Cornelia Goethe ist klug und begabt, sensibel und lebenshungrig. Immer wird sie von anderen bestimmt: vom Vater, vom Bruder Wolfgang, vom Ehemann Johann Georg Schlosser. Sie zerbricht am Widerspruch zwischen eigener Lebenskonzeption und auferlegtem Rollenzwang. Im Alter von nur 26 Jahren stirbt sie 1777 nach der Geburt ihrer zweiten Tochter.

Goethe hat nach ihrem Tod in Dichtung und Wahrheit von der Häßlichkeit und Lebensuntüchtigkeit seiner Schwester gesprochen und damit ihr Bild für die Nachwelt geprägt. Sigrid Damm legt die Ursprünge für dieses ungerechtfertigte Urteil bloß und erzählt einfühlsam von den erstickten Wünschen und Hoffnungen im Leben dieser jungen Frau, vom tragischen Scheitern der Cornelia Goethe.

Sigrid Damm, in Gotha / Thüringen geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin und Mecklenburg. Die Autorin ist Mitglied des P. E.N. und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Feuchtwanger-, den Mörike- und den Fontane-Preis.

Im insel taschenbuch liegen u. a. von ihr vor: Vögel, die verkünden Land. Das Leben des Jakob Michael Reinhold Lenz (it 4418), Christiane und Goethe. Eine Recherche (it 4380), Goethes letzte Reise (it 3300), Das Leben des Friedrich Schiller. Eine Wanderung (it 3232), Wohin mit mir (it 4275)

Sigrid Damm

Cornelia Goethe

Insel Verlag

Diese Biographie erschien erstmals 1987 im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar.

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4417.

© Insel Verlag Frankfurt am Main 1988

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Umschlagabbildung: J. L. E. Morgenstern, Cornelia Goethe, Rötelzeichnung, 1772. Foto: Ursula Edelmann, Freies Deutsches Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum

eISBN 978-3-458-74199-2

www.insel-verlag.de

Nicht viel werden wir

Mehr von Liebe reden, weil der harte und drückende

Irdische Kerker zusammenfällt wie frischer Schnee.

Francesco Petrarca

»1777 Junius … den 8ten vormittags 11 Uhr gestorben, den 10ten beerdigt: Frau Cornelia Friderica Christiana Göthin Ehe-Gemahlin H. Hofraths- und Land-Schreibers Joh. Georg Schlossers alt 26 Jahr 8 Monath.« Eine Grabtafel, schmucklos, mit einer kleinen steinernen Silhouette. Efeu, Stiefmütterchen – es war Ende Oktober, als ich davor stand. Die Tafel eingelassen in die Mauer eines Friedhofes. Die Mauer niedrig, dahinter Stacheldraht, Eisenbahnlinien, Züge lärmen vorbei. Auf der anderen Seite eine Hochstraße voller Autos. Dazwischen, gerade noch geduldet, eine Enklave, der Friedhof, der friedliche Hof mit alten Bäumen und Grabstätten, gepflegt, klein; schnell durchschreitet man ihn. Emmendingen heißt die Stadt, in der das Grab der Cornelia Goethe ist, der Stein verzeichnet auch das, nach dem Junius 1777 und der Zahl 27, der laufenden Eintragsnummer in das Sterberegister des Kirchenbuches, steht: Emmendingen.

Gelegen am südlichen Oberrhein im Breisgau, im Westen die fruchtbare rheinische Tiefebene und die Weinberge des Kaiserstuhls, im Osten Vorberge und Berge des Mittleren Schwarzwaldes. Eine angenehme, wohltuende Landschaft, ein Paradies im Munde der Touristen. Wer auf den Eilwegen in diese Paradiese den kleinen Friedhof in Emmendingen mit der Grabstätte Cornelias aufsucht, tut es wohl zumeist um Johann Wolfgang Goethes willen. Der Name Goethe. Es ist das Grab der Schwester eines großen Dichters.

Ich kam um ihretwillen, kam allein zu Cornelia. Stand vor dem Grab, war voll Zweifel, ob, was mich schon lange bewegte, zu verwirklichen sei: über sie zu schreiben. Kein bedeutsames Werk liegt vor, nur Tagebuchblätter eines jungen Mädchens, auf französisch, in der Zeitmode stilisiert, einige wenige Briefe. Die Überzahl der persönlichen Zeugnisse ist vernichtet. Cornelia ist jung gestorben.

Was war der Grund meiner Zweifel? Ich wollte doch nicht Leistung. Ich wußte doch, daß das Leben dieser Frau gerade im Zuschütten ihrer Ursprünge und Fähigkeiten, im Nicht-Leben bestanden haben muß.

Aber wie etwas beschreiben, was es nicht gab? Einem gestaltlosen, fast ungelebten Leben, ausschließlich im häuslichen Bereich, ereignislos, ohne Ortswechsel, ohne äußere Dramatik, Gestalt geben? Und warum?

Warum sie ein solches Leben lebte – die bedrängende Frage. Feinfühligkeit, Entschlossenheit, Intelligenz, Charakter, Begabung, alles ist Cornelia eigen, dennoch hat sie nicht die Kraft, sie selbst zu sein. Wünsche und Sehnsüchte ersticken in ihr. Immer läßt sie sich von anderen leiten.

Fortwährende Fremdbestimmung. Erst durch den Vater, der streng ist und den sie haßt. Dann durch den Bruder, den sie liebt. Harmonisch-heiter und produktiv ist diese Beziehung, doch letztlich auch zerstörerisch, weil der Bruder sie fallenläßt. Schließlich durch den Ehemann, dem sie zutreibt, um dem Vater zu entkommen. In der Bindung zwischen Frau und Mann wiederum Fremdheit, vielleicht die schmerzlichste, die Haß und Liebe zugleich löscht und nur kalte Gleichgültigkeit beläßt.

»Er hat mir meine Güter genommen. Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen, mein Mitleiden, Helfenkönnen, meine Animalität, mein Strahlen, er hat jedes einzelne Aufkommen von all dem ausgetreten, bis es nicht mehr aufgekommen ist. Aber warum tut das jemand, das versteh ich nicht …« Ingeborg Bachmann schreibt das in »Der Fall Franza«. Cornelias Schicksal, immer wieder durchlebt, an keine Zeit und Umwelt gebunden. Aufhebbar nur im Bewußtmachen.

Cornelias Grab in Emmendingen, ihr steinernes Bildnis auf der Grabplatte, ich trete einen Schritt vor, lege meine Hände darauf. Oktoberkalter Stein.

Erinnere mich an Zeichnungen, die ich von Cornelia kenne. Eine vom Bruder auf einem Korrekturbogen des »Götz«. Mit Bleistift, eine Seitenansicht. Große Ähnlichkeit mit dem Bruder. Für Zwillinge hielt man die Geschwister. Die gleiche Nase, die gleiche hohe Stirn wie der Bruder, aber tiefer liegende Augen, lange Wimpern, geschwungene Brauen. Die Lippen geschlossen, zart und voll. Im Gesicht eine glückliche, in sich gekehrte Heiterkeit. Das Profil klar, schön, streng. Nur die Frisur entstellend, ein unvorteilhafter Aufbau, der Zeitmode entsprechend. Etwa 1770 soll Goethe die Zeichnung gemacht haben, zwanzig ist Cornelia da. Das Porträt hat sehr viel gemeinsam mit dem, was Goethe Jahre später von Charlotte von Stein entwirft beziehungsweise das ihm als Zeichner und ihr als der Porträtierten zugeschrieben wird. Bis heute ist ungeklärt, ob es wirklich Charlotte ist oder nicht doch die Schwester Cornelia. Die Ähnlichkeit beider Frauen, von Johann Georg Zimmermann belegt, der Charlotte wie Cornelia gut kannte, erschwert die Entscheidung. Freundin und Schwester, vielleicht ist es der liebende Blick Goethes, der Gemeinsamkeiten in den Zügen beider Frauen wahrnimmt und zeichnerisch übersteigert.

Ein anderes Bild Cornelias sehe ich vor mir. Es ist mir das vertrauteste. Eine Frau, sensibel, erotisch, mit empfindsamen Zügen. Eine eigenwillige, faszinierende Schönheit. Nichts Gefälliges. Da will nichts nach außen strahlen. Aber etwas ruht in ihr, scheinbar von niemandem erweckt, von niemandem gebraucht. Eine berührende, betroffen machende Einsamkeit geht von dem Bild aus und zugleich eine große Ermutigung, eine innere Kraft, die ich sonst nur von den Selbstporträts der Paula Modersohn-Becker und der Frida Kahlo kenne.

Cornelia Goethes Kopf ist nach vorn geneigt, der Blick gesenkt, die Augen von den Lidern verdeckt. Schwere Lider. Eine schmale Nase. Das volle lange Haar ist nach hinten gekämmt und aufgesteckt, ganz natürlich. Ein Bild ohne die geringste Spur von Koketterie, ohne Pose. Der Maler Johann Ludwig Ernst Morgenstern hat das Porträt geschaffen. Es ist eine Rötelzeichnung, weiß gehöht. Zwischen 1772 und 1775 entstanden, vielleicht als Cornelia schon eine verheiratete Frau ist, ein Kind in ihrem Leib trägt.

Der Bruder wird viele Jahre später die Schwester in »Dichtung und Wahrheit« schildern. Einzig seine Worte haben die Erinnerung an diese Frau nicht gänzlich gelöscht. Ohne ihn wäre Cornelia vergessen. Seine Darstellung löst die Fragen nach ihrem Leben aus. Kleine Freundlichkeiten, Zärtlichkeiten der Kindheit, verstreut über die vielen Seiten, ändern an einem Grundeindruck nichts, er setzt sich fest, wächst: Häßlichkeit bleibt im Gedächtnis. Unsinnlich, häßlich, lebensunfähig sei sie gewesen. Das ist Goethes Urteil über Cornelia. Eigene frühe Zeugnisse seiner jahrelangen liebenden Vertrautheit mit der Schwester sowie Zeugnisse Dritter sprechen eine andere Sprache. Warum Goethes späte, befremdliche Abwehr, sein vernichtendes Urteil?

»Er hat mir meine Güter genommen. Mein Lachen, meine Zärtlichkeit …«, schreibt Ingeborg Bachmann und fragt: »Aber warum tut das jemand, das versteh ich nicht, aber es ist ja auch nicht zu verstehen, warum die Weißen den Schwarzen die Güter genommen haben, nicht nur die Diamanten und die Nüsse, das Öl und die Datteln, sondern den Frieden, in dem die Güter wachsen, und die Gesundheit, ohne die man nicht leben kann, oder gehörten die Bodenschätze mit den anderen Schätzen zusammen, manchmal glaub ich es.«

Am siebenten Dezembertag des Jahres 1750 wird Cornelia Goethe geboren. »Willkommen, kleine Bürgerin / Im bunten Tal der Lügen! / Du gehst dahin, du Lächlerin! / Dich ewig zu betrügen.«

Frankfurt ist der Geburtsort des Mädchens, die Stadt, die »unstreitig in einer der schönsten Gegenden in gantz Teutschland« liegt. »Der Mayn lauffet an dessen Mauren hin und theilet es in zwey Theile, davon die eine Seite ihren Nahmen zum Gedächtnüß der alten Francken beybehalten hat; die andere aber Sachsenhaussen genennet wird …« Die »Laage« sei die »anmuthigste von der Welt«.

»Gegen Morgen siehet man das Gebürge des Oden-Walds, und gegen Abend dasjenige des Wester-Walds. Der von dieser Gegend herab fliessende Mayn-Strohm läst jenes zur lincken und dieses zur rechten Hand, und formiret mit denen an dessen Uffern nächst der Stadt angelegten vortrefflichen Lust-Gebäuden und Gärten allenthalben eine weite und entzückende Ebene«, wie in der »Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes der Freien Reichs- Wahl und Handels-Stadt Franckfurth am Main« von 1747 nachzulesen ist. Ihr Verfasser Johann Bernhard Müller meint: »Wen Gott lieb hat den giebt er Wohnung und Nahrung zu Frankfurth.«

Der Dezember des Jahres 1750 ist kalt. Früher Wintereinbruch. Die flache Ebene nach der West- und Südwestseite der Stadt mit ihrer Mannigfaltigkeit der Fruchtfelder, Obst- und Weingärten liegt starr. Ebenso das getreidereiche Wetterauische Plateau im Nordosten. Einzig Töne in Weiß und Grau. Die Wiederholung am kahlen Himmel. Farblos die Landschaft. Auch der Fluß farblos. Eisstücke treiben darauf. Hauchdünne. Sie treiben dem Ufer zu, am Ufer schichten sie sich übereinander mit einem merkwürdigen Geräusch. Ein hoher singender Ton. Abklingen, Wiederkehr; jede Welle, jede Windbewegung erzeugt ihn von neuem. Die Eisstücke, sie bilden sich unablässig und werden unablässig zerstört.

Auch in der Stadt am Fluß, in Frankfurt, die Wiederkehr des gleichen. Kinder werden geboren, Mädchen und Jungen. Am siebenten Tag des Dezember 1750 das Mädchen Cornelia. Unweit des Stromes in einem verwinkelten gotischen Haus in einer Stube zu ebener Erde.

Der erste Schrei. Kälte, Unbehagen, die Berührung fest zugreifender Hände, die Wohligkeit der mit einer Bettpfanne angewärmten Wiege. Die Aufregung im Haus läßt nach, das Umherrennen, Türenschlagen. Die Kessel mit heißem Wasser in der Küche werden vom Herd gezogen.

Die Mutter ist selbst fast noch ein Kind. Mit siebzehn ist sie an einen viel älteren Mann verheiratet worden, an Johann Caspar Goethe, einen gebürtigen Frankfurter. Achtunddreißig Jahre alt, Kaiserlicher Rat und Besitzer eines ansehnlichen Vermögens. Sie, Catharina Elisabeth, ist die Tochter des Stadtschultheißen und Bürgermeisters Textor. Soziales Prestige bringt sie in die Ehe, er das Geld. Eine für beide Seiten vorteilhafte Verbindung, geschlossen von den Familien. Im ersten Ehejahr das erste Kind, ein Junge, Johann Wolfgang. Nun Cornelia.

Im Haus am Großen Hirschgraben wird das Mädchen geboren. Der Hirschgraben war einst, wie der Name sagt, Wildgehege, die Stadtmauer schloß sich an. Später wird der Graben zugeschüttet, die Fläche bebaut. Gotische Häuser mit Steildächern, doppelten Dachböden, Ecken und Winkeln entstehen. Zwei davon gehören Cornelias Vater Johann Caspar Goethe. Spielstätte in den ersten Kinderjahren. Geheimnisvoll, angsterregend, bergend; die verstaubten Dachböden mit dem vielen Gerümpel, die Mägdekammern und Stuben der Diener, die Küche im Erdgeschoß mit dem großen Herd, dem Rauchfang, die Vorratskammern mit den lockenden Gerüchen, die dunklen Gewölbe unter der Erde, die Treppen, Wendeltreppen und Verstecke im Haus. Im obersten Stock vom Gartenzimmer aus der Blick in die Nachbargrundstücke, bis zur Ringmauer Frankfurts hin, zum Galgentor, durch das die zum Hängen Verurteilten zur Richtstätte herausgeführt werden, durch das Kaiser und Könige ihren Einzug halten, dahinter eine weite Ebene und rechts, zum Roßmarkt hin, in der Ferne die Erhebungen der Taunusberge.

Cornelia wächst mit mehreren Kindern im Haus am Hirschgraben auf. Da ist der Erstgeborene, ihr Bruder Johann Wolfgang, genau ein und ein viertel Jahr älter als sie. Zwei Jahre nach ihr wird Hermann Jakob geboren, 1754 die Schwester Catharina Elisabeth, 1756, am 1. April, wird ein Kind tot geboren, siebenundfünfzig dann kommt Johanna Maria zur Welt, sechzig der Bruder Georg Adolf. Die Kinder erleben sich nie alle miteinander. Die Schwestern und der Bruder Adolf sterben im Alter von einem und zwei Jahren, Hermann Jakob mit sieben Jahren.

Zu Cornelias früher Kindheit gehört die Großmutter väterlicherseits. Sie lebt mit im Haus, bewohnt die Stube zu ebener Erde nach dem Garten hin. Von ihr, Cornelia Goethe, hat die Enkeltochter den Namen. Oft wird das Mädchen bei ihr gewesen sein. Die alte Frau, immer in Weiß gekleidet, wie überliefert ist, hat Zeit, redet, erzählt, verwöhnt die Enkel. Zum Beispiel schenkt sie ihnen das Puppentheater. Der Mechanikus Winkler führt es vor. Es ist das letzte Geschenk der Großmutter. 1753 erkrankt sie, die Kinder dürfen nicht mehr zu ihr, ein Jahr später stirbt sie.

Zu ihren Lebzeiten wagte Johann Caspar Goethe keinerlei bauliche Eingriffe in die einst von der Mutter erworbenen zwei gotischen Häuser am Hirschgraben. Der Plan zu einem Umbau muß ihn aber schon lange beschäftigen, denn sofort nach dem Tod der Mutter beginnt er mit der Ausführung. Aus den verwinkelten alten Gebäuden soll ein einziges Haus werden, in modernem Stil, mit großen Zimmern, breiten Treppen, alles geräumig und hell.

Die Zeit der Bautätigkeit ist eine aufregende Zeit für die Kinder. Der Vater hat zu tun, die Kinder sind oft unbeaufsichtigt. Zimmerleute und Maurer sind im Haus. Wände werden durchbrochen, Balken freigelegt, die Wendeltreppe abgerissen. Spielplätze, gefährliche. Als das Dach abgedeckt wird, kann man nicht im Haus bleiben. Cornelia und die Geschwister werden bei Verwandten untergebracht, im Haus »Zum Esslinger« auf dem Hühnermarkt Ecke Neugasse. Es ist das Geschäfts- und Wohnhaus des Spezereihändlers Georg Adolf Melber und seiner Frau Johanna Marie, der »lustigen Tante Melber«, Schwester der Mutter. Wie zu Hause gotische Gewölbe und Treppen. Aber mehr noch, aus dem Fenster der Blick auf Markttreiben und Messegewühl. Cornelia wird oft am Fenster gestanden haben, die Augen weit, wird das Fenster öffnen, wird sehen und beobachten. Eine lärmende Welt, die an ihr vorbeizieht. Entfernt, nicht greifbar. Wie gern möchte sie näher sein. Neidvoll sieht sie den Bruder Wolfgang da unten zwischen den Menschen, den Buden, Fässern, Wagen, Ständen. Er streift umher. Sie als Mädchen darf das nicht, unschicklich ist es. Manchmal erzählt der Bruder Cornelia von seinen Abenteuern in der Stadt.

Nach zwei Jahren, Ende 1756, ist der Umbau am Hirschgraben beendet. Johann Caspar Goethe hat sich mit dem modernen Haus den Raum geschaffen, in dem er ein Leben nach seinen Vorstellungen führen kann: eine auf Bildung und Besitz gerichtete Existenz. Da der Vater für Cornelia dreiundzwanzig Jahre in diesem Haus die beherrschende Gestalt ist, muß von ihm geredet werden.

Johann Caspar Goethe bekleidet niemals in seinem Leben ein öffentliches Amt. Er übt keine Tätigkeit aus. Er lebt von dem vielen Geld, das er geerbt hat, lebt als Partikular, als Privatmann. Er ist der Sohn eines Schneidermeisters aus dem Thüringischen, der als junger Mann in Paris und Lyon lebte und sich 1686, ein Jahr nach der Aufhebung des Edikts von Nantes, als strenger Lutheraner in Frankfurt am Main niederläßt. In zweiter Ehe heiratet dieser 1705 die Witwe des Gasthalters Schellhorn, sie bringt die Gast- und Schildwirtschaft »Zum Weidenhof« an der Zeil in Frankfurt als Mitgift ein. Dort wird Cornelias Vater 1710 geboren. Nicht Schneider soll der Sohn werden, sondern Jurist; mit Doktortitel und Degen an der Seite sieht der Vater ihn wohl. Mit vierzehn schickt er ihn auf das angesehene lutherische Casimirianum in Coburg. Unterricht in Latein, theologische Bildung, strenger Glaube. Diese Prägung hält sein Leben lang an.

Als Johann Caspar Goethe zwanzig ist, stirbt sein Vater, und er ist künftiger Erbe eines großen Vermögens: der Weidenhof, zwei Häuser, Gartengrundstücke, 14 Insätze und Grundstücksbeleihungen, 17 Sack Geld, nach den Münzen der verschiedenen Staaten sortiert. Nach dem Tode des Vaters setzt Johann Caspar seine Ausbildung fort, zunächst in Gießen, dann vier Jahre an der Universität Leipzig. 1735 geht er ans Reichskammergericht in Wetzlar, mit achtundzwanzig promoviert er zum Doktor der Jurisprudenz. Verschiedene Laufbahnen stehen ihm offen, an der Universität, in Freien Städten, im Fürstendienst oder in der Diplomatie. Als junger wohlhabender Mann geht er aber zunächst auf Kavalierstour. Gleich nach der Promotion, Ende Dezember 1738, bricht er auf. Drei Jahre Bildungsreisen. Italien: Venedig, Padua, Bologna, Loreto, Siena, Rom, Genua. Es wird das große Erlebnis. Später beschreibt er es ausführlich in seinen »Viaggio in Italia«. Nach Italien kommt Frankreich. Paris. Schließlich Straßburg. Dort läßt er sich mit einunddreißig Jahren nochmals für ein Semester an der Universität immatrikulieren, um den berühmten Johann Daniel Schöpflin zu hören.

Ende 1741 ist Johann Caspar Goethe wieder in seiner Geburtsstadt. Die nächsten anderthalb Jahre scheinen allein durch die Anteilnahme an der in Frankfurt stattfindenden Kaiserkrönung ausgefüllt zu sein. Dreißig Wahlkonferenzen in ihrer Vorbereitung, Feste, Feuerwerke, Manifeste, Bälle – ein unvorstellbarer Aufwand. Das Krönungs-Diarium, zwei umfangreiche Foliobände in schönem Druck mit vielen Kupfern, die Tag für Tag der Jahre 1742/43 festhalten, wird Johann Caspar seinen Kindern oft zeigen. Ein Höhepunkt in seinem Leben. Am 15. März 1742 ist dann die Zeremonie, die »graduirte und übrige Bürgerschaft« schwört dem bayrischen Kurfürsten Karl Albrecht den Huldigungseid, er wird als Karl VII. zum Römischen Kaiser Deutscher Nation gewählt und residiert fortan in der Zeil in Frankfurt. Er ist ein Gegner Habsburgs. Bayern erkennt die Thronfolge Maria Theresias nicht an und löst damit den österreichischen Erbfolgekrieg aus, der ganz Europa überzieht. Fast zeitgleich mit der Wahl des Bayern zum deutschen Kaiser reiten in München die Husaren Maria Theresias ein. 1743 siegt dann ihr Verbündeter Georg II., König von England, unmittelbar vor den Toren Frankfurts bei Dettingen über die Franzosen und Bayern. Dann wendet sich der Krieg nochmals. Karl VII. zieht 1744 wieder in München ein, ein Jahr später stirbt er. Wiederum in Frankfurt Vorbereitungen zu Krönungsfeierlichkeiten. Am 13. September 1745 wird dann ein Habsburger, der Gatte Maria Theresias, als Franz I. zum deutschen Kaiser gewählt.

Geschichtsdaten, die ein Stück Lebensgeschichte Johann Caspar Goethes sind. Vom bayrischen Kaiser Karl VII. erkauft er sich in der kurzen Zeit von dessen Herrschaft den Titel eines »Wirklichen Kaiserlichen Rates«. Das Gesuch liegt im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Die Ernennung erfolgt am 16. Mai 1742. 313 Gulden und 30 Kreuzer bezahlt Johann Caspar Goethe dafür. Das Geld wird unter die Beamten der Kanzlei verteilt. Nur der Schultheiß von Frankfurt, die sieben ältesten Schöffen und der älteste Syndikus tragen einen solchen Titel. Es ist eine außerordentliche gesellschaftliche Repräsentanz, die sich damit verbindet.

Der Beginn einer großen Laufbahn für Johann Caspar Goethe? Sein Sohn Wolfgang wird später in »Dichtung und Wahrheit« schreiben, daß Politik, schneller Wechsel der deutschen Kaiser, die Karriere des Vaters zerstört habe. Unter dem Bayern ernannt, habe er vor den Habsburgern keine Gnade gefunden. Er erzählt auch, der Vater habe sich sogar für ein Amt ohne Bezahlung zur Verfügung gestellt, das sei aber abgeschlagen worden, verletzt habe er sich zurückgezogen und geschworen, niemals eine Stellung anzunehmen. Es gibt keine Belege für diese Version, keinen Beleg, daß sich Johann Caspar Goethe jemals um eine berufliche Karriere bemühte, seine Dienste dem Hause Habsburg oder irgendeinem anderen Staate anbot.

Der käufliche Erwerb des Titels »Wirklicher Kaiserlicher Rat« geschieht offenbar einzig, um gesellschaftsfähig und zugleich gesellschaftlich unabhängig zu werden. Johann Caspar Goethe setzt sich mit zweiunddreißig zur Ruhe, lebt zurückgezogen als Privatmann. Er steigt in jene Schicht in Frankfurt auf, die sich als geistige Nobilität versteht. Kunstliebhaber, Sammler, Mäzene im kleinen, Geselligkeiten, ein offenes Haus.

Unter solchem Aspekt wählt der Achtunddreißigjährige wohl auch seine Frau, die Tochter des ersten Mannes der Stadt, des Schultheißen Textor. Am 20. August 1748 wird die Hochzeit gefeiert, »in des Herrn Hoff-Rath von Lohnen garten vor dem St. gallen Tohr unten an der Wind Mühlen gelegen«. Das junge Mädchen muß sich unter Anleitung ihres Ehemannes in Sprachen, Klavierspiel und Singen vervollkommnen. Johann Caspar Goethe selbst beherrscht mehrere Sprachen, zeichnet, spielt Laute, besucht Konzerte, geht in Bürgerhäuser, in denen man sich zu Gastmählern und Vorträgen zusammenfindet. Auch in seinem Haus versammelt sich wöchentlich ein Freundeskreis, ein »amici vicorum«.

Nach dem Umbau des Hauses am Hirschgraben wählt Johann Caspar Goethe ein neues Wappen. Wie er seine Person, sein Haus und das Leben, das er darin führt, gedeutet wissen will, drückt er darin aus. Unter das Wappen der Textors fügt er im Bandstreifen von links unten nach rechts oben drei Leiern. Das Haus »Zu den drei Lyern« heißt es fortan. Im Dienste der Künste und Wissenschaften sieht sich Johann Caspar Goethe.

Sein Lebensstil entspricht dem ganz. Er sammelt Bücher, Steine, Gewehre, Kunstgegenstände. Zum Beispiel aus Holz geschnittene Figuren von niederländischen und deutschen Meistern. Bei einer Auktion kauft er allein fünfzig Figuren, wie der Katalog ausweist. Er besitzt viele Skulpturen und Gegenstände aus Gips und weißem Ton mit antiken und mythologischen Darstellungen. Vor allem aber sammelt Johann Caspar Goethe Gemälde. Frankfurt hat damals eine große Bedeutung als Kunstmarkt, ist Umschlagplatz der Kunst zwischen den Niederlanden und Italien, und die zeitgenössischen Maler stellen hier aus, Tischbein aus Kassel und Seekatz aus Darmstadt. Johann Caspar erwirbt nicht alte Bilder, sondern zeitgenössische, die er zum Teil selbst in Auftrag gibt. Er ist mit Johann Friedrich Uffenbach befreundet, dem die Maler der Stadt, sich gerade aus dem Zunftzwang der Weißbinder und Anstreicher lösend, das Präsidium ihrer neuen Zunft antragen. Johann Caspar Goethes Auftragserteilung ausschließlich an Künstler der Frankfurter Malerschule ist ungewöhnlich. Hundertzwanzig Bilder etwa sind es, die sich in seiner Sammlung befinden. Heinrich Sebastian Hüsgens Kunstführer durch Frankfurt von 1780 zählt Goethes Kabinett zu den sehenswerten der Stadt und verzeichnet die wesentlichen Maler.

Die großzügige Lebensweise im Haus am Hirschgraben ist möglich, da Johann Caspar Goethe über ein zinstragendes Vermögen von 70000 Gulden verfügt. Er gehört damit längst nicht zu den reichsten Bürgern der Stadt. Der Frankfurter Seidenhändler Firnhaber zum Beispiel besitzt 600000 Gulden, der Schnupftabakfabrikant Jacob Bolongaro-Crevenna 2 Millionen Gulden. Zum Vergleich: ein Handlanger verdient täglich 20 Kreuzer, ein Dienstbote bekommt pro Jahr 15 bis 24 Gulden, der Stadtprediger hat ein Gehalt von 500 Gulden jährlich, und Cornelias Großvater Textor, der höchstbezahlte Beamte der Stadt, bezieht jährlich 1800 Gulden. Die Familie Goethe gibt pro Jahr, wie die Buchführung der Jahre 1753-1759 ausweist, im Durchschnitt 2592 Gulden aus. Der Hausumbau allein kostet 14000 Gulden.

Cornelia wächst also in einer Welt von äußerster Wohlhabenheit auf. Da fehlt es an nichts. Schon die Vierjährige bekommt ein silberbesticktes Kleid für 4 Gulden und 32 Kreuzer. Die Sechsjährige erhält einen mit Pelz besetzten Rock für 48 Gulden, wie das Rechnungsbuch vom 18. Dezember 1756 ausweist. Oft fügt Johann Caspar Goethe den Kleiderausgaben ein »Novissima forma« hinzu, was heißt, vom allerneuesten Zuschnitt. Auch Cornelias Bruder und natürlich Johann Caspars Frau werden in dieser Weise versorgt.

Gleichermaßen Wert legt der Vater auf die Erziehung seiner Kinder: »Mein Vater war lehrhafter Natur und wollte gern dasjenige, was er wußte und vermochte, auf andere übertragen. Ihm fehlte keine der Eigenschaften, die zu einem rechtlichen und angesehenen Bürger gehören«, schreibt Goethe rückblickend. Es gibt kaum Dokumente, die zu Aufschlüssen über Mentalität und Charakter Johann Caspar Goethes führen könnten. Die wenigen Überlieferungen geben ein einseitig starres Bild eines äußerst strengen, sich an Prinzipien orientierenden Menschen. Ist das wirklich alles? Gibt es keine Zwischentöne? Wie war Johann Caspar Goethe als junger Mann, was erfreute, erzürnte ihn? Wie war er später? War er genußfähig, heiter, zog er inneren Gewinn aus seinem Besitz, seiner Bildung? Die Fragen bleiben offen.

Die Überlieferer, die Ehefrau, der Sohn Wolfgang, indirekt über letzteren die Tochter Cornelia, sprechen aus der Perspektive von Betroffenen. Sie leiden unter Johann Caspar Goethe, unter den Eigenschaften, die wohl dominierend gewesen sein müssen, und geben damit seine Person in der für sie bedrückenden Einseitigkeit ohne die vielleicht doch vorhandenen Zwischentöne wieder. Ich denke, daß Johann Caspar Goethe mit seinem selbstgewählten Leben als Privatmann letztlich nicht einig werden konnte, das Fehlen eines öffentlichen Betätigungsfeldes sich auf sein ganzes Wesen auswirkte. Die Kehrseite war, daß er aus diesem Mangel heraus seine Familie und die Erziehung seiner Kinder als Hauptinhalt seines Lebens sah. Das Haus am Hirschgraben ist sein alleiniger Aufenthalts- und Arbeitsort. Diese ausschließliche Konzentration auf die Familie bringt es mit sich, daß er im autoritären Verhältnis zu Frau und Kindern soziales Unausgefülltsein und Unsicherheit kompensiert. Alles deutet darauf. Er muß seine »lehrhafte Natur« im Laufe der Jahre immer stärker herausgekehrt haben, muß zunehmend pedantisch, schwierig und grillenhaft geworden sein und sich und seine Familie mit seiner didaktischen Manie tyrannisiert haben.

Seine junge Frau Catharina Elisabeth leidet darunter, versucht sich aber zu entziehen. Heiter, sinnenfroh, wie sie ist, prallt sein Bildungstrieb an ihr ab. Johann Caspar bekommt sie offenbar nie in den Griff. Sie ist nicht uninteressiert, im Gegenteil, ihre Liebe zum Theater, zu Musik und Literatur sind belegt, desgleichen ihre Anteilnahme am Leben von Künstlern, ihre Warmherzigkeit, ihre Lebensklugheit. Sie sieht alles im lebendigen Fluß und entzieht sich jeder Art von Bildungsbesessenheit durch den Gatten. Rückblickend auf ihre Kindheit schreibt sie einmal, daß sie »Gott danke«, daß ihre »Seele von Jugend auf keine Schnürbrust angekriegt hat, sondern daß sie nach Herzens Lust hat wachsen und gedeihen, ihre Äste weit ausbreiten können und nicht wie Bäume in den langweiligen Ziergärten zum Sonnenfächer ist verschnitten und verstümmelt worden«. Eine Anspielung auf ihren Gatten und seine Erziehungsvorstellungen? Die Verhältnisse damals schließen Widerspruch aus. Catharina Elisabeth tut zu Lebzeiten alles, wie es der Mann wünscht. Opposition wird lediglich heimlich betrieben. Als Schild werden die obligatorischen Hausfrauenpflichten vorgehalten. Kaum ist denkbar, daß es ihre wirkliche Abneigung gegen die bildende Kunst gewesen ist, sondern vielmehr die gegen ihren Mann und seine systematische Sammlertätigkeit, die sie später seine Skulpturen und Plastiken als »Nacktärsche« bezeichnen läßt und sie nach seinem Tode, als sie eine kleine Wohnung bezieht und das Haus am Hirschgraben räumt, sagen läßt: »… alles kling klang wird verkauft …« Vom Seekatzschen Familienporträt, auf das Johann Caspar so stolz war, meint sie, Rahmen und Brett zum Übermalen seien noch tauglich.

Die Kinder aber können sich dem Vater nicht entziehen. »In dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern«, schreibt Goethe auf einem Blatt, das er »Dichtung und Wahrheit« einfügen wollte, »entwickelte sich der sittliche Charakter der ersten eigentlich gar nicht. Der Abstand ist zu groß. Dankbarkeit, Neigung, Liebe, Ehrfurcht halten die jüngeren und bedürftigen Wesen zurück, sich nach ihrer Weise zu äußern. Jeder tätige Widerstand ist ein Verbrechen. Entbehrungen und Strafen lehren das Kind schnell auf sich zurückzugehen und, da seine Wünsche sehr nahe liegen, wird es sehr bald klug und verstellt.« Johann Caspar Goethe ist ein Vertreter des Barock und seiner Pädagogik, in ihr gilt das Familienoberhaupt als Stellvertreter Gottes.

Da er alles, wie der Sohn später sagt, »nur durch unsäglichen Fleiß, Anhaltsamkeit und Wiederholung erworben« hat, verlangt er Gleiches von seinen Kindern. Streng und unnachgiebig ist der Vater. Er entwirft einen Erziehungsplan, bestimmt die Lehrer, zehn sind es insgesamt, die seine Kinder im Laufe der Jahre unterrichten. Er scheut keinerlei Kosten, und er beaufsichtigt, prüft, gibt ihnen auch selbst Stunden. Ein anstrengendes Programm, das er mit großer Konsequenz durchsetzt.

Erlernen von Lesen und Schreiben bereits im dritten Lebensjahr, Elementarunterricht auch in anderen Fächern, mit sieben Griechisch und Latein, mit neun kommt Französisch hinzu. Und immer wieder das Fach Schönschreiben. Mathematik. Unterweisungen im Zeichnen, im Spielen eines Instrumentes. Italienischunterricht, vom Vater erteilt. Englisch, Geographie, Einführung in das Studium juristischer Werke, Fechtunterricht, Reiten, Anstandslehre, Tanz.

Die Kinder sind vollauf beschäftigt. Bei Cornelias Brüdern dient der Unterricht von vornherein der Vorbereitung eines Universitätsstudiums. Bei ihr aber, dem Mädchen? Johann Caspar Goethe macht etwas für seine Zeit Ungewöhnliches, er läßt seiner Tochter Cornelia dieselbe Bildung zuteil werden wie seinen Söhnen Wolfgang und Jakob. Sicher gibt es graduelle Unterschiede vom Alter der Kinder her, auch mag der Schwerpunkt auf dem Erstgeborenen liegen, bei Cornelia wird mehr Wert auf musische Fächer gelegt werden. Aber im Prinzip erhält das Mädchen die gleiche umfassende Ausbildung wie die Brüder.

Bereits im Mai 1753, die Tochter ist noch nicht einmal drei, schickt der Vater sie zur »Ludimagistrae Hoffin«. Maria Magdalena Hoff ist die erste Lehrerin Cornelias. Sie hat eine Spielschule für Jungen und Mädchen, der Bruder Wolfgang ist seit einem Jahr dort. Etwa zwanzig Kinder aus den angesehensten Familien der Stadt kommen da zusammen.

Jeden Tag nun für Cornelia der aufregende Gang durch die Stadt. Freilich, es ist nicht weit, im Sechsten Quartier, das den Großen Hirschgraben, die Weißadlergasse, die Katharinenpforte und den Großen Kornmarkt umfaßt, befindet sich das Haus der Frau Hoff. Cornelia wird von einem Diener hinbegleitet. Zum Mittagessen wird sie in das Haus am Hirschgraben zurückgeholt. Den Nachmittag verbringt sie wieder in der Schule. Es ist eine Ganztagsschule. Biblische Geschichten werden erzählt, aus volkstümlichen Erbauungsbüchern wird vorgelesen. Die Einführung in das Schreiben, Lesen und Rechnen beginnt. Das ist meist nur für die Knaben, die Mädchen lernen Stricken. Cornelia interessiert sich für das, was die Jungen tun. Der Bruder wird ihr schon im Vorjahr im Haus am Hirschgraben stolz seine Kenntnisse vorgeführt und sich ihr gegenüber als kleiner Lehrer betätigt haben. Er borgt ihr seine Tafel mit den Linien, gibt ihr Papier, läßt sie probieren. Übt mit ihr, wie es die Schulmeister tun. Buchstaben, Silben, Worte und Sätze werden mit Bleistift geschrieben, Cornelia muß sie mit Tinte nachziehen. Einiges kann das Mädchen wohl schon, als sie sich an den großen Tisch bei Frau Hoff setzt. Ein Abc-Buch mit den Sprüchen Salomonis kauft der Vater am 14. Februar 1754 für zwölf Kreuzer.

Bald gibt es für das Mädchen in der Spielschule der Maria Magdalena Hoff nichts mehr zu lernen. Der Vater nimmt Cornelia heraus, meldet sie im Rolandschen Institut an. Diese Lehranstalt, an die eine Pension gebunden ist, wird von dem Franzosen Johann Nicolaus Roland geleitet. Die Schule bietet ein vielseitiges Unterrichtsprogramm, das das der deutschen Schulmeister weit übertrifft. In den »Frankfurter Tag- und Anzeigen-Nachrichten« vom 16. Oktober 1753 erscheint ein Avertissement, Roland verkündet, »die Jugend beiderlei Geschlechts mit Hilfe der geschicktesten Meister in allen Wissenschaften zu unterrichten«. Die Anstalt wird, wie das Schüler-Verzeichnis vom 1. Juli 1755 ausweist, von den Kindern der reichsten Frankfurter Bürger besucht.

Cornelia im Rolandschen Institut. Voll- und Halbpensionäre gibt es da. Cornelia, die die Schule vom 1. April 1756 bis Ende Februar 1757 besucht, gehört wohl zu den Halbpensionärinnen, denn im Rechnungsbuch des Vaters sind in diesem Zeitraum jeweils für den Monat drei Gulden eingetragen. Cornelia beginnt mit dem Französischen, sie vervollkommnet sich weiter im Lesen, Schreiben und Rechnen, lernt etwas Geographie und wird in die Anfangsgründe des Zeichnens eingeführt. Sie erhält ihren ersten Unterricht in den »galanten Wissenschaften«, der Anstandslehre. Noch nicht sechs Jahre ist Cornelia, als sie in das Institut kommt, als sie es verläßt, ist sie sieben. Der Bruder besucht diese Schule nicht. Cornelia geht allein, eine kurze Zeit wohl zusammen mit Hermann Jakob. Wolfgang, den der Vater in die Schellhaffersche Quartierschule schickt, ist von April sechsundfünfzig an zu Hause. Er hat die Blattern, ist bis November krank, die Narben im Gesicht bleiben zeit seines Lebens. Erst hat er keinen Unterricht, dann übernimmt der Vater ihn, gibt Latein, zieht nach und nach Privatlehrer für die anderen Fächer hinzu.

Mit dem Austritt aus dem Rolandschen Institut im Februar 1757 endet für Cornelia der Besuch einer öffentlichen Schule. Sie wird fortan zu Haus unterrichtet, meist gemeinsam mit den Brüdern Wolfgang und Jakob.

Die Belastungen durch das Lernen sind für Cornelia groß. Aber auch ihr Eifer und ihre Wißbegier. Sie hat vermutlich eine schnelle Auffassungsgabe, und die Freude am Erlernten, an der eigenen Leistung tröstet sie über manches hinweg. Vielleicht versteht zu diesem Zeitpunkt der Vater auch noch, das Mädchen durch kleine Belohnungen in ständiger Bereitschaft zu halten. Die Zeit zum Spielen allerdings wird knapp gewesen sein. Immer seltener geschieht, was die Mutter später der jungen Bettina Brentano erzählt: »Meine Kinder machten mit ihren Schulkameraden auf Tischen und Stühlen die tollsten halsbrecherischen Gefährlichkeiten, sie bauten Türme und spielten Festungsbelagerung und stürzten Hals über Kopf mitsamt einem unterminierten Turm herunter.« Cornelia mit den Brüdern, den Freunden der Brüder, ausgelassen ist sie, wild.

Vergnügungen, wenige, auch außerhalb des Hauses. Spaziergänge am Mainufer, die Beobachtung der kleinen und großen Nachen auf dem Fluß, die Ankunft des von Mainz zurückkehrenden Frankfurter Passagier- und Marktschiffes. Bei Windstille wird es von drei Pferden stromaufwärts getreidelt. Cornelia auf der Promenade, die am Ufer entlangläuft. Sie ist in Begleitung Erwachsener. Herausgeputzt, artig, gesittet, wie es gewünscht wird.

Etwas lockerer geht es zu, wenn ein Gang in die Gärten ansteht. Drei besitzen die Goethes, einen Garten vor dem Friedberger Tor, einen Baumgarten vor dem Eschenheimer Tor und einen Rebhang am Röderberg. Äpfel, Birnen, Zwetschgen, Walnuß, schwarze und weiße Maulbeere, Mandel, Mispel, Weinrebe. Die Rebenernte ist das lustigste Fest, bis in die Dämmerung hinein Lachen und Singen, eigenes und das von anderen Rebgärten herüberschallende, dann mit dem Einbruch der Dunkelheit das Feuerwerk, Lichter am Himmel, Schüsse, auf dem Heimweg Stille und Kühle der Herbstabende.

Auch zur Großmutter Anna Margaretha und zum Großvater Johann Wolfgang Textor mag das Mädchen gern gehen. Meist Einladungen des Sonntags zum Mittagsmahl, gemeinsam mit den Eltern. »Gänse Flügelgen«, Pastetchen, Kapaun in Gelee und die Brottorte der Großmutter. Und wenn man Halsweh oder Magenverstimmung hat oder vorgibt, sie zu haben, bekommt man eine wohlschmeckende Arznei aus Ehrenpreis, Hirschzungenblättern, Muskatblumen und anderen Kräutern. Aber bald schon werden die Besuche bei den Großeltern Textor seltener, es gibt politische Unstimmigkeiten zwischen Großvater und Vater.

Im Jahr 1756 ist ein Krieg ausgebrochen, den man dann den Siebenjährigen Krieg nennen wird. Preußen hat ihn veranlaßt, und Johann Caspar Goethe steht auf der Seite Preußens, verherrlicht Friedrich. Der Stadtschultheiß Textor dagegen ergreift für Österreich und den Kaiser Partei. Es kommt zu Auseinandersetzungen und beinahe zu Tätlichkeiten zwischen Textor und seinem Schwiegersohn. Am 1. Januar 1759 dann wird Frankfurt von französischen Truppen besetzt, die erst im Februar 1763, nach dem Frieden von Hubertusburg, die Stadt wieder verlassen. Für Johann Caspar Goethe ist es eine unerträgliche Situation, zumal für zweieinhalb Jahre, bis zum 30. Mai 1761, der französische Stadtkommandant Graf Thoranc bei ihm einquartiert wird und in den Prunkräumen des ersten Stockes wohnt. Offiziere und Ordonnanzen im Haus am Hirschgraben, Bittsteller, Bürger. Es ist eine ständige Unruhe. Die große Tür wird nicht abgeschlossen. Zwei Wachen stehen Tag und Nacht davor.

Für die Kinder ist das eine aufregende Sache. Sie erleben den Siebenjährigen Krieg nicht wie unzählige andere als Elend und Not, sie erleben ihn, in ihrem behüteten Großbürgerhaus, als Abenteuer. Nicht nur Militärs gehen bei Graf Thoranc aus und ein, sondern sehr bald die Frankfurter Maler. Der Franzose bewundert die Gemäldegalerie von Johann Caspar Goethe, will eine ähnliche erwerben und löst den größten Mäzenatenauftrag aus, den die Frankfurter je erlebt haben. Wolfgang muß sein Giebelzimmer räumen. Es hat das beste Licht und wird daher Malwerkstatt. Vierhundert Bilder gibt Thoranc in Auftrag und nimmt sie nach den zwei Jahren in seine Heimat Grasse in der Provence mit. Die Kinder werden den Malern oft zusehen, heimlich, gegen den Willen des Vaters, werden beobachten, was im Haus vor sich geht, immer wieder zurückgerufen von Johann Caspar zu ihren Arbeitspflichten, zum Unterricht, zum Üben von Lektionen.