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© Querverlag GmbH, Berlin 2015

1. Auflage, September 2005

2. Auflage, Oktober 2006

3. Auflage, Juni 2010

4. Auflage, Oktober 2013

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung
von Fotos der Interviewpartner_innen.

ISBN 978-3-89656-585-3

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

http://www.querverlag.de

Vorwort

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Ja, was sagen eigentlich die Kinder dazu? Eine nach wie vor wichtige Frage, denn immer noch wird viel zu häufig über die Kinder gesprochen, ohne sie selbst zu befragen, wie es denn so ist mit homosexuellen Eltern. Es ist großartig, dass sich Stephanie Gerlach und Uli Streib-Brziˇc mit diesem Thema befassen – als Pionierinnen haben sie bereits vor zehn Jahren das erste deutschsprachige Buch veröffentlicht, das den Töchtern und Söhnen aus gleichgeschlechtlichen Familien eine Stimme verleiht. Jetzt, zehn Jahre später, kommen die „Kinder“ erneut zu Wort. Mal sehen, was die Töchter und Söhne heute über ihre Familien sagen.

Ich finde, jede Familie ist wertvoll, denn nur die Liebe zählt. Ich bin selbst Vater. Bei uns wird am Abend über den Tag gesprochen, wir lachen zusammen, und ganz selten gibt es mal ein Handyverbot. Auch als Teenager, wenn ihnen die Eltern eher peinlich sind, freuen sich die Kids riesig über die süße Überraschung in der Brotzeitbox am Tag einer wichtigen Schulaufgabe. Und das ist die Message dieses Buches: Diese Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen brauchen vor allem eins: Respekt und Selbstverständlichkeit. In Zeiten, in denen verunsicherte Menschen am liebsten das Rad zurückdrehen würden und dafür auch auf die Straße gehen, ist es doppelt wichtig, sogenannte Minderheiten nicht zu vergessen, sondern dafür zu sorgen, dass sie und ihre Bedürfnisse besonders in den Mittelpunkt gerückt werden. Das bedeutet, dass die Politik endlich ein Zeichen setzen und Regenbogenfamilien eins zu eins dieselben Rechte zuerkennen sollte wie traditionellen Familien. Denn von jeder Benachteiligung, die eine Familie erfährt, sind die Kinder mitbetroffen. Hier gibt es eine gesellschaftliche Aufgabe, an der ich mich im Übrigen mit meiner Stiftung beteilige (http://www.patrick-lindner.de/stiftung/).

Auch dieses Buch tut es, deshalb wünsche ich ihm von Herzen viele Leserinnen und Leser.

Patrick Lindner

Einleitung

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Vor genau zehn Jahren – im Herbst 2005 – ist die Erstausgabe von Und was sagen die Kinder dazu? erschienen und war das erste Buch im deutschsprachigen Raum, in dem Kinder lesbischer Mütter und schwuler Väter zu ihrer Sicht auf ihre Familie befragt wurden und mit ihren Statements und ihren Meinungen zu Wort kamen. Wir Autorinnen fanden es großartig, wie viele begeisterte Rückmeldungen uns von Leser_innen erreicht haben – und letztendlich waren es ihre interessierten und neugierigen Nachfragen, ob wir denn wüssten, wie es weitergegangen sei mit Maries Wunsch, eine Familie zu gründen, oder ob Matĕj mit seiner offenherzigen Art, allen sofort zu erzählen, dass er über Insemination entstanden sei, nicht doch in Schwierigkeiten geraten ist. Genau diese Nachfragen waren es, die uns dazu inspiriert und ermutigt haben, ein neues Projekt zu wagen. Das Ergebnis ist dieses Buch, das nun vor Ihnen liegt.

Diese Ausgabe ist Fortsetzung und Neufassung zugleich: Fortgesetzt wurden die vor zehn Jahren geführten Gespräche, indem wir uns mit den Kindern und Jugendlichen, die bereits im ersten Buch mit einem Porträt vorgestellt wurden, noch einmal zu einem Interview getroffen haben. Wir befragten also dieselben Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die wir 2004/2005 interviewt hatten, ein zweites Mal in den Jahren 2014/2015. Natürlich war es zu Beginn unseres Vorhabens gar nicht klar, ob wir sie finden und ob sie bereit sein würden, sich zu beteiligen. Dank der sozialen Medien, der Netzwerke und nicht zuletzt unserer Beharrlichkeit gelang es uns jedoch, fast alle Interviewpartner_innen zu erreichen – und wir waren überwältigt, dass fast alle mit einem begeisterten „ja“ antworteten, als wir sie fragten. So kam es, dass wir wieder kreuz und quer durch Deutschland fuhren – zu Hannah nach Stuttgart und zu Till ins holländische Groningen, wo er studiert, zu Lars nach Rostock, wo er geblieben ist, weil er das Meer gerne in seiner Nähe hat, zu Marie nach Hamburg, kurz bevor ihre zweite Tochter geboren wurde – nur Ajin, die in Tennessee lebt, und auch Anna und Matthias, die nach wie vor in der Steiermark wohnen, treffen wir per Skype.

Wir haben unsere Interviewpartner_innen gefragt, was in den letzten zehn Jahren an Neuem passiert ist in ihrem Leben, was aus ihren Zukunftsplänen und -visionen geworden ist, was sie umgesetzt und was sie neu entworfen und entdeckt haben, wie sich ihre Sicht auf ihre Familie entwickelt hat, was sich darin vielleicht auch gewandelt und verändert hat, wie sie mittlerweile ihre Eltern sehen und wie sie ihr Aufwachsen in einer Familie, die nicht dem Mainstream-Modell entspricht, jetzt, da sie ein Stück älter geworden sind, bewerten. Besonders interessiert waren wir natürlich auch daran, wie offen und offensiv sie selbst mit dem „Anderssein“ – das ja oftmals eher durch die Bewertung der anderen entsteht, als es der eigenen Wahrnehmung entspringt – umgehen.

Lesbisch-schwule Lebensweisen und damit auch Regenbogenfamilien sind in den letzten zehn Jahren in der Öffentlichkeit deutlich präsenter, der Gayby-Boom vor allem in den Großstädten ist nicht zu übersehen, die steuerliche Gleichbehandlung eingetragener Lebenspartner_innen wurde vom Bundesverfassungsgericht durchgesetzt und die Stiefkindadoption nachgebessert*. Es lassen sich einerseits also gesellschaftliche und rechtliche Fortschritte verzeichnen, gleichzeitig versuchen sich im Gegenzug auch diejenigen Gehör zu verschaffen, die konservativ-antiquiert nur die heterosexuelle Kleinfamilie als einziges Familienmodell gelten lassen wollen und dabei übersehen, dass sich die Gesellschaft in einem ständigen Weiterentwicklungsprozess befindet. Wir wollten im Hinblick darauf von unseren Interviewpartner_innen wissen, ob sich ihre Strategien im Verlauf der letzten Jahre verändert haben, ob sie heute anders mit ihrer Geschichte umgehen als damals.

Abgedruckt wird jeweils das „alte“ Interview sowie das aktuelle, sodass Sie als Leser_in beide Perspektiven haben.

Außerdem ist neu an dieser Fortsetzung, dass wir acht Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sechs und 16 Jahren interviewt haben, um auch die Sichtweisen von Kindern zu repräsentieren, die jetzt aktuell in Regenbogenfamilien aufwachsen. Zu Wort kommen in diesem Band auch Kinder, die Eltern haben, die sich als transgender identifizieren. Unser Anliegen lag auch darin, Aussagen darüber zu erhalten, inwieweit sich die gesellschaftlichen Veränderungen, die rechtlichen Fortschritte auf das Selbstverständnis und ihr Selbstbild als Kinder, die in einer Regenbogenfamilie aufwachsen, auswirken.

Neu ist als Drittes, dass in dieser Ausgabe nun auch unsere eigenen Kinder zu Wort kommen: Hanna, 34, und Clara, 12, trafen sich mit Matthias Wingerter, systemischer Berater und selbst schwuler Vater, zum Gespräch. Wir Mütter waren auf das Ergebnis natürlich mächtig gespannt.

Nun können Sie als Leser_innen gespannt darauf sein, was unsere Interviewpartner_innen zu sagen hatten. Die Begegnungen mit diesen 34 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben uns berührt, erstaunt und sehr oft zutiefst beeindruckt. Wir haben miteinander diskutiert, gelacht – oder auch mal geschwiegen, wenn ein Gedanke zu Ende gedacht werden wollte. Für diese kostbaren Momente und das uns geschenkte Vertrauen sind wir sehr dankbar. Nur so konnte dieses Buch entstehen, das nun vor Ihnen liegt! Viel Spaß beim Lesen!

Uli Streib-Brzič, Berlin

Stephanie Gerlach, München

Juli 2015

* Erst seit 2013 ist es möglich, dass ein innerhalb einer Lebenspartnerschaft adoptiertes Kind das Recht auf zwei Elternteile hat, wie es Kindern, die von einem heterosexuellen Elternpaar adoptiert werden, zusteht. Diese Ungleichbehandlung wurde nun aufgehoben. Seither können gleichgeschlechtliche Paare zwar noch immer nicht gemeinsam ein Kind adoptieren, nach wie vor kann nur eine_r der Partner_innen die Adoption vollziehen. Der_die andere Partner_in kann aber im Anschluss daran über die sog. Sukzessivadoption bzw. Stiefkindadoption rechtliches Elternteil werden.

Felix & Antonia

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„Ich hab es den Erzieherinnen erzählt, noch bevor Mama das denen gesagt hat.“

12 Jahre & 10 Jahre

„Also anders, als wie es jetzt ist, könnte ich es mir gar nicht mehr vorstellen“ und dass es jetzt besser ist als vorher, da sind sich Antonia und Felix beide ganz sicher. „Eigentlich ist es ja so, als ob Sabine der Papa wär, nur dass es halt so geworden ist, dass wir jetzt zwei Mütter haben.“ Antonia ist jetzt zehn Jahre alt, Felix zwölf.

Seit fünf Jahren leben sie hier in dem kleinen Städtchen Betzdorf, in dem Haus am Hang mit einem weiten Blick ins Tal, wo sich die Sieg entlang schlängelt, zusammen mit ihren beiden Müttern Anne und Sabine, dem Hund Tilly, der schreckliche Angst vor Silvesterraketen hat, der kleinen verspielten Katze Emma und Helmut, dem Kater.

Eingezogen in dieses Haus sind sie kurz nach Antonias viertem Geburtstag zusammen mit ihrem Papa und ihrer Mama Anne, aber da gab es zuletzt hauptsächlich Streit.

Dann ist Papa ausgezogen. Wenn sie jetzt zum Papa gehen, so berichten die beiden, „dann finden wir das toll, weil wir dann immer etwas unternehmen. Gestern zum Beispiel haben wir eine Radtour gemacht“, erzählt Antonia. „Und“, ergänzt Felix und grinst verschmitzt, „ich bin dann den beiden immer davon gerast, weil ich es toll finde, so schnell zu fahren, wie ich kann, und war genervt, dass ich immer wieder ewig auf Antonia und Papa warten musste.“ Er verdreht die Augen. „Wieso musst du denn auch immer so weit voraus fahren“, ärgert sich Antonia. Über so was, so erklären die beiden, bekämen sie immer wieder aufs neue Streit. Und die Fernbedienung, die sei auch jeden Tag ein Thema. Die Einigung, die sie getroffen haben, klappt nämlich meistens, aber nicht immer, denn zwar haben sie vereinbart, dass Antonia sie bekommt, wenn sie zu Hause, und Felix, wenn sie beim Papa sind, aber an den Tagen, an denen sie morgens in dem einen Zuhause und nachmittags in dem anderen sind, gerät die Regel jedes Mal aus den Fugen.

„Aber meistens verstehen wir uns ganz gut“, sagt Felix. „Ja, oft ist er eigentlich ganz nett“, ergänzt Antonia.

Für Antonia und Felix ist ganz klar, dass sie was besonderes sind, hier in der Kleinstadt. Die meisten Kinder leben mit Vater und Mutter zusammen, sie aber haben nicht nur zwei Eltern, sondern drei, und zwar zwei Mütter und einen Vater. Eigentlich klar, dass sich die anderen wundern, wenn sie das erste Mal hören, dass Felix und Antonia zwei Mütter haben. „Manche glauben das erst mal nicht und sagen: ‚Echt, das glaub ich nicht‘“, erzählt Felix. „Doch“, antwortet Felix dann, „das stimmt und wenn dann mein Freund, der Robert, dazu kommt, sagt der dann auch: ‚Doch es stimmt schon.‘“ Nach diesen klaren Ansagen wissen die anderen Bescheid und die meisten nehmen es „so wie es ist“, berichtet Felix.

Antonia hat bisher auch nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ihre Mama eine Frau liebt und nun mit einer Frau verheiratet ist. „Schon im Kindergarten war ich so ein Plappermäulchen“, lacht sie, „da hab ich das den Erzieherinnen erzählt, noch bevor Mama das denen gesagt hat.“ Anne ging dann kurz darauf persönlich zu den Erzieherinnen, mit einer Flasche Sekt, denn die freudige Nachricht, dass sie sich neu verliebt hatte, war ja durchaus was zum Feiern.

„Seitdem sind sie Freundinnen“, erzählen Felix und Antonia, „sie waren dann auch bei der Hochzeit dabei.“ Auch dieses Ereignis war etwas Außergewöhnliches. Denn als Anne und Sabine heiraten, sind sie das erste Frauenpaar im Landkreis, das im Rathaus in einer feierlichen Zeremonie eine Lebenspartnerschaft begründete. Und natürlich war das eine Sensation im Ort. „Das war sogar in der Zeitung“, erzählt Felix und holt das Album mit den Fotos aus dem Schrank, „obwohl die Mama und die Sabine das gar nicht wollten.“ Und Felix und Antonia wissen auch, „dass die in der Zeitung Sachen geschrieben haben, die gar nicht stimmen.“ Antonia liest vor: „Also hier steht, ‚die beiden Frauen, die sich offiziell zum Paar erklären‘ – also das stimmt jetzt schon mal“ sagt Antonia und lacht. „Jedenfalls hat meine Lehrerin den Artikel ausgeschnitten und überall im Lehrerzimmer rumgezeigt, für die war das schon was Besonderes, weil sie uns ja kannte.“

Sie sind also eine Familie, die anders ist als die meisten Familien in der Kleinstadt, und für viele ist das kein Grund zum Komisch-Gucken oder Komisch-darüber-Reden, für einige wenige aber doch. Und Felix und Antonia finden, dass die ganz schön nerven.

„Ein Junge aus meiner Schule zum Beispiel“, erzählt Felix „den haben wir getroffen, das war im Winter, als ich mit Anne und Sabine an der Schlittenbahn vorbeigelaufen bin, und wir haben ihn gegrüßt und dann hat er uns hinterhergerufen: ‚Lesben, Lesben!‘. Also eigentlich finde ich den auch ziemlich doof und Mama und Sabine haben auch nichts zurückgesagt.“

„Na ja“, mischt sich Antonia ein, „außerdem stimmt es ja, was er gesagt hat, oder etwa nicht?“

Sie hat festgestellt, dass die, die blöde Sachen sagen, irgendwann damit aufhören, wenn man sich nicht darüber ärgert oder zumindest nicht zeigt, dass man sich ärgert. In ihrer Grundschulklasse da war anfangs ein Junge, der über Antonia und ihre Mütter gelacht und gelästert hat. „Ich hab dann mit meiner Freundin darüber geredet und die hat dann gesagt: ‚Hör nicht darauf, lass ihn doch einfach dumm stehen und dumm schwätzen‘, ja, und dann hab ich das gemacht und dann hat es aufgehört. Aber es ist natürlich kein so tolles Gefühl, wenn einer über deine Eltern lästert.“ Und wirkungsvoll war auch, als sie auf einen der Jungs, den vorlautesten ihrer Realschulklasse, zugeht und ihn an der Jacke festhält: „Da hab ich ihn gefragt, ob er eigentlich weiß, was er da redet, ob er denn weiß, was das ist, schwul, oder ob er das nur so als Ausdruck nimmt. Ja, und dann hat er gesagt: ‚Ej, lass mich los, lass mich in Ruhe!‘, der wollte gar nicht darüber sprechen, ich glaube, der wusste gar nicht, was er sagen sollte.“

Felix ärgert sich über einen Jungen, der, wenn sie so im Spaß miteinander kabbeln, kämpfen oder boxen, oder wenn aus Spaß schon ein bisschen Ernst wird und sie sich kneifen oder schubsen: „Ej, du Schwuli!“ ruft. „Manchmal sag ich das dann auch zurück, obwohl ich das gar nicht so meine“, erzählt Felix und schüttelt den Kopf. Dann sagt er nach kurzem Nachdenken: „Aber eigentlich finde ich, der ist viel mehr schwul als ich, weil der mich ja viel mehr kratzt.“ Aber nicht nur Felix ist von diesem Jungen genervt, auch seine Freunde finden, dass man diesem Jungen eigentlich mal grundsätzlich die Meinung sagen müsste.

Und, ergänzt Antonia, denen, die dicke Kinder hänseln oder blöde Kommentare zu den türkischen Mädchen sagen, ebenfalls.

Antonia und Felix sind schon länger aktiv beim Kinderzirkus im Ort, fahren im Sommer regelmäßig zu einem Zirkuscamp für Kinder und sind auch schon mehrmals mit Zirkusnummern aufgetreten. Jong­lieren, Trampolinspringen, Tellerdrehen, Devilsticks oder Diabolos blitzschnell hin- und her balancieren lassen, Akrobatik auf dem Einrad – eigentlich finden Felix und Antonia alles toll, vielleicht am allerbesten aber gefällt ihnen das Jonglieren und sie zeigen mir auch, wie gut sie das schon beherrschen. Hochkonzentriert die Blicke, die Wangen gerötet sehen sie schon ziemlich professionell aus, wie sie die bunten Bälle in ihren Lieblingsfarben – orange und hellgrün, gelb und blau – elegant auffangen, energisch wieder hochwerfen, sie erwischen, und schon wirbeln die Bälle wieder bunt durch die Luft. Bis einer fällt und das ganze Spiel von Neuem beginnt.

Felix ist sich sicher, dass das einmal sein Beruf wird. Er möchte gern Artist werden und Akrobatik studieren, am liebsten irgendwo im Ausland, in Straßburg vielleicht, wie Sabine, die ebenfalls dort studiert hat. Antonia dagegen hat vor – wie ihre Mütter, die Ärztin und Hebamme sind – heilend tätig zu sein, sie möchte Medizin studieren und Tierärztin werden. Ihr Traum ist es, auf dem Land zu leben, in einem richtigen Bauernhaus, die Felder und Wiesen direkt vor der Tür, dort, so träumt sie, wohnt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Vielleicht will sie auch mal nur ein Kind, „weil ich will ihm das nicht antun mit einem Geschwister, mit dem es sich andauernd zankt“, sagt sie mit einem Seitenblick auf Felix, „oder eben Zwillinge.“

Die kleine Katze Emma ist übrigens auch schon in die Kunst der Akrobatik einbezogen und balanciert Felix galant und erhaben über Schultern und Nacken die Arme entlang.

Dann springt sie auf den Boden und miaut.

„In der Grundschule wollte ich auf keinen Fall was Besonderes sein.“

22 Jahre & 20 Jahre

Wir treffen uns tatsächlich an demselben Ort wie damals – in Betzdorf. Antonia ist gestern aus Münster angereist; vor zwei Tagen hat sie ihre letzte Klausur geschrieben und damit das erste Semester in „Public Governance across Borders“ abgeschlossen. Nun genießt sie ihre ersten Semesterferien. Felix überbrückt die Zeit, bis er sein Medizinstudium fortsetzen kann, mit Aufträgen als Ton- und Lichttechniker. Und wohnt so lange wieder in Betzdorf. „Irgendwie ist es toll, immer wieder zurückkommen zu können. Ich komme gern nach Hause“, sagt Antonia, „es ist schon gut zu wissen, hier gibt es dieses Häuschen und meine Eltern. Das ist schon so etwas wie ein Anker für mich.“ „Aber irgendwann reicht es auch“, meint Felix, „dann würde ich meine Kisten schon gern wieder auspacken.“ Die stehen nämlich im Keller und warten auf den Umzug in die Stadt, in der er einen Studienplatz bekommt – und die mit viel Glück dieselbe ist, in der Samira, seine Freundin, Sozialarbeit studieren wird.

Die Mütter holen mich am Bahnhof ab. Ein sonniger, kalter Februartag. Schneereste an den Hängen. Mit dem Auto die kurvige Straße bergauf bis zum Haus mit dem Blick ins Tal. „Arfsten“ steht auf dem Klingelschild. Von Weitem sichtbar. „Ich war unbedingt dafür, dass wir Sabines Namen nehmen, auch wenn es bedeutet hat, dass ich plötzlich mit einem anderen Nachnamen in der Schule auftauchte“, sagt Antonia. Nach den Sommerferien war das. Die Mitschüler_innen wunderten sich und fragten: „Wieso heißt du jetzt anders?“ „Weil ich adoptiert wurde“, war Antonias kurze Antwort. Denn bekannt war’s eigentlich schon. Als sich Anne und Sabine vor acht Jahren entschlossen hatten, mit dem Instrument der Stiefkindadoption die gemeinsame Elternschaft auch rechtlich abzusichern und einen gemeinsamen Familiennamen anzunehmen, hatten sie es mit einer Anzeige in der Rheinzeitung bekannt gegeben: „Eine Familie sind wir schon lange, jetzt haben wir einen gemeinsamen Namen.“

Tilly bellt aufgeregt, wedelt mit dem Schwanz und springt zwischen uns hin und her, als wir ins Haus treten. „Wir gehen mit ihr spazieren, dann habt ihr eure Ruhe“, meint Anne. Felix, Antonia und ich setzen uns im Wohnzimmer auf das Sofa. „Damals saßen wir übrigens dort drüben“, meint Felix, „da stand die Couch nämlich noch dort.“

Und was ist noch alles Wichtiges passiert in den letzten zehn Jahren, will ich wissen. „Na ja, dass ich Akrobatik zu meinem Beruf mache und Artist werde, daraus ist nichts geworden“, lacht Felix. Wobei er nach dem Abitur, als er sich als Sportanimateur bei einem Reiseveranstalter beworben hatte, beim Vorstellungsgespräch tatsächlich eine Jongliernummer präsentierte, die gut ankam. „Als Hobby ist es okay“, meint er. Dass er sich für Medizin entschieden hatte, war auch davon beeinflusst, dass seine Mutter Sabine Ärztin ist. Gemeinsam mit Anne, die ausgebildete Hebamme ist, haben die beiden eine Praxis in Betzdorf. Trotzdem hat sich Felix entschieden, sein Medizinstudium nach dem Physikum – auf das sich die meisten seiner Kommiliton_innen wochenlang vorbereiten, während er es mit Leichtigkeit besteht – zu unterbrechen, um sich in anderen Berufsfeldern umzuschauen.

In Leipzig studierte er Sportwissenschaften, wobei er schnell feststellte, dass das keine Option für ihn ist. „War mir zu langweilig“, konstatiert er. Dafür fasziniert ihn Ton- und Lichttechnik, ein Bereich, in den er sich so nebenbei einarbeitet. Mittlerweile kann er sich vor Aufträgen kaum retten. „Das“, sagt er, „macht mir tatsächlich riesigen Spaß, und das Beste ist, dass es sich gar nicht wie Arbeit anfühlt!“ Und er zudem richtig gut verdient. Ein Highlight war, dass er im vergangenen Dezember die Kelly Family drei Wochen auf ihrer Deutschlandtournee begleitet hat. Wo die Arfsten-Familie doch alle Lieder auswendig kennt. „Vor allem Anne ist ein riesengroßer Kelly-Fan!“, lacht Felix. Nur wollte er sich den Kellys gegenüber dann doch nicht als Fan outen. „Das wäre mir irgendwie anbiedernd vorgekommen“, findet er. Das also blieb sein Geheimnis.

Seine Begeisterung für Licht und Ton stellt jedoch nicht in Frage, dass er sein Medizinstudium wieder aufnehmen wird. Da er sich gerade in der Warteposition befindet, begleitet er Sabine bei den Wochenendnotdiensten, übernimmt das Autofahren, die Dokumentation, bespricht die Diagnosen mit ihr. „So bleibe ich im Thema drin“, erklärt Felix. Auch für die Ausbildung zum Rettungssanitäter, die im nächsten Monat startet, hat er sich aus diesem Grund entschieden. „Irgendwann später könnte ich mir tatsächlich vorstellen, eine Praxis als Hausarzt auf dem Land zu haben“, sagt er. „Auch wenn es vielleicht nicht gerade in Betzdorf sein muss.“ Er grinst. „Aber“, sagt er, „mittlerweile habe ich festgestellt, dass das Leben auf dem Land schon etwas ist, das mir gefällt, was mir guttut und auf eine Weise zu mir gehört.“

Antonia schüttelt energisch den Kopf. Obwohl sie es ja war, die als Zehnjährige davon geträumt hatte, später einmal in einem Bauernhaus, mit Blick auf Wiesen und Felder, zu leben. „Also für mich wär das nichts“, erklärt sie, „ich habe ja auch genau deswegen ein Studienfach gewählt, mit dem ich nicht auf Deutschland beschränkt bin, sondern raus in die Welt kann und unterwegs bin.“ Schon im nächsten Semester wird sie in Holland studieren, danach wahrscheinlich in Frankreich.

Vor dem Beginn ihres Studiums in Münster hatte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in Südafrika absolviert. In einer Township von Johannesburg betreute sie Kinder und Jugendliche, war für die Durchführung von Freizeitaktivitäten zuständig und unterrichtete Englisch. Für sie eine Erfahrung, die sie nicht missen möchte. „Dass es Rassismus gibt, weiß man ja, aber dass man dann auf Menschen trifft, die das offen vertreten, das hat mich schon schockiert.“ Nachbarn, die sich über das Engagement der jungen Deutschen wundern, die ihre Freund_innen aus der Township in ihr Haus einladen, überhaupt: die sich nicht fürchten, die Township zu betreten.

Dass ihre Mütter lesbisch sind, wird, je älter sie werden, zunehmend weniger wichtig, finden Felix und Antonia. „Mittlerweile sucht man sich die Leute ja aus, mit denen man sich umgibt“, erklären beide übereinstimmend, „und außerdem“, ergänzt Felix „sind die Leute in unserem Alter ja auch damit aufgewachsen, dass sich mehr lesbische und schwule Paare in der Öffentlichkeit zeigen, und damit ist es für sie … na ja, vielleicht nicht gerade normal, aber sie finden da jetzt nichts Anstößiges dran.“

Selbst in den christlich geprägten schwarzen Communitys Südafrikas hat Antonia keine schlechten Erfahrungen gemacht, als sie erzählt, dass sie zwei Mütter hat. „Die Oma von meinem Freund meinte sogar: ‚Ach, das wäre auch eine Option für mich gewesen.‘“ Und meinte das Leben mit einer Frau. „So was würde man in Betzdorf von einer älteren Frau, glaube ich, eher nicht hören“, amüsiert sich Antonia.

Überhaupt findet Antonia, dass die Tatsache, dass sie in einer Familienkonstellation aufgewachsen sind, die nicht zum Mainstreammodell gehört, ihr – „ohne dass man was dafür getan hat“, wie Felix es formuliert – ein Thema zur Verfügung stellt, das „sich total gut verwenden lässt, wenn es darum geht, eine Reflexion über ein gesellschaftlich relevantes, kontrovers diskutiertes Thema zu schreiben.“ In der Oberstufe hat sie es mehrfach bearbeitet, in dem Vorbereitungsworkshop für ihr Auslandsjahr hat sie darüber referiert und, lacht sie, „ich würde es jederzeit wieder nehmen.“ Nur als sie in der Talkrunde bei Günther Jauch eingeladen war, wunderte sie sich schon sehr, dass sich konservative christdemokratische Vertreter_innen darüber ausließen, dass Kinder bei homosexuellen Eltern nicht gut aufwachsen könnten. „Da sitze ich daneben, und die reden in der dritten Person über Kinder aus Regenbogenfamilien und damit eben auch über mich, und ich denke: ‚Hallo?! Hast du eigentlich zugehört, was ich gerade gesagt habe?!‘“ Antonia bringt ihre Empörung über diese dreiste Ignoranz deutlich zum Ausdruck.

„Nur in der Grundschule“, sagt Antonia, „da wäre ich so wahnsinnig gerne normal gewesen. Da wollte ich auf keinen Fall was Besonderes sein, ich glaube, in der Zeit hätte ich lieber eine traditionelle, biedere Familie mit Mama und Papa gehabt.“ „Aber“, wendet Felix ein, „stell dir vor, Anne wäre mit Papa zusammengeblieben!“ „O je“, stöhnt Antonia, „dann wären wir jetzt so eine spießige, langweilige Westerwälder Familie!“ „Die jeden Sonntag zu Oma und Opa zum Mittagessen fährt!“, ergänzt Felix. Sie schütteln den Kopf und lachen über die Idee, wie ihr Leben hätte verlaufen können. Dabei finden beide, dass Sabine nicht mehr wegzudenken ist aus ihrem Leben. „Ohne Sabine hätte ich mich nie für das Studium in Politikwissenschaften entschieden. Und sie war es, die mich darauf gebracht hat, raus in die Welt zu wollen. Sie war ein Jahr in den USA, sie war in Afrika, und ich hab immer gedacht: ‚Oh, das will ich auch: so viel reisen!‘“, bringt es Antonia auf den Punkt.

Sabine und Annes langjährig stabile und harmonische Beziehung finden beide „bemerkenswert“ und glauben, dass jüngere Paare durchaus zu ihnen aufschauen, wie Felix sagt. „Aber ehrlich gesagt“, sagt Antonia, „ich kann es mir auch gar nicht vorstellen, dass sie sich trennen könnten. Ich rechne mit allem auf der Welt, aber nicht damit!“ Felix nickt.

„Vielleicht“, meint Felix, „ist das einzige Problem von Kindern aus Regenbogenfamilien, dass andere immer wieder sagen, dass sie, also wir, anders seien.“ Anders sein müssten. Und dass die Frage nach dem Anderssein dieses immer wieder aufs Neue zum Thema macht. „Wenn das nicht mehr wäre, dann wär’s, glaube ich, wirklich normal. Und dass wir immer noch gefragt werden, auch nach zehn Jahren noch mal für dieses Buch, zeigt ja, dass es eben immer noch nicht normal ist!“ Es könnte sein, dass es weitere zehn Jahre braucht, schätzen sie, bis die rechtliche Gleichstellung umgesetzt ist und Regenbogenfamilien zur Normalität gehören.

Und wo treffe ich die beiden in zehn Jahren an?

Felix könnte sich – falls er die Idee mit der Hausarztpraxis auf dem Land nach hinten verschiebt – sehr gut vorstellen, als Notarzt im Rettungshubschrauber zu fliegen. Eigentlich ist das sein Berufswunsch Nummer eins. Antonia hat noch Zeit, sich für einen Schwerpunkt in ihrem Studiengang zu entscheiden: entweder Jura, Wirtschaft oder Politik. Davon wird auch abhängen, wo sie sich ihren Tätigkeitsbereich suchen wird. International oder zumindest auf EU-Ebene auf jeden Fall. Dann lacht sie plötzlich auf. „Ja“, meint sie, „und wenn ich dann noch mit meinem Freund zusammen bin und mit ihm ein Kind habe, dann stell ich mir gerade vor, wie es wäre, wenn die beiden lesbischen Omas unser schwarzes Baby im Kinderwagen durch Betzdorf schieben. Das wäre sicher ’ne Attraktion für das Dorf.“

Am Ende unseres Gesprächs stellen Antonia und Felix das Selfie von damals nach. Sabine drückt auf den Auslöser, während beide sich bemühen, ihre Beine unter dem niedrigen Couchtisch unterzubringen.

Tilly bellt zum Abschied wieder wie verrückt. Dement sei sie geworden, erklärt Anne. „Vielleicht könnte man auch sagen, Kinder erziehen können sie, aber Hunde nicht.“ Mütter und Kinder lachen. Felix fährt mich zum Bahnhof und dann weiter zu seinem nächsten Auftrag. Bei einer Karnevalssitzung sorgt er dafür, dass die Kostüme optimal ausgeleuchtet zur Geltung kommen und dafür, dass der Ton der Büttenreden stimmt.

Georg

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„Die hätten ja mal fragen können.“

17 Jahre

„Morgen ziehe ich aus!“, verkündet Georg, als er mich zwischen den Umzugskartons, die sich im Flur stapeln, ins Wohnzimmer führt.

Kurz vor seinem 18. Geburtstag, findet er, wird es höchste Zeit, dass sein Vater Geerd und er sich räumlich voneinander trennen. Wenn auch nicht allzu weit – im gleichen Haus im Berliner Bezirk Charlottenburg werden sie weiterhin wohnen, Georg im vierten Stock, Geerd im dritten: „Dann kann ich ihm auf dem Kopf rumtanzen“, sagt er mit einem Augenzwinkern.

Die erste eigene Wohnung. Georg freut sich: „Endlich keine Verhandlungen mehr darüber, wer wann mit Staubsaugen dran ist und wer die Spülmaschine ausräumt“ und keine Diskussion mehr darüber, ob sein Zimmer ordentlich oder unordentlich sei. „Meine Unordnung ist meine Ordnung“, sagt er entschieden. Schließlich sei es ja wichtig, „dass ich alles finde, was ich suche, und nicht er.“

Auf eigenen Füßen stehen lernen und für sich selbst verantwortlich sein, das steht jetzt an.

Georg wohnt, seitdem er elf ist und seine Mutter und Geerd sich getrennt haben, mit Geerd zusammen. Meistens zu zweit, immer wieder einmal auch zu dritt, wenn einer der Freunde des Vaters einzog und sie als Familie zusammenlebten. Manche blieben zu kurz, als dass sie wirklich Co-Vater für ihn waren, „aber einer war wirklich wie ein Vater für mich da, hat viel mit mir unternommen, ist mit uns verreist, hat gekocht und hatte wirklich ganz viel Zeit für mich.“ Wenn Georg von seinem Vater spricht, sind die Wertschätzung und Verbundenheit, die er ihm gegenüber empfindet, zu spüren. Seine Entscheidung, mit Männern zu leben, kam ihm als „was ganz Natürliches vor.“ Schließlich, so erzählt er, „hatte mein Vater immer schon Beziehungen mit Männern – auch bevor er meine Mutter geheiratet hat – nur irgendwann war’s eben für ihn klar, dass er sich mehr zu Männern hingezogen fühlt.“

Aber dennoch weiß Georg, dass Geerd es ablehnt, in eine Schublade gesteckt zu werden: „Er sagt immer, es könnte ihm ja schließlich auch mal ’ne Frau begegnen, in die er sich verlieben würde.“

Diese Offenheit gefällt Georg, und die hat er ebenfalls als Lebensmotto für sich übernommen, nur eben umgekehrt: Seit eineinhalb Jahren unsterblich-unglücklich in seine Tanzpartnerin verliebt, schaut er durchaus auch Männern hinterher – oder in die Augen. „Mein Tanzlehrer zum Beispiel – der strahlt so eine Erotik aus“, schwärmt Georg.

Er grinst. Wie er sich definiere? „Oh, ich hatte eine so schöne Bezeichnung gefunden, ‚Tunte mit heterosexueller Orientierung‘“, sagt er und erzählt amüsiert, wie er auf dem letzten Christopher-Street-Day in langem pinkfarbenem Kleid und Highheels stolzierte, auf dem Rücken gut sichtbar ein Schild, das warnte: ‚Ich bin hetero‘ und an seiner Seite Geerd und Geerds bester Freund „als Bodyguards“.

Mittlerweile hat er genügend Selbstbewusstsein für Provokationen dieser Art und einen spielerischen Umgang mit seiner sexuellen Identität. Etwas, das er sich hart erkämpft hat. „Erst in der Berufsschule und im Tanzkurs habe ich geschafft, mehr aus mir herauszugehen, und dort habe ich dann auch meine besten Freunde kennengelernt.“

Früher, in der Schule, stand Georg eher außerhalb der Jungscliquen, fühlte sich nicht zugehörig und ärgerte sich maßlos, wenn dieselben Jungs, die sich nachmittags bei Georg zu Hause mit seinem Vater prächtig verstanden und Georg um diesen „echt coolen Vater“ beneideten, in der Schule in der Gruppe zusammenstanden und mit künstlich hoher Stimme „haititaiti“ riefen, wenn Georg vorbeikam. Georg war nicht schlagfertig genug, um zu kontern oder sich mit ihnen zu streiten: „Aggressiv werden, das lag mir noch nie.“ Stattdessen zog Georg sich zurück, distanzierte sich, fühlte sich einsam, litt. Und war froh, als er nach der zehnten Klasse abging, um seine Ausbildung zu beginnen.

Heute, aus der Distanz heraus betrachtet, glaubt er, „dass es ihnen anscheinend nur darum ging, dazu zu gehören – obwohl sie Schwule eigentlich gar nicht so blöd fanden, wie sie taten.“

Georg hat erst in den letzten Jahren gelernt, anderen seine Meinung ins Gesicht zu sagen. Mit seiner Power, die er heute besitzt, sagt er, würde er „die ansprechen und fragen: ‚Ej, wieso machst du das eigentlich?‘“ und sich nicht mit einer läppischen Antwort zufrieden geben.

Zeitweilig war sich Georg überhaupt nicht so sicher, ob das so gut war, dass in der Schule alle Bescheid wussten, dass sein Vater schwul ist. Zwar sind die Lehrer „eigentlich gar nicht anders“ mit ihm umgegangen, nachdem sie wussten, dass Georgs Vater Beziehungen mit Männern hat. Georg hatte eher den Eindruck, dass „sie auf mich ein Auge mehr geworfen“ haben, und im Blick hatten, dass Georg, einer der Stillen der Klasse, Unterstützung brauchte.

Dennoch hätte er sich von den Lehrern gewünscht, dass sie sich eindeutiger positionierten, entschiedener Vorurteilen entgegen gesteuert hätten, „wenn sie zum Beispiel gefragt hätten: ‚Was gibt’s denn da zu lachen?‘“, sobald die Jungs, die sich in der Gruppe immer so cool gaben, lauthals über Schwule lästerten und Witze rissen. Aber stattdessen haben die Lehrer und Lehrerinnen lieber schnell das Thema gewechselt. Auch der Religionslehrer, selbst schwul, kapitulierte angesichts der Unruhe, die die Diskussion über Homosexualität in der Klasse auslöste. „Danach war dann das Thema Vampire dran.“ Georg zuckt mit den Achseln. „Aber sonst fand ich die Themen in Religion immer ganz okay.“

Wichtig in dieser Zeit war für Georg, dass er sich der Unterstützung durch die Oma, die immer ein offenes Ohr für ihn hatte, eine Frau, die selbst viele Schwule und Lesben im Freundes- und Bekanntenkreis versammelte, immer sicher sein konnte. Und natürlich die von Geerd. Nicht dass er Geerds Exaltierheit niemals peinlich gefunden hätte, wenn Geerd zum Beispiel – so wie neulich – als Drag Queen Geburtstag feiert „und alle Gäste sich erst mal wundern und fragen: ‚Huch, wo ist denn das Geburtstagskind?‘, aber dann finden es doch alle ganz witzig.“

Auch Geerds unverblümte Art hätte Georg zuweilen lieber mal leiser gedreht. Denn damals, als er beim Elternabend auf die Wahlliste der Elternvertreter gesetzt wurde, sagte Geerd ganz direkt: „Ihr könnt mich gerne wählen, aber vorher möchte ich, dass ihr wisst, dass ich homosexuell bin!“ Er wurde Elternsprecher. Georg lächelt.

Und da ist ja auch noch der Beruf, der beide verbindet. „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, sagt Georg belustigt. Ja, Friseur das sei er „aus Überzeugung“ – und das glaube ich ihm sofort, denn seine Begeisterung, wenn er davon erzählt, wie er seine Kunden berät, welche Frisur er empfiehlt und welche Farbe er auswählt, ist zu spüren. Am allermeisten reizt ihn selbstverständlich das Extravagante: „Es macht natürlich mehr Spaß, wenn man mit Farbe spielen kann und irgendwas schneidet, wie es einem gerade so aus der Seele rauskommt.“

Er weiß auch durchaus, was einen guten Friseur außer handwerklichem Können auszeichnet: „Als Friseur bist du eben auch ein Stück weit Therapeut, wenn die Leute kommen, unglücklich, weil die Haare nicht sitzen, und sie überhaupt ihr ganzes Leben Scheiße finden und ich ihnen dann eine neue Frisur verpasse und sie gehen mit einem Lächeln raus – das find ich klasse.“

Im nächsten Jahr erhält Georg seinen Gesellenbrief und er hat ehrgeizige Pläne für seine berufliche Zukunft: „Starfriseur will ich vielleicht nicht gerade werden“ – aber warum eigentlich nicht? Er sprüht vor Ideen, seinen Beruf mit Events zu koppeln und etwas Extraordinäres und Besonderes zu entwickeln. Dennoch: Zeit für seine neue Leidenschaft muss es auf jeden Fall auch noch geben.

Georg ist begeisterter Standard- und Latein-Tänzer – das passt gut zu seiner quecksilbrigen Lebendigkeit und seinem offensichtlichen Spaß, sich mit seinem Körper auszudrücken. Ich kann mir gut vorstellen, wie er und seine Tanzpartnerin beim Tango oder Paso Doble durch den Raum wirbeln. Auch hier hat Georg durchaus Ambitionen: „Auf jeden Fall wollen wir auf Turniertanz hinaus.“

In seiner Stimme eine Entschiedenheit, die keinen Zweifel zulässt.

Im letzten Herbst hat Georg im Garten einen Mammutbaum gepflanzt. Erst 80 Zentimeter hoch ist das Sequoia-Bäumchen, und es wird eine Weile dauern, bis ein richtig groß gewachsener Baum aus ihm geworden ist. Georg weiß, dass man warten können muss. Darauf und auch bis die große Liebe vorbeischaut – auch wenn es einen von den Haar- bis zu den Zehenspitzen vor Ungeduld kribbelt.

„Vielleicht war es nicht die richtige Zeit damals.“

27 jahre

Als ich vom Kaiserdamm in die Fredericiastraße einbiege, sehe ich ihn schon vor der Tür seines Salons stehen, rauchend und mit dem offenen Lachen, das ich von ihm in Erinnerung habe. Hair.com4 steht in schwarzer Schrift auf warmem Ockerpastell über dem Eingang. Er winkt mir zu. Stolz führt er mich durch die in hellem Blau und Sonnengelb mediterran gestalteten Räume, nicht groß sind sie, aber groß genug für vier Kund_innen und auch groß genug für das Wagnis, sich kurz nach der Meisterprüfung selbstständig zu machen. 2008 war das, und seitdem „ist die Hütte voll“, erzählt Georg. „Ich habe Kunden im Alter von eins bis 98 und finde super, dass ich mal einen Kinderhaarschnitt mache, mal ein Mädel in meinem Alter frisiere und dann ab und an auch Omalöckchen drehe.“ Genau richtig findet er, mit seinem Salon in Charlottenburg zu sein und nicht etwa in Prenzlauer Berg, wo „immer nur welche ihre Haare quietschbunt färben lassen – wäre mir echt zu öde“, sagt er und schüttelt den Kopf.

Im Laden wird gerade eine Kundin bedient. Eine, die schon lange kommt und den Chef gut kennt – und natürlich auch die Geschichte des 17-jährigen Georg im Buch gelesen hat. Schließlich liegt es im Laden aus. „Na, dann bin ich gespannt auf die Fortsetzung“, meint sie, während seine Mitarbeiterin Franzi die Farbe aufträgt. Wir verabschieden uns und setzen uns auf den Balkon der nahegelegenen Wohnung, vor uns ein Glas kühler Orangensaft. „Hier“, meint Georg, „haben wir einfach mehr Ruhe.“ Er legt die Beine hoch und wirft den Kopf nach hinten. „Herrlich“, jubelt er, „dass man dann auch einfach mal früher gehen kann.“ Als Chef. Auch wenn es, ohne Frage, andere Tage gibt, solche, „an denen man erst um 23 Uhr aus dem Laden kommt, weil noch eine Dienstbesprechung ansteht.“ Ja, betont er, Dienstbesprechung nenne er das, auch wenn sie ein Familienbetrieb sind. Vater Geerd und Franzi, seine Liebste, sind seine beiden Angestellten. „Nein, das war nicht ganz so einfach“, sagt er, „das hinzukriegen.“ Ehrlich gesagt waren es ziemlich herbe Lehrjahre. Geerd, der ja selbst jahrelang als Friseurmeister einen Salon geführt, seinen Sohn ausgebildet, mit ihm die Meisterprüfung gefeiert und nach dreißig Jahren beschlossen hatte, weniger zu arbeiten, und dann den Salon aufgegeben hatte, fiel es schwer, das Neue, das der Sohn plante und selbstbewusst und zackig umsetzte, zu akzeptieren. Geerds Einwände, sein „Aber“ und das „Haben wir doch immer ganz anders gemacht“ sind Kommentare, die Georg irgendwann nicht mehr hören kann. Nicht mehr hören will. Sich ausgebremst fühlt. Wütend wird. Überhaupt gibt es oft Streit im Laden. Und schließlich steht auch Franzis und seine Beziehung auf der Kippe. „Klar“, sagt Georg, „das war für alle zu viel.“ Nur, wie da rauskommen, aus dem Dilemma, wenn man so eng miteinander verbunden ist? Wie sich beruflich trennen ohne einen harten Cut, ohne Zerwürfnis?

„Schließlich war es Papa, der die Lösung fand“, erzählt Georg. Er hatte sich bei mehreren Kreuzfahrtunternehmen als Friseur beworben und schließlich von Princess Cruises den Zuschlag bekommen. „Letztes Jahr an Pfingsten ist er losgefahren, war zehn Monate unterwegs und kam braun gebrannt, gut gelaunt und absolut begeistert wieder“, erzählt Georg. So erleichtert Georg in den ersten Wochen gewesen war, nicht mehr Geerds kritischem Blick ausgesetzt zu sein, so ungeduldig zählte er in den letzten drei Monaten die Tage bis zu seiner Rückkehr. „Ich habe dann schon gemerkt, dass ich ihn vermisse, weil er eben mein Papa ist, und natürlich fehlte er uns auch im Laden.“ Mit seiner 40-jährigen Erfahrung und seinem Wissen. „Und“, fragte Georg ihn, „planst du schon deine nächste Kreuzfahrt?“ Und merkte, dass es ihm überhaupt nicht recht war, als er Geerds begeistertes Ja hörte.

Geerd dachte erst, er hätte sich verhört, als Georg zwei Tage später vorsichtig nachfragte, ob er es sich vielleicht auch vorstellen könnte, erst einmal in Berlin zu bleiben, damit sie das Projekt Familienunternehmen noch einmal gemeinsam zu dritt neu starten könnten? Und mit klareren Aufgabenverteilungen die Zusammenarbeit besser hinkriegen könnten? Und da gab es noch etwas, das Georg seinen Vater fragen wollte: ob er, wenn nun demnächst womöglich ein Enkelkind käme, nicht als Großvater in ihrer Nähe sein könnte? „‚Aber entscheide ganz frei‘, sagte ich ihm“, erzählt Georg, „‚ich will dir nicht in deine Pläne reinreden, aber toll fände ich es schon!‘“

Zur großen Freude von Franzi und Georg hatte sich Geerd dann tatsächlich entschieden zu bleiben. Erst einmal. „Weil ihm Familie eben wichtig ist“, stellt Georg fest. Doch in drei Jahren, wenn die Titanic II fertig gebaut und das erste Mal in See stechen wird, will Geerd unbedingt dabei sein. Das hat er sich fest vorgenommen und seine Bewerbung schon bei Blue Star Line eingereicht.

Dann werden sie also in allernächster Zukunft – wenn es klappt, wie Georg es geplant hat, nämlich, bevor er 30 wird, Vater zu werden – zu viert sein. Oder zu fünft. Denn Georgs großer Wunsch wären Zwillinge, am liebsten ein Mädchen und ein Junge. „Dann wäre die Pubertät in einem Aufwasch erledigt“, grinst er.

An seine eigene Pubertät will er am liebsten gar nicht mehr denken. Auf die hätte er, wenn’s nach ihm gegangen wäre, verzichten können. Weil diese Zeit bedeutete, meistens am Rand zu stehen, ausgegrenzt zu sein, gemobbt zu werden. Vielleicht, weil er nicht mit dem lauten Machogehabe der anderen Jungs mithielt, vielleicht, weil er sich verletzt zurückzog, wenn andere das Schwulsein seines Vaters abfällig kommentierten, und vielleicht auch, weil die anderen sich ihn zufällig ausgesucht hatten, um sich als Gruppe stark zu fühlen. „Kann sein“, überlegt Georg, „dass es am besten gewesen wäre, wenn Geerd seinen Mund gehalten hätte, als er sich zum Elternsprecher hatte wählen lassen. Und Punkt.“ Ohne sein offenherziges Outing. Oder aber es hätte einen Lehrer geben müssen, der einschreitet, der die anderen Jungs zur Rede gestellt, der mal gefragt hätte: „Was macht ihr denn hier überhaupt mit Georg?“ Der über Homosexualität gesprochen und sich nicht von den verhöhnenden Bemerkungen hätte einschüchtern lassen. Das, meint Georg, hätte vielleicht geholfen, die Zeit erträglicher zu machen. Oder sogar ganz schön. Denn das, was er durch das Aufwachsen bei Geerd erfahren hat, die Offenheit für verschiedene Lebens- und Liebesweisen, sein eigenes selbstbewusstes Bekenntnis, „auf keinen Fall nur hetero“ zu sein und weder sich noch andere in irgendeine Schublade zu stecken, möchte er keineswegs missen. „Das hat mich geprägt, und das bin einfach ich.“ Und zu wissen, dass seine Mama hinter ihm steht. Egal, was ist. Die immer da ist, wenn er sie braucht. „Ich glaube“, sagt Georg, „das kam beim letzten Interview zu kurz. Deshalb sag ich das jetzt noch mal dick unterstrichen und mit drei Ausrufezeichen.“

Der kleine Mammutbaum, den Georg damals gepflanzt hatte, hat übrigens nicht überlebt. „Vielleicht war es nicht die richtige Zeit damals, um einen Baum zu pflanzen“, überlegt er und lacht. Aber offenbar war’s vor ein paar Jahren die richtige Zeit, seinen Salon aufzumachen – und jetzt mit Franzi eine Familie zu gründen. Auch wenn er manchmal findet, er sei doch eher ein Vogel, der frei sein will, und mit der Idee einer offenen Beziehung liebäugelt, steht nun das Elternwerden für ihn im Mittelpunkt. „Ich freu mich erst mal auf ’ne Familie“, erklärt er entschieden. Außerdem müsste Franzi ja dann auch damit einverstanden sein und Lust darauf haben, „mit ’nem anderen Kerl loszuziehen“, und das dann genauso spannend finden wie er.

In zehn Jahren will Georg seinen Salon so gut zum Laufen gebracht haben, dass er selbst nicht mehr jeden Tag hinter dem Stuhl stehen muss – aber, betont er, „nie will ich hören: ‚Chef, beweg dich‘, ich werde es nie unter meiner Würde empfinden, selbst Handtücher zusammenzulegen, auch wenn das ’ne Lehrlingsaufgabe ist.“ Genug Geld verdienen will er auch, um seinen Vater unterstützen zu können, der vermutlich nicht besonders viel Rente kriegen wird. Und für Reisen soll noch etwas übrigbleiben. Nach Tunesien zum Beispiel, das Land interessiert ihn, weil es im Aufbruch ist und „zum Niederknien schön.“

Und irgendwann will er auch wieder Zeit finden für seine Leidenschaft: das Tanzen. Die Musik mit dem ganzen Körper spüren, im Rhythmus aufgehen, schwebend, drehend, sich loslassen und wiederfinden, in der vibrierenden Erotik den Alltag vergessen und gleichzeitig von der Haarspitze bis zu den Zehen alle Muskeln zu trainieren. Seine liebste Tanzpartnerin wäre natürlich Franzi.

Matĕj

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„Heiraten werde ich entweder den Ruben, den Rune oder die Maruška.“

6 Jahre

„Zu Weihnachten, da wünsche ich mir am allermeisten, dass es regnet“, erklärt mir Matĕj, „das passt zu meinem Plan.“ Dem Plan nämlich, dieses Jahr endlich mal den Weihnachtsmann live dabei zu erleben, wie er die Geschenke abliefert und die Kerzen am Weihnachtsbaum anzündet. Und das würde ihm nur gelingen, wenn es regnete und am besten noch dazu kräftig stürmte. Denn dann würden sie ganz sicher am Heiligabend kurz bevor es dunkel wird, zu Hause sein und nicht wie sonst immer einen Spaziergang machen. Im Wald legen sie den Rehen und Wildschweinen nämlich Möhren und Nüsse als Weihnachtsmahl aus und für ihren Hund Pan, der im letzten Sommer gestorben ist, zünden sie eine Kerze an. Die leuchtet dann in der Dunkelheit. Matĕj liebt diesen Spaziergang sehr. Er findet nur, dass man ihn auf einen anderen Tag verlegen könnte, auf den ersten Weihnachtstag zum Beispiel. Draußen beginnt es tatsächlich leicht zu nieseln, der Schnee taut, vielleicht hat Matĕj also Glück.

Matĕj ist sechs Jahre alt und lebt mit seiner Mami Jana und seiner Mama Simone in einer Kleinstadt am Rande der Schwäbischen Alb. Bis vor einem Jahr haben alle drei hier in dem kleinen Reihenhaus am Waldrand zusammengelebt, jetzt verbringt Matĕj drei Tage in der Woche hier bei Mami und drei Tage bei seiner Mama in ihrer neuen Wohnung. Einen Tag in der Woche sind sie alle drei zusammen. Und Weihnachten feiern sie natürlich auch gemeinsam. Matĕj hofft sehr, dass er das Auto mit Fernsteuerung bekommt, das er sich gewünscht hat.