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Guido Knopp

Der Sturm

Kriegsende im Osten


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Der »größte Bluff seit Dschingis Khan« – so nannte Hitler den Aufmarsch der schlagkräftigsten Streitmacht der Geschichte: Während an der Grenze zu Ostpreußen über zwei Millionen Rotarmisten aufmarschierten, zog der Diktator noch Truppen Richtung Westen ab. Zugleich verbot er die Evakuierung der Zivilisten. Mit der sowjetischen Offensive vom 13. Januar 1945 begann für die Bevölkerung Ostpreußens eine schreckliche Tragödie.

Die Schlacht um Ostpreußen

Im letzten Kriegswinter ritt Alexander Fürst Dohna mit russischer Pelzmütze durch die Wälder rund um Schloss Schlobitten. Er nahm Abschied: »Fast niemand konnte und wollte daran glauben, dass wir bald unser ganzes bisheriges Leben würden aufgeben müssen.« Düstere Vorahnungen, die allmählich zur Gewissheit wurden, ließen ihm keine Ruhe: »Ich ritt die langen Alleen entlang und fragte mich, wer würde in den Wäldern künftig das Holz schlagen, wer würde die jungen Bäume in die Kulturen pflanzen, wer würde unsere Rinder, Schafe, Pferde weiterzüchten, wer unsere Felder abernten?«

Das prächtige Schloss mit all den dazugehörigen Ländereien war der Stammsitz des Hauses Dohna-Schlobitten. Sollte das gesamte Anwesen etwa bald in Trümmern liegen? Solche Gedanken plagten den Fürsten. Dass sich der 45 Jahre alte Schlossherr, der Stabsoffizier beim LXXV. Armeekorps in Italien gewesen war, mitten im »totalen« Krieg auf dem heimatlichen Gut aufhalten konnte, hatte seinen Grund: Dohna war Ende April 1944 unehrenhaft aus dem Wehrdienst entlassen worden, weil er sich geweigert hatte, die Erschießung von mehreren US-Gefangenen anzuordnen. Die daraufhin verhängte Strafe lautete: Schanzeinsatz am »Ostwall«. Doch in dieser Situation kamen ihm seine Beziehungen als Gutsherr zugute. Der Kreisbauernführer von Preußisch Holland machte seinen Parteigenossen klar, dass der Mann in seinem verwaisten landwirtschaftlichen Großbetrieb viel nützlicher sei. Zu dieser Zeit standen schon fast alle Männer an der Front. Hinzu kam: Seit Herbst 1944 wurde nahezu jeder, der bislang zu jung oder zu alt für den Militärdienst gewesen war beziehungsweise für die Kriegswirtschaft als »unabkömmlich« galt, zum »Volkssturm« einberufen – also sämtliche »Volksgenossen« im Alter zwischen 16 und 60 Jahren. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung, die in Ostpreußen zurückblieb, waren daher nun Frauen, Kinder und alte Leute. Auf den dortigen Schlössern, den Gütern oder den Bauernhöfen taten aus diesem Grund viele Kriegsgefangene Dienst: Polen, Franzosen und Russen. Sie waren als Zwangsarbeiter den jeweiligen Stätten zugeteilt worden.

Die unmenschliche Kriegführung bedrückte mich am meisten. Wir hörten von Massenerschießungen, vom Wüten der SS-Einsatzgruppen. Aber es war gefährlich, über diese Vorgänge zu sprechen. Und so schwieg man, wodurch die Schuld noch drückender wurde.
Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten

Fürst Dohna war nicht der Besitzer irgendeines Schlosses in dieser Region. Im Kreis Preußisch Holland südöstlich von Elbing (polnisch: Elblag) gelegen, zählte dieses Anwesen zu den prächtigsten in Ostpreußen. Die Ruine heute lässt immer noch erahnen, dass hier einmal ein wahrhaft imponierendes Bauwerk stand. Beeindruckende Fotografien von damals bestätigen diesen Eindruck. Kaiser Wilhelm II. gastierte einst hier, um mit Fürst Richard zu Dohna in den Wäldern zu jagen. Hermann Göring kam zur Jagd, der landwirtschaftlich interessierte Heinrich Himmler wurde im Horch-Cabriolet des Fürsten Alexander zu Dohna durch die schöne Landschaft chauffiert.

Der Fürst räumte später ein, bei den Wahlen im November 1932 für die NSDAP gestimmt zu haben. Es gab sie lange, die Schnittmenge gemeinsamer Interessen, bei national-konservativ gesinnten Adligen und Protagonisten der NS-Bewegung. Der Versailler Vertrag sorgte parteiübergreifend für Erbitterung. Ostpreußen war durch den polnischen Korridor vom restlichen Reichsgebiet abgetrennt. Die Weimarer Republik war verpönt, zumindest »ungeliebt«, der Kommunismus das gemeinsame Feindbild. Auch Claus Schenk Graf von Stauffenberg hatte einst Hitlers Aufstieg gutgeheißen, bevor er sich angesichts der Verbrechen des Regimes zum entschlossenen Gegner wandelte. In den Abgründen des Vernichtungskriegs schieden sich die Geister. Nach dem gescheiterten Attentat des 20. Juli spürte die Gestapo auch dem Fürsten Dohna nach. Doch dieser war gewieft genug zu verschleiern, was er schon seit dem Frühjahr 1944 plante: die Flucht seiner Familie und all der Menschen, die ihm als Gutsherren anvertraut waren.

Dohna war Realist. Er zählte zu den wenigen, die sich schon früh mit dem Gedanken trugen, die Heimat verlassen zu müssen. Er beschaffte sich Kartenmaterial der Wehrmacht im Maßstab 1: 300 000 und nahm sich viel Zeit, um eine sichere Route für den Treck zu finden. Welche Straßen würde die Wehrmacht benötigen? Wo könnte es bei einer Massenflucht zu Engpässen kommen? Solche Gedanken waren in den Augen des Regimes Hochverrat. Man musste sich vorsehen, wem gegenüber man sich offenbarte. Die militärische Lage gab dem Fürsten Recht. Am 22. Juni 1944, es war der dritte Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion, begann die Rote Armee ihre Großoffensive gegen die Heeresgruppe Mitte. Dass der Krieg einmal zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren könnte, war für viele – Zivilisten und Soldaten – schwer zu begreifen.

Als ich Ende Januar 1943 aus Stalingrad zurückkehrte, war es mir zur Gewissheit geworden, dass wir nicht nur den Krieg, sondern auch unsere Heimat verlieren würden.
Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten

Die Übermacht von Stalins Streitmacht war jedoch enorm: Im Bereich der Heeresgruppe Mitte standen 2,2 Millionen Soldaten der Roten Armee gegen nur eine halbe Million der Wehrmacht. Nach der Landung der Westmächte in der Normandie am 6. Juni 1944 hatte Hitler viele Reserven an die Front im Westen abgerufen. Im Osten wiederholte der deutsche Kriegsherr nun den gleichen Fehler, den Stalin beim Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion gemacht hatte. In seiner wahnhaften Haltung befahl der NS-Diktator, keinen Meter Boden preiszugeben und eine bewegliche Verteidigung nicht zuzulassen. Das führte zu einer militärischen Katastrophe: Von 38 deutschen Divisionen wurden zwei Drittel vernichtet, etwa 350 000 Soldaten wurden verwundet, getötet oder gerieten in Gefangenschaft. Die Heeresgruppe Mitte brach vollständig zusammen. Die Folgen dieses Schlages waren noch verheerender als die Niederlage von Stalingrad. Wie eine riesige Welle drangen die sowjetischen Verbände durch eine 350 Kilometer breite Schneise nach Westen vor. Die Lage war derart bedrohlich, dass Hitler sogar die »vorübergehende Evakuierung« der nicht kampffähigen Bevölkerung aus dem Memelland genehmigte.

Ende Juli 1944 zogen die ersten Flüchtlingstrecks durch Ostpreußen. Die Hitler-Propaganda posaunte ritualgemäß, dass die deutsche Wehrmacht die Sowjets zurückschlagen werde. In der Tat sollte es zwar bald gelingen, den russischen Einbruch abzuriegeln. Das führte dazu, dass sich viele Bewohner der Provinz in trügerischer Sicherheit wogen. Die Front war aber nur vorübergehend stabilisiert worden. Der nächste Schlag gegen Ostpreußen folgte aus der Luft. In zwei Nächten Ende August klinkten britische Bomber Hunderte Tonnen tödliche Fracht über Königsberg aus. Neue Brandstrahlbomben schürten einen grauenvollen Feuersturm. Mehr als 5000 Menschen kamen in den Flammen um, 150 000 Menschen wurden obdachlos.

Nach dem Bombenangriff auf Königsberg ist vieles in den Menschen kaputtgegangen.
Hannelore Thiele,
Jahrgang 1932

Manche hohen Militärs waren in ihren Einschätzungen realistischer als die Parteibonzen in den Gauen und Kreisen. Generalleutnant Friedrich Hoßbach, der seit Juli 1944 Oberbefehlshaber der 4. Armee in Ostpreußen war, regte bereits Ende August die Evakuierung der gesamten Zivilbevölkerung aus den östlichen Gebieten der Provinz an. Er wollte dadurch verhindern, dass Frauen und Kinder in die Kampfhandlungen einbezogen wurden. Doch Gauleiter Erich Koch erklärte kategorisch: »Jede Räumung wird die Moral der Truppe und der Zivilbevölkerung schwächen.« Ein Bauernhof voller Kinder werde hartnäckiger verteidigt als ein leeres Gehöft – so die menschenverachtende Devise der obersten Führung. Fluchtversuche standen unter Strafe.

Überdies brüstete sich Koch in seiner Funktion als »Reichsverteidigungskommissar« mit der Errichtung des so genannten Ostwalls. Hunderttausende Menschen wurden dafür von ihrem Arbeitsplatz in das grenznahe Gebiet zum Graben und Schanzen geschickt. Erich Koch behauptete Hitler gegenüber, die Volksgenossen würden aus »Liebe zum Führer« freiwillig Dienst leisten. Tatsächlich aber schufteten Tausende von Menschen einzig auf Befehl. Koch war davon überzeugt, mit Schützen- und Panzergräben den Vormarsch der Roten Armee aufhalten zu können. Als Generaloberst Georg-Hans Reinhardt forderte, die Linie weiter im Landesinneren zu ziehen, warf der Parteimann dem Militär Defätismus vor.

Wir fanden es unerträglich, dass man der Bevölkerung nicht die Möglichkeit gegeben hatte, sich rechtzeitig auf eine Flucht einzustellen. Das ist eine schwere Schuld, die besonders auf dem damaligen Gauleiter Erich Koch lastet. Er selbst hat sich natürlich rechtzeitig in Sicherheit gebracht.
Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Für sich selbst traf Koch längst Vorkehrungen, um im Ernstfall das sinkende Schiff rechtzeitig verlassen zu können. Er wusste, was er in der Sowjetunion, als Reichskommissar der Ukraine, hinterlassen hatte: ein Meer aus Blut und Tränen. »Wir sind die Herrenrasse«, das hatte er immer wieder von sich gegeben. »Ich werde das Letzte aus diesem Land herauspressen ... Der niedrigste deutsche Arbeiter ist biologisch tausendmal wertvoller als die Bevölkerung hier.« Ausbeutung, Zwangsarbeit, Hungersnot und Massenmord – das war damals die grausame Bilanz des Erich Koch und seiner Schergen im besetzten Land.

Mein Vater hat gesagt, bei uns waren die Russen schon 1914. Die kommen wieder, aber die hauen auch wieder ab. Alles bleibt so, wie es ist.
Heinz Grönling, Jahrgang 1931

Nun drohte all das auf das deutsche Volk zurückzuschlagen. Im Herbst 1944 sollte es zu einer weiteren sowjetischen Offensive kommen. Wertvolle Wochen waren von Mitte August bis Oktober verstrichen, in denen sich die Bewohner grenznaher Gebiete noch in Sicherheit hätten bringen können. Im Streit zwischen der Gauleitung und der Heeresgruppe entschied letztlich Hitler. Er weigerte sich strikt, Ostpreußen zum Operationsgebiet zu erklären. Damit war dem Militär die Kontrolle auch über den zivilen Bereich entzogen.

Bis wenige Kilometer vor der Front hatte Erich Koch allein das Sagen. Und er meldete dem Kriegsherrn: »In Ostpreußen gibt es nur einen Glauben und das ist der Glaube an den Führer. Wenn es nötig ist, mein Führer, werden Mann, Frau und Kind die Heimat mit nackten Fäusten verteidigen.« Dies war nur ein Beispiel jener völligen Verblendung angesichts der drohenden Katastrophe.

Der sowjetische Angriff Mitte Oktober 1944 sollte frontal in Richtung Königsberg erfolgen. Am 16. Oktober überschritt die Rote Armee die Grenze nach Ostpreußen. Das Grollen der Front versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Zum ersten Mal rollten sowjetische Panzer auf deutschen Boden. Nach wenigen Tagen standen sie fünf Kilometer tief auf ostpreußischem Gebiet. In drei Richtungen spaltete sich der Angriffskeil auf, wobei die beiden Kreise Gumbinnen und Goldap in der Mitte dieser Offensive lagen. Am 21. Oktober 1944 schließlich erreichten Verbände der 11. Gardearmee Nemmersdorf. Eine nun eilends gestartete deutsche Gegenoffensive warf die Rotarmisten jedoch zurück. Am 5. November waren die Russen fast wieder von deutschem Boden vertrieben – vorerst. Doch die zwei Wochen hatten ausgereicht, um den Menschen einen bitteren Vorgeschmack auf das zu geben, was sie in den kommenden Monaten erwartete: Soldaten und Männer des Volkssturms fanden in vielen der zurückeroberten Orte fast nur noch Tote vor – erschossen, erschlagen oder auf andere Weise misshandelt. Es waren all die Menschen, die vor Ort geblieben waren. Ein Ortsname geriet von da an zum Symbol für die Gräuel der Roten Armee auf deutschem Boden: Nemmersdorf. »Die bestialische Bluttat von Nemmersdorf wird die Bolschewisten teuer zu stehen kommen«, ließ Joseph Goebbels in sämtlichen deutschen Zeitungen am 27. Oktober 1944 verkünden. Das Massaker war auch sofort Thema der Wochenschau. In immer neuen Variationen rief die Nazi-Führung zur »Rache für Nemmersdorf!« auf. Der Reichspropagandaminister wollte die schrecklichen Ereignisse ausschlachten, um den Kampfeswillen der Wehrmacht neu zu beleben. Flugblätter informierten die Soldaten an der Front über die grausigen Vorfälle in der Heimat. Für die erschöpften Soldaten sollten die Nachrichten über die Ereignisse in Ostpreußen ein Ansporn sein, die letzten Kräfte im Kampf gegen den vielfach überlegenen Gegner zu mobilisieren.

Bei den ersten Kämpfen in Ostpreußen schworen wir: »Die deutschen Frauen und Männer werden noch hundert Jahre an den Aufenthalt der russischen Panzerfahrer zurückdenken!« Das haben wir genau erfüllt. Wir haben Schrecken gesät.
Andrej Gez, Soldat

Inzwischen ist nach kritischer Prüfung zeitgenössischer Quellen und diverser Augenzeugenberichte eindeutig geklärt, dass viele der Schilderungen zu den Vorgängen in Nemmersdorf übertrieben waren und dass die Opfer damals für Filmaufnahmen »öffentlichkeitswirksam« präsentiert wurden: die Frauen mit entblößtem Unterleib, daneben tote Kinder und Greise. Mit eiskalter Berechnung instrumentalisierte Goebbels das Leid der Menschen. Sein Kalkül ging jedoch nur zum Teil auf. Mag sich mancher Soldat, Hitlerjunge oder Angehörige des Volkssturms dadurch mehr denn je angespornt gefühlt haben, das eigene Vaterland, Frauen, Kinder und Familien zu verteidigen – bei der Mehrheit der Bevölkerung weckte die Propaganda nicht den Willen zum Widerstand, sondern den Entschluss, die Heimat so schnell wie möglich zu verlassen. Im grenznahen Bereich brach sogar Panik aus. Eine erneute unkontrollierte Fluchtbewegung setzte ein, sodass die Gauleitung schließlich auf Drängen des Militärs die Evakuierung eines etwa dreißig Kilometer langen Streifens hinter der Front gestattete.

Die Sowjets unternahmen noch weitere Vorstöße, diesmal ohne nennenswerten Geländegewinn, und blieben dann auf einer Länge von 150 Kilometern etwa vierzig Kilometer tief im Grenzland von Ostpreußen stehen. Für das Oberkommando der Roten Armee war dies ein Misserfolg: »Die unbefriedigenden Ergebnisse des Oktobers zeigten, dass wir den schon länger im Einsatz befindlichen Divisionen eine Ruhepause gönnen, unsere Truppen umgruppieren, die rückwärtigen Dienste nachziehen und die für die anschließende Entwicklung der Operation erforderlichen materiellen Vorräte anschaffen mussten.« Das mochte auf deutscher Seite noch einmal die Illusion wecken, dass Stalins Armeen vielleicht doch nachhaltig erschöpft waren. Tatsächlich bedeutete die Zurückhaltung der russischen Militärs jedoch nichts anderes, als dass sich entlang der Grenze zum Deutschen Reich innerhalb von wenigen Wochen einer der gewaltigsten Truppenaufmärsche der Geschichte vollziehen sollte.

Ich testete, wie lange man brauchen würde, um abseits der großen Straßen etwa 45 Kilometer zurückzulegen. An einem regnerischen Novembertag ritt ich die Strecke von Schlobitten nach Prökelwitz im Galopp in einer Stunde und zwanzig Minuten – so hatte ich einen gewissen Erfahrungswert.
Alexander Fürst zu Dohna-Schlobitten

Auf Schloss Schlobitten gingen inzwischen die Vorbereitungen zur Flucht weiter. Einen großen Treck zu organisieren, erforderte sehr viel Weitsicht. So erwies es sich in Kriegszeiten als gar nicht so einfach, eisenbereifte Ackerwagen durch moderne gummibereifte Fuhrwerke zu ersetzen. Auch die sonst für die Wagen üblichen Seitenbretter wurden durch Leitern mit Sprossen ersetzt. Das machte sie wesentlich leichter. Während sich die Bevölkerung – von der Propaganda getäuscht – mehrheitlich in Sicherheit wähnte, verließ ein Mann bei Nacht und Nebel heimlich sein ostpreußisches Quartier. Kurz zuvor hatte er noch verkündet, er wolle in keinem Falle fortgehen, ganz egal, wie lange die Krise auch andauern würde: Es war der »Führer« selbst. Schon vor Beginn des Russlandfeldzugs hatte sich der Kriegsherr im Wald bei Rastenburg die so genannte Wolfsschanze errichten lassen. Diese Unterkunft wurde im Laufe der Jahre mit mächtigen Betonmauern und Bunkern immer wieder verstärkt. Nun aber rückten die sowjetischen Truppen bedenklich näher. Und daher drängten Hitlers Helfer Wilhelm Keitel und Alfred Jodl den Diktator, das Hauptquartier zu wechseln. Dies geschah dann auch am 20. November 1944.

Nun wurde von dem bei Bad Nauheim gelegenen »Adlerhorst« aus Krieg geführt. Am zweiten Weihnachtsfeiertag, dem 26. Dezember, fand sich der Chef des Generalstabs des Heeres dort ein, Generaloberst Heinz Guderian. Er warnte Hitler eindringlich vor der Überlegenheit der Sowjets und rechnete mit einer neuen Großoffensive gegen Ostpreußen im Januar. »Der größte Bluff seit Dschingis Khan«, kommentierte der deutsche Diktator die Zahlen, die Guderian von der Aufklärungsabteilung »Fremde Heere Ost« mitgebracht hatte: eine elffache Überlegenheit bei der Infanterie, eine siebenfache bei den Panzern, eine zwanzigfache bei den Geschützen. Auch Heinrich Himmler, dessen militärischer Einfluss nach dem 20. Juli erheblich gewachsen war, spielte die Zahlen herunter: »Ich glaube nicht, dass die Russen überhaupt angreifen. Ich bin fest davon überzeugt, dass im Osten nichts passiert.«

Guderian war ein sehr temperamentvoller Mann, der es verstand, die Lage in ihrer ganzen Gefährlichkeit darzustellen. Aber er machte trotz seiner eindringlichen Worte letztlich doch keinen Eindruck auf Hitler.
Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Schon Wochen zuvor hatten Hitlers Truppenverschiebungen im Oberkommando des Heeres heftige Diskussionen ausgelöst. Obwohl die Rote Armee schon an der Weichsel stand, hatte der Diktator kampfstarke Divisionen von der Ostfront abkommandiert und an die Westfront geschickt, in die Ardennen. Hitlers Plan sah vor, die Linien der Westalliierten auf der gesamten Breite zwischen Echternach und Monschau zu durchbrechen und mit einem raschen Durchstoß über die Maas die Briten und Amerikaner auseinander zu treiben, die Stadt Antwerpen zurückzuerobern und die englischen Verbände in Belgien zu vernichten. Was hieß das für Ostpreußen? Hitler hielt auch nach den beschwörenden Worten Guderians an seiner Entscheidung fest: »Keine Verstärkung der Truppen im Osten – dort kann ich noch Boden verlieren, im Westen nicht. Der Osten muss sich allein helfen!« Wenn die Bevölkerung dort auch nur geahnt hätte, welch kolossale Militärmacht jenseits der Grenze in Stellung ging, es hätte sicher einen Aufschrei gegeben. Stattdessen aber verbrachten viele Familien in der Provinz das Weihnachtsfest fast in gewohnter Idylle. Einige Flüchtlinge waren sogar wieder in die Heimat zurückgekehrt. Manche sahen im Stillstand an der Front schon die ersehnte Kriegswende.

Auf Gut Falkenau – nicht weit von Deutsch Eylau entfernt – war die Stimmung an den Feiertagen jedoch nicht ungetrübt. Aber nicht etwa, weil man Angst vor den Russen hatte. »Keiner hatte gedacht, dass der Zusammenbruch kommt, dass wir hier nun das letzte Weihnachten verbringen würden, und schon gar nicht, dass wir die Heimat verlieren werden«, erzählt heute die Tochter des Gutsherrn, Felicitas Lieberoth-Leden, geborene Ritgen. Sie hatte auf dem einstigen Rittergut ihre Kindheit und Jugend verbracht. Es gab einen anderen Grund: Zwei von drei Ritgen-Söhnen waren an der Ostfront gefallen.

In jenem Jahr, wie schon in all den Jahren zuvor, waren sämtliche Bediensteten zum Festessen geladen gewesen, vom Stubenmädchen bis zum Kutscher. Das war auf vielen Gütern so üblich, ganz gleich, ob in Schlobitten oder auf Groß-Falkenau: »Es war relativ dunkel im Esszimmer, nur die vielen Kerzen brannten. So etwas Stimmungsvolles habe ich später nie wieder erlebt«, erinnert sich Felicitas Lieberoth. Die Eltern wollten den anderen Kindern in jenen schweren Tagen das Gefühl von Geborgenheit vermitteln, ihnen zeigen, dass das Leben weitergeht. Es sollte das letzte Weihnachtsfest auf Gut Falkenau sein.

Wir wollten es einfach nicht wahrhaben, dass wir die Heimat aufgeben mussten. Wir dachten: Irgendwann werden die Russen wieder zurückgeschlagen werden.
Felicitas Lieberoth-Leden, Tochter des Gutsherrn von Falkenau

An Flucht dachte dort zu diesem Zeitpunkt aber noch niemand. Im Herbst 1944, als es gefährlich zu werden schien, hatte Gutsherr Ritgen versucht, einige seiner Stuten, Hengste und besonderes Zuchtvieh zum großelterlichen Gut in Westfalen zu bringen: »Doch das war nicht möglich«, weiß Tochter Felicitas. »Mein Vater erhielt keine Erlaubnis. Es war nicht einmal gestattet, einen Koffer aufzugeben. Den Eisenbahnmitarbeitern war es verboten worden, derartiges Gepäck Richtung Westen anzunehmen. Auch unsere schon fertig gepackten Kisten mit dem Porzellan konnten wir nicht zu den Großeltern schicken. Die Parteileute hatten Angst, dass dadurch die allgemeine Stimmung niedergedrückt werden und dass eventuell sogar Panik ausbrechen könnte.«

Am Neujahrstag ging per Reichsrundfunk eine Ansprache über den Äther, in der nicht von Bedrohung, sondern von einem »Endsieg« die Rede war. Diese Stimme hatten die Menschen schon seit Monaten nicht mehr gehört: Sie gehörte Adolf Hitler. »Wir sind zu allem entschlossen. Mein Glaube an die Zukunft unseres Volkes ist unerschütterlich«, sagte der Diktator. Allzu viele Deutsche an der Front und in der Heimat ließen sich noch einmal täuschen. Dabei hatte sich die militärische Lage inzwischen weiterhin erheblich verschlechtert. Die Ardennenoffensive scheiterte im Bombenhagel der amerikanischen und britischen Kampfflugzeuge. Hitler hatte die Ostfront gegen den Rat seiner höchsten Militärs ausgedünnt und unternahm auch jetzt keine Anstalten, dies zu ändern.

Bei der Heeresgruppe habe ich die große Lagekarte gesehen und wusste, was da auf uns zukam: Unsere Verbände waren blau eingezeichnet und gegenüber war ein großes rotes Meer. Das waren die Sowjets, die gegen Ostpreußen anrannten.
Hans Joachim Paris, Kriegsberichterstatter

Unterdessen baute Stalin an Weichsel, Narew und Memel eine gewaltige Angriffsarmee auf. Allein die Truppen von Marschall Schukow und Konjew, die die Hauptlast der Offensive tragen sollten, umfassten 2,2 Millionen Soldaten, 7000 Panzer und fast 5000 Flugzeuge. Die 2. und 3. Weißrussische Front weiter nördlich stellten die Hauptkontingente für die »Operation Ostpreußen«. Dies waren noch weitere anderthalb Millionen Soldaten, 3800 Panzer und 3000 Flugzeuge. Der sowjetische Generalissimus plante einen regelrechten Blitzkrieg gegen die östliche Provinz. Die Rote Armee sollte dieses Gebiet innerhalb von 18 Tagen durchqueren und bei Elbing bis an die Ostsee vorstoßen. Am 11. Januar 1945 wurde Generaloberst Guderian ein entschlüsselter Funkspruch der Sowjets vorgelegt: »Es bleibt bei alter Einladung. Festbeginn 13. früh. Musik komplett, Tänzer ausgeruht und unternehmungsfreudig.« Das bedeutete noch zwei Tage Galgenfrist, bis im ostpreußischen Grenzland die Erde beben sollte.

Guderian war äußerst besorgt. Alles deutete darauf hin, dass eine Winteroffensive der Sowjets absehbar war. In den Brückenköpfen an der Front waren Dutzende von Divisionen und Panzerverbänden mit Tausenden von Geschützen und Panzern versammelt.
Bernd Freytag von Loringhoven, letzter Adjutant von Generaloberst Guderian

Schließlich kam der große Schicksalstag, der 13. Januar 1945. Aus bis zu zweihundert Geschützen und »Stalinorgeln« pro Kilometer brach ein Feuersturm über die deutschen Stellungen herein. Der russischen »Dampfwalze«, wie es im Jargon der Wehrmachtssoldaten hieß, konnten die geschwächten deutschen Divisionen kaum noch standhalten. Ehemalige Soldaten erinnern sich, wie manche ihrer Kameraden schon aufgrund der enormen Lautstärke der Detonationen im Schützengraben den Verstand verloren. Der ununterbrochene Beschuss hatte es ihnen nicht erlaubt, auch nur einen Moment aus der Deckung zu gehen. Die Januar-Offensive der Roten Armee erfolgte an insgesamt drei Abschnitten mit jeweils eigener Stoßrichtung: Auf der Höhe von Warschau und etwas weiter südlich stieß Marschall Georgij Schukow mit der 1. Weißrussischen Front über die Weichsel Richtung Oder vor – mit dem Ziel Berlin. Aus den Stellungen nördlich von Warschau (bis auf die Höhe von Augustow) sollte die 2. Weißrussische Front unter Marschall Rokossowskij bis nach Pommern marschieren, dabei Schukow im Norden Deckung geben und die Reichshauptstadt von der Ostsee-Seite her abschneiden. Im Norden griff Marschall Tschernjachowskij mit seiner 3. Weißrussischen Front an. Stoßrichtung war das Samland.

Der Angriff begann mit einem starken Artilleriefeuer. Wir dachten, dass nach so einer Artillerievorbereitung kein Widerstand mehr zu erwarten sei. Aber als unsere Armeen vorstürmten, stellte sich dann doch heraus, dass das Verteidigungssystem der Deutschen noch vollständig intakt war.
Pjotr Ilich Kirichenko, Soldat

In Ostpreußen standen auf deutscher Seite die 3. Panzerarmee nordöstlich von Königsberg, die 4. Armee im Abschnitt bis zur Narew und weiter südlich die 2. Armee. Die Truppen der Wehrmacht und des Volkssturms sollten dem Angriff schon an den äußeren Linien Einhalt gebieten, was jedoch angesichts der sowjetischen Übermacht einem Himmelfahrtskommando gleichkam. 25000 Geschütze und Granatwerfer, unterstützt von Schwärmen sowjetischer Kampfflugzeuge und schweren Panzern, ließen die grenznahe Verteidigung wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Nur mit flexiblen Operationen und ausgeklügelten Rückzugsgefechten konnte die Eroberung Ostpreußens zumindest eine Zeit lang hinausgezögert werden. Als Tschernjachowskij im Norden auf immer härteren Widerstand stieß, musste Rokossowskij auf Befehl Moskaus seine Stoßrichtung ändern: Er sollte nun von Süden her den Druck auf die Provinz erhöhen. Rokossowskij griff die 2. Armee an und drängte sie in nördliche Richtung zur Ostsee. Von da an begann ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit.

Die Russen griffen mit drei Armeen an. Eine Armee auf der Linie nach Königsberg, eine Armee in Richtung Danzig und die dritte Armee drückte uns gegen das Haff. Da war der Kessel zu. Und es gab nur noch einen Ausweg: über das zugefrorene Haff.
Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Das erkannte auch Fürst Dohna. Mitte Januar 1945 war auf Schlobitten schon der Kanonendonner zu hören, Flüchtlinge zogen an den fürstlichen Gütern vorbei. Plötzlich stellte sich offizieller Besuch ein – der so genannte Kunstoffizier für den nördlichen Teil der Ostfront rückte an, Ernstotto Graf zu Solms-Laubach. Er und seine Mitarbeiter hatten 1941 das legendäre Bernsteinzimmer aus Schloss Zarskoje Selo ausgebaut. Nun sollten auch wertvolle Kunstwerke aus Schlobitten in Sicherheit gebracht werden. Bezeichnenderweise stand dafür nur ein einziger Lastwagen zur Verfügung, der allerdings in so schlechtem Zustand war, dass er für Transporte nicht mehr zu gebrauchen war.

Aber Fürst Dohna hatte ganz andere Sorgen. Um den Treck auf den Weg zu bringen, musste zumindest ein Teil der Männer vom Dienst im Volkssturm freigestellt werden. So kam es zum Disput mit dem zuständigen Ortsgruppenleiter Gehrmann in dessen Büro. Gehrmann wollte den Fürsten nicht ziehen lassen: »Ich kann Sie unmöglich freistellen!

Es war gefährlich, den Zivilisten zu sagen: »Packt eure Sachen und verschwindet!« Denn das galt schon als Defätismus.
Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Mit Ihrer militärischen Erfahrung sind Sie für den Volkssturm unverzichtbar. Wo kämen wir denn hin, wenn sich die besten Männer vor der Verantwortung drückten und sich weigerten, das Vaterland zu verteidigen!« Daraufhin entgegnete ihm der Fürst und ehemalige Stabsoffizier: »Ohne mich haben die Menschen wenig Chancen, heil nach Westen zu kommen!« Davon wollte der Ortsgruppenleiter allerdings nichts wissen: »Sie werden der Einberufung Folge leisten!« Der Fürst aber beschloss, sich nicht an seine Anweisung zu halten.

Am 19. Januar 1945, dem sechsten Tag der Offensive, war die Rote Armee auf einer Breite von 200 Kilometern mehr als 160 Kilometer tief in das ostpreußische Kernland vorgestoßen. Viel zu spät hatte Gauleiter Koch die Räumung der frontnahen Kreise angeordnet, so auch in Osterode, Allenstein, Gerdauen, Gumbinnen oder Insterburg.

Was befürchtet wurde, trat nun ein. Anderthalb Millionen Zivilisten begaben sich völlig überstürzt auf die Flucht. Inzwischen war das Thermometer auf minus 25 Grad gesunken. Die vereisten Straßen füllten sich binnen weniger Stunden. Bahnhöfe in Stadt und Land wurden regelrecht gestürmt. Es spielten sich dramatische Szenen ab, Menschen wurden dabei zu Tode getrampelt. Vielerorts wurden die Flüchtlingstrecks von sowjetischen Panzern regelrecht überrollt, aber auch Fahrzeuge der Wehrmacht drängten die Wagen rücksichtslos ab. Die Parteiprominenz war auch beim Flüchten an erster Stelle – mit Autos, Sonderzügen und Schiffen setzten sich die »Bonzen« der NSDAP in den kommenden Tagen und Wochen ab. Die allgemeine Angststimmung hätte sicher noch schneller um sich gegriffen, wenn die Menschen geahnt hätten, wie rasch die Zangenbewegung der Roten Armee Richtung Ostsee erfolgte. Ostpreußen drohte die Einkesselung. Bei den Ritgens auf Gut Falkenau brach der Krieg in eine von Zerstörungen noch völlig verschonte Welt ein. Felicitas Lieberoth-Leden erinnert sich an den für ihre Familie schicksalhaften 20. Januar: »Gegen vier Uhr morgens klingelte es Sturm an unserer Haustür und ein Kaufmann, den wir sehr gut kannten, rief meinem Vater zu: ›Herr Ritgen, schnell, die Russen sind schon vor Deutsch Eylau.‹« Der Bürgermeister der kleinen Stadt hatte die Glocken läuten lassen und sämtliche Sirenen heulten. Die Bevölkerung machte sich sofort auf den Weg, zu Fuß, auf Rädern, auf Planwagen und mit noch funktionsfähigen Kraftfahrzeugen – viele nahmen den Weg Richtung Groß-Falkenau. »Es hieß dann, wir sollten ungefähr 1500 Flüchtlinge aufnehmen«, so Felicitas Lieberoth. »Alle Güter wurden angerufen und jeder bekam eine entsprechende Zuteilung.« Es kamen in der Tat unzählige Menschen. Das alte Rittergut glich einem Durchgangslager. Felicitas Lieberoth-Leden weiter: »Das Haupthaus versank im Chaos. Kinder wurden auf dem Klavier gewickelt, unser edles Mobiliar diente allen erdenklichen Zwecken, die Toiletten quollen über, die Küche stand unter Wasser, die Menschen lagen auf den Fluren. Jeder nahm mit, was er gebrauchen konnte. In diesem unsäglichen Durcheinander erblickte auch ein Kind das Licht der Welt.« Noch immer dachten die meisten der Flüchtenden: Dieser Aufbruch kann kein endgültiger sein, es gibt ein Zurück. Auch Felicitas Lieberoth-Leden war davon überzeugt: »Ich habe noch kurz vor unserem Aufbruch angeordnet, dass sämtliche Bilder und Gemälde umgedreht werden, dass die Glasvitrinen mit der Vorderfront zur Wand hin gestellt und alle Teppiche aufgerollt werden – immer in der festen Annahme, wir kommen wieder zurück.«

In dem großen Durcheinander versuchte ich, für uns zu packen. Ich wollte nur das Wichtigste mitnehmen: Papiere, Schmuck, Geld und Unterlagen. Und das steckte ich alles in eine große Handtasche.
Felicitas Lieberoth, Tochter des Gutsherrn von Falkenau

Viele Menschen hier hatten die Dimension des »totalen Krieges« noch nicht begriffen – denn das Gebiet zwischen all den Wäldern und Seen war bisher verschont geblieben. Was hatten hingegen die Menschen aus den Städten in den zahlreichen Bombennächten schon alles erleiden müssen. Wie viel Zerstörung, Leid und Elend hatte es in den von den Deutschen eroberten Gebieten gegeben, wie viele Millionen Menschen waren den Verbrechen der Nazis schon zum Opfer gefallen. Und es schien, als drohe nun denen, die all das nicht wussten oder nicht wissen wollten, der umso tiefere Sturz in die Katastrophe.

Bei 25 Grad Frost verließ die Familie Ritgen das Gut Falkenau. Die Straßen waren völlig verstopft, die Pferde glitten aus und brachen sich die Beine. Felicitas Lieberoth-Leden erinnert sich: »Wir konnten uns nur wie in Zeitlupe fortbewegen. Am ersten Tag sind wir lediglich drei Kilometer weit gekommen, statt der geplanten dreißig. Unterwegs sahen wir völlig zerschundene deutsche Soldaten geschlagener Armeen. Wir fanden kein Nachtquartier, für die Säuglinge hatten wir kein warmes Wasser und keine trockenen Windeln. Zuerst starben die Kleinsten und die Schwächsten. In der Not legte man die toten Kinder im Straßengraben ab und deckte sie mit Schnee zu. Die alten Menschen, die auf der Flucht starben, begrub man genauso. Bald schon machte ich mir keine Gedanken mehr darüber. Es hieß nur noch vorwärts, weiter und immer weiter. Wir erfuhren, dass ein Treck aus unserer Nähe, aus Januschau, von den Russen überrollt worden war. Diese Nachricht löste große Angst bei uns aus.«

Als Letztes ordnete mein Vater an, die Kühe loszubinden und die Schweineställe zu öffnen, damit das Vieh herauskonnte. Das ganze Viehzeug lief durcheinander. Es war ein schrecklicher Abschied.
Felicitas Lieberoth-Leden, Tochter des Gutsherrn von Falkenau

Im Kreis Preußisch Holland, in dem sich Schloss Schlobitten befand, wurde erst am 21. Januar 1945 die offizielle Erlaubnis zum Aufbruch erteilt. Fürst Dohna hatte die Route bei seinen Planungen so angelegt, dass Hauptverkehrswege, die das Militär vielleicht beanspruchte, umgangen werden konnten. Der Treck sollte von zwei Orten aus starten, von Schloss Schlobitten und dem weiter westlich gelegenen Gut Prökelwitz. Der Plan sah vor, von Elbing aus in Richtung Danzig zu ziehen, um noch vor der Hafenstadt Richtung Westen einzuschwenken. Der erste vereinbarte Treffpunkt war Sobbowitz, eine Ortschaft, die hinter der Weichsel lag. Von da aus sollte der Weg weiter an Kolberg und Schwerin vorbei führen. Ziel war die norddeutsche Tiefebene.

Zunächst jedoch galt es, ein Schreiben zu organisieren, welches den Fürsten ermächtigte, die beiden Trecks nach Westen zu führen. Dohna versuchte es beim stellvertretenden Ortsgruppenleiter. Dieser war ein älterer zuvorkommender Großbauer, der aber erklärte: »Ich bin nicht befugt, Ihnen derartige Dokumente auszustellen.« Mehr Verständnis fand Fürst Dohna bei der etwa zwanzigjährigen Tochter. Als ihr Vater für kurze Zeit den Hof verließ, um nach dem Rechten zu sehen, sagte sie zu Dohna: »Kommen Sie! Diktieren Sie mir den Text für Ihre Bescheinigungen in die Schreibmaschine. Wir müssen dann nur noch einen geeigneten Moment abwarten, um sie meinem Vater vorzulegen.« Als dieser von seinem Rundgang zurückkam, stellte der Fürst eine Flasche Schnaps auf den Tisch. »Ich möchte mich für Ihre Gastfreundschaft bedanken. Lassen Sie uns einen Schluck trinken!« Einige Stunden später, gegen sechs Uhr früh, setzte ein sichtlich betrunkener stellvertretender Ortsgruppenleiter tatsächlich seine Unterschrift auf die Papiere. Auf dem Tisch standen zwei leere Schnapsflaschen. Die Tochter fügte heimlich noch das Wichtigste hinzu: den Stempel mit dem Hakenkreuz.

Am Tage, bevor es richtig losging, wurde ich als Defätist verwarnt. Ein Mann von der Gauleitung kam und sagte: ›Es werden härteste Maßnahmen gegen Sie ergriffen.‹ Meine defätistischen Maßnahmen waren lediglich, dass ich auf den Gütern für die Leiterwagen, die man damals hatte, Gerüste bauen ließ, die als Dach obendrauf gesetzt wurden.
Marion Gräfin Dönhoff

Am 22. Januar 1945 befanden sich die beiden Trecks auf dem Weg. Mehr als 300 Menschen waren in ein ungewisses Schicksal aufgebrochen. Eine lange Odyssee stand ihnen bevor. Bei Marienburg war die Brücke über die Nogat bereits gesprengt worden. Doch hier half der Frost. Die Wagen konnten den zugefrorenen Fluss überqueren.

Am Treffpunkt in Sobbowitz wurde »Kriegsrat« gehalten. Die Wagen wurden kontrolliert und alles überflüssige Gepäck abgeladen. Viele mussten sich schweren Herzens von lieb gewonnenen Gegenständen trennen. Oft wurde auch Protest laut. »Ich kann doch das Sofa nicht einfach zurücklassen. Das ist ein Erbstück von meiner Großmutter!«, echauffierte sich eine Frau. »Aber es ist zu schwer und nimmt darüber hinaus noch unnötig Platz weg«, entgegnete Fürst Dohna. Auf sämtliche Fuhrwerke wurden Satteldächer genagelt, um die Insassen vor Schnee und Regen zu schützen.

Das große Sterben ging unter den Tieren los. Dann folgte ein großes Sterben unter den Älteren. Wir Soldaten kamen zum Schluss. Wir wussten, wie man sich verteidigt und wie man sich wehrt.
Werner Möllenkamp, Offizier bei der 21. Infanteriedivision

Auf dem Weg bot sich ein Bild des Jammers. Einzelne Flüchtende mit Handkarren, die sich auf den vereisten Straßen nur mühsam vorwärts bewegten, Mütter mit apathischem Gesichtsausdruck, die ihre weinenden Kinder auf dem Arm trugen. Am Wegesrand lagen immer wieder tote Menschen und Pferde. Im Hintergrund grollte ständig Kanonendonner. Je länger der Treck unterwegs war, desto mehr Flüchtlinge wurden krank. Neun Kinder – meist noch Babys – starben. Die Leichen wurden in ein Tuch gewickelt und in den Straßengraben gelegt. Der gefrorene Boden war zu hart, um sie zu beerdigen.

Aber das Schlimmste blieb dem Schlobitter Treck auf den rund 1500 Kilometern bis nach Niedersachsen erspart. Er wurde weder aus der Luft beschossen noch von sowjetischen Truppen überrollt. Es gab auch keine Vergewaltigungen und kein Morden wie andernorts. Selten war eine Route schon im Vorfeld so minutiös geplant und ausgekundschaftet worden. Dies lag sicherlich daran, dass dieser Treck von einem weitsichtigen Mann angeführt wurde, dem wiederum andere helfend zur Seite standen. Nach allem, was bis heute bekannt ist, handelte es sich bei diesem Treck um den größten, der geschlossen in den Westen gelangte. Zu ihm gehörten insgesamt 330 Personen, 140 Pferde und 38 Wagen.