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Zukunftssicherung durch HR Trend Management

Personalarbeit auf den richtigen Kurs bringen

von Marco Esser und Bernhard Schelenz

ISBN 978-3-89578-718-8 (EPUB)

Vollständige EPUB-Ausgabe von Marco Esser und Bernhard Schelenz, Zukunftssicherung durch HR Trend Management

ISBN 978-3-89578-426-2 (Printausgabe 2013)

Publicis

Verlag: Publicis Publishing, Erlangen

www.publicis-books.de

© 2013 Publicis Erlangen, Zweigniederlassung der PWW GmbH

Was hilft ...

 

 

 

Vorwort

Eigentlich könnte man sich zurücklehnen und König Salomon zitieren: „Was geschehen ist, wird wieder geschehen, was man getan hat, wird man wieder tun. Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Was die Grundmuster menschlichen Verhaltens betrifft, Liebe, Hass, Glück, Trauer etc., hat diese 5000 Jahre alte These sicherlich Bestand. Doch in allen anderen Bereichen gilt: Alles verändert sich.

Unsere Urzeit-Programmierung stößt auf eine Welt, in der Technologiepotenziale ungeahnten Ausmaßes erkennbar sind, zugleich verfügen wir über ein (Un-)Maß an Informationen, die für den Einzelnen nicht mehr im Ansatz überschaubar sind. Die Kraft und die Schnelligkeit des Wandels sorgen dafür, dass Entwicklungen in bestimmte Richtungen laufen. In große, die Megatrends, und kleine, die Trends.

Wenn es um das Verschlafen von Trends und falsche Prognosen geht, wird immer wieder gerne Thomas Watson bemüht. Er war im Jahre 1943 Chef von IBM und gab eine der imposantesten unternehmerischen Fehleinschätzungen der Geschichte ab: „Es wird einen weltweiten Bedarf von vielleicht fünf Computern geben.“

Tatsächlich werden heute weltweit 13 PCs verkauft. Pro Sekunde. Ein anderes Beispiel für eine falsche Einschätzung: Würde man im Jahre 1899 einen New Yorker gefragt haben, welcher Antrieb die Zukunft des Automobils bestimmen wird, hätte er vermutlich „der Elektromotor“ gesagt. Schließlich wiesen damals knapp ein Drittel der in den USA produzierten Fahrzeuge einen Elektroantrieb auf, allein in New York wurden 90 Prozent der Taxen mit E-Motoren betrieben. Mehr als 110 Jahre später feiert der Elektroantrieb für Autos Renaissance, erst im November 2012 zeichnete das Time-Magazin eine Limousine von Tesla als „Erfindung des Jahres 2012“ aus. Der Wagen schafft 400 Kilometer mit einer einzigen Akkuladung. Gewürdigt wurden übrigens auch eine Google-Brille, die rechts oben im Glas eine Smartphone-Anwendung einspiegelt, und eher nutzlose Innovationen wie der „Indoor-Wasserdampf“: Der Künstler Berndnaut Smilde schuf nichts weniger als eine künstliche Wolke, die im Zimmer schwebt.

Was bedeutet das alles für Human Resources? Mit Wolken im Büro schlägt sich dort niemand herum, eher mit „wolkigen“ Anforderungsprofilen oder zu oft mit „wolkigen“ Aussagen. Dabei ist das, was in der (nahen) Zukunft liegt, von hohem Interesse für HR, weil es von elementarem Wert für das Unternehmen ist. Dazu seien die Kernaufgaben der Personalarbeit in Erinnerung gerufen: HR muss eine optimale Menge an Personal mit der optimalen Qualifizierung zu den optimalen Kosten zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort bereitstellen.

Aus diesem Anforderungsprofil wird deutlich, warum das Wissen um künftige Entwicklungen für Personaler so wichtig ist: Alle strategischen Anforderungen an HR werden unmittelbar vom Faktor Zukunft beeinflusst. Wo bekommt das Unternehmen genügend Nachwuchs und Professionals her, wie hält es Beschäftigte, um die „ausreichende Menge“ zu generieren? Welche Qualifikationen werden diese Mitarbeiter benötigen, damit sie adäquate Leistungen erbringen können? Gelingt das zu vertretbaren Kosten? Und wann ist der „richtige Zeitpunkt“ für die Rekrutierung, wenn man nicht weiß, welche Fähigkeiten voraussichtlich in fünf oder zwölf Jahren gebraucht werden – oder in zwei, drei Jahrzehnten?

Um HR-Trends zu identifizieren und zu bewerten, braucht es systematisches Vorgehen. Woanders wird das längst getan. Auch hier lohnt er sich, der Blick über den Gartenzaun. Zum fremden Unternehmen, zur anderen Branche. Die HR-Verantwortlichen tun gut daran, sich an der Welt der Mode zu orientieren, Anleihen bei Automobilkonzernen zu machen, zu schauen, was Softwareentwickler tun. Sie beschäftigen sich mit Trends. Das tun sie bereits seit vielen Jahren und systematisch. Mit dafür speziell ausgesuchtem Personal und Prozessen, die aus den Ideen diejenigen herausfiltern, die von Bedeutung sind.

So wie es selbstverständlich ist, dass bei den führenden Modehäusern Trendscouts durch die Länder ziehen, um die neuen Farben und Schnitte aufzuspüren, so wie es selbstverständlich ist, dass sich die Entwickler bei Volkswagen oder Daimler Gedanken über die Antriebe und Materialien der Zukunft machen, so selbstverständlich ist es leider auch, dass die Personaler vieler Unternehmen noch so denken, als gäbe es kein Morgen. Trendarbeit, das belegen aktuelle Umfragen, ist oft noch eine Nebentätigkeit. Der Personalchef ist in Personalunion auch oberster HR-Trendmanager, und nur wenige Unternehmen nutzen überhaupt systematische Prozesse, um Trends zu ermitteln und zu bewerten.

Ein Fehler, denn wirkungsvolle und nachhaltige Personalarbeit lebt davon, dass sie Trends identifiziert und daraus die richtigen Schlüsse für Rekrutierung, Mitarbeiterbindung und -motivation zieht. Das Ziel ist der zufriedene, engagierter Mitarbeiter. „Employee Happiness“ bindet, treibt an und bringt das Unternehmen voran.

Vor allem größere Unternehmen haben dies erkannt und haben eine Trendarbeit etabliert, die aufspürt, wie sich die Arbeitswelt und vor allem die Menschen in ihr verändern. Auch die Werbebranche spürt den Nachwuchsmangel. Als „dramatisch“ bezeichnen ihn Werbepäpste wie Jung von Matt, nachzulesen im Magazin der Kreativbranche „Page“ vom Februar 2013.

Wenn selbst die „Werber“, die vermeintlich so nah an den Trends sind wie kaum eine andere Branche, nicht wissen, wie sie gegensteuern sollen, wundert es nicht, dass das Thema HR-Trend im Mittelstand noch nicht mit Priorität angekommen ist, obwohl auch hier die Folgen einer sich wandelnden Arbeitswelt spürbar sind. Festzustellen ist: Es gibt kaum eine Branche, die nicht öffentlich klagt, dass ihr Fachkräfte und geeigneter Nachwuchs fehlen – und es gibt nur wenige Unternehmen, die zielgerichtet und mit Perspektive etwas dagegen unternehmen. Halbherzige Lösungen wie beispielsweise kraftlose Projekte mit unzureichender Personalausstattung oder unzureichendem Umsetzungsbudget sind die Regel.

In der Erhebung „Kienbaum Trendstudie 2012“, bei der 167 Personalverantwortliche von Top-Unternehmen im deutschsprachigen Raum befragt wurden, sind 17 Felder der Personalarbeit aufgelistet, die nach Meinung dieser HRler besondere Priorität haben – von A wie „Altersstruktur der Belegschaft“ bis W wie „Work-Life-Balance“. Was fehlt? Die HR-Trends! Es geht den Personalverantwortlichen zuallererst um Ziele wie Steigerung der Führungs- und Managementqualitäten, Rekrutierung und Arbeitgeberattraktivität, doch die Meta-Ebene, die analysiert, wie bei diesen Themen künftig strategisch sinnvoll angesetzt werden kann und muss, wird chronisch vernachlässigt.

Das halten wir für fahrlässig. Lassen Sie uns einen Blick in das Future-Lab der Arbeitswelt werfen. In diesem Buch möchten wir einen Überblick geben und Ideengeber sein, wie Trendarbeit für uns Personalfachleute anwendbar gemacht wird und nachvollziehbaren Nutzen bringt. Wir haben aktuelle Literatur, Studien und Statements ausgewertet und Grundlagen zusammengestellt, um erstmalig einen ausreichenden Stand des Themas zu vermitteln. Dabei haben wir versucht, alles Wesentliche zu erfassen, sind aber auch der Meinung, dass es Beiträge zur Diskussion um Zukunftsforschung und Trendarbeit gibt, in die einzusteigen den Rahmen sprengen würde.

Es geht um verständliches Basiswissen, darum, für das Thema Trend und HR zu sensibilisieren und eine spezifische Draufschau mit der Personalerbrille. Im ersten Kapitel widmen wir uns der grundsätzlichen Definition von Trends und Trendarbeit, dann werfen wir einen Blick auf die Arbeitswelt, von dem wir überzeugt sind, dass er zahlreiche anregende Ansätze enthält.

Darüber hinaus haben wir den aktuellen Stand der Diskussion um Trendmanagement in der Personalarbeit zusammengestellt, zugleich stellen wir Instrumente vor, die ebenso geeignet wie wirkungsvoll sind, um im Nebel der Prognose Lichtblicke zu erzeugen. Dafür erläutern wir die Begrifflichkeiten so detailliert wie notwendig und öffnen den Werkzeugkoffer des Trendarbeiters. In ihm finden sich Tools, die eine systematische Beschäftigung mit für HR relevanten Trends ermöglichen.

Wir plädieren für eine geplante, systematische und projektorientierte HR-Trendarbeit mit klar definierten Zuständigkeiten und einer Querschnittsfunktion. Mit dem HR-Trendmanager lässt sich nach unserer Auffassung eine Institution im Personalressort etablieren, die zeigt, dass HR keine „graue Maus“ ist, sondern ein Think-Tank sein kann, von dem das Unternehmen in hohem Maße profitiert.

Abschließend haben wir einige Experten-Meinungen zur Trendarbeit gesammelt: Trend aus anderer Warte. Denn wer über Trends spricht, tut gut daran, die eigene Sichtweise in Frage zu stellen und die Perspektiven zu erweitern. Mit dem Buch geben wir Überblicke, Anregungen und Lösungsansätze – und wir möchten eingangs warnen: Die Einführung einer leistungsfähigen Trendarbeit bedeutet in vielen Unternehmen, neue Denkweisen zuzulassen und sie zu etablieren.

Wir möchten also zu einer fruchtbaren und vielleicht auch kontroversen Diskussion anregen und zeigen, dass Trendarbeit bei HR funktionieren kann (bzw. muss). Denn in der Vergangenheit hat Human Resources zu oft den Fehler begangen, nicht adäquat auf Kommendes vorbereitet zu sein. Es gab kein methodisches Vorgehen dafür.

Weil wir uns schon einige Jahre mit dem Thema Trendarbeit im Personalressort beschäftigen, ist es an der Zeit, sich HR-Trends ganz pragmatisch zu nähern. Wir wollen dabei helfen, dass HR als strategischer Partner Profil gewinnt, weil das Personalressort gesellschaftliche, wirtschaftliche und technische Entwicklungen systematisch und nachvollziehbar beobachtet, analysiert und sie auf ihre Relevanz überprüft und danach die richtigen Ansätze für die Rekrutierung und Mitarbeiterbindung zieht.

Das schafft einen entscheidenden Mehrwert fürs Unternehmen. Und wir erinnern auch daran: Wer diesen betriebswirtschaftlichen Wertbeitrag nicht leistet, für den gibt es mittelfristig eines im Unternehmen sicher nicht: Zukunft.

 

Marco Esser, Mannheim
Bernhard Schelenz, Großkarlbach
April 2013

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Worum es geht: Trend und Zukunft – eine Begriffsbestimmung

Sterndeuter und Visionäre  •  USA etablierten Zukunftsforschung  •  Naisbitt prägte den Begriff „Megatrend“  •  Das eine braucht das andere  •  Widersprüche deutlich machen  •  Der Drang zum Kleinen im Großen  •  Ein Megatrend ist keine fixe Idee  •  Erkennen und weiterentwickeln  •  Ohne Trendarbeit geht es nicht  •  Hat die Wissenschaft die Wahrheit parat?  •  Nur auf eine Sensation aus?  •  Zeitung lesen und auf der Straße fragen  •  Differenzierung fraglich  •  Auf eigene Kräfte setzen  •  Welche Wissenschaft schafft Wissen?  •  Resultat der Sinnsuche  •  Gefragt: nachvollziehbare Ergebnisse  •  „Schnittstellen-Wissenschaften“ als Katalysator  •  Details erfassen – und Distanz wahren  •  Die losen Enden der Wirklichkeit verknüpfen  •  Breit genug und weit genug schauen  •  Raus aus den Elfenbeintürmen!  •  Einblick ins Hier und Jetzt – wie Trends die Arbeitswelt beeinflussen  •  Die Form der Anstrengung wechselt  •  Von der Entdeckung der Motivation  •  Die Ansprüche des Kopfarbeiters  •  Aufgaben schnell und gut lösen  •  Top-Werte: Eigen- und Sozialkompetenz  •  Ernsthaft familienfreundliche Personalpolitik betreiben  •  Die Grenze zwischen Arbeit und Privatem verwischt  •  Der Umbruch am Beispiel des Designers  •  Welche Auswirkungen hat der Wandel auf HR?  •  Besetzungsengpässe drohen  •  Die klassische Bewerbungsmappe ist out  •  Fehlt die Freude, wird gewechselt  •  Gesucht: moderne und kreative Ausrichtung  •  Cloud-Computing als Top-Thema  •  Beratungsunternehmen als Trendsetter  •  Lernen, in „großen Karos“ zu denken  •  Groß und Klein in Koexistenz  •  Herausforderung ältere Beschäftigte  •  Den Qualifikations-Anschluss nicht verpassen  •  Schon kleine Änderungen erhöhen Leistungskraft  •  Die Zeit der Denkverbote ist vorbei  •  Auch Vorgesetzte werden alt  •  Probleme bei der Besetzung von Führungspositionen  •  Mangelhafte Integration ausländischer Mitarbeiter  •  Dynamische Projektgruppen mit Freiberuflern  •  Wie sich ein Trend übergreifend auswirkt  •  Individualität ist Pflicht  •  Gefragt: flexible Raumkonzepte für Kommunikation  •  „Schietwetter“ bei Google in Hamburg  •  Ein wenig Caféhausflair ins Büro bringen  •  Der Megatrend Bildung in der Wissensgesellschaft  •  Dauernde Qualifizierung wird Standard  •  Häufige Überstunden machen wechselwillig  •  Weitsichtige Konzepte sind erforderlich  •  Die Geschichte hinter dem Erfolg zählt  •  Die hohen Ansprüche der „Generation Y“  •  Unterschiede nicht mit Klischees zukleistern  •  Wenig Selbstkritik, viele Fremdsprachen  •  Ohne Kommunikation geht nichts  •  Gesucht: menschliche Nähe  •  Unternehmen müssen offenen Dialog suchen  •  Interessen werden verkettet

Drum prüfe ... – wieso Human Resources Trendarbeit braucht

HR braucht sich nicht zu verstecken  •  Unternehmerisches Denken wird eingefordert  •  Wo kommen wir denn da hin?  •  HR in den Fokus rücken  •  Systematische Trendarbeit? Fehlanzeige  •  Diversity rangiert unter „ferner liefen“  •  Mit HR Brand die Position im eigenen Haus stärken  •  Antworten der undifferenzierten Art  •  Hirn und IT nutzen  •  Kreativität ausleben können  •  Innovationskraft bündeln statt verschenken  •  HR-Trends nicht isoliert betrachten

Jäger und Sammler – was einen HR-Trendscout ausmacht

Querschnittsfunktion HR-Trendmanager  •  Wie andere Branchen Trends aufspüren  •  In Hollywood Anschluss finden  •  Konzepte der Zukunftsforschung kennenlernen  •  Diverse Methoden  •  Zukunftsforschung wichtig für jedes Unternehmen  •  Wichtige Ressource für Handlungsoptionen  •  Beruflich und geistig beweglich  •  Was nutzt Anwendern am meisten?  •  Agieren wie Entrepreneure  •  Manchmal steckt ziemlich viel dahinter  •  Zeitung lesen bildet  •  Gesucht wird: ein Trendscout

Job mit Durch- und Weitblick – wie HR-Trendmanager Innovation bündeln

Trendscouts als Filter  •  Die Kunst der Informationsauswahl  •  Gefragt: hohe Professionalität  •  Trends in Beziehung zum Unternehmen setzen  •  Sich auch zurücknehmen können  •  Er weiß, dass er nicht alles weiß  •  Die Unternehmensgröße spielt eine Rolle  •  Notwendig: ein kontinuierlicher Prozess

Blick in den Werkzeugkoffer – welche Instrumente die HR-Trendarbeit nutzt

Experten mit einer These konfrontieren  •  Fragen, beobachten, Schlüsse ziehen  •  Arbeit für die Schublade  •  Schuster, bleib bei deinen Leisten  •  Was die Mikroanalyse ausmacht  •  Nur begrenzt einsetzbares Modell  •  Welche Fragen ergeben sich?  •  Ein Gespür für das Kommende entwickeln  •  Zukunftsradar als gute Grundlage  •  An einem Strang ziehen  •  Daten verdichten  •  Einfach mal andersrum denken  •  Unterschiedliche Arten von Szenarien  •  Die Unterschiede der Szenarien herausarbeiten

Auf der Trend-Werkbank – mit Trends in der Praxis arbeiten

Grundlagen der professionellen HR-Trendarbeit  •  Andere Meinungen einholen  •  Klarer Prozess – klare Vorlagen  •  Unabdingbar: Systematische Bewertung  •  Bewerten der Chancen  •  Der Expertencheck  •  Chancen und Risiken zusammenführen  •  Was passiert bei offensivem Vorgehen?  •  Einstieg in die nächsten Schritte  •  Die Ausgangslage fixieren  •  Innovation bedingt Investition!  •  Die Basis zur Trendbewertung steht  •  Gesamteinschätzung und Prognose  •  Strukturierte Zukunftsorientierung braucht Kompetenzen

Über den Tag hinaus ... – wie die Zukunft der Arbeitswelt (vielleicht) aussieht

Weg von der klassischen Dreiteilung  •  Im Vorhof der Rente?  •  Professionelles Lebensmanagement  •  Die neue Art von Mitarbeitern kommt  •  Alles dreht sich ums Projekt  •  Anteil der Selbstständigen verdoppelt sich  •  Magnet für „freie Radikale“  •  Welches Profil hat der Mitarbeiter der Zukunft?  •  Fürs Grobe oder mit Hirn  •  Der „absteigende Angestellte“  •  Das Unternehmen als Familie  •  Pfälzische Studie wird bestätigt  •  Wer gut ist, verdient überdurchschnittlich  •  HR an Lebenssituation der Menschen ausrichten  •  Jüngere übernehmen schneller Verantwortung  •  Zehn Leitthesen für die Personalarbeit  •  Immer mehr Workaholics  •  Die Grenzen der Erreichbarkeit akzeptieren  •  Höhere Beschäftigungsquote, stärkere Isolation  •  Innovation wird global erzeugt werden  •  Das Ende einer behüteten Beziehung  •  Vier globale Kräfte

Fazit

Gewissheit im Ungewissen?  •  Elementare Hausaufgaben erledigen

Seitenblicke

Die Trendexperten:  Trends – die Abstraktionseinheiten des Wandels

Der Unternehmer:  Wir gehen mit offenen Augen durch die Welt

Die Wissenschaftlerinnen:  Arbeitswelt 2030 – Herausforderungen für HR

Der Sportmanager:  Der Sportverein der Zukunft muss professionell aufgestellt sein und kommerziell denken

Der Berater:  Was uns bewegt!

Autoren

Marco Esser  •  Bernhard Schelenz  •  Silke Eilers  •  Fabian Engelhorn  •  Michael Geke  •  Jutta Rump  •  Florian Häupl  •  Marc Schüling  •  Moritz Theimann

Glossar

Literatur

Bücher und Fachartikel  •  Studien

Worum es geht: Trend und Zukunft – eine Begriffsbestimmung

„Das Wichtigste in unserem Leben ist das Morgen.“

John Wayne

Wer sich des Themas Perspektiven für Human Resources nähern und prüfen will, welche Relevanz Trends dafür haben, muss zunächst fragen: Was ist das? Wie funktioniert das? Dafür braucht es zuerst einmal einen Überblick über das, was heute Trend- oder Zukunftsforschung genannt wird. Vorab: Die Trendforschung ist eine Entwicklung, die erst Ende des vergangenen Jahrhunderts aufkam, während es die Zukunftsforschung strenggenommen schon lange gibt. Das Orakel von Delphi gilt als erste überlieferte Prognose-Institution. Es galt, bestimmte Ereignisse vorauszusehen.

Sterndeuter und Visionäre

Natürlich gab es Visionäre, die Zukunft als Chance begriffen und zu ihrer Gestaltung beitrugen, wie den Erfinder Leonardo da Vinci, aber das Gros der Blicke in die Zukunft beschäftigte sich damit, ob die nächste Ernte gut wird oder die Königin in absehbarer Zeit einen Thronfolger gebiert. Gerne wurden dafür ferne Faktoren bemüht, etwa die Sterne.

Aus der Welt der Astronomen, Astrologen und anderer Deuter emanzipierte sich spätestens Anfang des 19. Jahrhunderts die systematische Zukunftsforschung, als die empirischen Sozialwissenschaften systematisch anfingen, sich für das Morgen und Übermorgen zu interessieren. Statistiker, Ökonomen und Soziologen waren die Protagonisten der Zukunftsforschung. Der deutsche Nationalökonom Friedrich List forderte 1846 eine „Politik der Zukunft“ – und es blühte der Markt für Science-Fiction-Literatur und Utopien jedweder Art. Bis hin zu Weltuntergangsszenarien, die ein Ende der gottlosen Zeiten prophezeiten.

Gedacht wurde ergebnisoffen: Jetzt spielt das Deutsche Reich noch eine herausragende Rolle – aber was kommt dann? Oder stürzt gleich die Erde in die Sonne und die Menschheit muss auf einem anderen Planeten neu beginnen? In dieser Qualität ging es viele Jahrzehnte weiter – und die, die in tausendjährigen Kategorien dachten, wurden belehrt, dass ihre Prognosen die Halbwertszeit von wenigen Jahren hatten. Erst in den 1960er Jahren prägte sich hierzulande eine eigene Zukunftsforschung heraus, weil Wirtschaft und Industrie erkannten, wie wertvoll fundierte Zukunftskonzepte waren.

USA etablierten Zukunftsforschung

Schneller waren die US-Amerikaner, die bereits in den zwanziger bis vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Zukunftsforschung etablierten, die sich 1948 in der Gründung der Research and Development Corporation manifestierte. Dort wurde zum Beispiel 1965 das Zukunftsszenario „Agenda für das Jahr 2000“ entwickelt. Dem Club of Rome indes, der 1972 mit den „Grenzen des Wachstums“ Szenarien bis zum Jahr 2000 entwarf, ging es weniger um die Prognose, denn um die Gefährdungen und Optionen, die mit den Entwicklungen einhergehen könnten.

Die Brücke von den Prognosen eines Club of Rome, den militärischen Planspielen der US-Militärs in den 1960ern und der wissenschaftlichen Hochrechnung von Entwicklungen hinüber zur systematischen Trendarbeit zu schlagen, erfordert zunächst ein paar Worte dazu, was er eigentlich ist, der Trend. Das Internet, sonst Quell’ vielfältiger Erkenntnis, beweist auch hier: Die Kunst ist, die verwertbaren Informationen zu erkennen und sie richtig einzuordnen. Denn wer den Begriff „Megatrend“ googelt, erhält knapp fünf Millionen Treffer.

Naisbitt prägte den Begriff „Megatrend“

Ganz vorne dabei: die Megatrends-App als persönliche Trenddatenbank für das iPhone oder der Megatrend-Fonds der Postbank. Das Drucken mit dem Smartphone scheint ein Megatrend zu sein, Energiesparen sowieso. Da hilft ein Weg zurück zu den Wurzeln: Den Begriff „Megatrend“ prägte der US-Autor John Naisbitt 1982. Danach ernannten sich landauf, landab „Trendforscher“ zu Spurensuchern der Zukunft. Ein Begriff, dem die wissenschaftliche Legitimation fehlt – und der seitdem umstritten ist. Schließlich reklamieren Soziologen oder Wirtschaftswissenschaftler die Zukunftsforschung für sich. Doch jenseits der Empirie braucht es Phantasie, um das Künftige in klare Perspektiven zu fassen, Trends nachvollziehbar und begeisternd zu formulieren.

Ein schönes Beispiel dafür ist der britische Pfarrer und Ökonom Thomas Robert Malthus. Der Professor für Wirtschaftswissenschaften veröffentlichte das „Essay on the Principle of Population“, in dem ein mathematisches Zukunftsmodell für Großbritannien Hungerkatastrophen mit Millionen Toten prophezeite. Das war 1798. Der Zukunftsforscher Malthus rechnete die steigenden Geburtenraten im Zuge der Industrialisierung hoch und stellte sie einer gleichbleibenden Nahrungsmittelproduktion gegenüber. Was er verkannte: Die landwirtschaftliche Produktivität stieg seitdem in den Industrieländern auf das Zehnfache, in den Schwellenländern immerhin noch um das Fünffache. In den 1970er Jahren mahnte der US-Wissenschaftler Paul R. Ehrlich vor „der Bevölkerungsbombe“, die unmittelbar zu explodieren drohe. Inzwischen räumt er ein, er habe sich im Zeitpunkt geirrt.

Das eine braucht das andere

Wenn diese Irrtümer eines zeigen, dann, dass das eine nicht ohne das andere geht. Keine wissenschaftliche Disziplin ist alleine für sich in der Lage, belastbare Prognosen zu liefern. Was zählt, ist die Fähigkeit, Pragmatismus und Inspiration zu vereinigen. Insofern hat die Koexistenz vom pragmatischen Weiterrechnen des Bestehenden ebenso ihre Berechtigung wie die Gedankenspiele manches Trendforschers, der aktuelle Entwicklungen visionär weiterdenkt. Einer davon ist Matthias Horx. Er nennt Trends nicht beliebige Moden, sondern versteht sie als „Balancebewegungen“ der Kultur. Sie würden entweder technischen Innovationen entspringen oder eine kulturelle Abwehrreaktion auf bestimmte Phänomene darstellen.

„Dabei hat jeder Trend seinen Gegentrend“, schreibt er in seinem Buch „Zukunfts-Manifest“, „und jeder Trend ist per se ein Gegentrend.“ Als Beispiel nennt Horx den Trend Globalisierung, der mit einer Maßstabsvergrößerung einhergeht. Gegentrend ist das große Heimweh mit seinem Wunsch nach Verwurzelung. Aus dem Trend Fitness mit der Intention, den Körper zu formen, erwächst der Gegentrend Wellness, bei dem es um die geistige und seelische Balance geht. So beschreibt der Zukunftsforscher Trends wie Beschleunigung mit dem Gegentrend Langsamkeit, Lifestyle mit dem Gegensatz Sinn-/Substanzsuche oder Virtualisierung, die in ihrer Künstlichkeit vom Konterpart Authentizität mit dem Drang nach Echtheit begleitet wird.

Widersprüche deutlich machen

Letztlich wird diese Systematik noch sichtbarer, wenn eine dritte Ebene hinzukommt, die die Widersprüche von Trends und Gegentrends noch deutlicher macht. „Am deutlichsten ist dieser Effekt im Wertewandelprozess nachzuvollziehen“, meint Horx. So werde das Sinn- und Orientierungsvakuum umso größer, desto mehr sich in der Gesellschaft Spaß und Erlebnis als Maßstäbe durchsetzen. Horx macht das am Beispiel Globalisierung deutlich. Wenn in der Globalisierung der Bezugsrahmen des Einzelnen die ganze Welt ist, wächst der Drang zur Lokalisierung. Der Bezugsrahmen soll klein und überschaubar sein. Daraus entsteht auf Ebene drei ein „Glokalismus“. Das Individuum orientiert sich ortsgebunden in der ganzen Welt. „Erst wer sein Dorf verlässt, weiß es zu schätzen“, schreibt Horx, und „erst wer zu lange in seinem Dorf hockt, weiß, was Fernweh ist.“ Beide Prozesse – zum einen die zunehmende Bindung an die eigene Region und den Ort, zum anderen die fortschreitende Globalisierung über Reisen, Medien oder Ökonomie – schreiten fort.

Daraus folgt: Der Mensch der Zukunft ist „Glokalist“. „Große Firmen und Marken wissen das längst“, so Horx, „in allen Bereichen des Marketings, der Produktstrategien, finden wir heute ,glokalistische‘ Strategien. Biere entwickeln regionale ,Untersorten‘, Trachtenmode mischt sich mit High-Class-Fashion.“ Zur Bestätigung zitiert Horx Umfragen, die bestätigen, dass der Glokalismus längst in der breiten Bevölkerung etabliert ist. Seit Jahren und Jahrzehnten werde eine immer kleinere Raumeinheit gewählt, wenn die Menschen nach ihrer „räumlichen Identität“ befragt würden. Zusammengefasst ist ein Einwohner von Mannheim zuallererst „Mannemer“, dann Kurpfälzer, dann Badener – dann kommt eine Weile nichts. Weiter ist er Deutscher, Europäer und Erdbewohner. Nichts davon möchte er missen, weil all das zu seiner Identität gehört.

Der Drang zum Kleinen im Großen

Diese Dezentralisierung in Zeiten der Globalisierung ist an ganz vielen Stellen zu erleben, zum Beispiel bei den Nationen. Der Zerfall der Sowjetunion 1991 ist in diesem Zusammenhang sicherlich ein „großes“ Symbol für den Drang der Menschen zur kleineren Einheit. Aber auch ein im Vergleich winziges Indiz zeigt die Entwicklung: die Briefmarke. Zahlreiche Länder der Welt erlauben ihren Bürgern inzwischen, eigene Briefmarken zu gestalten. Auf dem Postwertzeichen findet sich plötzlich kein Herrscher mehr, kein Atomphysiker oder die Blume des Jahres, sondern die Miezekatze von Hinz oder Kunz.

Zurück zum „Megatrend“, den Horx als „jene massiven, lang andauernden Triebkräfte des Wandels, die gesellschaftliche, soziale, ökonomische Systeme transformieren“ bezeichnet. Wer glaube, Megatrends beschrieben gewaltige Kräfte, die einem Tsunami gleich „alte Gewohnheiten zertrümmern“, irrt, schreibt Horx in dem Buch „Das Megatrend-Prinzip“. Vielmehr wirkten Megatrends langsam und graduell, sie veränderten die Welt, wie wir sie kennen, von innen heraus. Nach Einordnung des Horx’schen Zukunftsinstituts machen drei Faktoren einen Megatrend aus:

• Er muss mindestens die nächsten 50 Jahre Bestand haben.

• Er ist für sämtliche Lebensbereiche relevant.

• Er hat prinzipiell globalen Charakter, auch wenn er lokal unterschiedlich ausgeprägt sein kann.

Der Arbeitskreis „Megatrends und Personalmanagement“ der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) hat aus dieser Definition für Megatrends folgende Entwicklungen als relevant für Unternehmen identifiziert:

• Sie resultieren in der Regel aus technischen und/oder volkswirtschaftlichen Vorgängen.

• Sie sind bezüglich ihres tatsächlichen Verlaufs und ihrer Konsequenzen noch nicht fassbar.

• Sie betreffen zahlreiche Unternehmen.

• Sie beeinflussen möglicherweise die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens.

• Sie wirken sich langfristig auf das Unternehmen aus.

• Sie machen interne strukturelle Veränderungen notwendig.

• Sie sind kaum oder gar nicht mit vorhandenen Lösungen zu bewältigen.

Wer nun glaubt, Megatrends entstehen, weil sich im Elfenbeinturm der Denker einige Herrschaften zum Beispiel gedacht haben: Globalisierung ist ein riesengroßer, allumfassender Trend – der verkennt den Prozess. Der Trend ist einfach da – aber es gilt, ihn zu identifizieren und als relevant zu beurteilen.

Ein Megatrend ist keine fixe Idee

Megatrends lassen sich nicht erfinden, meint Eike Wenzel, der Leiter des Hamburger Instituts für Trend- und Zukunftsforschung. „Das sind tiefgreifende Entwicklungen, die quasi unumkehrbar sind und die die ganze Welt betreffen – etwa die Globalisierung von Wirtschaft und Kultur, der demografische Wandel oder die Digitalisierung“, zitiert ihn das Handelsblatt (Karriere-Beilage 1/2012). Solche Trends entstehen durch die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Von diesen Megatrends lassen sich zum Beispiel Gesellschafts- oder Technologietrends ableiten.

Wenzel warnt davor, jeden Zukunftstrend mitzumachen: „Trendopportunismus ist ein großes Problem.“ Nicht jeder Trend passe zum Geschäftsmodell, „die Strategien sollten sich daran orientieren, was das Unternehmen kann“. Ein Plädoyer für ein einfaches Prinzip: Ein Unternehmen muss für sich einordnen, was es in puncto Trendarbeit zu leisten imstande ist – und darf sich dabei weder überheben, noch halbe Arbeit leisten. Schließlich ist es fatal, einen Megatrend als hochrelevant erkannt zu haben, obwohl er unterm Strich nur marginale Auswirkungen auf das Unternehmen hat. Denn aus der Trendarbeit sollten strategische Folgerungen entstehen, die oft mit Investitionen verbunden sind. Wer hier in der falschen Richtung unterwegs ist, richtet sein Unternehmen eher zugrunde, als sie zukunftsfest zu machen.

Erkennen und weiterentwickeln

Es gilt also, den Trend in seiner Relevanz für das eigene Geschäftsmodell zu erkennen und ihn authentisch und damit glaubhaft nach innen und außen weiterzuentwickeln, statt über die Maßen Risiken einzugehen, um einen vermeintlichen Trend mitzumachen. Das gibt die Chance, das Gefahrenpotenzial der wirklich relevanten Trends rechtzeitig zu identifizieren und gegenzusteuern. Im Hinterkopf sollte stets präsent sein, dass der Umgang mit den aktuellen Trends selbstverständlich zum Unternehmen passen muss. Es wäre widersinnig, wenn sich ein Konzern wie Siemens plötzlich mit ökologischem Saatgut befasste. Kein Mensch wird von Audi erwarten, dass das Unternehmen ein Smartphone herausbringt, niemand vermuten, dass Morgan Stanley Fahrräder mit Elektroantrieb oder lärmarme Flugzeugtriebwerke entwickelt.

Megatrends kommen nicht über Nacht – wir reden über Zeitläufe von Jahrzehnten. Es ist Zeit, sie zu analysieren und sich zu überlegen, wie sie bewältigt werden können. Es gibt keine Zeit zu verschenken. Tritt die reaktive Phase ein, das heißt: Der Megatrend ist bereits mit seinen Folgen spürbar, und das Thema ist bisher unbeachtet geblieben, kann die notwendige Anpassungsleistung nur unter großem Aufwand und eventuell gar zu spät erbracht werden. Daraus folgt: Es ist nicht nur ein „Nice to have“, sich mit Megatrends aufmerksam und systematisch zu beschäftigen, es ist für jedes Unternehmen ein „Must have“.

Ohne Trendarbeit geht es nicht

Um die Auseinandersetzung mit den Megatrends und den damit einhergehenden Trends kommt ein Unternehmen nicht herum, für manche kann es zur Frage des Überlebens werden. Klar ist, die Auswirkungen von Megatrends ereilen die Unternehmen früher oder später, aber immer. Denn es gelingt keinem Konzern und keinem Mittelständler, sich ihnen zu entziehen. Nur wenn sie in der Lage sind, die Trends zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus ziehen, sind sie in der Lage, rechtzeitig die notwendigen Grundlagen zu schaffen, um zukunftsfest aufgestellt zu sein – auch wenn mit dem Megatrend massive Veränderungen für das Unternehmen verbunden sind.

Klar, es gibt wohl kein Unternehmen, das sich nicht irgendwie mit der Zukunft befasst. Das Umfeld wird betrachtet und es gibt etliche Unternehmen, die das Thema Zukunft mehr oder weniger professionell in ihren Strategieprozess integrieren.

Hat die Wissenschaft die Wahrheit parat?

Dabei hätte es Charme, sich auf das zu verlassen, was Resultate verspricht: auf die Wissenschaft. Doch wer für die Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler und viele andere Fachbereiche mehr, die aufgrund empirischer Erkenntnisse das Folgende berechnen, den Begriff Trendforscher verwendet, wird wenig Freunde finden. Wissenschaftler sind in ihrem Selbstverständnis Zukunftsforscher und verbitten sich, mit den Visionären gleichgesetzt zu werden, schließlich entspringen ihre Modelle des Morgen den Erfahrungen von gestern und heute. Eine nachvollziehbare Grundlage, die mathematisch, also wissenschaftlich sauber ist, den Faktor Phantasie indes nahezu außer Acht lässt.

Die Wissenschaft hat sich des Themas Zukunft mit gewohnter Gründlichkeit angenommen, etwa der Hamburger Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski. Er gilt als einer der Renommiertesten seiner Zunft und definiert sein Fachgebiet so: „Zukunftsforschung muss Vorausschauen als Vorsorgen begreifen. Vorausschauen heißt, Ereignisse planen und gestalten, bevor sie eintreten. Vorausschauen regt zum Handeln an. Eine solche Handlungsforschung und ihre Folgen können dabei wichtiger als die Treffsicherheit mancher Prognosen sein. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft werden zum Agieren und Reagieren herausgefordert.“ (aus: Deutschland 2020. Wie wir morgen leben – Prognosen der Wissenschaft). Als Leitprinzipien definiert Professor Opaschowski Folgenabschätzung, Nachhaltigkeitsdenken und soziale Verantwortlichkeit. Um das zu leisten, gelte es, systematisch die Lebensgewohnheiten der Menschen zu untersuchen und in Zeitvergleichen die sozialwissenschaftliche Basis für Prognosen zu erstellen.

Nur auf eine Sensation aus?

Der Graben zwischen den Zukunfts- und den Trendforschern ist groß. Ist alles nur „heiße Luft“, wie etwa der Professor für Arbeits- und Wirtschaftssoziologie Holger Rust den Trendexperten unterstellt, die hauptsächlich beobachten, aber empirische Methoden vernachlässigen? Die Trendforscher lieferten regelmäßig möglichst sensationelle Ergebnisse, die dann in Trendreports, Trendtagen, Trendletters etc. verbreitet würden, meint Rust. „Um die publizistische Aufmerksamkeit dauerhaft zu garantieren“, schreibt er in dem Buch „Zukunftsillusionen“, „werden kontinuierlich neue Zielgruppen, Milieus, Prozesse, Erwartungen, Handlungstypologien in zum Teil etymologisch sinnleeren Anglizismen oder Kunstbegriffen als ,Trends‘ geliefert, die für die Zukunft der Unternehmen bedeutsam seien, sich gleichzeitig nach den News Values der Medien richten.“

Rust spricht von einer „Boulevardforschung“: „Sie ist voluntaristisch und mithin in das Belieben der Interpreten gestellt, die von sich überzeugt sind, die Wahrheit zu sehen.“ Er sieht die Erfolgsversprechen der Trendforscher kritisch, weil der Erfolg zu vage definiert ist, statt an den sonst stets bemühten Erfolgskriterien wie langfristige Gewinngarantie oder Entwicklung einer exzellenten und mit hervorragenden Personen besetzten Organisation orientiert zu sein.

Zeitung lesen und auf der Straße fragen

Stattdessen prangert der Soziologe „methodologische Scharlatanerie“ an. „Bei näherer Betrachtung handelt es sich bei den meisten dieser Methoden um nichts anderes als eine kursorische Durchsicht von Zeitungen und Zeitschriften, gelegentlichen Straßenbefragungen, anekdotischen Beweisketten, in denen Beispiele durch weitere passende Beispiele belegt werden“, schreibt Rust. Ihn wundert, dass sich Unternehmen auf „diesen Opportunismus“ einlassen.

Nicht-sozialwissenschaftlich fundierte Trendforschung überschreite bei ihren Methoden immer wieder die Grenze zur Scharlatanerie und könne ihren selbstdefinierten Auftrag, zum Unternehmenserfolg beizutragen, nicht erfüllen. Professor Rust: „Wissenschaft jedenfalls agiert ganz anders: Der intellektuelle Profit des strategischen Managements wird umso größer sein, je unabhängiger die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sich mit der komplexen Gesamtsituation gesellschaftlicher, kultureller, wirtschaftlicher, technologischer und politischer Entwicklungen beschäftigen.“

Differenzierung fraglich

Der Soziologe bezweifelt auch noch aus einem anderen Grund den Nutzen der Trendwerkstätten, Trendzentren und all der anderen mehr: Ihre Erkenntnisse werden allgemein auf den Markt geworfen und widersprechen damit dem wesentlichen Ziel der Unternehmertums, strategisch relevante Innovationen möglichst exklusiv zu entwickeln. Wenn sich alle Recruiter auf das Segment der virtuell aktiven Jugendlichen („CommuniTeens“) stürzen, werden sie letztlich mit nahezu identischen „zielgruppengerechten“ Konzepten aufwarten („...die sind doch Social-Media-affin, da müssten wir doch was auf Facebook machen“). Rust hält es daher für unsinnig, Trendberatern zu folgen, „es sei denn, man verfügt exklusiv über einen eigenen Think-Tank“. Ein richtiger Ansatz, wobei der „eigene Think-Tank“ nicht mehr ist als systematische Trendarbeit – und nicht weniger.

Auf eigene Kräfte setzen

Für den internen Prozess hält es Rust für elementar, die Auswertungen der Daten und Beobachtungen von der Interpretation zu trennen und Spekulationen klar zu kennzeichnen. Externe Berater seien nur dann legitimiert, wenn sie in der Lage seien, die individuellen Belange eines Unternehmens zu betrachten. Auf Berater, die marktrationale Strategien in einem Standardprozess den eigenständigen Abläufen eines Unternehmens überstülpen, könne getrost verzichtet werden.

Die Kraft zur professionellen Beschäftigung mit dem Thema Trend kann und muss sich aus dem Unternehmen selbst speisen. Holger Rust dazu: „Jedes Unternehmen verfügt über eine große Zahl ,externer‘ Geister mit gänzlich anderen Perspektiven auf die Probleme des Unternehmens und seiner Umwelt: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Durchaus ein nachvollziehbarer Ansatz, denn letztlich besitzt ein Unternehmen mit 3000 Angestellten strenggenommen 3000 Trendarbeiter. Jeder von ihnen nimmt in seinem beruflichen und privaten Umfeld Entwicklungen wahr und ist in der Lage, daraus Schlüsse zu ziehen. Diese Fähigkeiten kann sich die Trendarbeit zunutze machen, indem sie Kanäle schafft, wie diese Reflektionen gebündelt und ausgewertet werden. Werden diese Inspirationen der „internen“ Geister mit denen der wirklichen „externen“ Geister, wie den Trend- oder Zukunftsforschern, kombiniert, entsteht ein echter Erkenntnisgewinn.

Welche Wissenschaft schafft Wissen?