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Titel

Inhalt

  1. Erster Teil
    1. 1 Das Flugblatt
    2. 2 Einfach Liese
    3. 3 Nachtwache
    4. 4 Ticktack
    5. 5 Ungelöste Fragen
    6. 6 Echte und falsche Freunde
    7. 7 Anna
    8. 8 Zu Besuch im Beje
    9. 9 Bekanntschaft mit dem Widerstand
    10. 10 Im Zentrum des Orkans
    11. 11 Ten Boom mit einem dicken Strich darunter
    12. 12 Überraschende Entdeckung
    13. 13 Auf dem Gepäckträger
    14. 14 Verfolgt
    15. 15 Ein böser Brief
    16. 16 Zur Untätigkeit verurteilt
    17. 17 Kläglich versagt
  2. Zweiter Teil
    1. 19 Unbrauchbar
    2. 20 Traurige Neuigkeiten
    3. 21 Auf der Flucht
    4. 22 Erleichterung, Schuld und Reue
    5. 23 Tante Kees erzählt
    6. 24 Untergetaucht
    7. 25 Endlich frei
    8. 26 Auf der Siegerseite
  3. Wie es weiterging
  4. Möchtest du mehr wissen?
  5. Worterklärungen
  6. Querschnitt des Hauses der Familie ten Boom in der Barteljorisstraat 19
  7. Stadtplan von Haarlem

Diese Geschichte handelt von Henk. Sie hätte in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in der Stadt Haarlem in den Niederlanden so oder so ähnlich passieren können.

Aber dieses Buch handelt auch von Familie ten Boom: von Corrie, Betsie und ihrem Vater. Sie haben wirklich gelebt, und was ich in diesem Buch über sie geschrieben habe, beruht auf Tatsachen. Danke, Beppie, für deine Inspiration.

Judith Janssen

Erster Teil

1 Das Flugblatt

Das Wasser war eiskalt. Einen Augenblick lang fühlte es sich an, als würde er sich nackt im Schnee wälzen. So, als würde seine Haut von kleinen Messern geritzt. Aber nach ein paar Kraulschlägen war die Kälte gewichen, und das Blut floss warm durch seinen Körper. Alle Muskeln waren angespannt. Es war ein herrliches Gefühl, die Arme mit kräftigen, rhythmischen Schlägen durchs Wasser zu ziehen und im Takt dazu locker mit den Füßen zu paddeln. Kurz den Kopf zur Seite zu drehen, Luft zu holen und dann mit geschlossenen Augen weiterzuschwimmen.

Die Welt um ihn herum existierte nicht mehr, er war allein mit dem Wasser. Keine Gedanken, keine Sorgen – einfach nur schwimmen, während das sprudelnde Wasser ihn wie eine schützende Hülle umgab. Hier konnte ihm nichts passieren, die Zeit stand still. Keine Träume, keine Albträume. Nur schwimmen: eins, zwei, drei, vier, Luft, eins, zwei, drei, vier, Luft.

Ein plötzlicher Aufschrei, gefolgt von einem enormen Plumps und einer hohen Welle, riss ihn aus seiner Konzentration.

Henk hob den Kopf und blinzelte durch seine nassen Wimpern hindurch übers Wasser. Na so was – Gerrit!

Ihm kam der Gedanke, schnell auf den Boden des Beckens hinabzutauchen, aber es war schon zu spät.

„Henk!“, ertönte es direkt neben ihm. Er drehte sich auf den Rücken und ließ sich treiben, den Blick an die Decke gerichtet.

„Bist du auch schwimmen gegangen?“, fragte Gerrit fröhlich.

„Ja, das siehst du doch, oder?“

„Schwimmen wir um die Wette?“

Henk drehte sich um und sah seinen Klassenkameraden an. Er schnaubte kurz. „Willst du das wirklich?“

„Klar, macht doch Spaß!“ Gerrits Kopf bewegte sich auf und ab, während er auf der Stelle strampelte.

„Na, ich frage ja nur – meiner Ansicht nach bist du kein guter Verlierer.“

Gerrit blinzelte. „Hochmut kommt vor dem Fall, das weißt du doch! Wie viele Bahnen?“

„Fangen wir mal mit zwei Bahnen an“, sagte Henk, der schon dabei war, zum Rand zu schwimmen. Jaap, sein Freund aus der Nachbarschaft, mit dem er sich verabredet hatte, war sowieso noch nicht da. „Vom Startblock aus“.

Er zog sich vorsichtig aus dem Wasser und prüfte dabei, ob seine Badehose noch gut saß. Sie war schon ziemlich alt, aber er hatte keine andere, und seine Mutter meinte, dass es nirgends mehr Gummiband zu kaufen gab. Er musste sich bis auf Weiteres mit ihr begnügen.

Die Jungen kletterten auf zwei benachbarte Startblöcke und schauten einander herausfordernd an.

„Also, ich zähle“, sagte Henk. „Drei, zwei, eins … los!“

Kopfüber schossen sie ins Wasser.

Henk konnte da weitermachen, wo er aufgehört hatte, als Gerrit ihn unterbrochen hatte. Aber jetzt hatte er ein Ziel, eine Herausforderung: Er wollte seinen Gegner besiegen. Mit dem würde er leicht fertig werden. Mit aller Kraft, die er besaß, schoss er durchs Wasser, wendete, so schnell er konnte, und war in null Komma nichts wieder am Startblock.

Keuchend tauchte er auf, um nach Gerrit Ausschau zu halten.

„Na, du bist ja ganz schön schnell“, sagte jemand über ihm.

„Was?“ Überrascht sah er auf. „Wie in aller Welt …?“ Er hielt inne und atmete erleichtert aus.

Es war Jaap, nicht Gerrit.

„Ja, Gerrit und ich sind um die Wette geschwommen, und ich glaube, ich hab’ gewonnen.“

Jaap grinste und nickte. „War ja auch kein ebenbürtiger Gegner.“

Mit viel Spritzen und Keuchen schlug Gerrit in diesem Moment am Beckenrand an. „Das ist … unfair, du konntest ja auch … viel länger … üben.“

Henk wollte gerade den Mund aufmachen, um zu antworten, dass er ihn schließlich gewarnt hätte, aber er verzichtete darauf, als er den Blick in Jaaps Augen sah. Es war wirklich beschämend, wenn man solch ein schlechter Verlierer war – am besten reagierte er überhaupt nicht darauf.

„Komm, wir machen Arschbomben!“ Jaap streckte die Hand aus und zog Henk mit einem Ruck aus dem Wasser.

„Warte!“, rief Henk. Er schaffte es gerade noch, mit der anderen Hand seine Badehose festzuhalten.

Jaap zog mit dem Kamm einen akkuraten Scheitel in sein nasses, dunkelblondes Haar und brachte es mit ein paar Kammstrichen in Form. Henk beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, während er seine Jacke zuknöpfte. Ja, vielleicht würde er sich auch solch eine Frisur zulegen – im Nacken ein bisschen kürzer und den Scheitel etwas mehr auf der Seite. In dem grellen Licht neben dem Spiegel sah er, dass Jaap schon ein paar Haare auf der Oberlippe hatte. Das würde bei ihm noch ein bisschen dauern, aber Jaap war ja auch über zwei Jahre älter als er. In zwei Jahren würde er selbst auch schon erwachsener aussehen und bestimmt auch größer sein als jetzt, auch wenn er Letzteres nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Sein Vater war nicht besonders groß und seine Mutter wirklich klein. Hoffentlich kam er mehr nach seinem Vater. Aber so groß wie Jaap würde er wahrscheinlich nicht werden.

Gerrit schlurfte heran. „Mensch, hab’ ich einen Hunger, Leute.“ Er begann in seiner Tasche herumzukramen und zog ein mit Papier umwickeltes Päckchen heraus.

„Ein richtiges Butterbrot mit Käse? Wo hast du das denn her?“ Henk spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief, während er unwillkürlich den Kopf zu dem Käsebrot hindrehte. Er konnte gar nichts dagegen tun – solch ein schönes, dickes Butterbrot hatte er ewig nicht mehr gesehen oder gerochen.

Gerrit setzte ein schiefes Grinsen auf. „Ähm … na ja, meine Mutter kennt halt Leute, die …“ Er beendete seinen Satz nicht.

Henk blickte zu Jaap, aber der war eifrig damit beschäftigt, seine Hosentaschen zu durchsuchen.

Gerrit brach ein Stück von seinem Butterbrot ab und reichte es Henk. „Willst du was abhaben?“

Henk dachte an das trockene, graue Brot, dass er zu Hause bekommen würde, und hielt die Hand auf. Das war viel besser als das Brot, das sie von der Regierung zugeteilt bekamen, und er wollte jetzt gar nicht wissen, wo Gerrits Mutter das herbekommen hatte. Er wollte es jetzt einfach nur genießen und den Geschmack von früher spüren. Er setzte sich auf die harte Holzbank der Eingangshalle und grub die Zähne in die dicke Scheibe.

„Hmmm“, murmelte er, „da ist ja sogar richtige Butter drauf!“

Gerrit sah sie stolz an, während er Jaap auch ein Stück Brot anbot.

„Nein, danke. He, Jungs, ich muss eben noch mal in die Umkleidekabine, ich hab’ was verloren.“ Jaap machte auf dem Absatz kehrt, während Gerrit und Henk ihm verwundert nachsahen.

„Was hat er denn?“, fragte Gerrit.

Ja, das fragte Henk sich auch. „Vielleicht hat er seine Badehose vergessen?“ Er nahm noch einen Bissen von dem weichen, frischen Brot und beobachtete dabei den Gang, in den Jaap verschwunden war.

Henk fiel ein kleines Stück Brot herunter, und er bückte sich, um es aufzuheben. Er wollte sich kein Krümelchen von diesem Leckerbissen entgehen lassen. In diesem Augenblick sah er etwas Weißes auf dem Boden liegen. Ein Stück Papier, das zu einem kleinen Viereck zusammengefaltet war. Es ragte ein Stückchen unter einer Tasche hervor, die auf dem Boden stand. Jaaps Tasche.

Henk sah zu Gerrit hinüber. Hatte er es auch gesehen?

Nein, Gerrit stand mit seinem Butterbrot vor der Tür und blickte nach draußen.

Mit schnellem Griff packte Henk das Papier und das Brotstückchen und kaute weiter.

„Gehen wir?“ Plötzlich stand Gerrit wieder direkt vor ihm.

Henk erschrak. „Nein, ich warte auf Jaap, wir gehen dann zusammen nach Hause.“

„Du kannst doch auch mit mir gehen. Wir müssen in dieselbe Richtung.“

Henk umklammerte krampfhaft das Zettelchen.

„Ich will auf jeden Fall auf Jaap warten. Ich haue jetzt nicht einfach ab.“ Er stand auf. „Vielleicht sollten wir ihm suchen helfen.“

Gerrit zuckte die Schultern. „Kannst du ja machen, wenn du willst.“

Gute Idee, schoss es Henk durch den Kopf. Schnell bog er in den Gang ein und lief über die nassen, grau-weißen Fliesen zur Umkleidekabine.

Als er sicher war, dass Gerrit ihn nicht mehr sehen konnte, blieb er stehen. Vorsichtshalber schaute er sich noch einmal um. Es war niemand zu sehen, die anderen Badegäste waren schon weg. Mit diesem Zettel stimmte irgendetwas nicht, das war klar. Er brannte förmlich in seiner Hand.

Er faltete das Papier vorsichtig in seiner Handfläche auseinander. Sein Hals und seine Wangen wurden heiß. Er hatte es sich doch gedacht – ein illegales Flugblatt! Eine schwarzweiße Spottschrift mit einem verrückten Bild von Hitler. Er drehte das Blatt herum und sah, dass in einer Ecke eine Nummer stand: 53, mit Bleistift geschrieben und unordentlich eingekreist. Weiter konnte er nichts Auffälliges entdecken, aber er wagte auch nicht länger hinzuschauen. Sein Herz klopfte so heftig, dass es jeder hören musste, der an ihm vorüberging.

Schnelle Schritte näherten sich auf den harten Fliesen.

Er stopfte sich den Zettel in die Hosentasche, und im nächsten Moment stand ein Bademeister vor ihm, der ihn mit strengem Blick musterte.

„Was suchst du hier, junger Mann?“ Seine tiefe Stimme hallte durch den leeren Gang. Henk zitterte, aber er lächelte ihn freundlich an. „Eine Stecknadel im Heuhaufen!“

Obwohl er spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief, war er ein bisschen stolz auf seine schlagfertige Antwort. Schließlich hatten sie sich heute Morgen im Unterricht mit Sprichwörtern und Redewendungen beschäftigt. Am Montag würde er sich bei Herrn van Soest dafür bedanken.

Der Bademeister runzelte die Stirn und kniff gleich darauf missbilligend die Augen zusammen. „Raus mit dir, du frecher Schlingel, wir machen zu.“

Henk war es nur allzu recht, diesem Mann zu entkommen, aber wo war Jaap? Er konnte doch nicht ohne seinen Freund gehen. Er musste das Risiko eingehen. Während er sich langsam umdrehte, fragte er so lässig wie möglich: „Sie haben nicht zufällig meinen Freund Jaap gesehen? Eigentlich suche ich nämlich ihn.“

„Hau ab! Hier drin ist niemand mehr!“

Als Henk und Gerrit sich auf den Heimweg machten, begann es schon zu dämmern, und es war kaum jemand auf der Straße. Der Himmel war grau und wolkenverhangen. Hier und da waren Leute damit beschäftigt, die schwarze Verdunkelung vor den Fenstern anzubringen. Sie musste absolut dicht sein – es durfte kein Lichtstrahl nach außen dringen. Wenn die Fenster nicht ordnungsgemäß verdunkelt waren, konnte man eine schwere Geldstrafe bekommen, vielleicht sogar Schlimmeres. Aber wie gefährlich war es, eine Spottschrift in der Tasche zu haben, fragte sich Henk. Wo hatte Jaap die bloß her?

Gerrit ging ein paar Schritte vor ihm und redete über irgendetwas, aber Henk hörte ihm nicht zu. Er musste die ganze Zeit an das Flugblatt denken und an Jaap, der aufgeregt seine Sachen durchsucht hatte und dann plötzlich weggelaufen war. Wohin war er denn nur verschwunden, und was konnte die Zahl 53 bedeuten? Diese Fragen ließen ihn nicht los.

„Sollen wir nicht auf Jaap warten?“, hatte er gefragt, als er mit Gerrit draußen vorm Schwimmbad stand. Er blinzelte an dem Schild „Für Juden verboten“ vorbei durchs Fenster, um zu sehen, ob noch jemand im Gebäude war, aber er sah nur den Bademeister herumlaufen, der gerade dabei war, eine Lampe nach der anderen auszuknipsen.

„Der ist doch bestimmt längst weg“, antwortete Gerrit und zog sich die Mütze über die nassen Haare. „Komm, wir müssen los, es ist gleich Sperrstunde.“

Henk sah auf die Uhr. Gerrit übertrieb. Sie hatten noch jede Menge Zeit. Aber vielleicht war es besser, nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf Jaaps merkwürdiges Benehmen zu lenken. Außerdem hatte er seiner Schwester Liese versprochen, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen, damit sie noch ein bisschen miteinander spielen konnten.

Er konnte ja gleich noch mal bei Jaap vorbeigehen. Vielleicht war er einfach nach Hause gegangen, und dann konnte Henk ihm zeigen, was er in der Eingangshalle des Schwimmbads gefunden hatte. Es war offensichtlich, dass Jaap dieses Flugblatt gesucht hatte. Das war bestimmt nichts, was man einfach so herumliegen ließ!

„Na, dann sehen wir uns am Montag in der Schule.“ Gerrit ging jetzt neben ihm und sah ihn erwartungsvoll an. „Sollen wir nächste Woche wieder zusammen schwimmen gehen? Aber lieber ohne Jaap, das find’ ich besser.“

Es dauerte einen Moment, bis Henk begriff, was Gerrit gesagt hatte. „Wieder zusammen schwimmen gehen?“, wiederholte er.

Sie blieben vor Gerrits Haus stehen. „Aber ich hatte mich heute auch schon mit Jaap verabredet. Darum …“

„Na, dann eben wieder zu dritt. Sofern der Bademeister Jaap nicht geschnappt und in den Zug gesetzt hat.“

Gerrit lachte, aber er hörte sofort auf, als Henk ihn ansah.

„Ich meine …“

Henk wollte den Rest nicht mehr hören und sah zu, dass er wegkam. „Ekelhaft“, murmelte er. Mit dem Kerl stimmte irgendwas nicht.

Sein Magen begann zu knurren, und er legte einen Schritt zu. Vielleicht ging er doch lieber direkt nach Hause. Aber nicht nur, weil er Hunger hatte. Auch Jaaps komisches Verhalten machte ihm zu schaffen. Was war nur passiert, und wo war sein Freund jetzt? Sollte er doch noch mal zurückgehen zum Schwimmbad? Hinter ihm klapperte ein Fahrrad heran, eins, das keine Schläuche mehr hatte, wie das von Henk. Das Geklapper machte einen ziemlichen Lärm in der ruhigen Straße. Henk blickte sich um, und ehe er sich versah, sauste der Radfahrer in voller Fahrt an ihm vorbei.

„Hey, Henk, schönen Abend noch! Und grüß Liese von mir.“

„Was?“, rief Henk. Das konnte doch nicht wahr sein – das war Jaap!

„Hey!“ Etwas Sinnvolleres brachte er nicht heraus. Er sah gerade noch, wie Jaap sich kurz umdrehte, bevor er in ihre Straße einbog, und die Hand hob. Er war aus dem Nichts aufgetaucht und ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war.

Henk warf die Arme hoch. „Ich glaub’, ich spinne!“

2 Einfach Liese

„Kommst du zum Essen, Henk?“, hörte Henk seine Mutter von der Treppe her rufen, und er sprang erschrocken von seinem Bett herunter. Schnell das Flugblatt verstecken, bevor sie in dem Zimmer stand, das er mit Liese teilte. Er hatte sie schon oft gebeten zu klopfen, bevor sie hereinkam, aber das machte sie immer noch nicht.

Auch jetzt trat sie einfach ein. „Sind die Fenster gut verdunkelt?“

„Würdest du bitte klopfen, ehe du reinkommst, Mutter?“ Während seine Mutter zum Fenster ging, um die Verdunklung zu überprüfen, schob Henk mit dem Oberschenkel seine Nachttischschublade zu. Das war kein gutes Versteck, aber im Moment ging es. Er würde es Jaap sowieso zurückgeben.

„Wieso soll ich denn klopfen, es ist doch auch Lieses Zimmer! Kommst du runter? Ich hab’ Bohnensuppe gekocht, und Liese ist müde.“

Mutter seufzte und Henk sah in ihr blasses Gesichts. Seit Vater weg war, hatte sie eine tiefe Falte zwischen den Augen.

„Danke, dass ich heute mal wieder schwimmen gehen durfte, Mutter.“

Sie nickte und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. „Dann brauchst du heute Abend auch nicht mehr zu baden, ist doch praktisch. Komm.“

In dem kleinen Wohnzimmer war es warm und gemütlich. Liese saß in dem großen Sessel am Ofen und hielt ihre Puppe an sich gedrückt. Ihre Wangen waren gerötet, und ihre Augen glänzten fiebrig. Er sah seine Mutter fragend an. War Liese krank?

Obwohl seine Schwester fast elf war, nur ein Jahr jünger als er selbst, war sie noch wie ein kleines Kind. So würde sie auch immer bleiben.

Henk erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem ihm klar wurde, dass seine Schwester nicht so war wie andere Mädchen. Er war sieben und hatte mit Liese draußen gespielt. Eine Mutter mit zwei Kindern war vorbeigekommen, und den Kindern waren beinah die Augen aus dem Kopf getreten, als sie Liese anstarrten.

„Was glotzt ihr denn so?“, hatte Henk gerufen.

Die Mutter hatte ihre Töchter an den Händen gepackt. „Kommt, das Kind ist nicht in Ordnung, sie kann nichts dafür.“

„Nicht in Ordnung? Du bist selber nicht in Ordnung!“ Henk war auf die Frau zugelaufen und hatte ihr frech die Zunge herausgestreckt. Eines der Mädchen sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und schoss wie ein Blitz nach vorn. Sie stieß ihn mit aller Kraft an die Schulter, und er fiel zu Boden. Aber die Wut, die in ihm aufflammte, sorgte dafür, dass er keinen Schmerz spürte. Er sprang wieder auf, aber sein Knöchel knickte um.

In diesem Moment spürte er etwas Weiches an seinem Arm. „Heng!“ Er hörte eine leise, heisere Stimme neben sich. Es war Liese. Es war Liese!

Verwirrt blickte er in ihr strahlendes Gesicht und hatte die Mutter und ihre Kinder im selben Augenblick vergessen. Es war Liese, und sie sagte seinen Namen! Sie hatte noch nie ein verständliches Wort gesagt, aber das, das war ganz eindeutig sein Name.

„Ja, ich heiße Henk. Gut gemacht, Liese, du kannst meinen Namen sagen!“

Er nahm ihre Hände und wollte herumhüpfen, aber dann spürte er wieder seinen Knöchel.

„Komm, wir gehen schnell zu Mama.“ Humpelnd zog er sie mit sich nach Hause und fragte sie dabei die ganze Zeit: „Wer bin ich?“ Liese antwortete jedes Mal: „Heng“, und Henk lachte schallend vor Begeisterung.

„Was ist denn los?“, fragte Mutter, als sie herauskam.

„Sie hat meinen Namen gesagt, Mama.“ Henk blickte zu seiner Mutter hoch, die Liese auf den Arm nahm.

„Heng“, murmelte Liese, und damit zauberte sie auch auf Mutters Gesicht ein strahlendes Lächeln.

Kurz darauf saß Liese auf ihrem Stuhl. Sie hatte zwei Finger in den Mund gesteckt und starrte verträumt vor sich hin.

Henk saß mit seiner Mutter am Tisch und versuchte zu berichten, was geschehen war. Aber ihr Gesicht wurde immer trauriger, und darum kam er so schnell wie möglich zum besten Teil der Geschichte.

Dann war es still geblieben.

Er hatte einen Schluck von seiner Milch getrunken und tief Luft geholt.

„Warum hat die Frau das gesagt, Mama?“ Er musste es von ihr hören. Was er eigentlich schon die ganze Zeit gewusst hatte, war erst wirklich wahr, wenn seine Mutter es sagte.

Sie blickte zu Liese hinüber, die nichts zu hören schien und in ihre eigene Welt versunken war. Mutters Stimme klang wie ein leiser Wind, als sie langsam sagte: „Nein, Liese ist nicht so wie andere Kinder. Sie wird immer ein kleines Mädchen bleiben.“

Wie das möglich war, hatte Henk nie begriffen. Wie konnte man immer klein bleiben? Und wieso war das schlimm? Und warum war Liese so? Er begriff nichts von alldem, und dennoch, Liese war immer Liese gewesen. Für ihn war sie eigentlich ganz normal. Nur nicht für andere Leute, für Kinder, denen die Augen aus dem Kopf traten. Das war doch auch nicht normal, oder?

Mutter hatte ein Pflaster auf sein blutendes Knie geklebt und ihn auf die Wange geküsst. Draußen rief Jaap, ob er spielen käme. Mutter nickte lächelnd. „Geh ruhig“, sagte sie.

Liese war einfach seine kleine Schwester, aber manchmal war sie etwas Besonderes, zum Beispiel, wenn sie krank war. Dann lief Mutter unruhig im Zimmer auf und ab. Henk musste sich dann ganz brav und still verhalten, und manchmal musste er zwei Mal am Tag zu Doktor Levi laufen. Widerspruch war zwecklos und hätte nur dazu geführt, dass sein Vater einen Wutausbruch bekam, wenn er von der Arbeit nach Hause kam.

Nun sah Henk zu, wie seine Mutter eine Hand auf Lieses Stirn legte. Was war, wenn sie richtig krank war? Doktor Levi wusste immer sofort, was mit Liese los war und wie er mit ihr umgehen musste.

Aber er wohnte nicht mehr in der Stadt, sein Haus stand leer. Eines Tages war der Arzt verschwunden, niemand wusste, wohin. Henk hoffte, dass er an einem sicheren Ort untergetaucht war. Eigentlich hatte Doktor Levi in den Monaten vor seinem Verschwinden nicht mehr als Arzt arbeiten dürfen, aber wenn Henk bei ihm klingelte, nahm er immer sofort seinen Mantel und die schwarze Arzttasche und kam ohne zu zögern mit.

„Hier ist es auch ziemlich warm, Mutter.“ Henk blickte zum Ofen hinüber.

„Ja, es liegt wahrscheinlich daran. Komm, lass uns essen.“

Gute Idee, fand Henk. Sein Magen verlangte sehnsüchtig nach einem leckeren Teller Bohnensuppe. Oder eigentlich einfach nach etwas zu essen – was auch immer es war.