass ich ihn so schnell lösen konnte, war Zufall, meine ich. Die Ermittlungen hätten früher oder später sowieso zum Täter geführt.«

»Dann hoffen wir mal, dass es diesmal auch so schnell geht.«

»Wer kommt noch mit? Hauptmeister Gericke?«

Hertle räusperte sich.

»Gericke ist unterwegs, um Sie abzuholen und nach Lauf zu bringen. Dann muss er aber sofort weiter zum Gericht. Ehrlich gesagt, ich kann Ihnen nicht einmal versprechen, dass man Sie wieder abholt. Die Darmgrippe hat uns voll erwischt.«

Simpel überlegte nicht lange. Ihm wurde zwar ein wenig flau im Magen, aber so eine Gelegenheit würde so schnell nicht wiederkommen.

»In Ordnung, Herr Hauptkommissar. Bestimmt können die Laufer Kollegen mir jemanden zur Seite stellen. Ich brauche zumindest einen, der die örtlichen Verhältnisse kennt.«

Hertle war erleichtert.

»Ich wusste doch, dass ich mich in Ihnen nicht täusche. Ich werde mich sofort mit Hauptkommissar Beitz, dem Chef der Laufer Schutzpolizei, in Verbindung setzen. Sie sollen so viel Unterstützung wie möglich bekommen. Ich bin froh, dass wir den Fall nicht an den Kriminaldauerdienst in Nürnberg geben müssen. Sie haben was gut bei mir.«

»Danke, Herr Hauptkommissar, ich werde mein Bestes geben und hoffentlich …«

»Schon gut. Melden Sie sich, wenn Sie Hilfe brauchen. Zur Not komme ich eben selbst, nur die Verfolgungsjagden müssten Sie übernehmen. Viel Glück, Herr Kollege!«

Simpel schob sein Handy in die Tasche und atmete tief durch. Hoffentlich hatte er sich da nicht übernommen. Sein erster Fall und gleich ein Mord. Wo lag eigentlich dieses Lauf an der Pegnitz? Egal. Gericke würde den Weg schon wissen. Bevor Simpel überlegen konnte, was er alles mitnehmen musste, klopfte es an der Tür.

Und so begann für den Oberpfälzer Jungkommissar sein erster Fall in Franken.

Im Jogginganzug, mit der Pulsuhr am Handgelenk.

 

***

»Unsre Kunigunde!«

»A Mord. Dou bei uns!«

»Des woor bestimmt anner vo der Schdadd! Bei uns gibbds kanne Mödda!«

»Kannst du wos seeng, Schosch?«

 

»Verzeihung! Polizei, lassen Sie mich bitte durch!«

Stefan Simpel konnte sich nur mit Mühe einen Weg durch die Schaulustigen bahnen. Trotz der frühen Stunde hatte sich schon eine beachtliche Menschenmenge eingefunden und verstopfte den Zugang zur abgesperrten Festwiese. Sein Jogginganzug half dabei auch nicht gerade weiter. Einen Kommissar in Lederjacke oder Trenchcoat, schlecht rasiert, möglichst unausgeschlafen und verkatert, so einen erwarteten die Leute. Auch der uniformierte Beamte, der den Zugang bewachte, musterte ihn skeptisch. Simpel zückte seinen Dienstausweis.

»Stefan Simpel, Kripo Schwabach. Wer hat hier das Sagen?«

Er überging das Grinsen des Beamten und lief zu der kleinen Bühne, die sich an der Stirnseite des Festplatzes befand. Männer in weißen Overalls stellten gelbe Schildchen mit Nummern auf und verpackten Gegenstände in sorgfältig beschriftete Plastiktüten. Bei der Menge an Zigarettenkippen, die herumlagen, eine echte Sisyphusarbeit. Simpel stellte sich dem Leiter der Spurensicherung vor. Auch der konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Seit seiner Schulzeit immer die gleiche Reaktion auf seinen Namen. Daran hatte er sich gewöhnt.

»Hier bitte. Die tote Kunigunde.«

Der Kollege führte Simpel zur Bühne. Ein Fotograf lichtete gerade die Leiche aus allen möglichen Blickwinkeln ab.

»Kaiserin Kunigunde, Hauptdarstellerin des Laufer Kunigundenfestes. Findet jedes Jahr hier oben statt. Ist aber erst in drei Wochen. Oder auch nicht. Jetzt, wo die Kaiserin ermordet wurde.«

»Weiß man schon wie?«

»In die Brust gestochen. Mit einem spitzen Gegenstand. Waffe nicht auffindbar. Gehen aber noch mit einem Hund durch. Finden dann vielleicht noch etwas.«

»Eine Ahnung, wer sie ist?«

Unbewusst hatte Simpel den Telegrammstil seines Gesprächspartners übernommen. Schien der aber nicht zu bemerken.

»Kollegen sind dran. Dürfte leicht sein, das herauszufinden. Armes Ding. Hat sich den Job sicherlich anders vorgestellt.«

»Da ist ziemlich viel Blut. Hat der Arzt sich schon geäußert?«

»Konnte nicht viel sagen. Vielleicht seit vier bis sechs Stunden tot. Der Einstich hat wahrscheinlich das Herz getroffen.«

Aus den Augenwinkeln sah Simpel einen hageren Mann mit Zigarillo im Mundwinkel auf dem Gelände herumlaufen. Wie ein Polizist sah er nicht aus. An seiner Jeans hing eine Gesäßtasche halb herunter, und das T-Shirt war vor langer Zeit einmal dunkelblau gewesen.

Der Mann wechselte ein paar Worte mit einem der Tator­t­ermittler und schaute dann einem anderen über die Schulter. War da etwa ein Journalist im abgesperrten Bereich? Leicht irritiert setzte Simpel sein Gespräch fort.

»Wann kann uns der Leichenbeschauer Genaueres sagen?«

»Dauert noch. Müssen erst fertig werden. Dann kommt die Leiche nach Nürnberg. In die Pathologie. Wird wohl umgehend obduziert. Vielleicht schon heute Nachmittag?«

»Danke! Ich werde mich noch ein wenig umsehen.«

Der Chef der Spurensicherung machte eine unbestimmte Handbewegung und gab ein undeutliches Brummeln von sich.

Simpel drehte eine Runde über den Platz. Dann stieg er die Stufen zur kleinen Kirche hoch. Er wollte sich einen besseren Überblick verschaffen. Zu seinen Füßen lag die Stadt Lauf an der Pegnitz. Rechts und links Wohngebiete mit Einfamilien- und Reihenhäusern. Dazwischen, direkt unter dem Berg, kleine Weizen- und Maisfelder.

Nach etwa einem halben Kilometer begann die eigentliche Stadt. Die Kirchtürme gehörten wahrscheinlich zur Altstadt. An der war Simpel vorhin vorbeigekommen. Weiter hinten konnte man Hochhäuser sehen, die üblichen Bausünden aus den Siebzigern. Insgesamt eine friedliche, etwas verschlafen wirkende Kleinstadt. Und im Hintergrund die Idylle schlechthin: Wiesen, Felder, sanfte Hügel. Die Fränkische Schweiz? Geographie war nicht seine Stärke.

»Haben Sie die Krone gefunden?«

Simpel drehte sich um. Der hagere Typ mit dem Zigarillo stand vor ihm und musterte ihn unverhohlen von oben bis unten.

»Was?«

»Die Krone. Die Krone der Kunigunde.«

»Äh, keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Was für eine Krone? Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier machen?«

»Entschuldigung, Michael Ziegler.«

Er streckte eine Hand aus. Simpel ergriff sie zögernd.

»Stefan Simpel, Kripo Schwabach. Ich leite hier die Ermittlungen.«

Ziegler hob die Augenbrauen.

»Da muss der Kollege Hertle aber große Stücke auf Sie halten, wenn er Ihnen diesen Fall anvertraut. Oder ist in Schwabach die Beulenpest ausgebrochen und Sie sind das letzte Aufgebot?«

Er lachte heiser.

Simpel wurde rot. Was bildete der Kerl sich ein?

»Ich wüsste nicht, was Sie das … Kollege? Sind Sie etwa …«

»… Polizist? Ja, Hauptkommissar. Ich war bei der Kripo in Nürnberg.«

»War?«

»Ja, bis vor fünf Jahren. Dann hatte ich einen kleinen Unfall.«

Er zog das rechte Hosenbein hoch und klopfte auf seinen künstlichen Unterschenkel.

Simpel kam ins Stottern.

»Ent… entschuldigen Sie … das … das konnte ich nicht wissen.«

»Vielleicht sollte ich mit einem Holzbein herumlaufen, wie Kapitän Ahab. Damit jeder gesunde Zweibeinige gleich sieht, was ich für einer bin.«

Er stülpte sein Hosenbein wieder hinunter. Simpel wusste nicht, ob er schockiert oder wütend sein sollte.

»Aber ich …«

»Lassen Sie’s gut sein, Kollege. Ist ja nicht Ihre Schuld. Also, was ist jetzt mit der Krone?«

»Von welcher Krone sprechen Sie eigentlich?«

»Ach ja, Sie sind ja von außerhalb. Hier in Lauf kennt jeder die Krone der Kunigunde. Die Kaiserin Kunigunde hat der Sage nach diese Kapelle hinter uns gestiftet. Beim Fest tritt das Mädchen, das sie darstellt, mit einem kleinen Modell der Kapelle auf. Die Kapelle habe ich neben der Bühne liegen sehen. Aber die Kunigunde trägt auch eine goldene Krone, mit bunten Steinen besetzt. Wenn das Opfer sich die Mühe gemacht hat, die kleine Kapelle mitzunehmen, wird sie bestimmt auch die Krone getragen haben.«

Das leuchtete Simpel ein, doch von einer Krone hatte er nichts bemerkt. Da musste er noch mal nachfragen.

»Vielen Dank für Ihren Hinweis. Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Herr Ziegler. Doch jetzt muss ich meine Arbeit machen. Auf Wiedersehen.«

Er gab Ziegler die Hand und drehte sich um. Der blieb ungerührt stehen und beobachtete das Treiben der Spurensicherung. Simpel war genervt.

»Ja? Noch etwas?«

Der ehemalige Polizist musterte ihn nochmals von oben bis unten.

»Sportlich, sportlich, das neue Outfit der Schwabacher Kollegen.«

Er nickte, ging an Simpel vorbei und humpelte auffallend übertrieben die Treppe hinunter.

Simpel war völlig perplex. Da tippte ihm ein Polizist auf die Schulter.

»Herr Kommissar, hier will Sie jemand sprechen.«

Der Beamte winkte ein totenbleiches, etwa 15-jähriges Mädchen heran.

»Ja bitte, möchten Sie eine Aussage machen?«

Das Mädchen schluchzte, setzte an, brachte keinen Ton heraus, schluchzte erneut.

»Ich … ich bin … die Kunigunde!«

 

***

»Der schwarze Tod reist durch die Nacht,

und mit ihm kommt das Grauen.

Es hält ihn auf nicht Festungsmacht,

nicht Graben, Schanz’ noch Mauern.

 

Rothenberg! Rothenberg!

Dein Friedhof muss sich füllen!

Rothenberg! Rothenberg!

Die Gräber überquillen«

 

Das letzte Wort hatte der junge Mann nur leise ins Mikrofon gehaucht. Die Echomaschine wiederholte es, immer leiser werdend, bis es mit einem ächzenden Laut erstarb.

Unvermittelt brüllte eine grelle Kakophonie in die Stille hinein. Ein langhaariges Mädchen in einem langen, schwarzen Samtkleid malträtierte eine Drehleier, die an einen Gitarrenverstärker angeschlossen war. Dadurch entwickelte das mittelalterliche Instrument eine Klanggewalt, die jeden Heavy-Metal-Gitarristen vor Neid hätte erblassen lassen. Zwei Dudelsäcke gesellten sich dazu. Die Lautstärke steigerte sich ins Infernalische. Die Töne folgten immer schneller aufeinander. Ein erfahrener Kirchenmusiker hätte vielleicht die Struktur einer Bach’schen Fuge erkannt. Das Klanggewitter strebte dem Höhepunkt zu und endete kurz darauf ebenso abrupt wie es begonnen hatte. Der Sänger hauchte ein letztes »Rothenberg«, und das Stück war zu Ende.

 

»Bravo! Bravissimo!«

Alexander, Freiherr von Schlenck, Tontechniker und Manager von Wallensteins Reitern, stand von seinem Mischpult auf und applaudierte.

»Den Take nehmen wir. Besser geht es nicht. Das sollte reichen, um nächstes Jahr auf den großen Festivals zu spielen. Wenn wir in dem Tempo weitermachen, haben wir die Demo-CD Ende der Woche im Kasten.«

Der muskulöse Schlagzeuger, schwarzgelockt und in barbarisch anmutender Fellkleidung, kam jetzt richtig in Fahrt.

»Los, weiter, endlich läuft’s! Sängertod, ich zähl vor! One, two …«

»Oh, ihr Spielleut, haltet ein! Kostet erst erquickend Labe aus den Welschen Landen!«

Der Duft von frisch gebackenem elsässischem Flammkuchen erfüllte den Raum. Ein Mann, der eine altertümliche Mönchskutte trug, balancierte mühsam zwei Bleche zwischen dem Kabelgewirr hindurch zu einem grob gezimmerten Tisch. Von Schlenck eilte herbei und wischte mit einer Handbewegung die leeren Pappbecher mit der Aufschrift ›Coffee to go‹ von der Tischplatte. Der Kuttenträger zauberte ein überdimensionales Messer aus den Tiefen seiner Kleidung hervor und schnitt die Tarte flambée in handgerechte Stücke.

»Lasset es euch munden, fahrendes Volk! Möget ihr Kraft und Stärke erlangen durch meine bescheidene Kunst.«

Das ließen sich die Musiker nicht zweimal sagen. Alle langten kräftig zu. Einem großen Breitschultrigen schien es besonders gut zu schmecken. Er grunzte mit vollem Mund und verdrehte verzückt die Augen.

»Das ist nach deinem Geschmack, Rudi! Gell?«

Anna Gröschl lachte. Ihr geistig behinderter Bruder spielte in der Band einfache Percussion-Instrumente, wie Holzlöffel oder Rasseln. Es machte ihm großen Spaß, und er stellte sich gar nicht so dumm an. Für die anderen war er so etwas wie das Maskottchen der Band geworden.

»Ludwig, so gut ist dir der Flammkuchen noch nie gelungen. Neues Rezept?«

Der Angesprochene nickte und schlug die Kapuze zurück.

»Von eines welschen Fürsten Bäckersmann erhielt ich die Rezeptur, jahrhundertelang weitergegeben von Adeptenmund zu Adeptenohr. Ewige Verdammnis dem, der sie an Unwürdige verrät.«

Er bekreuzigte sich theatralisch. Murat, der Schlagzeuger, blickte hilfesuchend nach oben.

»Und ewige Ohrenschmerzen dem, der lauschen muss der geschwollenen Rede aus deinem Munde, oh Ungläubiger!«

Alle lachten. Ludwig übertrieb es manchmal mit seiner Mittelalterbegeisterung. Vor einem Jahr hatte er diese Leidenschaft sogar zum Beruf gemacht. Er hatte einen Holzbackofen und einen alten VW-Bus gekauft und zog seitdem von einem Mittelaltermarkt zum anderen. Er verdiente damit mehr schlecht als recht. Aber in zwei Wochen, auf dem Laufer Altstadtfest, hoffte er auf den großen Durchbruch. Der Standplatz oben am Kunigundenberg war ein unerwarteter Glücksfall.

»Da müssen sich die Laufer aber warm anziehen. Einer aus Rüblanden macht das beste Essen des Altstadtfestes. Und das auf ihrem Hausberg, dem Kunigundenhügel!«

Die Einwohner Laufs und die der benachbarten Dörfer waren sich nicht immer ganz grün. Wie das bei Kleinstädten eben so ist.

»Gehabt euch wohl, verehrte Herrn und Damen. In mein Gemach kehr ich zurück. Bereite vor den groß’ Triumph auf Berg und Platz der Kaiserin.«

Der stolze Bäcker setzte seine Kapuze wieder auf, nahm die beiden Bleche und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Rudi Gröschl lief ihm nach, und kurz bevor Ludwig durch die Tür verschwand, schnappte er sich das letzte Stück vom Blech. Er biss hinein und verdrehte nochmals lustvoll die Augen.

Irgendwo in dem Haufen aus Jacken, Instrumentenkoffern und Reisetaschen, die in einer Ecke der Scheune herumlagen, klingelte ein Handy.

 

***

Stefan Simpel schmiss den Jogginganzug in die Ecke.

Toll gemacht, Stefan! Dein erster Fall hier in Franken und du stellst dich im Jogginganzug am Tatort vor. Wahrscheinlich lachen die jetzt noch über den Clown aus der Oberpfalz.

Er duschte und rief seinen Chef an. Dann ging er zum Abendessen.

 

»Meengs däi Kaddn? Heit hamm mer Blaue Zibfl. A Bier?«

Simpel schaute die Kellnerin unsicher an. Mit den Franken hatte er so seine Probleme. Sowohl der Dialekt als auch die kurz angebundene Art lagen ihm nicht. Ganz abgesehen von der traditionellen gegenseitigen Abneigung zwischen Franken und Oberpfälzern.

»Nein, danke, eine Apfelschorle bitte. Und wie war das mit den Zipfeln?«

»Sie sann nedd vo dou, odda? Blaue Zibfl sann unsere Schbezialidäd.«

»Und wie sind sie, diese blauen Zipfel?«

»Goud sann’s, wos sunnst. Also meengs Zwaa?«

»Und aus was sind diese Zipfel?«

»Broodwöschd hald, aber fränggische, kanne vo däi Nermbercher Miniwörschdla. Also a Bärla?«

Simpel sah die Sinnlosigkeit weiterer Nachfragen ein und nickte.

Während er auf das ominöse Essen wartete, dachte er an das Telefonat mit seinem Chef. Der hatte ihm lediglich die Unterstützung durch zwei Polizeianwärter zusagen können. Dazu noch ein Kollege aus Lauf. Herbert Neunsinger, ein erfahrener Hauptmeister, wenn auch von der Schutzpolizei und nicht von der Kripo. Trotzdem war Simpel zuversichtlich. Die meisten Mordfälle waren Beziehungstaten. Der Täter fand sich fast immer im engeren Umfeld des Opfers. So hatte er sich auch die Lorbeeren für den Pfarrgarten-Mord verdient. Er nahm einen großen Schluck Apfelschorle. Sogar den seltsamen Ex-Polizisten vom Kunigundenberg hatte sein Chef gekannt.

»Mike Ziegler ist einer der besten Kriminaler, die ich kenne. Wenn einer über Lauf Bescheid weiß, dann er. Schließlich ist er dort aufgewachsen. Wenn Sie Hilfe brauchen, ziehen Sie ihn ruhig hinzu. Da spricht nichts dagegen.«

Simpel seufzte. Hoffentlich war das nicht nötig. Die Kellnerin riss ihn aus seinen Gedanken.

»Suu dou sann’s. Ich habb Ihna anne mehr drauf, dass no wos wärd aus Ihna.«

Die Frau zwinkerte ihm zu, bevor sie sich umdrehte. Entgeistert blickte Simpel auf den sauer riechenden Haufen Zwiebeln unter dem etwas hervorlugte, das auf den ersten Blick aussah wie ein gekochter Schafspenis.

 

***

1986

»Lisa, rechnest du das mal an der Tafel vor?«

Frau Kepinsky lächelte dem Mädchen aufmunternd zu.

Während sich Lisa eine ganze Weile an der Tafel abmühte, stieß ihn sein Hintermann in die Rippen. Er drehte sich zu Peter um, und der gab ihm einen zusammengeknüllten Zettel.

»Von Robert«, flüsterte er dabei.

Er faltete die herausgerissene Heftseite auf.

»Gleich ist Bause. Schbieln wir Mädchen fangen. Gen wir später zum Fuchser ich habe 20 Pfenig für Brause Lutscher. Ich habe ein Toni Schumacher Bildchen, kömmer dauschen. Robbi«

Es klingelte.

Bloß raus.

»Treffpunkt Eiche«, schrie ihm Robert zu, biss noch schnell von seiner Semmel und rannte auf den Pausenhof.

An der Eiche waren schon alle Jungs versammelt. Die Mädchen trafen sich wie immer an der Steinbank.

Als alle da waren, ging es los. Die Mädchen kreischten und liefen davon und die Jungen hinterher. Die gefangenen Mädchen wurden triumphierend zur Eiche geführt und dort vom dicken Bernhard bewacht. Der machte das gerne. Da musste er nicht rennen. Ab und zu entwischte ein Mädchen wieder und wurde erneut gejagt.

Er lief hinter Lisa her. Jeder hatte so sein Lieblingsmädchen. Seins war Lisa. Das hatte sich halt so ergeben.

Sie lief zur Turnhalle. Das war gut, dort konnte sie ihm nicht entwischen.

Zwischen Turnhalle und Geräteschuppen gab es kein Entrinnen. Gleich hatte er sie.

Lisa wusste das.

Sie drehte sich zu ihm um und lachte.

Dabei hob sie abwehrend die Hände. Gleichzeitig versuchte sie, den roten Haarreif, der ihr beim Rennen ins Gesicht gerutscht war, wieder hoch zu schieben.

»Ich gebe auf. Du kannst mich abführen.«

Sie lachte weiter, immer lauter und schriller. Konnte sie nicht aufhören, ihm taten schon die Ohren weh.

Außerdem riss sie den Mund auf, wie ein Wal. Einen riesigen Mund hatte Lisa plötzlich. Ihr Gesicht sah ganz komisch aus. Der Haarreif auf ihrem Kopf war kaputt gegangen. Große rote Stücke fielen in den riesigen, lachenden Mund.

Ein Mädchen zupfte die Lehrerin am Rock.

»Frau Kepinsky, Frau Kepinsky. Die Lisa, kommen Sie schnell, da hinten, an der Turnhalle. Die weint ganz arg. Und sie blutet.«

Er lehnte erschöpft an der Turnhallenwand. Warum sahen ihn alle so entsetzt an?