Hans-Hermann Dubben

Hans-Peter Beck-Bornholdt

Mit an Wahrscheinlichkeit grenzender Sicherheit

Logisches Denken und Zufall

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Chinesen sind besser als Chinesen

Nicht-transitive Relationen oder die Möglichkeit, ganz logisch im Kreis zu denken

2. Vater oder Vater Morgana?

Situationsabhängige Interpretation des genetischen Vaterschaftstests

3. Der Return des Surelock Humps

Spurensicherung mit Hilfe bedingter Wahrscheinlichkeiten

4. Im Namen des Volkszorns

Situationsabhängige Interpretation des genetischen Fingerabdrucks

5. Der Ankläger-Trugschluss: Verurteilt wegen Unwahrscheinlichkeit

Falsch verstandene Wahrscheinlichkeitslogik mit schweren Folgen

6. Mit an Sicherheit grenzendem Wahnsinn

BSE-Test als moderne Hexenjagd?

7. Die Nadel im Heuhaufen

Sinnvolle Diagnostik im Niedrigprävalenzbereich durch Allgemeinmediziner

8. Mehr Stau durch mehr Straßen

Das Braess’sche Paradoxon

9. Die Demokratur der Salamander

Das Will-Rogers-Phänomen

10. Das Ziegenproblem mit 1000 Türen

Ein Spiel mit bedingten Wahrscheinlichkeiten

11. Vergleich macht reich

Geld sparen und Nerven verlieren mit Algorithmen

12. Rauchen für ein langes Leben

Variationen über Simpsons Paradoxon

13. Die Eins an erster Stelle auf Platz eins

Das Newcomb-Benford-Phänomen der ersten Ziffer

14. Triumph der Mittelmäßigkeit

Regression zum Mittelwert

15. George W. Bushs Verbindung zum Terrornetzwerk Al-Kaida

Das Kleine-Welt -Phänomen

Lösungen der Aufgaben

Exkurs zur Prozentrechnung

Danksagung

Register

Vorwort

Über Wahrscheinlichkeiten und ihre Eigenarten wurde schon sehr viel geschrieben. Und es wurde schon viel über das Geschriebene geschrieben. Einiges davon haben wir hier für Sie zusammengeschrieben. Damit stehen wir wissenschaftlich ganz weit vorne, denn nach Eugen Roth gilt:

«Die Wissenschaft, sie ist und bleibt, was einer ab vom andern schreibt; und dennoch ist, ganz unbestritten, sie immer weiter fortgeschritten.»

In diesem Buch finden Sie von uns für Sie ausgesuchte Themen, aufgestöbert im täglichen Leben, in Zeitschriften und Büchern, eingefangen in den unendlichen Weiten des Internets, gerupft, klein geschnitten, gewürzt, garniert oder naturbelassen und im Taschenbuchformat serviert. Leicht zu transportieren, netzunabhängig, mit Rand zum Bekritzeln und vielerorts sofort einsetzbar: im Strandkorb, im Flugzeug, im Liegen, auf der Zugspitze, in der Badewanne, vorm Regal im Buchladen.

Hier und da haben wir ein paar Rosinen dazugetan, aber das meiste in diesem Buch gibt es schon woanders und meistens anders. Zu den Kapiteln werden Literaturstellen und Internetadressen benannt. Gerade bei Letzteren ist meist nicht nachvollziehbar, wer zuerst dieses oder jenes geschrieben hat. Es ist fraglich, ob wir immer den wahren Urheber eines Textes in der Liste haben. Ideen und Anregungen haben wir auch erhalten von der Kollegin nebenan, vom Nachbarn, vom Schwipp-Schwager. Hin und wieder hatten wir auch mal eine eigene Idee. Aber welche war das noch? War es überhaupt eine eigene Idee? Oder haben wir einfach nur vergessen, dass wir es schon einmal irgendwo gelesen oder gehört haben?

Dieses Buch präsentiert Geschichten und Vertracktes aus der Welt des (Un-)Wahrscheinlichen. Vielleicht regt es auch hier und da zum Weiterdenken an. Das wäre ganz in unserem Sinne. Denn so manches, was uns heutzutage als wissenschaftliche Erkenntnis serviert wird, ist nichts als eine Täuschung – gerade auch in der medizinischen Forschung.

 

Viel Spaß beim Lesen wünschen

Hans-Hermann Dubben und Hans-Peter Beck-Bornholdt

 

Hamburg, im April 2005

1. Chinesen sind besser als Chinesen

Nicht-transitive Relationen oder die Möglichkeit, ganz logisch im Kreis zu denken

«Aber den Kuchen bitte heiß, wenn’s geht. Und ich will das Eis nicht obendrauf, ich will es extra und ich hätte gerne Erdbeer- statt Vanilleeis, wenn’s geht. Wenn nicht: Kein Eis – nur Schlagsahne – aber nur frische. Wenn sie aus der Dose kommt, gar nichts.»

«Nicht mal Kuchen?»

«Doch, in dem Fall nur den Kuchen, aber bitte nicht heiß.»

«Aha.»

AUS: HARRY UND SALLY

 

«Paula, wohin gehen wir heute Abend essen? Zum Chinesen, zum Griechen oder zum Italiener? Die Nennung erfolgte in alphabetischer Reihenfolge, damit du dich durch meine Vorliebe nicht unter Druck gesetzt fühlst.»

«Ach, Oskar, du bist manchmal so einfühlsam, selbstlos und so aufdringlich bescheiden … Einer von den dreien hat doch bestimmt Ruhetag heute. Nur wenn ich weiß wer, kann ich dir eine eindeutige Antwort geben.»

«Du redest in Rätseln, aber wenigstens die Frage nach dem Ruhetag ist a) nachvollziehbar und b) lösbar. Ich seh mal in die Zeitung. Wenn wir wissen, welcher der drei heute ausfällt, kannst du dich sicherlich einfacher entscheiden.»

«Du verstehst nicht – nicht einfacher, sondern überhaupt. Ohne Kenntnis des Ruhetags kann ich deine Frage nicht beantworten …»

«Sprach die Sphinx …»

«Wenn der Italiener zuhat, möchte ich zum Chinesen!»

«Und wenn der Chinese heute Heimaturlaub macht?»

«Dann möchte ich zum Griechen. Klarer Fall.»

«Hier steht’s, Paula, der Grieche hat heute Ruhetag.»

«Na, dann lass uns zum Italiener gehen!»

«Meine liebe Paula, darf ich anmerken, dass du mich zum Wahnsinn treibst?»

«Ja gerne. Aber mach doch bitte ein vollständiges Kompliment. Welcher meiner Reize …»

«Also, wenn du deinen Schülern mit derselben Logik Mathematik beibringst, wie du ein Restaurant aussuchst, dann muss bei der Pisa-Studie …»

«Vorsicht, Glatteis! Das war alles streng logisch. Aber wenn du mir nicht den Ruhetag genannt hättest, hätte ich mich wirklich nicht entscheiden können.»

«Was ist daran logisch: Du gehst lieber zum Chinesen als zum Griechen, lieber zum Griechen als zum Italiener, lieber zum Italiener als zum Chinesen. Also ist der Chinese besser als der Grieche, der besser ist als der Italiener, der besser ist als der Chinese. Und somit hat sich der Chinese selbst übertroffen! Du musst zugeben, das ist Unsinn!?»

«Mag sein, dass es der männlichen Intuition widerspricht, aber es ist logisch. Darf ich versuchen, es dir zu erklären?»

«Ich bitte darum.»

«Also dann. Ich habe die Restaurants unter drei Gesichtspunkten beurteilt: Geschmack des Essens. Das Ambiente: die Einrichtung, das Publikum, eine schöne Aussicht auf den Kellner … du verstehst schon. Und hungrig nach Hause gehen möchte ich auch nicht: Die Größe der Portionen ist nicht unwichtig. Zu jedem Kriterium habe ich die Restaurants in eine Reihenfolge gebracht.

Das sieht so aus:

Paulas Einschätzung ihrer drei liebsten Restaurants

Jedes Restaurant hat seine Vorzüge. Und da mir Geschmack, Ambiente und Menge gleichermaßen wichtig sind, kann ich mich nicht rational entscheiden. Da könnte ich nur würfeln oder hoffen, dass wenigstens eines der Restaurants geschlossen hat. Dann kann ich mich eindeutig und logisch entscheiden.

Wenn der Italiener Ruhetag hat, ist der Chinese in zwei Kriterien besser als der Grieche, nämlich Geschmack und Menge. Macht der Chinese Pause, dann ist der Grieche in Ambiente und Menge besser als der Italiener. Und wenn der Grieche die Küche kalt lässt, liegt der Italiener in Geschmack und Ambiente vor dem Chinesen. Ist doch logisch, oder?»

«Ja, sagt der Verstand, und die Gewohnheit grummelt: Wenn A > B und B > C, dann ist auch A > C  …», grummelt Oskar.

«Eine Pizza ist besser als nichts. Nichts ist besser als ewige Glückseligkeit. Also ist eine Pizza besser als ewige Glückseligkeit. – Ich habe Hunger. – Jetzt!», drängelt Paula.

Die beiden finden den Weg zum Italiener und durch die Speisekarte. Erst bei der Nachspeise kommen die beiden auf das Thema dieses Kapitels zurück.

«Sieh mal, Paula, als Nachtisch gibt es Apfelstrudel mit Eis oder Vanillesoße oder Sahne.»

«Eines von dreien haben wir nicht mehr, hab aber vergessen, was es war», vermeldet der Kellner, «ich schau mal eben …»

«Sie können sich einen Weg sparen. Ich weiß ja, was ich will», sagt Paula und bestellt: «Wenn Sie keine Vanillesoße haben, möchte ich Sahne, bei keiner Sahne nehm ich Eis, und wenn das Eis fehlt …»

«… nimmt sie Vanillesoße. Ist doch logisch», fällt Oskar ihr ins Wort und fügt hinzu: «Oder?»

«So ist es», erwidert Paula, «auch hier habe ich klare Vorstellungen und kann mich ohne Zögern entscheiden, wenn eines der Angebote ausfällt. Am besten, du siehst dir die Tabelle an. Sie ist analog derjenigen zur Auswahl des Restaurants.»

Apfelstrudel mit … Paulas Einschätzung ihrer drei liebsten Apfelstrudelbeilagen.

«In eine ähnlich vertrackte Situation kann eine junge Dame geraten, die drei Heiratsanträge gleichzeitig erhält. Auch für die männlichen Heiratsaspiranten ist die Matrix interessant. Nehmen wir an, Bernd sei der Chef von Alfred und Christoph. Bernd hätte gewonnen, wenn er Alfred für längere Zeit ins Ausland versetzen würde (… natürlich in ein Land, in das die dreifach Angebetete nicht mit möchte), denn Christoph ist dann keine ernste Konkurrenz für ihn. Ein fataler Fehler wäre es, Christoph auszuschalten, denn dann hätte Bernd verloren und Alfred hätte tatenlos gewonnen.»

 

Paulas Übersicht zum Heiratsdilemma bei intransitiven Verhältnissen

«Vielleicht sollte Bernd etwas an seinem Aussehen arbeiten», gibt Oskar zu bedenken.

«Also, wenn Veränderungen mit in Betracht gezogen werden dürfen, würde ich mich auf Alfred konzentrieren. Dass ein Mann seinen Charakter ändert, ist hoffnungslos, aber da ist er ja schon auf Platz eins. Ein Mann muss nicht unbedingt schön sein, lässt sich aber unter Umständen wenigstens zivilisieren und dadurch verschönern. Und Alfreds Einkommen lässt sich allemal verbessern … mit mir als Managerin!»

Oskar, dem das Ganze nach wie vor nicht geheuer ist, erinnert sich an ein Spiel aus seiner Kindheit.

«Wir nannten es Ching-chang-chong und waren überzeugt, dass das aus dem Chinesischen übersetzt 1 - 2 - 3 bedeutet. Wir zählten also chinesisch bis drei und gaben dann gleichzeitig mit der Hand ein Zeichen für Papier (flache Hand) oder Schere (gespreizte Finger) oder Stein (Faust). Dabei galten folgende Regeln: Stein schleift Schere, Schere schneidet Papier, Papier wickelt den Stein ein. Jeweils das Erstgenannte besiegt das Zweite. Es gibt also kein Symbol, das am mächtigsten ist. Und einen sicheren Verlierer gibt es nur, wenn einer eine Vorliebe für ein Symbol hat und dieses besonders häufig zeigt. Wenn ich weiß, dass mein Gegner eine Vorliebe z. B. für Stein hat, dann wähle ich natürlich Papier. Am besten, man zeigt völlig zufällig eines der Symbole. Dann haben beide dieselbe Gewinnchance. – Glaubst du, es gibt noch mehr solcher Spiele, Paula?»

 

«Aber ja. Du kennst doch unser Würfelspiel, mit dem wir oft darum spielen, wer die Rechnung im Restaurant bezahlt. Ich sage gleich dazu: Ich hab es nur mit dir gespielt, wenn du garstig zu mir warst, wie beispielsweise am Anfang dieses Kapitels.»

«Das Spiel mit den drei Würfeln? Bei dem ich mir den Würfel beliebig aussuchen darf?!» Oskar war schon lange aufgefallen, dass Paula bei diesem Spiel immer so überlegen dreinblickte.

«Viel wichtiger ist, dass ich nach dir auswählen durfte. Das Spiel ist als ‹chinesische Würfel› bekannt, wobei mir unbekannt ist, weshalb man diese Art von Spielen den Chinesen nachsagt. Wir werden später sehen, dass sie in aller Welt verbreitet sind. – Aber jetzt zu den Würfeln. Hier sind sie, als Schnittbogen zum Nachbauen.

Bausatz für drei intransitive Würfel

Beim Ausschneiden bitte beachten, dass notwendige Klebelaschen nicht eingezeichnet sind. Am besten eignen sich zum Nachbau verschiedenfarbige Blanko-Würfel, die man selbst beschriftet. Das Spiel selbst geht so: Du wählst zuerst einen Würfel und dann wähle ich. Wir werfen beide unseren Würfel, und die höchste Zahl gewinnt. Und ich kann mir immer meinen Würfel so aussuchen, dass ich eine bessere Gewinnchance habe als du, lieber Oskar.»

«Das verstehe ich nicht. Wie bringst du es übers Herz, mich so auszutricksen, und wie funktioniert das?»

«Am besten, wir lassen die Würfel in Gedanken gegeneinander antreten und sehen uns in einer Matrix an, was da alles passieren kann. Zunächst Würfel A gegen Würfel B. In den Feldern steht jeweils der Buchstabe des gewinnenden Würfels. Wie du siehst, gewinnt A in 5 von 9 Fällen gegen B.

Matrix «A gegen B». A schlägt B in 5 von 9 Fällen.

Bei B gegen C sieht es ähnlich aus. In 5 von 9 Fällen ist B dem Würfel C überlegen.

Matrix «B gegen C». B schlägt C in 5 von 9 Fällen.

Nun könnte man denken, C sei der schlechteste der drei Würfel und man solle ihn unbedingt vermeiden. Die Probe aufs Exempel belehrt uns eines Besseren und Erstaunlicheren: C schlägt A in 5 von 9 Fällen.

Matrix «C gegen A». C schlägt A in 5 von 9 Fällen.

Es ist also völlig egal, welchen Würfel du wählst, ich finde immer einen, der besser ist als deiner. – Und um den ersten Teil deiner Frage zu beantworten: Einen besseren Würfel habe ich mir nur ausgesucht, wenn ich mich vorher über dich geärgert habe.»

«Also nie. Verstehe ich das richtig?»

«Ich stimme dir insofern zu, dass wir bei aller Rationalität auch an etwas glauben müssen», erwidert Paula.

«Du sagtest vorhin, diese Art von Spielen ist in aller Welt verbreitet. Doch nicht etwa in honorigen Spielcasinos …?»

«Ach, viel honoriger. Kenneth Arrow aus Stanford hat sich mit Wahlsystemen auseinander gesetzt und gezeigt, dass keines perfekt ist und man mit allen sehr paradoxe Ergebnisse erzielen kann. Das wurde nobel honoriert: 1972 erhielt Arrow den Wirtschafts-Nobelpreis.»

«Mit Ching-chang-chong zum Nobelpreis! Das hätte ich nicht gedacht …»

«So einfach war es doch nicht, auch wenn ich es hier zwischen den Pizza-Resten nur vereinfacht darstelle. Arrow1 ging davon aus, dass Wähler rational sind (was für die reale Welt nicht unbedingt zutreffen muss): Wenn sie den Kandidaten A besser finden als B und B besser als C, dann finden sie auch A besser als C. Jeder Wähler kann den Kandidaten einen Rang in der eigenen Wunschliste zuordnen. Nehmen wir 15 Personen, die darüber entscheiden sollen, welches Getränk es auf einer Party geben soll2: Wein, Bier oder Brause. Sechs von ihnen möchten am liebsten Brause, am zweitliebsten Wein und Bier am wenigsten. Fünf haben die Rangliste Bier, Wein, Brause und vier Wein, Bier, Brause.»

Übersicht über die Vorlieben des Getränke-Komitees

 

«Als Erstes wurde mehrheitlich abgestimmt», fährt Paula fort, «einfach durch Heben der Hand. Brause erhält mit 6 Stimmen die Mehrheit – zum Schrecken von 60 % (9/15) der Wähler, bei denen Brause auf dem letzten Platz steht. Man einigte sich auf ein anderes Wahlverfahren, auf eine Stichwahl: Platz 1 und 2 der Mehrheitswahl sollen in einer zweiten Abstimmung gegeneinander antreten. Da im ersten Wahlgang Wein auf Platz 3 kommt und damit ausscheidet, wählen die Weintrinker ihr zweitliebstes Getränk: Bier. Damit gewinnt Bier mit 9 von 15 Stimmen. So weit, so gut, aber wenn man in die Komitee-Liste schaut, stellt man schnell fest, dass 10 der Mitglieder Wein lieber mögen als Bier. Warum dann nicht Wein trinken, bitte sehr? Das wäre das Ergebnis des so genannten Borda-Counts. Jeder darf Punkte vergeben: 3 für seinen Platz 1, 2 für Platz 2 und einen für Platz 3. Auf die Art erhält Brause 6 × 3 + 9 × 1 = 27 Punkte. Bier erhält 6 × 1 + 5 × 3 + 4 × 2 = 29 Punkte. Wein ist mit 6 × 2 + 5 × 2 + 4 × 3 = 34 Punkten der Sieger.»

«Hm, vielleicht sollte einfach jeder sein eigenes Getränk mitbringen», gibt Oskar zu bedenken.

«Bei politischen Wahlen gibt es diese Möglichkeit nicht. Sonst müsste man gar nicht erst wählen und hätte Tausende kleiner Fürstentümer, in denen jeder sein eigenes Süppchen kocht. Aber bedenklich ist die Situation schon, denn offenbar hängt der Ausgang einer Wahl nicht nur vom Willen der Wählerschaft ab, sondern auch davon, wie die Stimmen gezählt werden. Ein grundlegendes Wahlparadox, das von Condorcet im Jahre 1785 entdeckt wurde, ist dasselbe wie mein Restaurantproblem. Drei vernunftbegabte Wähler sollen einen Kandidaten oder auch drei Gäste bei dir zu Hause sollen ihr Lieblingsgetränk auswählen. Der erste mag am liebsten Brause, gefolgt von Wein und schließlich Bier. Der zweite hat die Rangliste Wein-Bier-Brause und der dritte Bier-Brause-Wein (Mackenzie 2000).

 

Jetzt stelle sie vor die Wahl: Brause oder Wein? Mit 2 : 1 Stimmen wird Brause gewählt werden. Bei ‹Wein oder Bier› werden sie sich mit 2 : 1 Stimmen für Wein entscheiden. Damit lautet der Zwischenstand: Brause ist beliebter als Wein und Wein ist beliebter als Bier. Also sollte Brause beliebter als Bier sein. Vor die Frage ‹Brause oder Bier?› gestellt, werden die Wähler aber mit 2 : 1 für Bier stimmen. Das ist nicht nur paradox, sondern als Gastgeber hast du es völlig in der Hand, wie die Wahl ausgeht. Du musst nur die ‹Kandidaten› in der richtigen Reihenfolge anbieten.»

«Alles klar. Ich möchte dich zum Bier überreden. Also frage ich dich: Möchtest du Brause oder Wein?»

«Ich möchte Wein!»

Eine zyklische Mehrheit bei den Präferenzen der Wähler in Dänemark für den Premierminister konnte Peter Kurrild-Klitgaard zeigen.3

Money makes the world go round

Wem die Würfel als Spielzeug in der Tasche zu sehr auftragen, kann sich mit einer Münzversion des Spieles behelfen. Die Münzen A, B und C können so beschriftet sein:

 

A: 1 und 6        B: 2 und 4         C: 3 und 5

 

Diese Spielergebnisse sind dann möglich:

A und B sind «gleich gut».

A und C sind «gleich gut».

Da nun A = B und A = C, liegt die Vermutung nahe, dass B = C ist. Probieren wir es aus:

B und C sind nicht «gleich gut»! In 3 von 4 oder 75 % der Fälle besiegt Münze C die Münze B. Dieses Spiel nimmt nicht nur weniger Platz in der Hosentasche ein als das Würfelspiel. Es bringt auch mehr Geld in dieselbe. Nehmen wir an, dass ein ahnungsloser Gegner seine Münze jedes Mal zufällig auswählt, also mit 1/3 Wahrscheinlichkeit die Münze A, B bzw. C. Wählt der Gegner A, nehme ich B oder C. Wählt er C, nehme ich auf jeden Fall A. Wählt er B, dann nehme ich C. Meine Gewinnwahrscheinlichkeit beträgt dann

 

P(Gewinn) = 1/3 × 0,5 + 1/3 × 0,5 + 1/3 × 0,75 = 7/12 = 0,58 = 58 %.

 

Meine Gewinnwahrscheinlichkeit mit den drei Würfeln beträgt

 

P(Gewinn) = 5/9 = 0,56 = 56 %.

 

Das Münzspiel bringt also ein wenig mehr ein. Allerdings birgt es das Risiko, dass der andere irgendwann auf die Idee kommt, Münze B zu meiden. Dann ist das Spiel schlagartig langweilig. Bei den Würfeln gibt es diesen Ausweg für den Gegenspieler nicht.

Kopfzerbrechen mit Kopfschmerzmitteln

In den Semesterferien besuchte Paula häufig ihre Oma. Sie hatte ein kleines Häuschen an der Ostsee. Paula konnte umsonst bei ihr wohnen und Urlaub machen. Nebenbei hat sie sich bei einem Aushilfsjob in einer Imbissbude am Strand ein bisschen Geld dazuverdient und auch ein bisschen fürs Studium gelernt. Wenn Paula vom Frittenfettnebel Kopfschmerzen hatte, gab ihr ihre Oma immer die altbewährte «Bruchtablette» mit den Worten: «Das hat deinem Opa auch immer geholfen.» Die Schmerzen nahmen durch die Tabletten tatsächlich deutlich ab, aber völlig schmerzfrei war Paula durch die Pillen nie. Obwohl sie dadurch immer etwas Durchfall bekam, nahm sie die Dinger ganz gerne.

Später kam dann das «Auapyrin» auf. In einer Studie war gezeigt worden, dass es genauso wirksam war wie die «Bruchtablette», aber die Durchfälle traten nicht mehr bei jeder Einnahme, sondern nur bisweilen auf.

Paula erzählt: «Neulich habe ich mir diese Studie einmal angesehen. Sie war sehr ordentlich durchgeführt worden, was man von klinischen Studien nun wirklich nicht immer behaupten kann. Man hatte 5000 Versuchspersonen, die häufiger über Kopfschmerzen klagten, bei zwei aufeinander folgenden Attacken entweder beim ersten Mal die ‹Bruchtablette› und beim zweiten Mal ‹Auapyrin› gegeben oder umgekehrt. Diese Art von Studien nennt man ‹Cross over›-(Über-Kreuz-)Studien. Dabei hatte man strengstens darauf geachtet, dass die Patienten nicht wussten, welches Präparat sie gerade eingenommen hatten. Anschließend sollten sie angeben, welches Medikament besser geholfen hatte, das erste oder das zweite. Und außerdem sollten sie angeben, ob sie Durchfall bekommen hatten. Es zeigte sich, dass beide Medikamente gleich häufig genannt wurden, wenn es um die bessere Wirksamkeit ging. Die ‹Bruchtablette› verursachte aber etwa dreimal häufiger Durchfälle.

Jahrelang nahm ich ‹Auapyrin›, bis mich meine Ärztin darauf hinwies, dass es jetzt doch ‹Dolorex› gäbe, das sei genauso wirksam wie ‹Auapyrin›, verursache aber überhaupt keine Durchfälle. Auch dies war mit einer ausgezeichneten ‹Cross over›-Studie belegt worden. Es stimmt. Ich habe es probiert. ‹Dolorex› macht keinen Durchfall. Und die Kopfschmerzen werden besser. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir die Schmerzmittel nicht mehr so richtig helfen und dass die ‹Bruchtablette› besser geholfen hat. Den Durchfall würde ich ja gerne in Kauf nehmen. Als ich meine Ärztin darauf ansprach, schüttelte sie den Kopf. Es läge daran, dass ich so häufig Schmerzmittel nehmen würde. Neulich habe ich dann trotzdem in der Apotheke die alte ‹Bruchtablette› verlangt. Sie hatten sie nicht auf Lager, haben sie aber für mich bestellt. Ich habe das Gefühl, dass sie mir deutlich besser hilft – allerdings macht sie auch Durchfall.»

Kann das überhaupt sein? Liebe Leserin, überlegen Sie mal, wie es dazu kommen kann. Und lesen Sie erst weiter, wenn Sie die Lösung haben.

Bei den Schmerzmedikamenten verhält es sich ähnlich wie bei den soeben erwähnten Münzen. Die folgende Tabelle zeigt die Vergleichsstudie zwischen der «Bruchtablette» und «Auapyrin». Während die «Bruchtablette» immer hilft und zu deutlich verringerten Schmerzen führt, hängt die Wirkung von «Auapyrin» davon ab, ob man Kopfschmerzen vom Typ A oder vom Typ B hat. Dass es diese beiden Kopfschmerztypen überhaupt gibt, das wissen nur wir, die Autoren und die Leser dieser Zeilen. Es wird noch einige Jahrzehnte dauern, bis man diesen Unterschied entdeckt. Beide Typen treten gleich häufig auf. «Auapyrin» hilft bei Typ A überhaupt nicht und bei Typ B beseitigt es die Schmerzen vollständig.

Vergleich der «Bruchtablette» mit «Auapyrin»

Die nächste Tabelle zeigt den Vergleich von «Auapyrin» mit «Dolorex». Im Gegensatz zu «Auapyrin» wirkt «Dolorex» wie die alte «Bruchtablette» immer. Allerdings nehmen die Schmerzen nur etwas ab.

Vergleich von «Auapyrin» mit «Dolorex»

Auch diese beiden Präparate sind in ihrer Wirksamkeit gleich häufig besser. Und nun kommen wir zum Vergleich von «Dolorex» mit der alten «Bruchtablette».

Vergleich der «Bruchtablette» mit «Dolorex»

Die «Bruchtablette» hat immer eine höhere Wirksamkeit als «Dolorex» – allerdings zum Preis eines Durchfalls.

Paula erzählt weiter: «Ich jedenfalls nehme ab jetzt wieder die ‹Bruchtablette›. Den Durchfall nehme ich in Kauf. Allerdings erfuhr ich gestern von meinem Apotheker, dass das Präparat jetzt vom Markt genommen worden ist, weil es ja nachweislich schlechter ist als die anderen Medikamente. Ich habe mir noch einen kleinen Vorrat zugelegt. Aber irgendwann sind sie mal alle. Schade!»

Bessere Chancen für Paula

Paula hat Geburtstag. Noch letzte Woche war Oskar der Verzweiflung nahe. Paula hat alles, was sie braucht, und:

«Was ich bis heute entbehren konnte, das brauch ich auch nicht!» – Ende des Originalzitats von Paula.

«Gut, dass wir uns bereits gestern begegnet sind», pflegt Oskar dann zu bemerken.

«Das heißt nicht, dass es an dir nichts zu verbessern gibt, nur weil es so lange auch ohne Verbesserung gut ging», gibt Paula dann regelmäßig zu bedenken.

«Ich werde etwas verbessern», dachte sich Oskar daher letzte Woche, «nicht mich – viel zu schwierig, oder gar unmöglich – aber Paulas Zechpreller-Würfelspiel! Da werd ich schon was finden.»

Gesagt – gegoogelt. Bei Martin Gardner4 wurde Oskar fündig und entwarf einen Bauplan. Mit einem Juwelier in der Familie war es dann nur eine Frage von viel Geld, den Plan übers Wochenende in ein wahres Schmuckstück umzusetzen.

 

An ihrem Geburtstag lädt er Paula ein … zum Japaner! Heute bitte keinen Streit, sondern einen klaren Entschluss. Das Essen schmeckt beiden vorzüglich. Vor dem Nachtisch schiebt er ihr das Geschenk über den Tisch. Paula bekommt ganz große Augen, als sie das ziemlich kleine Päckchen mit dem Adressaufkleber des Juweliers sieht: «Oh, Oskar!!» Oskar wird plötzlich heiß und kalt und denkt: «Oh, Oskar!! Du Depp! – Das weckt jetzt so große Erwartungen, dass sie in jedem Falle enttäuscht sein wird.» Mit zittrigen Fingern öffnet Paula unendlich langsam die Schleife. Die Spannung wird unerträglich, die Luft ist zum Zerschneiden. Der Kellner lässt vor Schreck beim Vorbeigehen einen Aschenbecher fallen.

Endlich klappt Paula den Deckel auf: «Oh, Oskar!! Ein intransitiver Kreisel! Das ist ja ausgefallen und passend und praktisch zugleich! Und in massivem Silber. Ein wahres Schmuckstück!» Oskar ist zunächst erleichtert, dann enttäuscht, dass Paula nicht enttäuscht ist, und dann wieder beeindruckt, dass Paula dieses Teufelswerkzeug sofort als solches erkannt hat. «Ich wollte dir zum Geburtstag eine Chancenverbesserung von 5 : 4 auf 2 : 1 schenken», stottert er.

Oskars intransitiver Kreisel aus massivem Silber

«Aber das wär doch wirklich nicht nötig gewesen», stottert nun auch Paula, «ich hab dich doch schon gewonnen, oder?»

«Äh, ja, schon … aber mit diesem Kreisel werd ich dir in Zukunft noch mehr zur Verfügung stehen. Er hat ähnliche Eigenschaften wie die oben erwähnten Würfel und Münzen. Er ist intransitiv, wie du schon sagtest. Bei diesem Kreisel sind die äußeren Segmente mit den Zahlen 1, 2 und 3 und die Winkel zwischen den Pfeilen in der nebenstehenden Figur exakt gleich groß. Der innere Teil mit den Pfeilen a, b und c ist frei drehbar. Wenn der Innenteil steht, zeigen alle Pfeile auf eine andere Zahl. Folgendes lässt sich schnell zeigen:

 

b schlägt a mit 2 : 1,

c schlägt b mit 2 : 1,

und

a schlägt c mit 2 : 1.

 

Wenn du mich in Zukunft, wenn die Rechnung kommt, zuerst einen Pfeil wählen lässt, kannst du dir immer einen aussuchen, mit dem du eine doppelt so hohe Gewinnchance hast wie ich. – Aber heute lade ich dich natürlich sowieso ein.»

«Ich verspreche, diesen Kreisel nie gegen dich einzusetzen! Aber zum Beispiel gegen Kollegen, wenn es darum geht, wer den Kaffee kocht. – Ach, übrigens, nach dem Nachtisch … gehen wir dann zu dir oder zu mir? Such dir mal einen Pfeil aus!»

Wir wissen nicht, wo Paula und Oskar hingehen, aber wir wissen jetzt, dass die Wahl von Getränken oder Politikern von der Reihenfolge abhängen kann, mit der die Kandidaten präsentiert werden. Selbst ständiger Fortschritt, immer «bessere» Würfel oder gar ständiges Bergauf-Laufen (siehe Abbildung) führen nicht unbedingt zu einem höheren Ziel. Wenn der Weg das Ziel ist, sollte das aber auch ohne «Auapyrin» niemandem Kopfschmerzen bereiten. Sehr weit verbreitet sind Kopfschmerzen allerdings im Zusammenhang mit bedingten Wahrscheinlichkeiten, mit denen wir uns in den nächsten Kapiteln beschäftigen werden.

«Es geht aufwärts! Hurra!» M. C. Escher nachempfundenes Hamsterrad. Mit Scheuklappen ausgestattet empfindet die betroffene Person die Situation nicht als unangenehm.

Weiterführender Link

http://condorcet.org/​rp/​arrow.shtml