Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Niki Glattauer • Mitteilungsheft: Leider hat Lukas …

Niki Glattauer

MITTEILUNGSHEFT

und am Kugelschreiber: Verena Hochleitner

Mein besonderer Dank gilt Karin W., Romana G., Sylwia R. und Robert R., die mir die Mitteilungshefte ihrer Kinder zur Verfügung gestellt haben.

Prolog

Mitteilungsheft

Reingard Söllner

Donnerstag, 30. September

Sehr geehrte Frau Gruber!

Leider hat Lukas nach einem Monat (!) Schule noch immer kein Schreibzeug. Außerdem fehlen ihm diverse Hefte und Hefteinbände (siehe auch Eintragung vom 22.9.). Könnten Sie bitte über das Wochenende dafür sorgen, dass seine Schulsachen vollständig sind.

Außerdem braucht er für GZ dringend Tuschstifte und einen weißen Radiergummi. Ein rot-blauer Radiergummi ist für GZ leider ungeeignet! Wenn Sie meine diesbezüglichen Angaben in der GZ-Mappe bitte genauer lesen würden.

Frau Professor Sibera lässt Ihnen noch ausrichten, dass das Nasenpiercing Ihres Sohnes beim Turnen stört. Sie wird sich melden.

Mag. Reingard Söllner

U:

PS: Das Mitteilungsheft Ihres Sohnes ist seit zwei Wochen nicht unterschrieben. Bitte nachholen.

Lukas

Am Montag entfällt die letzte Stunde. Frau Prof. Sibera krank! Unterricht endet um 12 Uhr.

U:

Reingard Söllner

Montag, 4. Oktober

Sehr geehrte Frau Gruber!

Leider haben Sie auf die letzten Eintragungen ins Mitteilungsheft wieder nicht reagiert. Lukas behauptet, er hätte Ihnen das Mitteilungsheft gezeigt, allerdings fehlen Ihre Unterschriften, leider auch die auf die letzte Eintragung, sodass Ihr Sohn heute bis 13 Uhr in einer anderen Klasse bleiben musste. Er wird dabei Gelegenheit gehabt haben, die Hausordnung zu lernen.

Der Verbleib eines Schülers an unserer Schule hängt entscheidend von seiner Einstellung zur Schule ab, damit sind seine Arbeitshaltung und ein entsprechendes Sozialverhalten gemeint. Wenn Sie Ihrem Sohn bitte den Ernst der Lage klarmachen würden …

Mag. Reingard Söllner

U:

Lukas

Frau Professor Moss ist ab nächster Woche in Babykarenz. Prof. J. Rowling ist interimistisch die neue Englischlehrerin der 3A. Ich brauche für E: A4-Ringmappe. Einlagen: liniert mit Korrekturrand. 5 Zwischenblätter: SEX (SÜ), HEX I (HÜ ungerade) HEX II (Hü gerade). A5 Vokabelheft mit 3 Spalten!

Sabine Gruber

Liebe Frau Söllner,

Doch, ich habe Ihre Mitteilungen gelesen und zur Kenntnis genommen. Wie Sie vom letzten Schuljahr her wissen, ist es meine Schwäche, dann manchmal auf das Unterschreiben zu vergessen. Was Lukas’ Einstellung zur Schule betrifft: Wir arbeiten daran.

Ich nehme an, dass mit „Tuschstifte“ Pigment-Liner gemeint sind, „Tuschstifte“ gibt es unter dieser Bezeichnung nicht mehr. Pigment-Liner befänden sich jetzt in der Schultasche. Zusammen mit neuen Hauspatschen.

Vielleicht könnten Sie mir jetzt noch erklären, was die Hieroglyphen bedeuten, die mein Sohn ad Englisch ins Heft geschrieben hat. Er kann es nämlich nicht. Mit Ausnahme des Wortes SEX. Aber da ist, denke ich, auch etwas anderes gemeint.

mfG, Mag.tra Sabine Gruber

PS: Wenn Lukas’ Nasenpiercing im Turnunterricht stört (Tratscht es? Turnt es nicht mit? Blendet es die Turnlehrerin?), lassen Sie es doch die Hausordnung lernen, vielleicht turnt es dann besser mit.

Lukas

Frau Professor Rowling hat mir erklärt, dass SEX „School Exercise“ heißt! Auf Deutsch Schulübungen.

U:

Leider ist mein Schreibzeug noch immer nicht ganz vollständig. Mir fehlen noch Füllfeder, Faserschreiber, Buntstifte, Bleistifte, Radierer, Spitzer, kleines Geodreieck, großes Geodreieck, Füllfedernpatronen und Federpienal.

U:

Frau Prof. Gutierrez auf Auslandssemminar. Vorläufig noch kein Spanisch. Unterrichtsschluss am nächsten Montag um 11.50 Uhr.

U:

Reingard Söllner

Dienstag, 5. Oktober

Sehr geehrte Frau Gruber!

Leider stört Ihr Sohn Lukas fast jeden Vormittag den Unterricht. Er tratscht und verweigert jede Form der Mitarbeit (Aufzeigen!). In den Pausen nervt er seine Lehrer mit provozierenden Äußerungen oder schreibt Hausübungen ab. Reden Sie bitte mit ihm!

Mag. Reingard Söllner, Klassenvorstand

U:

Sabine Gruber

Sehr geehrte Frau Söllner,

Leider verdirbt uns Ihr Schüler Lukas fast jeden Abend die Stimmung. Er schweigt und verweigert jede Form der Mitarbeit (Tisch decken!). Beim Abendessen nervt er seine Familie mit seinem Smart-Trottel oder er streitet mit seiner Schwester. Reden Sie bitte mit ihm!

Mag.tra Sabine Gruber, Mutter

U:

Reingard Söllner

Mittwoch, 6. Oktober

Sehr geehrte Frau Gruber!

Ich habe mir erlaubt, Ihre letzte Eintragung ins Mitteilungsheft unserem Herrn Direktor, Hofrat DDr. Weiser, zu zeigen. Da ich Sie telefonisch nicht erreichen kann, bitte ich Sie, am Freitag in der Zeit zwischen neun und zehn Uhr in der Schule zu einem persönlichen Gespräch in der Direktion zu erscheinen.

Mag. Reingard Söllner

U:

Sabine Gruber

Liebe Frau Söllner,

Ich pflege grundsätzlich nicht zu erscheinen, dafür bin ich nicht ausreichend erleuchtet. Sie wollen mich freundlich zu einem Gespräch bitten? Ab ca. 20 Uhr stehe ich gern zur Verfügung, sieben Tage die Woche. Gegen 19.30 Uhr kann ich nämlich meinen Arbeitsplatz verlassen, nachdem ich in der Regel ca. zehn Stunden dort verbracht habe (anders als manche Lehrer, die man ab 14 Uhr bei der Gartenarbeit beobachten kann). Ein Vormittagstermin ist in der nächsten Zeit für mich jedenfalls leider nicht möglich. Das können Sie gern auch Ihrem Herrn Direktor Hofrat Doktordoktor ausrichten.

Mag.tra Sabine Gruber

Reingard Söllner

Freitag, 8. Oktober

Sehr geehrte Frau Gruber!

Da Sie zu unserem Termin heute, Freitag, leider nicht gekommen sind und auch keinen ernst gemeinten Ersatztermin angeboten haben, halte ich hiermit fest:

Sollte Lukas weiterhin ohne das erforderliche Lernmaterial zur Schule kommen – das gilt zum Beispiel für Bücher, Hefte, Schreibzeug, Lineale, Zirkel, Geodreieck, etc. –, wird er die an ihn gestellten Anforderungen vermutlich nicht erfüllen können. Wie Sie bestimmt wissen, ist in Österreich ein Gymnasium keine Pflichtschule. Vielleicht wäre es angemessen, zu Semesterende den Wechsel in eine Hauptschule in Betracht zu ziehen. Verstehen Sie das bitte nicht als Drohung, sondern als Ratschlag.

Mag. Reingard Söllner

Walter Gruber

U: mit freundlichem Gruß gesehen, Walter Gruber

Walter Gruber per Computerausdruck

Sehr geehrte Frau Professor Söllner,

Meine Frau hat mich gebeten, Sie zu kontaktieren. Sie hat im Sommer die Leitung eines großen Architektenbüros übernommen und weiß momentan nicht, wo ihr der Kopf steht. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich am Mittwoch bei Ihnen erscheinen. Grundsätzlich kommt natürlich auch jeder andere Termin für mich in Frage.

Bei der Gelegenheit möchte ich Sie bitten, ab jetzt mich als Ansprech- bzw. Anschreibperson zu betrachten.

Ich weiß von meiner Frau, dass Sie am ersten Elternabend ausdrücklich darum gebeten haben, nicht per Mail kontaktiert zu werden, was ich selbstverständlich gern respektiere. Da ich aber meine Handschrift nicht einmal mehr selber lesen kann, bin ich so frei, Ihnen hiermit per Computerausruck zu antworten, den ich formlos in ein geschlossenes Kuvert stecke. 100er-Packung Briefumschläge bereits gekauft! Höflich bitte ich Sie nur, den Erhalt meiner Schreiben zu bestätigen, sofern Sie im Heft nicht direkt darauf antworten.

Lukas’ Schulsachen sind inzwischen komplett. Wir haben den Samstag dafür genutzt, das Schreibzeug (samt Penal!), die fehlenden Hefte und anderes Lernmaterial zu besorgen.

Walter Gruber, am Freitag, den 8. Oktober

PS: In welche Klasse geht Lukas eigentlich?

PPS: War ein Scherz!

1

C:\Users\Walter\Dokumente\LukasSchule\TagebuchadMitteilungsheft
Freitag, 8. 10.

Dann wird KuL, Kümmern um Lukas, jetzt also meine neue Hauptnebenbeschäftigung werden. Auch okay. Bis jetzt waren sich Bine und ich diesbezüglich einig: Sie macht Lukas. Ich mache Laura, gendermäßige Verschränkung sozusagen, ich den Sohnemann, meine Frau seine kleine Schwester. Leider kommt Sabine mit dieser Söllner inzwischen nicht mehr zurecht. Da ist letztes Schuljahr etwas gekippt. Zu Beginn der ersten Klasse hat es noch geheißen: „Lukas, ich weiß gar nicht, was du hast, die ist ur nett.“ Am Ende der ersten: „Lukas, beruhig dich, die kann auch ur nett sein.“ Zu Beginn der zweiten: „Hör zu, Lukas, eine Lehrerin muss nicht in erster Linie nett sein.“ Am Ende der zweiten: „Okay, Lukas, zu den Netten gehört die nicht. Aber wir ziehen das durch.“ Und jetzt: Totalschaden:

– Aus! Schluss! Walter, Schatz, ich mache das nicht mehr länger mit!

– Aha?

– Nix aha. Ich mach das nicht mehr länger mit. Jetzt bist du dran.

– Und was genau machst du nicht mehr mit?

– Alles. Lukas. Die Schule. Die Lehrer. Die Söllner. Die Vorladungen. Alles. Als Mutter eines Schulkinds kannst du dein Theater-Abo gegen ein Libro-Abo eintauschen, so viel Zeit verbringst du in einem Papierwarengeschäft. Tuschstifte, Geodreiecke, Hefte. Wozu überhaupt diese vielen Hefte? Wer schreibt im richtigen Leben bitte in Hefte! Schreibst du in ein Heft? Zeichne ich in ein Heft? Aber solange du zur Schule gehst – Hefte, Hefte, Hefte. Hefte mit Korrekturrand, Hefte ohne Korrekturrand. Große Hefte, kleine Hefte, Mittelquarthefte. Hefte im Hochformat, Hefte im Querformat. Hefte in roten Einbänden, Hefte in gelben, Hefte in blauen Einbänden. So viel Wissen gibt es gar nicht, wie ein Kind heute Hefte dafür braucht. Und dann musst du dich von diesem Trampel von einer Lehrerin auch noch dafür anschnauzen lassen, dass es dein Sohn nicht schafft, den richtigen Radiergummi einzustecken. Ich bin bitte Innenarchitektin! Und da tut die so, als wüsste ich nicht, welcher Radiergummi für welch…

– Bine, beruhig dich! Außerdem kann dich Lukas in seinem Zimmer hören, wenn du so laut redest!

– Du vergisst, dass er 24 Stunden am Tag Stöpsel im Ohr hat.

– ICH HÖR EH NICHTS!

– Ist mir außerdem egal, ob Lukas etwas hören kann.

– ---

– ---

– Du solltest die Söllner vor ihm trotzdem nicht Trampel nennen. Sie ist seine Mathe-Professorin, außerdem ist sie sein Klassenvorstand. Damit ist sie für ihn so etwas wie Kaiser Augustus, und er sitzt in der Galeere am Ruder.

– WIE WER IST SIE?

– AUGUSTUS. EIN RÖMISCHER KAISER! DEN NAMEN SOLLTEST DU EIGENTLICH SCHON EINMAL GEHÖRT HABEN!

– CAESAR HAB ICH SCHON GEHÖRT!

– Und wie die mit einem redet!

– Schreibt. Sie schreibt mit dir, sie redet nicht mit dir. Sie will zwar mit dir reden, aber du offenbar nicht mit ihr. Sei ehrlich, Bine, du willst dir keine Zeit für sie nehmen. Ich versteh das ja auch irg…

– Fällst du mir gerade in den Rücken?

– Das hat mit in den Rücken fallen nichts zu tun. Aber ich habe inzwischen die Mitteilungen im Mitteilungsheft gelesen.

– Und?

– Ich meine, deine Mitteilungen.

– Und?

– Nix und.
Besonders höflich warst du nicht.

– Ich war nicht höflich? Wer behandelt da wen ununterbrochen von oben herab? Erscheinen soll ich. Was nimmt sich dieser Trampel da heraus.
Und auf welcher Seite stehst du jetzt eigentlich?

Der Streit hatte gestern bereits beim Abendessen unter dem geöffneten Fernseh-Altar begonnen. Die Welt-Nachrichten waren vorbei, die Teller abgeräumt, gleich wären die Society-News gekommen. Aber dann:

– Aus! Schluss! Walter, Schatz, ich mache das nicht mehr länger mit!

– Aha?

Nix aha. Ich mach das nicht mehr länger mit. Jetzt bist du dran.

Also der Griff zur Fernbedienung. Mute. Bild ohne Ton. Für Laura das Signal, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen. Eine halbe Stunde später haben wir auch Lukas aus dem Zimmer geschickt („Nein, zum Kuckuck, wir streiten nicht, wir diskutieren! Und wenn dir das nicht passt, kannst du ja gehen und schauen, was deine kleine Schwester macht!“). Eine weitere halbe Stunde später ist Sabine wütend aus dem Zimmer gelaufen („Warum musst du, wenn es um Lukas und die Schule geht, immer gegen mich argumentieren?“) Noch eine halbe Stunde später sind wir stumm nebeneinander im Bett gelegen. Fast stumm.

– Sabine, warum streiten wir eigentlich immer wegen nichts?

– Wir streiten nicht wegen nichts. Und auch nicht immer. Wir streiten, wenn wir streiten, wegen Lukas und seiner blöden Schule.
Und weil du kein Verständnis für meine Lage hast. Ich bin, herrgott!, überarbeitet. Wenn du an deinen Drehbüchern arbeitest, die du stapelweise verschickst und wieder zurückkriegst, darf dich den ganzen Tag keiner stören, aber wenn ich …

– Ich kann gar keine Stapel zurückkriegen, denn ich verschicke keine Stapel. Ich verschicke, wie du weißt, Exposés. Und das in Form schlanker Mails oder auf USB-Sticks.
Und ich bekomme sie nicht wieder zurückgeschickt.
Nicht alle.

– ---

– Das „B-Team“ wird eine Fernsehserie.

– Sagt wer?

– Die Chancen stehen bestens.

– Sagt wer?

– ---
Und dass man mich den ganzen Tag über nicht stören darf, ist auch Unsinn.

– Dann frag ich mich, was du den ganzen Tag am Computer tust. Pornos schauen?
Ich gehe in der Früh, bevor es hell wird, aus dem Haus, und ich komme zurück, nachdem es wieder dunkel geworden ist. Ich bring das Geld nach Hause, das wir brauchen, um die Rechnungen zu bezahlen, ich koche, ich putze, und zwischendurch muss ich mich auch noch mit pubertierenden Schulkindern und deren frustrierten Lehrerinnen herumsch…

– Aha, das alte Lied: Die Frau Superarchitektin schupft den Laden, während der Heim-Schriftsteller mit viel Tagesfreizeit seinem Hobby nachgeht.

– Wer hat denn gestern wieder gekocht? Und wer, zum Kuckuck, hat noch gegen Mitternacht die Wäsche aus der Waschmasch…

Irgendwann hat Lukas aus seinem Zimmer herübergebrüllt:

– Kannst du bitte leise sein, Mutter! Ich will schlafen, fuck!

– Sag das deinem Vater! Ich bin leise!

– Sei leise, Vater!

– Ich bin leise. Und gewöhn dir ab, fuck zu sagen. Erstens ist es ein grausliches Wort, und zweitens kriegen wir dann wieder einen Anruf von deinem Religionslehrer.

– Religionslehrer?

– Idebski. Oder wie der heißt.

– Der Izdebski! Der war in der Volksschule! F…! Bei uns gibt es gar keinen männlichen Lehrer, auch keinen Religionslehrer. Bei uns ist sogar der Islamlehrer eine Frau.
Und ich geh seit zwei Jahren nicht mehr in Reli!
Was wisst ihr eigentlich?

Nach Mittwoch weiß ich alles. Bin schon gespannt, wie das wird. Ich werde das blaue Sakko anziehen. Blau schafft Vertrauen.

2

C:\Users\Walter\Dokumente\LukasSchule\TagebuchadMitteilungsheft
Sonntag, 10. 10.

„Wenn es Ihnen recht ist, werde ich am Mittwoch bei Ihnen erscheinen.“ Erscheinen! Habe ich das wirklich geschrieben? Mein Gott, Walter, da hast du ja eine hübsche Schleimspur gezogen . Aber was soll’s, du hast es für Lukas getan, für den würdest du noch ganz andere Sachen tun. Für Laura sowieso. Aber die braucht noch nicht viel. Die sagt noch Mami und Papi, zeigt brav auf, wenn sie etwas sagen will, und ist, wenn sie in der Früh aufsteht, neun von zehn Mal gut aufgelegt. Denn zwischen einem 9-jährigen Kind und einem 13-jährigen Kind liegen nicht vier Jahre, das will einen nur die Mathematik glauben machen, zwischen einem 9-jährigen Kind und einem 13-jährigen Kind liegen mindestens zehn Jahre. Mit 13 ist man offensichtlich dauersauer. Was im Fall von Lukas schon beim Aufstehen beginnt und letztlich eh auch wieder kein Wunder ist, wenn du jeden Tag bereits 0:3 im Rückstand liegst, bevor das Spiel überhaupt begonnen hat. Und Lukas hat zwar ein paar Kilos zu viel, aber eine dicke Haut hat er deswegen trotzdem nicht. Englisch – spanische Dörfer für ihn. Mathe – spanische Dörfer. Geometrie – Dörfer auf dem Mars. Lukas ist kein Sportler, Lukas ist kein Mathematiker, Lukas wird in diesem Leben auch nicht Architektur studieren, und wenn sich das Bine hundertmal von ihm wünscht.

– Glaub mir, Schatz, er muss als Architekt nicht gut zeichnen können. Vergiss Zeichnen. Das kommt später von allein. Er muss Ideen haben. Und Lukas hat Ideen. Er muss einen Blick für die Welt haben. Und Lukas hat einen Blick. Stimmt’s, Lukas?

– Ich weiß nicht, was du meinst, Mutter.

– Sag nicht Mutter, das mag ich nicht.
Findest du es zum Beispiel gut, dass das städtische Straßenbild überall von Autos dominiert wird? Von hässlichen, stinkenden, lärmenden und auch noch die Umwelt belastenden Blechdingern, von denen jedes 20 Quadratmeter Platz braucht und nach jedem Halt eineinhalb Tonnen Eigengewicht in Bewegung setzen muss, nur um eine Person von sagen wir 80 Kilo von A nach B zu befördern?

– Aha. Und wie kommt diese Person sonst von A nach B?

– Mit Öffis? Mit der U-Bahn? Mit der Straßenbahn, mit dem Bus? Öffis sind effizient, vergleichsweise sauber und erlauben ein ästhetisches Stadtbild. Straßen, Plätze, Hausfassaden, Menschen: All das wäre wieder sichtbar, wenn wir die Autos aus der Stadt verbannen würden. Autos sind scheiße. Aut…

– Und wieso haben wir dann zwei?

Um ehrlich zu sein: Ich habe null Ahnung, wofür Lukas talentiert ist. Dabei sollst du als Eltern schon in der Volksschule die Weichen stellen. Jetzt wieder bei Laura. Die Lehrerin am Elternabend zum vollzählig versammelten Publikum: „Fangen Sie damit an, die Weichen zu stellen. Achten Sie darauf, ob Ihr Kind eher sprachlich oder naturwissenschaftlich begabt ist.“ Ich dachte ja lange Zeit, der nächste Satz würde so lauten: „Danach entscheiden Sie, ob Sie es in eine neusprachliche oder naturwissenschaftliche Schule geben.“ Inzwischen weiß ich, wie der nächste Satz wirklich geht: „Sollte das der Fall sein, dann geben Sie es ins Gymnasium.“ Falls ein Kind nämlich irgendwo begabt ist, egal wo, gibt man es heutzutage auf ein Gymnasium. Falls es hochbegabt ist, auf das Hochbegabten-Gymnasium.

Lukas haben wir, als es so weit war, ins Normalbegabten-Gymnasium gegeben. Ich meine, trotz: „Achten Sie darauf, ob Ihr Kind eher sprachlich oder …“ Schwer darauf geachtet, leider keine Begabung erkannt, trotzdem Gymnasium. Und jetzt heißt es Durchkommen. Aber das war immer schon so. Gezählt hat immer schon nur eines: Durchkommen. Das war früher nicht anders:

– Gruber, so wirst du nicht durchkommen!

– Wie, so, Herr Professor?

– Indem du ununterbrochen störst.

– Ich hab den Gottfried nur gefragt, wie …

– Du sollst aber nichts fragen, wenn ich etwas erkläre. Mach mit – oder fall mir wenigstens nicht auf!

– Ja, Herr Professor.

Durchkommen heißt es allerdings nur auf der einen Seite der Front, auf der anderen Seite heißt es: Durchlassen. Und da kann einer durchkommen wollen, so viel er will, wenn auf der anderen Seite jemand sitzt, der ihn nicht durchlässt, hat er keine Chance. Wie hatte Sabine also letztens beim gemütlichen Abendessen unter dem Fernseh-Altar begonnen: „Lukas, wenn das mit dir so weitergeht, lässt dich die Söllner heuer nicht durch.“ Freitag, ca. 19.35 Uhr. Sabine, Laura, Lukas und ich bei Spaghetti Bolognese, Marie-Claire Zimmermann mit den Weltnachrichten am Bildschirm auf dem Fernseh-Altar:

– Wenn das mit dir so weitergeht, Lukas, lässt dich die Söllner heuer nicht durch.

– Wie, so weitergeht.

– Dass du nichts auf die Reihe kriegst. Hefte, Schreibzeug, Hausschuhe. Du weißt, was ich meine.

– Pscht!

– Nein, weiß ich nicht.

– Pscht jetzt bitte!

– Wieso besorgst du dir deine GZ-Sachen eigentlich nicht selber? Du wirst dir doch noch einen Radiergummi und ein paar Lineale auch ohne mich besorgen können.
Und dann würde ich auch noch gerne wissen, was du in Turnen mit deinem Piercing anstellst, dass das jetzt sogar im Mitteilungsheft steht.

– Selber besorgen. Supernett! Wenn die Laura etwas braucht, gehst du immer mit ihr!
Gib’s zu, Laura, wenn du etwas brauchst, geht die Mami immer mit dir.

– Die Laura ist neun, Lukas, no-hoin. Und sie ist in der Volksschule. Volksschulkinder gehen noch nicht allein einkaufen, okay?
Und die Hausschuhe müsstest du nur endlich einpacken. Die liegen im Schuhkasten. Oder soll ich jetzt deine Schultasche auch wieder kontrollieren?

– Ich scheiß auf Hausschuhe. Ur schwul. Ur Caritas.

– Könnt ihr jetzt, verdammt noch einmal, endlich still sein. Da geht’s um die amerikanische Präsi…

– Lukas, red bitte nicht so: ur schwul, ur Caritas. Weißt du überhaupt, was die Caritas ist? Ohne die Caritas könnten Millionen arme Menschen weltw…

– Mir sind aber die Millionen armen Menschen weltweit egal. Und, Vater, es heißt, wenn schon, US-amerikanisch, es heißt nicht amerikanisch. Amerika ist ein Kontinent, zwei Kontinente sogar, nicht nur ein Land. Da ist noch Kanada. Und Mexiko. Und vom mexikanischen Präsidenten sprichst du ja nicht, oder?

– ---

– Oder?

– Von was spreche ich nicht? Vom mexikanischen Präsi… Zum Kuckuck, was willst du mir eigentlich sagen?

– Er will dir sagen, Wawa, dass du nicht erwarten kannst, dass …

– Und du nenn mich bitte nicht Wawa! Es genügt, dass meine Mutter noch immer Wawa zu mir sagt.

– … dass alle still sind, nur weil du glaubst, dass du et…

– Ich nenne dich schließlich auch nicht Kälbchen.
Und jetzt endgültig pscht!

– … dass du etwas versäumst, wenn du nicht jeden Tag Nachrichten schaust.

– Er schaut nicht Nachrichten, er schaut Zimmermann.

– Erstens, lieber Wawa, hat mich nur meine blöde Schwester Kälbchen genannt, und zweitens solltest du wissen, dass dein Herr Sohn offenbar gerade alles daran setzt, heuer sitzenzubleiben.
Und WAS schaut er?

– Marie-Claire Zimmermann. Vater steht auf Marie-Claire Zimmermann, weißt du das nicht?

– DÜRFTE ICH BITTE DIE NACHRICHTEN HÖREN!!!
ESST! UND HALTET ENDLICH DIE KLAPPE!!!

– Ich hab geglaubt, ich bin zu dick und soll nicht so viel essen.

– Du stehst echt auf diese Zimmermann?

Mitteilungsheft

Reingard Söllner

Montag, 11. Oktober

Sehr geehrter Herr Gruber!

Es freut mich, dass ich mich in Zukunft an Sie wenden kann, gern in der von Ihnen gewünschten Form, besonders freut es mich, dass Sie die Zeit finden, zu einem persönlichen Gespräch in die Schule zu kommen.

Allerdings bin ich am Mittwoch mit einer Klasse auf Lehrausgang. Ich kann Ihnen jedoch Donnerstag nächster Woche anbieten, donnerstags halte ich von 11 bis 12 Uhr meine Sprechstunde. Es kann sein, dass Sie ein paar Minuten warten müssen, denn an diesem Tag habe ich bereits zwei andere Mütter.

Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass sich die BS-Lehrerin erneut darüber beklagt hat, dass Lukas sich weigert, sein Nasenpiercing abzunehmen.

Anbei noch eine Auflistung der Beiträge, die wir zu Jahresbeginn in der 3A einheben müssen. Insgesamt sind € 112,50 zu bezahlen. Wie Sie sehen, inkludiert das bereits den Beitrag für Kochen, den Unkostenbeitrag für Werken sowie die Klassenkassa.

Mag. Reingard Söllner

Walter Gruber

U: gesehen, Walter Gruber

Lukas

11. Oktober

Am Mittwoch endet der Unterricht um 11.50. Glasur des Lehrkörpers.

Walter Gruber

U: gesehen, Walter Gruber

PS: Er weiß jetzt auch, dass das Ding Klausur heißt.

Lukas

Am nächsten Di. oder Mi. kommt der Fotograf, schön anziehen. Keine zerrissenen Jeans! Keine Turn alten schiarchen Turnschuhe!

Walter Gruber

U: gesehen, Walter Gruber

Walter Gruber

Sehr geehrte Frau Professor Söllner,

Dann komme ich gerne am Donnerstag (auch wenn Sie bereits zwei „andere Mütter“ haben). Wir drei werden uns beim Warten die Zeit mit Frauengesprächen vertreiben. Das Geld für die Klassenkassa etc. werde ich ebenfalls dabeihaben.

Zu Lukas’ Piercing: Dass sich jetzt nach der Turnlehrerin auch noch die BS-Lehrerin über Lukas’ Piercing beklagt, tut mir leid. Ich verstehe zwar ehrlich gesagt nicht, was Lukas mit seinem Piercing treibt, dass er damit dauernd den Unterricht stört, aber meine Frau und ich werden noch heute mit meinem Sohn Tacheles reden!

mfG

Walter Gruber, Wien, Montag, den 11.10.

3

C:\Users\Walter\Dokumente\LukasSchule\TagebuchadMitteilungsheft
Dienstag, 12. 10.

BS. So ein vertrottelter Name! „Bewegung und Sport“. Warum heißt das nicht normal Turnen? Oder wenigstens Leibesübungen, wie zu meiner Zeit. BS. Immer diese neuen Namen. Wie bei den Schultypen. Früher Hauptschule, Gymnasium, HTL, aus. Und heute: VS, AHS, BRG, BRWG, HS, WMS, NMS, SPZ, Poly, FMS, BHS, BMS. Früher Kochen. Heute „Ernährung und Hauswirtschaft“. Früher „Turnen“. Heute „Bewegung und Sport“, nachdem es zwei Generationen lang „Leibesübungen“ geheißen hat. Dabei hat noch nie einer nicht Turnen dazu gesagt. Und dann stehst du als Vater als Idiot da.

Das hat so begonnen:

– Lukas, sag, was treibst du eigentlich mit deinem Piercing!

– Mit was?

– Leg bitte kurz deinen Smart-Trottel weg und hör mir zu. Also. Was treibst du mit deinem Piercing, dass sich schon die halbe Schule darüber aufregt?

– Wieso? Was soll ich treiben? Und was heißt, die halbe Schule? Nur die Sibera.

– Nein, zuerst die Sibera, und jetzt, wie ich gestern deinem Mitteilungsheft entnehmen durfte, auch noch die BS-Lehrerin.

– ---

– ---

– Das meinst du jetzt aber nicht ernst!

– Was mein ich nicht ernst?

– Vater, du …

– Sag nicht Vater. Kannst du nicht Papi sagen, wie alle anderen Kinder?

– BS. Ist. Turnen. Papi! Bewegung und Sport. Turnen.

Lukas hat sich vor Lachen gar nicht mehr eingekriegt. Zum Glück ist Sabine gerade unter der Dusche gestanden. Ich:

– Bewegung und was??

– Bewegung und Sport. BS. Turnen. Heißt eh erst so, seit ich in die Schule gehe.

Okay, schwerer Fauxpas. Und rückgängig machen kann ich ihn auch nicht mehr. Wahrscheinlich hat sie meinem Sohn das Mitteilungsheft deswegen nicht zurückgegeben! Geht jetzt im ganzen Schulhaus damit herum und zeigt allen, was Lukas aus der 3A für einen Volldillo als Vater hat: Seht alle mal her, was der Mann da hineingeschrieben hat, der weiß nicht einmal, wie die Gegenstände seines Sohnes heißen …

– Sag noch einmal, Lukas: warum hat die Söl… dein Klassenvorstand das Mitteilungsheft heute behalten?

– Ich weiß auch nicht.

– Hat es etwas … mit meiner … letzten Eintragung zu tun?

– Weiß nicht. Welche Eintragung? Glaub nicht. So halt. Manchmal behält sie die Mitteilungshefte und kontrolliert alles und so.

– Okay. Okay, Turnen heißt jetzt BS.
Und was treibst du in BS, dass du wegen deines Piercings jetzt schon zum zweiten Mal eine Eintragung ins Mitteilungsheft hast?

– Sie üben für das Footballturnier. Und sie wollen, dass ich mitmache. Aber ich muss das Piercing raustun.

– Sie wollen, dass du mitmachst?
Dann mach doch bitte mit! Football ist doch super!

– Und warum sagst du das so komisch: Du? Dass du mitmachst? Warum soll ich nicht mitmachen?

– Weil du zwei Linke hast, weder kicken kannst noch sonst einen Sport beherrschst, bei dem ein Ball im Spiel ist, und weil du schlicht und einfach um gute acht Kilo zu viel hast!

Sagst du natürlich nicht. Du sagst:

– Ich hab das gar nicht komisch gesagt. Ich freu mich, dass ihr Football spielt und nicht immer nur … Federball.

– Badminton.