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Klaus-Rainer Martin

Das ungewöhnliche Leben eines Stiefelmachers

- oder Fettaugen schwimmen auf jeder Suppe oben





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vorbemerkungen zur Entstehung des Buches

Der lange Weg bis zu einer Veröffentlichung
     - und der beschwerliche Weg, das veröffentlichte Buch bekannt zu machen

 

Es war ein extrem langer Weg, bis es zu einer Veröffentlichung unter dem Titel „Der Stiefelmacher – oder Fettaugen schwimmen auf jeder Suppe oben“ kam.

 

Unmittelbar nach der Wende 1990 schrieb ich die Geschichte in einem vier Schreibmaschinenseiten langen Expose’ auf und bot diese dem Landesverband Schleswig-Holstein des Schriftstellerverbandes sowie acht Schriftstellern mit der Frage an, ob sie daran interessiert seien, daraus eine größere Abhandlung zu schreiben. Nachdem mir mitgeteilt wurde, dass an dem Thema kein Interesse bestehe bzw. man gerade an anderen Projekten arbeite, bot ich die Geschichte der Filmförderung Hamburg und zwanzig Produktionsfirmen für Filme und Fernsehfilme an und erhielt die gleichen abschlägigen Antworten. So entschloss ich mich 1997 dazu, selbst ein Buch zu schreiben. Für die notwendigen Recherchen und das Schreiben des Manuskriptes benötigte ich drei Jahre von 1997 bis 1999. Danach begann ich mit der Suche nach einem Verlag. Da ich einmal gehört hatte, dass selbst Günter Grass für die Veröffentlichung seines ersten Buches 70 Verlage anfragen musste, ehe er Erfolg hatte, war mir klar, dass ich wohl mindestens doppelt so viele Anfragen starten muss. – So habe ich in den Jahren 1999 bis 2012 insgesamt 120 Verlage erfolglos angeschrieben, ihnen das vierseitige Expose’ von 1990 (damit die Lektoren schneller den Inhalt erfassen können), das vollständige Manuskript und Rückporto geschickt. –Und ich erhielt 106 Absagen. 14 Verlage hielten es nicht einmal für nötig, mir das Manuskript zurück zu schicken. Das bedeutete für mich, dass ich 14 mal das Manuskript in einem Kopier-Shop neu erstellen musste. 10 Verlage boten mir an, das Manuskript zu veröffentlichen, wenn ich mich an den Druckkosten beteiligen würde. Dabei wurden Summen von 2.000 € und mehr genannt. Das war finanziell für mich nicht leistbar.

 

Schließlich fand ich bei meiner Suche im Sommer 2012 über das Internet als 121. Verlag den Verlag United p.c. Dieser bietet an, jedes Manuskript als Buch kostenlos zu veröffentlichen und drei Jahre lang vorzuhalten. Damit überlässt er es der interessierten Leserschaft, selbst zu beurteilen, ob sie das Buch gut und lesenswert oder für weniger gut hält. Damit entscheiden nicht einzelne Lektorinnen und Lektoren, was auf den Büchermarkt kommt und die Bevölkerung zu lesen bekommt oder man ihr vorenthält. Man muss nicht über Beziehungen verfügen oder eine öffentlich bekannte oder zahlungskräftige Persönlichkeit sein, um für sein Manuskript einen Verlag zu finden. Der Verlag trägt damit allein das Risiko für jede Veröffentlichung. Allerdings hat der Verlag keine effektive Marketing-Strategie, die dafür sorgt, dass das Buch auch wahrgenommen wird. So hält sich der Verkaufserfolg in Grenzen. Man muss selbst die Werbetrommel rühren. Dennoch erscheint mir dieses Konzept weniger bevormundend, dagegen aber zeitgemäßer und demokratischer.

 

Doch mit der Veröffentlichung des Manuskripts als Buch ist der lange Weg noch nicht beendet. Nun geht es darum, das Buch in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, z.B. durch Lesungen. Oft scheitert der Versuch, eine Autorenlesung zu vereinbaren. Es ist offenbar einem zwanzigjährigen TV-Sternchen leichter, die Memoiren bekannt zu machen, wenn sie in einem bekannten Verlag erschienen sind, als einem Newcomer und Außenseiter diese Chance einzuräumen. Viele Literaturzentren und Literaturhäuser lehnen mit der Begründung ab, sie seien daran gebunden (durch wen?), nur Literatur vorzustellen, die ein gewisses Medienecho bekommen haben. Mehr noch: Die Ablehnung wird damit begründet, dass man daran gebunden sei, nur Autoren einzuladen, die ihre ersten Bücher nicht in Verlagen herausbringen, die entweder mit BOD-Verfahren (Bücher zum Ausdrucken) oder Kostenbeteiligungen der Autoren arbeiten. – Doch auch Hermann Hesse, so wird berichtet, veröffentlichte sein erstes Buch in einem Verlag mit Kostenbeteiligung.

 

Der Ausschluss von Lesungen ist in meinen Augen nicht nur arrogant, sondern eine Diskriminierung! – „Der Stiefelmacher“ wurde weder im BOD-Verfahren noch mit Kostenbeteiligung veröffentlicht. Offenbar sind Verlage, die so arbeiten oder jedes Manuskript kostenlos veröffentlichen, in deren Augen „Schmuddelverlage“ und die Autoren Underdogs, welche sich in einen geschlossenen Zirkel eindrängen wollen. Damit werden Literaturzentren und Literaturhäuser der Aufgabe nicht gerecht, die Vielfalt der Literatur darzustellen und unbekannten Autoren zu helfen, ihren Bekanntheitsgrad zu vergrößern. Ihre Förderung aus öffentlichen Mitteln ist daher infrage zu stellen. Eine Verbreitung des Buches ist damit nur über eine professionelle Marketing-Strategie des Verlages zu erreichen. Oder man hat das zufällige Glück, dass Literaturkritiker einer Zeitschrift oder eines Radiosenders auf das Buch aufmerksam werden.

 

Anders stellt sich die Situation dar, wenn man sein Buch als eBook veröffentlichen möchte. Hier macht beispielsweise der Verlag BookRix das Angebot von Self-Publishing, d.h. man bringt sein Buch als eBook selbst heraus, entscheidet selbst über den Verkaufspreis und findet über die Community des Verlages viele potentielle Leserinnen und Leser. Zudem stellt die rasante Hinwendung vieler Menschen zum eBook einen wachsenden Markt dar. – Die eigene Preisgestaltung hat darüber hinaus den Vorteil, dass man das eBook für ein Zehntel des Verkaufspreises eines gedruckten Buches anbieten kann.

 

Aus den dargelegten Gründen habe ich mich nunmehr entschlossen, das Buch „Der Stiefelmacher“ mit einem etwas geänderten Titel als eBook zu veröffentlichen.

 

Vorwort

Schon wieder ein Buch über die jüngste deutsche Geschichte. Was soll das? Werden wir nicht geradezu überfüttert mit Berichten, Geschichten, Filmen, Dokumentationen aus dieser Zeit? Ich meine: Nein!

 

Im ersten Weltkrieg haben 10 Millionen Menschen ihr Leben lassen müssen. 20 Millionen Menschen erlebten das Kriegsende als Invalide. Im zweiten Weltkrieg starben mehr als 55 Millionen Menschen, 35 Millionen wurden invalide. Jedes dieser Menschenleben ist ein menschliches Schicksal und ist es damit wert, nicht nur als Zahl aufsummiert oder als Namen in einen Gedenkstein eingemeißelt zu werden. Über jeden Menschen, der im 20. Jahrhundert sein Leben lassen oder seinen eigenen Lebensentwurf aufgeben musste, sollte geschrieben werden. Und es müsste über alle diejenigen berichtet werden, die sich als Täter oder als williges, gedankenloses oder nur auf das eigene Fortkommen blickendes Werkzeug schuldig gemacht haben.

 

Das, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschah, wird zunehmend zur Geschichte. Die Überlebenden dieser Zeit, Opfer wie Täter, werden weniger. Vieles von dem, was sie einst erlebten, nehmen sie mit ins Grab, ohne dass die Nachgeborenen davon erfahren haben. Ihr Wissen und ihr Erleben geht der Nachwelt verloren. Auch die Zahl derer, welche Überlebende aus jener Zeit persönlich kannten und von ihrem Leben und Überleben aus persönlichen Berichten erfuhren, wird immer kleiner. So wird Vergangenheit zur Geschichte und Erschütterung macht einer distanzierten Zurkenntnisnahme Platz.

 

Oft macht sich auch Unwissen breit. So hat z.B. das Kölner Institut für Massenkommunikation e.V. lange vor der PISA-Studie des Jahres 2002, nämlich schon im Herbst 1998 eine Studie veröffentlicht, in deren Mittelpunkt die Frage stand: „Was bedeutet ‚Auschwitz‘ der zweiten und dritten Nachkriegsgeneration?“ Mehr als 20 % der 14- bis 17jährigen gab an, „keine Ahnung“ darüber zu haben, „wer oder was Auschwitz war“. 82% aller Befragten brachten mit Auschwitz zwar die Begriffe Konzentrationslager, Massenvernichtung, Judenverfolgung und Holocaust in Verbindung. Aber nur 7 % wussten, dass „Auschwitz“, polnisch Oświęcim, auch der Name einer Stadt ist. Selbst im Duden erfährt man unter dem Stichwort „Auschwitz“ nur, dass die Nationalsozialisten unter diesem Namen ein Konzentrationslager errichtet hatten. Zum „harten Kern der Ahnungslosen“ zählen die Forscher „Jugendliche mit niedrigem Bildungsniveau – zumal, wenn sie in den neuen Bundesländern leben“. Sie betonen aber gleichzeitig, dass Ahnungslosigkeit kein Phänomen sei, welches nur auf Jugendliche beschränkt bleibt. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass im Herbst 1998 rund drei Millionen Menschen in Deutschland nichts mehr über den Ort wissen, der nach dem Holocaust zum Symbol für die systematische Ermordung der europäischen Juden geworden ist. Damit zeigt die Studie eindrucksvoll, dass ein halbes Jahrhundert Auseinandersetzung mit den Schreckenstaten des Dritten Reiches nicht ausgereicht hat, um bei einem beträchtlichen Teil der Nachkriegsgeneration einen ausgewogenen Kenntnisstand zu schaffen. Von einem „Zuviel an Erinnerungsarbeit“ könne keine Rede sein. Die Autoren der Studie betrachten die Zeit als reif für eine neue Aufklärungs-Offensive: „Die in dieser Untersuchung aufgezeigten Wissensdefizite und vorurteilshaften Vermutungen sind nicht nur eine Aufforderung zur (Re-)Aktivierung der Aufklärungs- und Informationsarbeit, sondern auch gerade eine Aufforderung, die Wege der individuellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung neu zu bedenken“.

 

„Der Stiefelmacher“ ist in diesem Sinne der Versuch, alles was ich von Überlebenden erfahren habe, teils als Kind, teils in späteren Jahren, wo Fragen unbeantwortet geblieben sind und was ich zusammengetragen habe, angeregt durch die Antworten und die offenen Fragen, in einen zeitlichen und politischen Zusammenhang zu stellen und der Hauptfigur der Erzählung „Albert Scheibner“ und den Personen seiner Umgebung zuzuordnen, um ihr tatsächlich gelebtes Leben besser verstehen zu können. Dabei wird deutlich, wie sich politische Entwicklungen und Entscheidungen auf die Lebensläufe dieser Menschen ausgewirkt haben.

 

Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass es z.B. für den Protagonisten der Erzählung „Albert Scheibner“ auch immer von seiner ganz persönlichen Entscheidung abhängige andere Lebensentwürfe gegeben hätte. Wie wäre z.B. sein Leben verlaufen, wenn er bei Ausbruch des ersten Weltkrieges seiner Freundin Claudine nach Frankreich gefolgt wäre? Oder wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er sich nicht dazu entschlossen hätte, Stiefel für die jeweils Herrschenden herzustellen, sondern statt dessen Hausschuhe für die Bevölkerung? Welchen Verlauf hätte sein Leben genommen, wenn er sich in der Weimarer Zeit nicht den Nationalsozialisten, sondern den Kommunisten angeschlossen oder sich jeglicher politischer Betätigung enthalten hätte? – So gesehen bleibt die letzte Verantwortung für die individuelle Lebensgestaltung trotz aller politischen und weltgeschichtlichen Rahmenbedingungen bei jedem selbst und ist nicht schicksalhaft vorgegeben.

 

Die Ereignisse des 20. Jahrhunderts müssen den Menschen in unterschiedlicher Form nahe gebracht werden, da die einen nur durch sachliche Berichte, andere durch die Darstellung von Einzelschicksalen, wieder andere durch Filme oder Bilddokumentationen erreicht werden können; oder wie im vorliegenden Buch, in einer Einbettung geschichtlicher Fakten in einen zu einem Teil tatsächlichen, zum anderen Teil erdachten Lebenslauf. – Der Versuch, möglichst jeden Menschen zu erreichen, muss immer wieder gewagt werden, damit sich im 21. Jahrhundert nicht wiederholt, was die Menschen des 20. Jahrhunderts erleben und erleiden mussten.

 

Alle Menschen jener Zeit, Opfer wie Täter sind für die Nachgeborenen zu Symbolfiguren geworden, für die auch gilt, was der Theologieprofessor Helmut Gollwitzer an sein Patenkind Lukas Ohnesorg, Sohn des beim Berlin-Besuch des Schah von Persien am 2. Juni 1967 erschossenen Studenten Benno Ohnesorg geschrieben hat:

„Du merkst, dass wir Dich und Deinen Vater wie Symbolfiguren anschauen. Wir wollens taktvoll tun, aber doch nicht unterlassen, Dir zu erzählen von dem, was damals war und was daraus wurde, um dann Dich zu beteiligen an der Frage, wie es weitergehen wird.“

 

Klein Wesenberg, im Oktober 2015

 

Klaus-Rainer Martin

 

 

Prolog: Alberts Vorfahren

a) väterliche Linie

 

13. September 1876. Gerade verschwand die Sonne hinter dem „sanften Heinrich“, einer Erhebung, welche das Muldental im westlichen Erzgebirge abschloss. Im Muldental drückten sich ein halbes Dutzend Häuschen des Örtchens Stein an den Berghang. Auf der gegenüberliegenden Seite, direkt am Fluss, liegen das Sägewerk und eine Getreidemühle, beide durch die Wasserkraft der aufgestauten Zwickauer Mulde mit riesigen Mühlrädern getrieben. Auf der Hochebene oberhalb des Muldentales befindet sich bis zum heutigen Tage das Dörfchen Wildbach mit dem weithin sichtbaren Kirchlein. Der dreiundzwanzigjährige Wandergeselle Franz Scheibner stellt seine Schubkarre ab und klopft an die Haustür des kleinen Schusterhäuschens. Wortlos wird ihm von Auguste, der Tochter des Schusters, die Tür geöffnet. Auguste war vor zehn Tagen einundzwanzig geworden. Ohne eine Frage an ihn zu richten, führt sie ihn in die Werkstatt des Vaters und verlässt diese ebenso schweigend wieder. Auch der Schustermeister Alois Thoß setzt seine Arbeit fort, ohne aufzusehen; so, als habe er gar nicht bemerkt, dass seine Tochter jemand in die Werkstatt geführt hat.

 

„Ich bin seit zweieinhalb Jahren auf Wanderschaft und suche für einige Zeit Arbeit und Bleibe,“ bricht Franz das Schweigen. „Ich komme aus Straßburg und habe auf meiner langen Wanderung viel gelernt. Gewiss werdet ihr es nicht bereuen, mir für einige Zeit Brot und Bleibe zu geben.“

Erst jetzt schaut Alois von seiner Arbeit interessiert auf. „Na, dann lass mal deinen Gesellenbrief und das Wandergesellenbuch sehen“.

 

Aufmerksam musterte Alois beides. Derweil lässt Franz seine Blicke in der Schusterwerkstatt umherwandern. Es war nichts Aufregendes in ihr zu entdecken. Sie unterschied sich kaum von den unzähligen Werkstätten, die er seit seiner Lossprechung als Schustergeselle nach bestandener Prüfung am 31. März des Jahres 1871 in Kehl am Rhein gesehen hatte. Arbeit hatte der Meister offenbar genug. Doch es waren zumeist derbe Arbeitsschuhe, wie sie Bauern und Fuhrleute trugen, die ausgebessert fein säuberlich im Regal aufgereiht standen, um abgeholt zu werden oder in der Ecke lagen und noch darauf warteten, wieder besohlt zu werden. Schuhe aus herrschaftlichen Häusern waren hingegen nicht zu entdecken.

 

„Bis zum Beginn des Winters habe ich schon Arbeit. Doch bei Wintereinbruch musst du weiterziehen, denn dann bringt kaum jemand Schuhe zu mir, um sie neu besohlen zu lassen. Eine kleine Dachkammer habe ich auch. Einen festen Lohn kann ich dir nicht zusagen. Was ich dir an jedem Wochenende auszahlen kann, richtet sich nach dem, was ich in der Woche eingenommen habe.“ Franz erklärte sich damit einverstanden. Es war eine Abmachung, wie er sie bisher fast mit jedem Meister getroffen hatte.

 

Nun rief Alois nach Charlotte, seiner Frau: „Das ist Franz, unser neuer Geselle. Er wird bis zum Wintereinbruch bei uns bleiben. Zeig‘ ihm alles, was er kennen muss, damit er sich bei uns zurecht findet.“ Und zu Franz gewandt:

„Wenn du dich umgesehen hast, kannst du sofort hier in der Werkstatt zeigen, was du kannst,“

Zum fünfzigsten Mal wurde Franz auf seiner zweieinhalbjährigen Wanderschaft so oder so ähnlich aufgenommen. Ob ihm dieses „Jubiläum“ wohl Glück bringen wird?

 

Beim Abendessen saßen nur der Meister Alois, seine Frau Charlotte, die Tochter Auguste und der Schustergeselle Franz am Tisch.

„Erzähl‘ uns doch ein wenig von deiner Heimatstadt Straßburg, dem Elsass, was sich dort so in den letzten Jahren zugetragen hat, und von dem, was du auf deiner Wanderschaft so erlebt hast“, munterte Alois den Gesellen Franz zum Reden auf. Franz hatte auf seiner langen Wanderung schon sehr oft diese Aufforderung erhalten. So musste er nicht erst lange nach Worten suchen, sondern begann ohne zu stocken mit seinem Bericht: „Ich komme aus dem Dorf Hausbergen, eine Stunde Fußweg von Straßburg entfernt. Meine Eltern sind deutscher Abstammung. Mein Vater ist Schuhmachermeister in Hausbergen. Ich habe noch zwei Brüder, einer ist als Stellmacher-Geselle auf Wanderschaft, der andere als Müller-Geselle. So lebt nur noch meine Schwester bei meinen Eltern. Sie ist gerade achtzehn Jahre alt geworden. - Viele Jahrzehnte haben Deutsche und Franzosen im Elsass friedlich zusammengelebt. Doch der Hass der Franzosen gegen uns Deutsche wurde immer größer. Frankreich war 1866 gegen den Zusammenschluss Preußens mit anderen deutschen Ländern zum Norddeutschen Bund. Bereits vor der Kriegserklärung von Napoleon III. am 19. Juli 1870 haben wir das Elsass verlassen. In der Zeit von 1869 bis 1871 lebten wir als Flüchtlinge auf der östlichen Seite des Rheins in der Nähe von Kehl. Nach dem siegreichen Ende des Krieges sind meine Eltern mit uns wieder nach Hausbergen zurückgegangen.“

 

„Ja, ja“, meinte Alois, „es war ein langes Hin und Her mit Elsass-Lothringen. Mal französisch, mal deutsch, dann fast zwei Jahrhunderte lang französisch, nachdem 1674 der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. das Land bei einem seiner Raubkriege zurück nach Frankreich geholt hatte. - Aber auch hier im Erzgebirge blieben wir nicht von großen politischen Ereignissen verschont. Viele unserer jungen Männer mussten 1866 ihr Leben auf dem Schlachtfeld von Königgrätz lassen, als die Preußen die Österreicher besiegten und wir Sachsen mit den Österreichern kläglich untergingen. Danach musste Sachsen dem Norddeutschen Bund beitreten und große Teile seines Landes an Preußen abtreten. Schließlich mussten unsere Jungs wieder in den Krieg, als der französische Kaiser Napoleon III. am 19. Juli 1870 den Preußen den Krieg erklärte. Diesmal standen wir aber auf der Seite der Sieger. Auch bei uns war der Jubel groß, als uns die Nachricht erreichte, Napoleon III. sei am 1. September 1870 bei Sedan gefangen genommen worden, und am 2. September habe Frankreich kapituliert. Nun gehört das Elsass endlich wieder zu Deutschland.“

 

Obwohl Alois nie über seine nähere Umgebung hinaus gekommen war, kannte er sich in der Weltgeschichte gut aus. An den langen Winterabenden konnte er sich Zeit zum Lesen nehmen. Und er las alles, was ihm unter die Augen kam. Fein säuberlich bewahrte er jedes Stück bedrucktes Papier auf, mit welchem die Leute ihre Schuhe eingewickelt hatten, wenn sie sie zu ihm in die Werkstatt brachten. Doch am liebsten las er in Geschichtsbüchern. Alle Jahreszahlen von geschichtlichen Ereignissen, ob sie nun wichtig waren oder nicht, kannte er auswendig. Ein Geschichtslehrer hätte seine helle Freude an ihm gehabt.

 

„Das ist schon richtig. Doch in allen Jahrhunderten durften die Deutschen und die Franzosen im Land bleiben, ganz gleich, wer das Land regierte. Deshalb hat wohl jeder Elsässer auch ein wenig französisches Blut in seinen Adern. Gerade diese Mischung macht an uns Elsässern das Besondere aus: Wir sind fleißig und strebsam, wie die Preußen, doch wir wissen auch das Leben zu genießen, wie die Franzosen. Das wurde erst anders, als alles auf einen Krieg zwischen Deutschland und Frankreich hinauslief. Seit aber die Vertreter Deutschlands am 10. Mai 1871 in Frankfurt mit Frankreich einen Friedensvertrag geschlossen hatten, ist vieles anders geworden. Im Reichsland Elsass-Lothringen ist die von den Deutschen eingesetzte Landesregierung mit einem Reichsstatthalter sehr darauf bedacht, alles Französische zu entfernen,“ entgegnete ihm Franz. „Viele Franzosen haben das Land verlassen. Andere sind nur deshalb im Elsass geblieben, weil in Frankreich auch nichts mehr sicher ist, seit der Krieg verloren ist und der Kaiser drei Tage nach seiner Gefangennahme gestürzt wurde. Das Volk hat ihm seine vielen kriegerischen Abenteuer nicht verziehen. Das Land hatte sich nach dem Krieg 1853 bis 1856 auf der Krim, den Krieg gegen Österreich 1859 und seine Expedition 1864-1866 durch Mexiko noch nicht erholt, als er Deutschland den Krieg erklärte. Die erste bürgerliche Regierung der Dritten französischen Republik unter Präsident Thieß konnte sich nicht einmal ein halbes Jahr halten. Und nun regiert mehr schlecht als recht die Pariser Kommune. Da weiß keiner, woran er ist. Das ist schrecklich für die Franzosen.“

 

„Genug von der großen Politik, an der wir doch nichts ändern können. Erzähle uns etwas von dir,“ unterbrach ihn Alois und versuchte, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

 

„Ich besuchte die deutsche Volksschule in Hausbergen. Nach der Schulentlassung Ostern 1868 gab mich mein Vater in die Landeshauptstadt Straßburg in die Schusterlehre. Dort leben viele reiche Leute, Regierungsbeamte und angesehene Bürger. Ein Schuster hat das ganze Jahr über viel zu tun, nicht so, wie auf dem Lande, wo man nur nach den Sommermonaten genügend Arbeit hat, weil dann die Landarbeiter ihre Arbeitsschuhe zur Reparatur bringen. Ein Jahr später, als wir das Land verlassen mussten, bin ich mit dem Meister nach Kehl am Rhein umgezogen. Dort habe ich nach einer dreijährigen Lehrzeit meine Gesellenprüfung abgelegt und anschließend noch bei meinem Vater gearbeitet. Auf Wanderschaft bin ich seit dem Frühjahr 1874,“ setzte Franz seinen Bericht fort.

 

Auguste musterte Franz von Kopf bis Fuß und hörte aufmerksam zu. Doch sie wagte nicht, ihn zu unterbrechen und auch mal eine Frage zu stellen, denn das ziemt sich nicht, wenn sich Männer unterhalten. Vielleicht ergibt es sich irgend wann einmal. Zu gerne hätte sie gewusst, wie es so einem Wandergesellen unterwegs mit den Mädchen ergeht.

 

Franz war ein schlanker, hoch aufgeschossener junger Mann mit dunklem Haar. Er trug einen Oberlippenbart, so wie man ihn in Frankreich trägt. Er war in seinem äußeren Erscheinungsbild ganz anders, als die kleineren, stämmiger wirkenden blonden jungen Männer im Erzgebirge. Das weckte Augustes Interesse. Bestimmt hatte Franz auf der Wanderschaft so manchem Mädchen den Kopf verdreht, dachte Auguste so bei sich.

 

„Und was kannst du sonst noch,“ wollte Alois wissen. „In unserer Gegend muss jeder noch ein zweites Handwerk ausüben, wenn er überleben will. Wenn es nicht genug Arbeit auf dem Schusterschemel gibt, ziehe ich durch die Dörfer und schleife Scheren und Messer, repariere Türschlösser oder flicke Töpfe.“

 

„In Straßburg und in Kehl am Rhein war das nicht nötig. Doch auf meiner Wanderschaft habe ich oft als Stellmacher ausgeholfen. Dieses Handwerk habe ich ein wenig bei meinem älteren Bruder gelernt. Er hat mir auch die schöne Schubkarre gebaut, mit der ich nun schon zweieinhalb Jahre durchs Land ziehe. Mit ihr transportiere ich meine Habseligkeiten und mein Werkzeug für die Schusterei und für die Stellmacherei. Beides könnte ich nie und nimmer auf dem Rücken mit mir herumschleppen. Viele haben mich um meine Schubkarre beneidet. Oft wollte man mich zum Kartenspiel verleiten, um mir meine Schubkarre abzujagen. Doch ich habe mich niemals darauf eingelassen.“

 

„Welchen Weg hast du von Straßburg aus genommen, um bis zu uns ins erzgebirgische Muldental zu kommen“, wollte Alois schließlich wissen.

 

„Oh, das war ein langer Weg. Im ersten Jahr bin ich immer am Rhein entlang bis nach Mainz gewandert. Dabei habe ich in vielen kleinen Orten für ein paar Tage, manchmal aber auch für ein paar Wochen Arbeit und Bleibe gefunden. Ich habe mir auch die großen und bekannten Städte nicht entgehen lassen: Karlsruhe, Mannheim und Worms. Ab Mainz bin ich dem Flusslauf des Main gefolgt. Ich war in Frankfurt und für längere Zeit in Offenbach. Dort wird in jedem zweiten Haus mit Leder gearbeitet: Man fertigt nicht nur Schuhe und Stiefel, sondern auch Sättel und Geschirr für Zugpferde und für Kutschpferde, Gürtel, Taschen, Lederriemen und vieles mehr. Nach drei Monaten zog ich von Offenbach aus am Main weiter. Aschaffenburg, Miltenberg, Gemünden, Würzburg, Ochsenfurt, Kitzingen, Schweinfurt waren meine weiteren Stationen. Am Main habe ich in vielen Ortschaften bei den Weinbauern nicht nur die Schuhe repariert, sondern auch ihre Erntewagen wieder in Ordnung gebracht. So manche Deichsel war gebrochen, manches Rad brauchte neue Speichen. Weiter ging es über Bamberg und Kulmbach in den Frankenwald und ins Fichtelgebirge bis nach Hof. Von Hof aus wanderte ich weiter ins Vogtland. Von hier aus folgte ich der Weißen Elster. Plauen, Elsterberg, Greiz, Weida und Gera waren meine Stationen. In Gera blieb ich über den Winter. Im Frühjahr zog ich weiter nach Altenburg. Hier erfuhr ich etwas von dem Raub der Prinzen Ernst und Albrecht aus dem Altenburger Schloss im Jahre 1455. Ich interessiere mich nämlich für die Geschichte unserer Vorfahren. - Der Raubritter Kunz von Kaufungen, der diese Tat beging, wurde in Zwickau hingerichtet und soll hier in der Nähe in einem Wasserschloss gelebt haben. Deshalb begab ich mich von Altenburg aus über Zwickau durch das Muldental hierher. Und nun bin ich hier bei euch.“

 

„Ja, das stimmt. Hier im Muldental steht von der Mulde umflossen die Burg Stein, in welcher Kunz von Kaufungen lebte. Und etwa eine Stunde flussaufwärts ist die Höhle, in welcher der Raubritter Kunz von Kaufungen den Prinzen Albrecht versteckt hatte,“ entgegnete Auguste, die sich endlich auch mal in das Gespräch einschalten konnte.

 

Auguste war ein sehr hübsches Mädchen. Sie trug das blonde schulterlange Haar züchtig zu einem Knoten zusammengebunden. Das gab ihr eine gewisse Strenge und Unnahbarkeit. Franz hätte Auguste zu gerne einmal ohne diesen Knoten gesehen.

 

Die Zuneigung  Augustes zu Franz wuchs von Tag zu Tag. Und auch er schien Auguste nicht ganz gleichgültig zu sein. Deshalb machte er keine Anstalten, sich zu beeilen, seine Wanderung fortzusetzen. Er blieb den ganzen Winter über in dem Dörfchen Stein im erzgebirgischen Muldental. Alois und er hatten bis zum Wintereinbruch viel in der Schusterei zu tun. Die Fuhrknechte, die das Langholz zum nahegelegenen Sägewerk brachten, kehrten bei ihnen ein, um ihre Schuhe wieder in Ordnung bringen zu lassen. Und da sie meist nur das eine paar Arbeitsschuhe besaßen, das sie an den Füßen trugen, ließen sie sich von der Meisterin einen Teller Kartoffelsuppe vorsetzen, derweil Franz oder Alois sich über die Schuhe her machten. Doch als der Winter kam und die Fuhrknechte ausblieben, mussten sich beide auf ihr zweites Handwerk besinnen. Alois zog mit Schleifstein, Lötzeug, Feilen, Hämmern und Zangen über Land. Franz reparierte bei den Fuhrknechten so manchen Langholzwagen.

 

Als schließlich der Winter um war und beide wieder in der Schusterwerkstatt zu tun hatten, wandte sich Alios eines Tages an Franz: „Es ist mir nicht entgangen, dass du auf meine Tochter Auguste ein Auge geworfen hast. Und bei Auguste beobachte ich auch eine gewisse Zuneigung dir gegenüber. Dagegen ist nichts einzuwenden. Du bist ein anständiger Kerl. Und hier im Muldental gibt es nur die rauhen Fuhrknechte und Sägewerker. Das ist nichts für meine Auguste. Doch ich habe ein paar Bedingungen, die du erfüllen musst, wenn du meine Tochter zur Frau haben willst: Erstens erwarte ich von dir, dass du die Meisterprüfung ablegst. Wenn in der nächsten Woche der Innungsmeister aus Zwickau kommt, werden wir mit ihm darüber reden. Zweitens möchte ich, dass du zum lutherischen Glauben übertrittst. Euer calvinistischer Glaube ist hierzulande unbekannt. Drittens musst du mir versprechen, dass du mit meiner Tochter hier im Erzgebirge bleibst. Es ist schon genug, dass ich meinen Sohn Friedrich nur noch einmal im Jahr sehe, seit er bei der königlich-sächsischen Kavallerie in Dresden dient“.

 

Franz war verblüfft und glücklich zugleich. Er versprach, diese Bedingungen gewissenhaft zu erfüllen. Im Frühjahr 1878, unmittelbar nach der Schneeschmelze, packte er erneut seine Schubkarre, zog das Muldental hinab nach Zwickau, um beim Innungsmeister die Meisterprüfung abzulegen. – Schon im Frühsommer war er wieder in Stein. Auch sein Übertritt vom calvinistischen zum lutherischen Glauben bereitete keine Schwierigkeiten; handelte es sich doch bei beiden um protestantische Glaubensrichtungen. So stand der Hochzeit nichts mehr im Wege. Als Termin wurde das Wochenende der Wildbacher Kirchweih, das erste Septemberwochenende des Jahres 1878 festgelegt. Die Hochzeit musste allerdings ohne den Vater Ferdinand und die Mutter Johanna Scheibner aus Hausbergen bei Straßburg gefeiert werden, denn der Weg mit der Postkutsche vom Elsass ins Erzgebirge wäre für die beiden doch zu teuer, zu zeitaufwändig und zu beschwerlich geworden.

 

Im Juni 1879 stellte sich bei Franz und Auguste Nachwuchs ein. Es war ein Sohn. Sie tauften ihn auf den Namen Richard. Zwei Jahre später, im Mai 1881 kam Rudolf zur Welt. Der junge Schuhmachermeister Franz Scheibner und seine hübsche Ehefrau Auguste lebten die folgenden Jahre in dem kleinen erzgebirgischen Flecken Stein im Muldental als unauffällige Bürger. Doch am 10. August 1889 geschah das Unfassbare. Es war Sonntag. Franz wurde an diesem Tag 36 Jahre alt. Am Vormittag wanderte die Familie nach Wildbach in die Kirche. Am Nachmittag, direkt nach dem Mittagessen begaben sich die Eltern mit ihren beiden Buben auf Wanderschaft. Franz wollte mit der Familie an der Mulde flussaufwärts zur alten Ruine der Isenburg wandern. Zwar war der Weg oberhalb des Steilufers nicht ganz ungefährlich, sie waren ihn aber schon mehrmals gegangen, ohne dass es Probleme gegeben hätte. Doch diesmal geschah es: Gerade als sich die Wandergruppe oberhalb eines Steilhanges befand, stolperte Auguste, stürzte den Steilhang hinab und ertrank vor den Augen des zehnjährigen Richard, des achtjährigen Rudolf und ihrem Ehemann in den Fluten der Mulde.

 

Erst über eine Woche später wurde der Leichnam im Wehr vor dem Sägewerk angespült. Auguste wurde auf dem Friedhof in Wildbach beerdigt. Franz war nach nicht einmal elf Jahren Ehe Witwer geworden. Er blieb zunächst mit seinen beiden Söhnen bei den Schwiegereltern.


b) mütterliche Linie

 

22. November 1863. In dem kleinen Erzgebirgsstädtchen Schönburg erblickt Minna Hilgert als uneheliches Kind der siebzehnjährigen Marie Hilgert das Licht der Welt. Marie war die Tochter des Häuslers und Leinewebers Christian Friedrich und seiner Ehefrau Johanne Sophie Hilgert. Als Häusler wurden diejenigen bezeichnet, die kein Land ums Haus herum besaßen, also keine Bauern waren, ihren Lebensunterhalt aber auch nicht als selbständige Handwerker verdienten, sondern bei einem Verleger unter Vertrag standen, für den sie arbeiten mussten. Die Hilgerts führten in dem kleinen Häuschen in der Bergstraße ein sehr ärmliches Leben. Christian Friedrich Hilgert arbeitete für einen Textil-Verleger aus Chemnitz. An jedem Wochenende ließ dieser die gewebten Stoffe abholen und große Mengen an Wolle mitbringen, die versponnen und verwebt werden musste. Johanne Sophie Hilgert war Weißnäherin. Sie saß den ganzen Tag an der Nähmaschine und nähte für den gleichen Verleger weiße Hemdkragen und „Vorhemden“, die damals bei den feinen Leuten sehr in Mode waren. Als Marie nach acht Schuljahren mit vierzehn Jahren aus der Volksschule entlassen wurde, teilte sie das Los ihrer Mutter und arbeitete ebenfalls in dem kleinen Häuschen als Weißnäherin.

 

Als der junge Offizier Ludwig Hempel von der sächsisch-königlichen Infanterie aus Dresden plötzlich auftauchte, sah Marie eine Chance, diesem ärmlichen Leben zu entkommen. Doch ihr Traum von einem Leben als angesehene Offiziersfrau in Dresden an der Elbe wurde auch von vier anderen jungen Mädchen geträumt. Und so kam es, dass in dem kleinen Erzgebirgsstädtchen Schönburg im Jahre 1863 innerhalb von sechs Monaten fünf uneheliche Kinder geboren wurden. Der junge Offizier wurde deshalb unehrenhaft aus der Armee entlassen. – Vielleicht hatte ihm dieser Umstand sogar das Leben gerettet, denn das königlich-sächsische Heer wurde an der Seite Österreichs 1866 bei Königgrätz vernichtend geschlagen. Der Amtsrichter von Schönburg verurteilte den fünffachen Vater dazu, eine der fünf Mütter zu ehelichen und den anderen vier Kindern bis zu ihrer Volljährigkeit als Unterhalt täglich freien Mittagstisch im Kreise seiner Familie zu gewähren. Ludwig Hempel heiratete die Tochter des Eisenwarenhändlers und wurde selbst Verkäufer in diesem Laden.

 

Christian Friedrich Hilgert achtete streng darauf, dass seine Tochter Marie jeden Mittag rechtzeitig die kleine Minna in den Kinderwagen setzte und zur Eisenwarenhandlung fuhr. Er hielt es für eine angemessene Strafe, dass seine Tochter täglich aufs Neue an ihren Fehltritt erinnert wurde und dieser Demütigung ausgesetzt war. Sonst aber achtete er mit aller Strenge darauf, dass seine Tochter keine Möglichkeit bekam, allein das Haus zu verlassen. – Und auch Minna fand als uneheliches Kind nirgends Anschluss. Das änderte sich auch nicht, als sie groß genug war, um allein zum Mittagessen in die Eisenwarenhandlung zu gehen. Im Gegenteil. Auf ihrem Weg aus der Niederstadt in die Oberstadt wurde sie oft von größeren Kindern gehänselt, mitunter sogar als uneheliches Kind bespuckt oder geschlagen. Sie wagte sich nur über die steile Treppe beim Friedhof hinauf zur Oberstadt. Doch auch dieser Weg war für sie nicht ohne Gefahren. Oft kam sie mit einem beschmutzten oder zerrissenen Kleidchen nach Hause, weil sie beim Weglaufen hingefallen war. Besser erging es ihr auch nicht, als sie zur Schule kam.

 

Das änderte sich erst, als Christian Friedrich Hilgert im Sommer 1871 seiner Tochter Marie eröffnete, dass sie den Kohlenhändler Eduard Trillitzsch zu heiraten habe. Das sei der richtige Mann für sie. Auf Grund körperlicher Mängel war er nicht wie die meisten jungen Männer seines Jahrganges 1870/71 als Soldat für den Krieg gegen Frankreich eingezogen worden. Zudem war er zeugungsunfähig. Ein „richtiger“ Mann käme für sie sowieso nicht infrage. Marie fügte sich dieser Anordnung. Die Hochzeit fand ohne besondere Feierlichkeit statt. Marie zog nach der Heirat mit ihrer Tochter Minna in die Kohlenhandlung in die Oberstadt. Eduard Trillitzsch eröffnete seiner jungen Frau, dass er sie nicht anrühren werde. Doch für Minna werde er wie ein leiblicher Vater sorgen. Er habe sich entschlossen, sie zu adoptieren. Künftig darf sie auch nicht mehr am Mittagstisch beim Eisenwarenhändler teilnehmen. Er könne mit seiner Hände Arbeit selbst für die Familie sorgen. Almosen brauche er nicht.

 

In der Familie von Marie und Eduard Trillitzsch war nichts zu spüren von der Aufbruchstimmung, die nach dem Anschluss des Königreiches Sachsen an das Deutsche Reich und dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich durch das Land zog. Am 18. Januar 1871 wurde in Versailles das Deutsche Reich gegründet und der preußische König Wilhelm von Oranien zum deutschen Kaiser ausgerufen. Als am 10. Mai 1871 in Frankfurt mit Frankreich ein Friedensvertrag geschlossen wurde, musste Frankreich nicht nur auf die Länder Elsass und Lothringen verzichten, sondern an das Deutsche Reich zusätzlich noch fünf Milliarden Goldfranc zahlen. Frankreich brauchte über dreißig Jahre, um diese Summe abzuzahlen. Außerdem wurde es noch weitgehend entwaffnet. Mit den französischen Kanonenrohren wurde in Berlin eine Siegessäule errichtet. Der deutsche Reichskanzler Bismark sorgte dafür, dass der Goldregen aus Frankreich dazu beitrug, das Deutsche Reich zu einem modernen Industriestaat zu entwickeln. Die Stahlindustrie und der Steinkohlebergbau an der Ruhr, an der Saar und im sächsischen Erzgebirge wurden modernisiert. Und überall in Deutschland begann man mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, so auch im Muldental. Die meisten, die Pferd und Wagen besaßen, fuhren Material für die Eisenbahnbaustellen ins Muldental und besserten damit ihr Einkommen auf, solange man an der Eisenbahn im Muldental baute.

 

Eduard blieb aber Kohlenhändler. Nichts konnte ihn dazu bewegen, sein Pferd und seinen Wagen für etwas anderes herzugeben. Und er war ein strenger Ehemann. Ohne seine Zustimmung durfte Marie das Haus nicht verlassen. Er selbst ging dagegen an fast jedem Abend aus, um bis weit nach Mitternacht im Gasthof „Zum goldenen Lamm“ Doppelkopf zu spielen. Wenn er spät nachts nach Hause kam, rief er in breitem erzgebirgisch schon von weitem durch die Gassen: „Weib, biste drham? Ich kumm. Stell‘ schu de Hausschuh warm!“

 

Beim Kartenspiel begnügte man sich nicht mit kleinen Einsätzen, sondern spielte um Haus und Hof. Eines nachts im Jahre 1877 verspielte er sein gesamtes Hab und Gut. Betrunken begab er sich diesmal still nach Hause, weckte nicht den ganzen Ort, sondern schlich sich auf den Dachboden und erhängte sich. Eduard hatte Marie und der Adoptivtochter Minna keinen roten Heller, sondern nur einen Berg Schulden hinterlassen. Deshalb musste Marie am darauffolgenden Morgen mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Minna das Haus verlassen. Der Gewinner des nächtlichen Kartenspiels kannte kein Erbarmen. Marie fand wieder bei ihren Eltern in dem kleinen Leineweberhaus in der Niederstadt Unterkunft und Arbeit als Weißnäherin. Auch Minna, die gerade ihre Schulpflicht beendet hatte, arbeitete von nun an mit als Weißnäherin in dem kleinem Häuschen.

 

Eduard Trillitzsch wurde als Selbstmörder ohne kirchlichen Segen draußen vor der Friedhofsmauer beerdigt. Sein Grab erhielt auch keinen Grabstein.

 

Die Familie Hilgert wurde fortan in dem kleinen Städtchen Schönburg gemieden. Deshalb, und weil sich im nahegelegenen Silberstraße und in Chemnitz größere Webereien entwickelten, welche die Stoffe viel schneller und billiger weben konnten, gingen die Geschäfte der Hilgertschen Leineweberei immer schlechter. Christian Friedrich Hilgert zog sich immer mehr von seiner Umgebung zurück. Als gesetzestreuem und gottesfüchtigem Bürger war die Bürde zu groß, die er ertragen musste. Eine Tochter, die mit siebzehn Jahren ein uneheliches Kind zur Welt brachte, und ein Schwiegersohn, der als Spieler seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Das war für ihn zu viel. Ein Jahr später, 1878 trug man Christian Friedrich Hilgert zu Grabe, im gleichen Jahr auch seine Frau Johanne Sophie. Nun lebte Marie mit ihrer jugendlichen Tochter Minna allein in dem kleinen Leineweberhäuschen.

 

Doch plötzlich war Minna nicht mehr das uneheliche Mädchen, das man meidet, sondern eine „gute Partie“. Wer sie einmal zur Frau bekommt, durfte darauf hoffen, Hausbesitzer zu werden. So verwundert es nicht, dass Minna jetzt von vielen jungen Männern im heiratsfähigen Alter umschwärmt wurde.

 

Weihnachten 1880 heiratet Minna als siebzehnjährige den zehn Jahre älteren Schuhmachermeister Ferdinand Röhner. Für Minna war das ein riesiger Aufstieg. Nun gehörte sie nicht mehr zu den Besitzlosen, sondern war die Ehefrau eines Handwerksmeisters. Ferdinand verkörperte das, was sie bisher in ihrem Leben vermisste. Er trat selbstbewusst auf, war stets zu einem Scherz aufgelegt, war zu seiner jungen Ehefrau sehr liebevoll und genoss in dem kleinen Erzgebirgsstädtchen großes Ansehen. Nach der Heirat zog Ferdinand Röhner in das Leineweberhaus, machte den Webstuhl zu Brennholz und richtete sich eine Schusterwerkstatt ein. Ein Jahr später wurde ihr erstes Kind geboren, Fritz; und zwei Jahre später, 1883, Helene. Doch das Eheglück blieb nicht lange ungetrübt. Ferdinand litt unter Depressionen. Es kam immer häufiger vor, dass er sich morgens weigerte, das Bett zu verlassen. Das wurde immer schlimmer. Oft verließ er sein Bett tagelang nicht mehr. Die Einnahmen gingen zurück. Da griff Minna selbst zum Schusterhammer, um den Lebensunterhalt für die Familie zu erarbeiten.

 

Fünf Jahre nach der Eheschließung war es mit Ferdinand nicht mehr auszuhalten. Ständig musste Minna damit rechnen, dass er sich und seiner Familie etwas antat. Sie suchte Rat beim Pfarrer. Dieser sorgte schließlich dafür, dass Ferdinand in einer der in diesen Jahren zahlreich gegründeten kirchlichen Anstalten, drei Stunden Fußmarsch von Schönburg entfernt, untergebracht wurde. Minna scheute diesen beschwerlichen Weg nicht und besuchte Ferdinand mit den Kindern fast an jedem Wochenende. Sie hatte die Hoffnung, die fachkundige Pflege würde dazu führen, dass Ferdinand bald geheilt wieder nach Hause kommen könnte. Doch sein Zustand verschlechterte sich immer mehr. Schließlich erkannte er von seinen Angehörigen niemand mehr. Bei einem Besuch in der Anstalt im Frühjahr 1889 bat der Anstaltsdirektor Minna zu einer Unterredung: „Frau Röhner, ich will offen mit Ihnen reden. Ihr Mann ist unheilbar krank. Doch in diesem Zustand kann er noch viele Jahre leben. Bald werden Sie nicht mehr in der Lage sein, das Geld aufzubringen, um den Aufenthalt ihres Mannes hier in der Anstalt zu bezahlen. Ihnen wird es nicht erspart bleiben, das Haus zu verkaufen, um diese Kosten übernehmen zu können. Was wird dann aus Ihnen und Ihren beiden Kindern? –Es gibt einen Ausweg aus dieser Lage. Wenn ein Ehepartner unheilbar krank ist, kann man die Scheidung beantragen. In diesem Fall ist Ihr Mann mittellos, und die Armenkasse muss für ihn aufkommen. Sie sollten sich das in aller Ruhe überlegen. Denken Sie an ihre beiden Kinder.“

 

Im Sommer 1889 wurde Minna von ihrem Ehemann Ferdinand Röhner durch den Amtsrichter in Schönburg geschieden. Dennoch besuchte sie so oft sie konnte weiterhin Ferdinand in der Anstalt.


c) Alberts Eltern

 

„Franz, wir beide müssen uns einmal unter Männern unterhalten.“ Alois Thoß fiel es sichtlich schwer, seinem Schwiegersohn das zu sagen, was es zu sagen gab. „Schon in der Bibel heißt es: ‚Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.‘ Gewiss wäre es auch im Sinne von Auguste, wenn du um der Kinder willen wieder heiraten würdest. Wir haben uns in der vorigen Woche beim Stammtisch der Handwerksmeister im „Weißen Ross“ in Schönburg ausführlich darüber unterhalten. In Schönburg lebt die Frau eines Schustermeisters, die sich mehr schlecht als recht abrackern muss, um ihre beiden Kinder zu ernähren. Und in Schönburg gibt es keinen Schustermeister mehr. Das bedauert der Stammtisch der Handwerksmeister sehr. Deshalb macht er den Vorschlag, dass du dich mit dieser Frau zusammentun und sie heiraten solltest. Dann hätten ihre beiden Kinder wieder einen Vater, deine beiden Kinder hätten wieder eine Mutter und Schönburg hätte wieder einen Schustermeister. Natürlich bleiben Charlotte und ich für dich und die beiden Jungen das, was wir immer waren. Überleg‘ es dir.“

 

Zwar besaß die 1869 gegründete Handwerker-Innung längst nicht mehr jene, das ganze Leben eines Menschen bestimmende Macht, wie einst die Handwerker-Zünfte, die im gleichen Jahr aufgelöst worden waren. Doch ihr Wort hatte unter den Handwerkern immer noch viel Bedeutung. Nach dem Gesetz musste zwar jeder Handwerksmeister in die Innung aufgenommen werden. Es durfte kein Aufnahmeantrag mehr abgelehnt werden, wie das in den Zünften üblich war. Doch mit einer erzwungenen Aufnahme war man längst noch nicht innerlich aufgenommen. Deshalb wagte niemand, dem Rat des Stammtischs der Handwerksmeister, wie sich die Handwerker-Innung bescheiden nannte, nicht zu folgen.