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IMPRESSUM

Blut am Schuh

Autorin

Antonia Pauly

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia und Lucida Calligraphy

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

Marti O´Sigma

Lektorat

Thomas Pregel

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

August 2015

ISBN: 978-3-95771-047-5

eISBN: 978-3-95771-048-2

Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.
Etwaige Namensähnlichkeiten sind reiner Zufall.

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Blut am Schuhfigure

Inhalt

Den Stress abschütteln

Ein riesiges Stück Aas

Braver Hund

Elefantenkopf

Emils Traum

Blickpunkt am Sonntag

Ganz schön mutig

Schockwirkung

Seltsamer Sonntag

Tagtägliche Bedrohung

Regeln der Hundeerziehung

Die menschliche Hiebenergie

Der Kunde ist König

Lieblingsmensch

Auf ein Glas Bier

Zähe Ermittlungen und überraschende Einsichten

Laufen auf Asphalt

Polizeiarbeit

Des Pudels Kern

Viele Verdächtige

Blut am Schuh

Lorbeeren für Emil

Biographisches

Den Stress abschütteln

Es war frisch an diesem Morgen. Der Wald hielt noch die Temperatur der schon herbstlich kühlen Nächte. Auch wenn der Tag wieder warm und sonnig zu werden versprach, so merkte man doch in der Frühe, dass der Sommer vorbei war. Die noch tief stehende Sonne schickte vereinzelte Strahlen durch das Laub der Baumkronen und zauberte herrliche Lichtspiele auf den bemoosten Waldboden.

Beschwingt und gut gelaunt legte Melanie beim Joggen einen Zahn zu und sog die würzige Waldluft tief in ihre Lungen. Sie liebte es, ihre Samstage mit einem Waldlauf zu beginnen, den Stress der vergangenen Arbeitswoche abzuschütteln und sich auf das bevorstehende Wochenende einzustimmen.

Auf dieses freute sie sich besonders, denn sie würde es ganz für sich allein haben. Ihr Partner, mit dem sie seit vier Jahren zusammenlebte, befand sich auf einer Fortbildung. Nicht, dass die gemeinsamen Wochenenden mit ihm nicht schön wären, aber zwei volle Tage tun und lassen zu können, was einem beliebt, waren eine durchaus reizvolle Perspektive. Sie würde die Sommerbepflanzung auf dem Balkon gegen ein paar Herbstgewächse austauschen: Chrysanthemen hatte sie bei einem Gartencenter in der Nähe im Angebot gesehen, und sicherlich gab es dort auch schon Erika. Dazu vielleicht noch etwas Torfmyrthe, überlegte sie und bog, ohne ihr Tempo zu verringern, links ab. Außerdem würde sie reichlich Zeit zum Lesen haben. Das Eifel-Krimifestival, welches kürzlich stattgefunden und in dessen Rahmen sie zwei Lesungen besucht hatte, war reich an Anregungen für neuen Lesestoff gewesen, und so warteten einige neu erworbene Bücher darauf, von ihr verschlungen zu werden.

Die Joggerin kam an eine Stelle, wo der Wald auf einer Seite endete und Platz machte für eine große, kurzgemähte Wiese. Über dieser schwebten Fetzen von Bodennebel, die in der Sonne glitzerten. Sie gaben der Landschaft etwas Verwunschenes, was auf den ersten Blick zauberhaft schön war. Doch wenn man seinen Gedanken freien Lauf ließ, so konnten die Nebelbänke auch etwas Bedrohliches bekommen. In jedem einzelnen dieser weißen Ballen konnte sich alles Mögliche verbergen. Einige der Nebelschwaden musste Melanie ganz dicht passieren. Sie waren undurchdringlich in ihrer milchigen Blässe. Was, wenn ein Wildschwein plötzlich aus solch einem riesigen Wattebausch hervorschoss? Im Weitertraben wurde sie wieder ruhiger. Mit leicht zusammengekniffenen Augen konnte man sich doch ebenso gut vorstellen, dass die weißen Flecken ruhende, überdimensionale Schafe wären.

Ängstlich war Melanie früher nie gewesen. Vor allem nicht in der Natur. Aber berufsbedingt war sie in den vergangenen zehn Jahren mit so viel sozialem Elend und menschlicher Niedertracht konfrontiert worden, dass sich ihre unbeschwerte Wesensart nach und nach verändert hatte. In den ersten Jahren nach ihrem Fachhochschulabschluss in Sozialpädagogik hatte sie als Streetworkerin in Köln gearbeitet. Der tägliche Umgang mit Jugendlichen, die auf der Straße lebten, weil sie von ihren Eltern vor die Tür gesetzt worden waren oder es bei ihnen nicht mehr aushielten, und die fast alle ein massives Drogenproblem hatten, hatte ihr die ersten Illusionen geraubt. Einigen, bei denen nicht jede Hoffnung verloren schien, hatte sie damals ihre besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Doch immer wieder war sie enttäuscht worden, hatte sie feststellen müssen, dass all ihre Bemühungen umsonst waren. Selbst die Befriedigung, durch ihre Aussage vor Gericht einen der Zulieferer ihrer Kids ins Gefängnis gebracht zu haben, konnte sie schließlich nicht mehr mit ihrer Tätigkeit aussöhnen. So hatte sie sich vor fünf Jahren auf die Suche nach einer neuen beruflichen Herausforderung gemacht und diese in einer Stelle als Integrationsfachkraft im Jobcenter von Bad Münstereifel gefunden.

Die Wiese mit den Nebelschwaden hinter sich lassend, lief Melanie mit wippendem Pferdeschwanz weiter bis sie an einen Baumstumpf kam, der die perfekte Höhe für ein paar Dehnübungen hatte. Sie setzte das linke Bein darauf und streckte das rechte kräftig nach hinten durch. Nach etwa einer Minute wechselte sie. War sie hier nicht am vorigen Samstag diesem komischen Typen begegnet, der ihr diffus bekannt vorgekommen war, den sie aber nicht hatte zuordnen können? Jedenfalls hatte er ganz und gar nicht in das Bild der typischen Waldnutzer an einem Samstagmorgen gepasst. Das waren meist Frühsportler wie sie selbst oder Spaziergänger mit Hunden.

Vorsichtig blickte sie sich um. Nichts! Kein menschliches Wesen weit und breit in Sicht. Sie ergriff ihren linken Fuß und zog ihn an ihr Gesäß. Nach einer Weile tat sie gleiches mit dem rechten Fuß. Daraufhin verschränkte sie die Arme im Nacken und neigte ihren Oberkörper abwechselnd zu beiden Seiten. Nun noch ein paar Mal die Arme kreisen lassen, tief einatmen und schon ging es weiter.

In gemäßigtem Laufschritt nahm Melanie die vor ihr liegende Steigung in Angriff. Es war zwar nur ein kurzes, dafür aber ziemlich steiles Stück, auf dem sie automatisch noch langsamer wurde und ein wenig ins Keuchen kam. Vierunddreißig ist doch noch kein Alter, schimpfte sie sich selbst und mobilisierte ihre Kräfte für die letzten Meter des Anstiegs. ›Vielleicht sollte ich zusätzlich doch wieder ins Fitness-Studio gehen‹, schoss es ihr noch durch den Kopf, als dieser von einem harten Schlag getroffen wurde, der ihr die Beine unter dem Körper fortzog und ihr augenblicklich die Sinne raubte.

Ihr schlaffer Körper wurde vom Weg fort ins Unterholz geschleift und etwa fünfzig Meter weiter gegenüber einer Felsformation, die im Volksmund Elefantenkopf hieß, abgelegt. Melanie bekam nichts davon mit. Nicht von den wütenden weiteren Hieben, die jemand ihr mit einem massiven Schlagwerkzeug versetzte und ihr Blut spritzen ließen, und auch nicht davon, dass dieser Jemand sich mit schweren Schritten auf einem schmalen Pfad parallel zu der tiefen Schlucht entfernte.

Ein riesiges Stück Aas

Es war frisch an diesem Morgen. Auch wenn der Tag wieder warm und sonnig zu werden versprach, so hielt doch der Wald in der Frühe die herbstlich kühle Temperatur der Nacht. Eine noch tief stehende Sonne stahl sich verhalten durch das Laub der Baumkronen, ihre Strahlen malten wunderbare Licht-Schatten-Bilder auf den Waldboden.

Wir gehen morgens eigentlich immer dieselbe Runde: von unserm Haus aus erst zwei Straßenzüge lang bis an den Waldrand, dann über einen breiten Weg in den Wald hinein; etwas später biegen wir links in einen schmalen Seitenweg ab, vorbei an der Wildschweinsuhle, die an manchen Tagen so angenehm würzig duftet, abermals links und an einer kleinen Lichtung vorbei zurück. Das dauert, wenn wir niemandem begegnen, eine knappe halbe Stunde. Treffen wir allerdings Freunde oder Bekannte, so kann der morgendliche Spaziergang leicht auf eine volle Stunde ausgedehnt werden. Am Wochenende beginnt unser Tag üblicherweise etwas langsamer. Da wird erst einmal in Ruhe eine Tasse Kaffee getrunken, eine Zeitung oder Zeitschrift geblättert, und danach laufen wir los. Dafür gibt es an Samstagen und Sonntagen meist einen größeren Spaziergang.

So auch an diesem schönen Septembertag. Von der Suhle aus waren wir nicht nochmals links abgebogen, sondern weiter geradeaus gegangen. Der Weg führt hier nach einer Weile steil bergan. Wie gewohnt musste ich oben angekommen erst einmal warten.

Wir haben nicht immer das gleiche Schritttempo, genau genommen passt unser Laufstil nie zusammen, weil die Menschen unpraktischerweise nur zwei Pfoten zur Fortbewegung nutzen. In der Regel bin ich also schneller, eile voraus, falle dann aber wieder zurück, weil ich irgendetwas Spannendes entdeckt habe und untersuchen muss. Oder ich muss kurz ins Unterholz abbiegen, weil ich von dort ein verdächtiges Geräusch vernommen habe oder ein auffälliger Geruch meine Nase gekitzelt hat. Bei näherer Betrachtung stellt es sich meistens heraus, dass nur ein Vogel durchs Gebüsch gehüpft ist, eher selten handelt es sich um so etwas Nettes wie ein Eichhörnchen oder ein Reh.

An dem besagten Morgen, der sich fest in meine Erinnerung eingebrannt hat, weil ich solch einen Tumult nie zuvor und auch nie wieder danach im Wald erlebt habe, stand ich also auf der Kuppe der kleinen Anhöhe und wartete wie üblich. Plötzlich stach mir ein durchdringendes, völlig neues und etwas makabres Aroma in mein empfindliches Riechorgan. Ich stand kurz stocksteif da und heulte sodann in bester Wolfsmanier ein Mal laut auf, weil mich dieser Geruch so irritierte. Gleich darauf senkte ich meine Schnauze, witterte intensiv und lief, meine gute Erziehung vergessend, los. Den Riecher immer schön dicht am Boden, folgte ich der Duftspur, die immer stärker wurde. Ich weiß nicht, was ich zu finden glaubte, aber dieser Geruch war so markant, dass ich ihn unmöglich ignorieren konnte. Und irgendwie wusste ich instinktiv, dass er nicht hierher in den Wald gehörte.

»Emil!«, hörte ich es hinter mir rufen. Doch darauf konnte ich in diesem Augenblick keine Rücksicht nehmen.

»Emiiiiil!« Die Stimme meiner Begleiterin wurde lauter und zugleich durch die Entfernung, die ich zwischen uns brachte, leiser.

Ich war linkerhand durch ein großes Loch in einem alten Militärzaun geschlüpft, Richtung Elefantenkopf, und ein Stück weit durch dorniges Gestrüpp geeilt, als ich die Quelle des seltsamen Dufts ausfindig machte. Es war ein Stück Aas. Ein riesiges Stück Aas! Doch das Blut roch anders als das von zerbissenen Kaninchen oder sonstigem Getier. Ich ging mit geducktem Kopf und hochgewölbtem Rücken langsam auf das am Boden liegende Etwas zu. Zwei lange Beine in einer engen, dunklen Hose, die Füße in Turnschuhen, oben herum ein helleres Kleidungsstück. Ich beschnupperte alles sorgfältig. Verflucht! Das war ja ein Mensch! Kalt wie eine Hundeschnauze! Aber ein menschlicher Kadaver mitten im Wald? Menschen liegen nicht einfach so im Wald herum. Manchmal, im Sommer, da lümmeln sie sich auf der Wiese hinter dem Wald auf Picknickdecken. Schon das kommt mir immer recht eigenartig vor, und ich melde es durch kräftiges Gebell. Aber so etwas hatte ich noch nie gesehen. Also musste ich bellen, laut und anhaltend. Diesen Sensationsfund sollte mein Frauchen keinesfalls verpassen. Ich musste ihn ihr unbedingt zeigen, und er war eindeutig zu groß und zu schwer, um ihn ihr zu bringen und vor die Füße zu legen.

Es dauerte eine gute Zeitlang, bis meine Gefährtin Lisa sich zu mir durchgearbeitet hatte. Die letzten paar Meter ging ich ihr entgegen und führte sie zu dem großen Brocken Aas. Auweia! Vielleicht hätte ich das besser nicht getan. Sie flippte völlig aus. Wurde erst ganz blass und stieß dann einen gellenden Schrei aus. Einen Schrei, der mir durch Mark und Bein ging. So dramatisch war mein Fund doch nun auch wieder nicht! Wenn ich ihr sonst schon mal einen Hasenlauf zeige, den ich gefunden habe, schreit sie zwar auch »Pfui!«, »Aus!« oder Ähnliches, aber sie stellt sich nicht so an, wie an diesem Morgen. Auf einmal begann sie zu zittern und gleichzeitig zu weinen. Ich überlegte, ob ich eventuell irgendetwas falsch gemacht hätte, aber ihre Reaktion bezog sich ganz klar nur auf das Fundstück. Mich schaute sie noch nicht einmal an. ›Warum heult sie, wenn ich einen Kadaver finde?‹, ging es mir durch den Kopf. Verständnislos schaute ich ihr ins Gesicht, ging dann ganz dicht an sie heran und stupste ihre Hand mit meiner Schnauze an. Sie zuckte zusammen und ich zurück. Was war das denn schon wieder? Hat sie jetzt Angst vor mir? ›Hey, ich bin’s doch nur, Emil!‹

Unvermittelt drehte sie sich um und stürzte im Eilschritt davon. Sie passte überhaupt nicht auf tief herunterhängende Äste auf, die ihr die Haut ritzten, und genau so wenig auf die für Menschen oft tückischen, dicken Wurzeln. Sie stolperte mehrmals, verlor fast ihre Brille und rannte, auch als sie den Weg wieder erreicht hatte, immer weiter in einem Tempo, das ich ihr nie zugetraut hätte und das mir echten Respekt abrang. Ich hätte mich zu gern noch ein wenig mit der Duftspur beschäftigt, die von dem Aas aus in die andere Richtung führte, aber mein Pflichtbewusstsein siegte, und ich folgte ihr. Nach dem Affentheater, welches sie da oben veranstaltet hatte, war es wohl besser, sie im Auge zu behalten. Ich hatte immer noch nicht begriffen, warum mein normalerweise eher ruhiges Frauchen jählings zu einer Furie geworden war, die von jetzt auf gleich einen Heulkrampf bekam und danach wie von der Hummel gejagt davonstob. ›Das war nur ein Stück Aas‹, bellte ich beruhigend hinter ihr her. ›Im Prinzip nichts anderes als eine tote Maus oder Taube, nur eben ein bisschen größer.‹ Aber sie beachtete mich gar nicht.

Nach einigen Minuten kamen wir aus dem Wald heraus. Rechts gab es schon sehr hoch stehenden Mais, so ein Gewächs, vor dem man sich in Acht nehmen muss, weil es von allen Seiten gleichzeitig raschelt und urplötzlich irgendwelche großen Vögel zeternd daraus auffliegen. Links hingegen bot sich unseren Augen eine weite freie Fläche dar, eine abgemähte Wiese. ›Super zum Bällchenwerfen‹, schoss es mir durch den Kopf, aber ich spürte, dass meinem Frauchen der Sinn momentan nicht nach Spielen stand.

Ermattet ließ Lisa sich auf die Bank fallen, die dort am Waldrand steht, und fingerte nervös in ihrer Jackentasche herum. Allerdings in der linken. ›Meine Leckerli sind in der rechten Tasche‹, bedeutete ich ihr durch einen Stups mit der Schnauze und fing an, ein wenig beleidigt zu spielen, weil sie sich so überhaupt nicht für mich zu interessieren schien. Schließlich zog sie ihr Handy hervor und tippte aufgeregt eine kurze Nummer hinein.

»Ich habe eine Leiche gefunden«, stammelte sie in das Gerät und rückte dabei ihre Brille zurecht.

›Wer hat das tolle Aas gefunden?‹ Ich setzte mich neben sie und blickte sie fragend an.

»Im Wald zwischen Mechernich und Kommern, ziemlich genau gegenüber dem Felsen, der Elefantenkopf genannt wird.« Sie bemühte sich, klare Angaben zu machen, was ihr aber nicht ganz leicht fiel. Immer wieder musste sie zwischendurch schniefen und sich die Tränen aus den Augen reiben.

»Mein Name?«, fragte sie verwirrt. »Was tut denn das zur Sache? Bitte kommen Sie einfach schnell her, ganz schnell.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung musste wohl etwas halbwegs Tröstliches von sich gegeben haben, denn zum Schluss sagte Frauchen: »In Ordnung, ich warte hier.«

›Ich?‹ Langsam wurde es mir zu blöd, wie Luft behandelt zu werden. ›Wir sind zu zweit hier, merkst du das nicht?‹ Demonstrativ legte ich meinen Kopf auf ihrem Knie ab und endlich, endlich war ich wieder ihr Hund!

Sie streichelte mich – abwesend zwar, aber immerhin – und murmelte ein über das andere Mal: »Ach, Emil! Ist das nicht schrecklich?«

Der Sinn des Wortes schrecklich im Zusammenhang mit dem großen Kadaver da im Wald wollte sich mir nicht so recht erschließen, aber ich leckte ihr über die Hand und signalisierte ihr so meine Zustimmung. Irgendwie musste ich sie ja beschwichtigen und wieder auf den Boden holen. Offenbar war es mir gelungen, denn nach einer Weile griff sie in die richtige Jackentasche und reichte mir gleich eine ganze Handvoll Leckerli. Einfach so, ohne dass ich erst Sitz, Platz oder irgendein anderes Mätzchen machen musste. Ich entspannte mich und war zufrieden, dass ich anscheinend nichts Gravierendes falsch gemacht hatte. Es waren friedliche Minuten.

Braver Hund

Aber leider nur ganz wenige. Schon bald kamen mehrere Fahrzeuge über den Feldweg direkt auf uns zu gebraust. Lauter Autos mit blauen Lampen auf dem Dach und durchdringenden Sirenen.

›Mann, o Mann!‹, schoss es mir durch den Kopf. ›Auch das noch! Erst der Schreck mit dem Aas und jetzt auch noch so ein Aufmarsch. Ich fürchte, das ist zu viel für Lisa.‹

Ich hechelte aufgebracht, erhob mich, fixierte die Invasoren mit steifer Rute und gesträubter Bürste. Vielleicht ließen sie sich ja einschüchtern und wichen zurück. Ich konnte hier gerade wirklich niemanden gebrauchen, der meiner Gefährtin, die eben erst anfing, wieder normal zu atmen, abermals auf die Nerven gehen würde. Und dass sie sich über die motorisierten Eindringlinge aufregen würde, war ganz klar. Schon, wenn von Zeit zu Zeit mal ein einzelnes Mofa durch die Natur brettert, schimpft sie wie ein Rohrspatz über die Luftverschmutzung und darüber, dass es verboten sei, landwirtschaftliche Wege mit Autos oder Zweirädern zu befahren. Und nun gleich, zwei – ich zählte noch einmal nach –, nein, drei Fahrzeuge!

Die Eindringlinge kamen direkt auf uns zu und ließen sich durch mein Drohgebaren mit wüst gesträubtem Nackenfell nicht im Geringsten beeindrucken. Auch nicht, als Lisa ebenfalls aufsprang und mir heftig mit den Armen fuchtelnd bei der Abwehr half. Wir gaben uns wirklich redlich Mühe, aber die Autos fuhren uns bis vor die Füße und blieben dann stehen. Wenigstens stellten sie sofort die Motoren aus und verpesteten so die Luft nicht weiter, und auch der ohrenbetäubende Lärm brach abrupt ab. Nur diese irritierenden blauen Lichter blieben an. Aus einem der Fahrzeuge sprangen zwei Menschen mit phosphoreszierenden Streifen an den Jacken, von denen einer einen schwarzen Koffer trug. Das konnte nur ein Arzt sein. So einer kommt regelmäßig zu unserer kranken, alten Nachbarin. Aber was wollte der denn hier? Kadaver brauchen meines Wissens nach keinen Arzt mehr.

Aus den beiden anderen Autos kamen vier Menschen in Uniform zum Vorschein. Ich drängte mich sicherheitshalber ganz nah an mein Frauchen, denn diese Leute sahen verdächtig nach Jägern aus. Und bei denen weiß man ja bekanntlich nie …

»Sie haben den Notruf getätigt?«, wandte sich einer – genau genommen waren es drei männliche und ein weiblicher Mensch – an meine Partnerin.

»Ja«, bestätigte sie, schob gleich ein »Da oben! Sie liegt da oben«, nach und deutete in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Sie zitterte wieder wie Espenlaub, auch ihr Schniefen wurde wieder lauter. Dabei hatte ich sie gerade erst ein wenig beruhigen können.

»Würden Sie uns bitte zu der Stelle führen, wo Sie die Leiche gesehen haben?«, bat der gleiche Uniformierte.

»Was? Ich soll da noch mal hin?«, fragte Lisa entsetzt und fügte hinzu: »Sie sind doch die Polizei.«

›Aha, Polizei!‹, dachte ich. ›Immer noch besser als Jäger.‹ Ich berührte mein Frauchen mit der Schnauze am Knie und bedeutete ihr so, dass ich das gerne für sie übernehmen könne, aber sie verstand mich nicht. Stattdessen schüttelte sie erst unwillig den Kopf, nickte dann aber ergeben und stapfte los. Bis auf einen Beamten, der bei den Wagen blieb, folgte der ganze Trupp. Mein Frauchen schien mir ein wenig unsicher auf den Beinen zu sein, also beschloss ich, die Führung zu übernehmen und setzte mich an die Spitze des Rudels.

»Ihr Hund kennt sich ja gut hier aus«, kommentierte einer der Polizisten.

›Klar, du Penner, das ist mein Revier‹, machte ich ihm durch einen Beller klar und lief weiter voraus. Als ich durch das Loch im Zaun schlüpfte, kam der Tross hinter mir zum Stehen.

»Sind Sie sicher, dass wir da lang müssen?«, fragte der vorderste Mensch mein Frauchen. »Da geht es doch kaum weiter, nur noch ein paar Felsen und die Schlucht, keine Wege.«

›Warum vertraut der Kerl mir nicht einfach?‹, nörgelte ich innerlich. ›Ich weiß genau, was ich tue und wohin ich euch führe. Und nun macht mal voran, damit wir irgendwann nach Hause können und ich mein Frühstück bekomme.‹ Ich eilte weiter, und den Menschen blieb nichts anderes übrig, als mir zu folgen.

Alle außer Lisa, wie ich nach einer Weile, nur wenige Meter vor dem Fund, feststellte. Sie hatte es vorhin offenbar schon eklig gefunden, und irgendwie hatte es sie auch erschreckt, also wollte sie es wohl nicht noch mal aus der Nähe begutachten. Ehrlich gesagt, auch ich hatte keine Idee, was damit anzufangen wäre. Der Geruch, den das Aas ausströmte, war zwar spannend – ich konnte das brennende Interesse der Neuankömmlinge gut verstehen –, aber wirklich appetitlich war das Ganze nicht. Während die Polizisten sich jetzt mit Feuereifer über den Kadaver hermachten, zog ich mich dezent zurück, um ein Stück weit an der Spur entlang zu schnüffeln, die mich von dem Fundstück aus magisch an der Schlucht entlang zog. Es war ganz klar derselbe Geruch, den auch das Aas ausströmte, nur dezenter. Nach einer Weile merkte ich, dass mich diese Aufgabe in eine ziemlich große Entfernung vom eigentlichen Geschehen gebracht hatte, und trottete zurück. Aus einiger Distanz sah ich, wie die beiden Phosphorjacken sich über mein Fundstück beugten. Zwei andere entrollten ein gestreiftes Plastikband, um damit eine Bastelei zu beginnen, welche diverse Bäume mit einschloss, und einer sprach aufgeregt in sein Handy: »Ja, eine weibliche Leiche«, hörte ich ihn sagen. »Wir brauchen hier Verstärkung. Spurensicherung, Pathologie, Leute vom Morddezernat, das ganze Programm!« Er beendete das Gespräch und rief seinen Kollegen zu: »Ok, die Kripo aus Euskirchen ist auf dem Weg.«

Ich stand irgendwie nutzlos in der Gegend herum, fand das nach einigen Minuten langweilig und trollte mich. Einer der Beamten folgte mir auf dem Fuß und sprach mich sogar an: »Braver Hund. Ne richtige Spürnase, was?«

Hörte ich da eine Spur von Neid heraus? Ich bin zwar kein Trüffelschwein, aber ganz klar habe ich einen hervorragend ausgeprägten Geruchssinn. Ich kann rund tausend Düfte unterscheiden, speichern und bei Bedarf wieder abrufen. Das weiß ich nicht nur aus Erfahrung, sondern auch aus den Büchern, aus denen Lisa mir ab und zu etwas vorliest.

Wie aufs Stichwort vernahm ich ein erleichtertes »Emil! Da bist du ja!«. Frauchen kam auf mich zu gestürzt und knuddelte mich kräftig durch. Womit ich mir diese Belohnung verdient hatte, wusste ich zwar nicht, aber ich genoss es, endlich wieder ihre volle Aufmerksamkeit errungen zu haben, und schleckte sie freudig ab. Doch ihre Zuwendung hielt nicht lange an. Schon nach wenigen Sekunden widmete sie sich dem Kerl, der sich so famos mit Hundenasen auskannte, und machte weitere Angaben zu den Ereignissen auf unserem Spaziergang.

»Eigentlich war es Emil«, sie zeigte auf mich, »der die Frau gefunden hat.« Ehrlich ist sie schon immer gewesen. Ein Lob von Seiten des Polizisten bekam ich jedoch nicht.

»Er rannte auf einmal durch das Loch im Zaun und bellte dann wie verrückt. Also bin ich ihm gefolgt.«

›Natürlich bist du gleich gekommen‹, sinnierte ich, ›schließlich habe ich dich ja klar verständlich zu mir gerufen, um dir dieses Aas zu zeigen.‹

»Wann war das?«, erkundigte sich der Beamte.

Lisa schüttelte hilflos den Kopf. »Ich weiß nicht. Jedenfalls bin ich ... «

›Sorry, Frauchen, wir!‹

»... das ganze Stück von der Leiche bis zu der Bank, wo Sie mich getroffen haben, gerannt, und habe Sie von dort aus gleich angerufen.«

Der Mann kritzelte etwas in einen Notizblock, den er aus der Innentasche seiner Jacke zum Vorschein gebracht hatte.

»Nennen Sie mir jetzt bitte noch Ihren Namen und geben Sie mir Ihre Adresse«, forderte der Uniformierte meine Gefährtin auf, »danach können Sie mit ihrem Hund nach Hause gehen.«

»Lisa Wollweber«, diktierte Frauchen. »Vogelweide 38 in Kommern.«

»Telefon?«

Mein Frauchen kam auch dieser Frage nach, und der Typ schrieb alles eifrig in seinen Notizblock. Daraufhin klappte er das Teil zu, bedankte sich und wollte uns gerade entlassen, als er meiner Begleitung noch einen prüfenden Blick zuwarf. »Oder soll der Amtsarzt erst noch kurz nach Ihnen schauen? Sie sehen reichlich mitgenommen aus.«

»Nein, oh nein! Das wird nicht nötig sein.« Meine Lisa schüttelte energisch den Kopf. »Es geht schon. Man findet bloß nicht alle Tage eine Leiche auf dem Spaziergang.« Nervös strich sie sich eine Strähne ihres kurzen, fast schwarzen Haares aus dem Gesicht. »Wir gehen jetzt lieber nach Hause, und ich mache mir eine schöne Tasse Tee.«

›Puh, das wurde aber auch Zeit.‹ Erwartungsfroh wedelte ich mit meiner langen Rute und hüpfte fröhlich in Richtung Wiese davon. Vielleicht hatte Frauchen ja jetzt Lust, ein wenig Bällchen mit mir zu spielen.

Doch als wir uns der großen freien Fläche näherten, erkannte ich sogleich, dass daraus wohl wieder nichts werden würde. Neben den zuvor schon drei Fahrzeugen wurden soeben noch mal so viele abgestellt. Die aus den Wagen springenden Menschen beachteten uns überhaupt nicht, taten unheimlich beschäftigt, riefen sich unverständliches Zeug zu und wuselten in einem heillosen Durcheinander umher. Ein stämmiger Typ mit dichtem Fell auf der Oberlippe schien das Sagen zu haben. Ich beobachtete, wie aus einem riesengroßen schwarzen Auto eine gigantische, längliche Kiste aus grauem Hartplastik gezogen wurde. Hatten die etwa vor, das Aas abzutransportieren? Von der Größe des Behälters her würde das Stück zumindest genau da hinein passen.

Lisa blieb kurz stehen und schaute verwirrt auf das Spektakel auf unserer Spielwiese. Dann straffte sie die Schultern, schob nochmals ihre ewig rutschende Brille hoch und marschierte endlich wieder in ihrem normalen Tempo los.

Wir mussten einen ziemlich weiten Bogen gehen, um an all den Menschen vorbeizukommen. Was mir sehr recht war, denn der ganze Tumult hatte mich doch ziemlich genervt. Meist ist es ausgesprochen ruhig bei uns im Wald, und ich gehöre eindeutig zu den Wesen, die genau das zu schätzen wissen. Mir tun ja immer die armen Hunde leid, die in Städten leben müssen. Einmal im Monat machen wir mit unserer Gruppe von der Hundeschule einen sogenannten Stadtlauf, und ab und zu – aber wirklich nur ganz selten – nimmt Frauchen mich mit auf einen sogenannten Einkaufsbummel. »Das musst du aber doch auch lernen«, erklärt sie mir dann. »Das macht dich stressresistent.« Was auch immer das bedeuten mochte ... Egal, jedenfalls liebe ich die Ruhe unseres nah am Waldrand gelegenen Zuhauses ebenso wie die beschaulichen Spaziergänge durch die Natur. Wenn ich von Zeit zu Zeit mal mit ein paar anderen Hunden toben kann, bin ich voll und ganz ausgelastet. Ich gehöre nicht zu den Vertretern meiner Art, die den ganzen Tag Action brauchen. Nach einem Gang durch den Wald und einer guten Mahlzeit bin ich meistens recht müde und gönne mir noch ein paar Stündchen Schlaf.

Müde war ich an jenem Tag auch. Und wie! Unser Spaziergang war durch das ganze Hin und Her locker auf drei Stunden gekommen, die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel, der Magen hing mir bis zu den Pfoten, und ich wollte nur noch fressen und pennen!

Zu Hause angekommen, füllte Frauchen meinen Napf mit einer ordentlichen Portion Frühstück, über das ich mich sogleich hermachte. Schmatzend und mit einem scheppernden Geräusch schob ich den metallenen Napf über den glatten Küchenboden. Für sich selbst kochte Lisa nur einen Tee und zog sich mit diesem in die Badewanne zurück. Samstagmittag und Badewanne? Äußerst ungewöhnlich! An diesem Tag schien alles außer Kontrolle zu geraten. Da ich ins Badezimmer meistens nicht hinein darf, ging ich davon aus, dass Lisa meinen Zuspruch nun nicht weiter benötigte, und rollte mich auf meiner Liegedecke zusammen.

Ich war hundemüde, aber ich konnte nicht einschlafen. Wieder und wieder verglich ich die Situation mit anderen, in denen ich ein Stück Aas aufgestöbert hatte, und wurde einfach nicht schlau aus dem maßlos übersteigerten Interesse an meinem Fund von heute Morgen. Warum waren so viele Menschen zusammengelaufen, um die tote Frau zu begutachten? Wenn eine verendete Maus im Feld liegt, kommen doch auch nicht Dutzende anderer Mäuse, um sich den Artgenossen anzuschauen. Und was war eigentlich mit der Frau passiert? Warum lag sie tot im Wald herum? Auf jeden Fall hatte sie noch nicht allzu lange dort gelegen. Das Blut an ihr hatte ziemlich frisch gerochen. War ihr vielleicht ein dicker Ast auf den Kopf geschlagen? Wenn es draußen kräftig stürmt, gehen wir nämlich nicht im Wald spazieren, und Lisa erklärt mir dann, dass es zu gefährlich sei, weil herunterbrechende Äste einen erschlagen könnten. Aber in den letzten Tagen hatte es keinen Sturm gegeben, höchstens mal ein kleines Windchen.

Ich hörte Lisa aus dem Badezimmer kommen und mit nackten Füßen durch die Wohnung laufen. Würde sie mich im Vorbeigehen hinter den Ohren kraulen oder mir einen Kuss in den Nacken drücken? Bei aller Vertrautheit weiß man als Hund doch nie, ob der zugehörige Mensch gerade Zeit für ein paar Streicheleinheiten hat. Ich spitzte die Ohren und richtete mich ein wenig auf. Jetzt kam sie ganz dicht an mir vorbei – und schlenderte weiter zum Sofa. Sie war augenscheinlich zu sehr in Gedanken, um mein Zärtlichkeitsbedürfnis zu bedienen.