Hiltrud Leenders

Michael Bay

Artur Leenders

Kesseltreiben

Kriminalroman

Eins

«Kessel? Wat is’ dat denn für ’ne Schnapsidee?», ereiferte sich Ackermann. «Da haste die freie Auswahl, un’ du ziehs’ ausgerechnet in so ’n Kaff, wo einer dem andern innen Kochpott spucken kann.»

«Wieso regst du dich denn so auf? Du wohnst doch selbst in einem Dorf», verteidigte Bernie Schnittges sich.

«Ha! Ich bin da ja auch geboren.» Ackermann hob den Zeigefinger. «Un’ dat is’ wat ganz anderes.»

Schnittges lachte. «In Kessel kenne ich ein paar Leute, und ich denke mir, da ist so ein Neuanfang ein bisschen leichter.»

«Ach wat!» Jupp Ackermann lehnte sich gegen den Kotflügel seines Autos und schlug bequem einen Fuß über den anderen. «Du kenns’ also jemand in Kessel. Erzähl ma’!»

Schnittges stand auf heißen Kohlen. «Ein anderes Mal gern, Jupp, aber jetzt muss ich wirklich los. Der Möbelwagen soll um fünf ankommen.»

Ackermann riss die Augen auf. «Wie, dein Umzug is’ schon dies’ Wochenende? Warum sags’ du denn nix? Man hilft doch gerne.»

«Das ist echt nett von dir, aber meine Geschwister kommen, da hab ich genug Hilfe. Viel zu tun gibt es sowieso nicht, ist ja ein Neubau.»

«Wenn du et sags’. Gib mir trotzdem ma’ deine Adresse. Dann spring ich morgen kurz bei dir rein. Vielleich’ is’ ja doch noch wat zu tun.»

«Seeweg 48d», antwortete Schnittges und klopfte Ackermann kurz auf die Schulter. «Ich bin dann weg.»

Josef Ackermann schaute dem jungen Kollegen hinterher, wie er um die Ecke des Präsidiums zum Parkplatz lief, wo sein Wagen stand. Ein feiner Kerl, der Bernie. Er war jetzt seit fast fünf Monaten beim Klever KK11, hatte bisher aber noch täglich zwischen seiner Wohnung in Krefeld und dem Niederrhein gependelt.

Eigentlich hatte sich Ackermann selbst auf die freie Stelle bei der Mordkommission bewerben wollen, aber seine Frau hatte ihm die Idee ausgeredet. So war er dann doch beim Betrugsdezernat geblieben und mittlerweile ganz froh darüber. In seinem Bereich machte ihm keiner mehr was vor, und Guusje hatte recht: Mit über fünfzig musste man sich kein Bein mehr ausreißen.

Er wusste auch gar nicht, ob es ihm überhaupt gefallen hätte bei der Mordkommission, wo doch alles so anders geworden war.

Helmut Toppe, mit dem er immer am liebsten zusammengearbeitet hatte, war inzwischen Chef geworden und hatte mit der Ermittlungsarbeit nichts mehr am Hut, saß nun auch in einem anderen Trakt in einem schnieken Büro, und man bekam ihn kaum noch zu Gesicht.

Jetzt war Norbert van Appeldorn der Leiter der Truppe und seitdem noch komischer als früher. Nun ja, der musste sich wohl auch erst mal an den neuen Posten gewöhnen.

Und dann Astrid – ob die jemals wieder zur Kripo zurückkommen würde, stand in den Sternen. Für sie hatte man vor acht Wochen die kleine Engländerin eingestellt, mit der er noch nicht so recht warm geworden war.

Ackermann seufzte, er war bestimmt der Letzte, der etwas gegen Neuerungen hatte, aber so langsam wurde es sogar ihm ein bisschen zu viel.

 

Bernie Schnittges schloss die Haustür und atmete erleichtert auf – endlich Ruhe. Selbstverständlich war er froh, dass seine Geschwister ihm beim Umzug geholfen hatten, aber so eine geballte Ladung Familie war auch anstrengend.

Noch bevor gestern Nachmittag der Möbelwagen aus Krefeld angekommen war, hatten sie alle fünf bei ihm vor der Tür gestanden, jeder mit Isomatte und Schlafsack unter dem Arm. Und erst jetzt, sechsundzwanzig Stunden später, hatten sie entschieden, dass er nun allein klarkäme. Allerdings nicht, ohne Vorsorge zu treffen: Monika hatte ihm einen Auflauf dagelassen, damit er heute Abend nicht mehr kochen musste – «vierzig Minuten in den Ofen bei zweihundert Grad», hatte sie ihm mindestens viermal eingebläut –, und Lara war nachmittags noch einkaufen gefahren und hatte dann seinen Kühlschrank gefüllt – «du willst doch wohl morgen nicht ohne Frühstück dastehen». Verflixt, er hatte sie gar nicht gefragt, wo sie gewesen war. Gab es im Dorf einen Lebensmittelladen?

Er ging in die Küche und schaltete den Backofen ein. Hier sah es schon ganz heimelig aus. Gut, die Küchenzeile, die zur Hauseinrichtung gehörte, wirkte ein bisschen steril, aber das machte der alte Holzschrank, den er seiner Großmutter abgeluchst hatte, eindeutig wett, und die Kräutertöpfe auf der Fensterbank, die seine kleine Schwester Tonja mitgebracht hatte, sahen nicht nur nett aus, sondern rochen auch noch gut.

Er stieg die Treppe zum Wohnzimmer hinauf – dreißig Quadratmeter, Fenster bis zum Boden –, eigentlich ein schöner Raum, aber noch reichlich kahl. Die Sitzgruppe aus seiner alten Wohnung wirkte verloren, und es fehlten Teppiche, ein paar schöne Lampen und Bilder. Na ja, das würde sich alles finden, wenn er sich erst einmal eingelebt hatte.

Er wollte gerade wieder hinuntergehen, um den Auflauf in den Ofen zu schieben, als er Schüsse hörte.

Schnittges lief zum Fenster. Die Knallerei war von weiter her gekommen. Er sah auf die Uhr.

Auf der anderen Straßenseite dehnte sich ein großes Feld bis zum Gebäude des Schwimmbads. Vier oder fünf Jäger standen dort in weitem Abstand, die Büchsen in der Hand. Links hinter den Häusern zog sich ein Wäldchen am alten Baggerloch entlang. Auf dem Acker vor ihm stoben ein paar Vögel auf, und wieder schossen die Männer.

Bernie Schnittges fuhr sich über das müde Gesicht – irgendeinen Sinn würde das da drüben wohl haben –, er war ein Stadtkind und hatte nicht die geringste Ahnung von der Jagd.

Er ließ die Jäger Jäger sein und ging zum anderen großen Fenster hinüber. Das Haus nebenan und die beiden gegenüber standen noch leer, gemütlich war das Neubauviertel nicht, die wenigen Bäume und Sträucher zu mickrig, die Rasenflächen dünn. Sein eigener Garten bestand bisher nur aus platt getretener Erde, aber das wollte er bald ändern. Als Erstes würde er eine Hecke pflanzen, damit man den hässlichen Zaun nicht mehr sah, der sein Grundstück einfasste.

Kessel – von dem Dorf hatte er schon gehört, lange bevor er nach Kleve gekommen war.

Seit seiner Schulzeit spielte er leidenschaftlich Laientheater, was die neuen Kollegen Gott sei Dank noch nicht herausgefunden hatten, und er war den Schauspielern vom Kesseler «Tingeltangel-Theater» schon öfter auf Festivals begegnet. Es waren nette Leute, und er hatte keinen Zweifel, dass sie ihn mit Freuden ins Ensemble aufnehmen würden.

Ein Auto brauste mit hoher Geschwindigkeit am Haus vorbei, dann quietschten Bremsen, aber als er zum vorderen Fenster kam, war nichts mehr zu sehen.

Der Himmel im Westen hatte sich rosa gefärbt, das bedeutete wohl, dass es auch morgen wieder warm würde. Was für ein Wetter, sonnige achtundzwanzig Grad, und das im April! Morgen hatte er noch dienstfrei. Ob das Freibad drüben schon für die Saison geöffnet hatte? Oder vielleicht konnte man am alten Baggerloch auch irgendwo wild baden, wäre schön im Sommer, nachts, bei Vollmond.

Simone, dachte er und spürte, wie sein Magen sich verkrampfte.

Hör auf!, schalt er sich laut. Es war richtig gewesen zu gehen, eine echte Chance hatte er sowieso nicht gehabt.

Jetzt erst einmal etwas essen und dann in die Badewanne.

 

Sirenengeheul weckte ihn, an der Badezimmerdecke zuckten blaue Lichter.

Du meine Güte, er war tatsächlich in der Wanne eingeschlafen und fror jetzt wie ein Stint.

Als er sich gerade mit dem Handtuch warm rubbelte, klingelte es.

«Ruhiges Landleben», murmelte er, zog sich hastig seinen Bademantel über und lief die Treppe hinunter.

Vor der Tür stand Ackermann und machte ein zerknirschtes Gesicht. «Hab ich dich unter de Dusche weggeholt?»

«Macht nichts», sagte Schnittges freundlich. «Komm doch rein.»

Aber Ackermann blieb stehen und deutete mit dem Kinn Richtung Acker. «Wat is’ denn dahinten los?»

Schnittges zuckte die Achseln. «Ich habe keine Ahnung. Aber jetzt komm rein. Mir ist kalt, ich muss mir was anziehen.»

«Okay.» Ackermann drückte ihm ein Päckchen in die Hand, das in ein kariertes Küchenhandtuch eingewickelt war. «Salz un’ Brot», sagte er, «wie et so Sitte is’.» Dabei grinste er und schaute sich neugierig in der Diele um. «Feine Hütte, Bernie. Haste die gekauft?»

Schnittges schüttelte den Kopf. «Nur gemietet. Danke, übrigens, nett von dir. Pass auf, ich lauf schnell nach oben und ziehe mich an. Da vorn ist die Küche, Bier steht im Kühlschrank. Bedien dich einfach und komm dann hoch ins Wohnzimmer, ja?»

Als Schnittges aus seinem Schlafzimmer kam, hatte Ackermann es sich mit einer Bierflasche in der Hand auf dem Sofa gemütlich gemacht. «Ich staun’ Bauklötze, du has’ wirklich alles schon fertig.»

Schnittges lächelte und nahm die andere Bierflasche, die Ackermann mitgebracht hatte, vom Tisch. «Nun ja, so einigermaßen.»

Sie prosteten sich zu und tranken. «Aber da fehlt noch so manches», meinte Schnittges dann. «Ich weiß zum Beispiel noch nicht, was ich mit dem Wintergarten anfangen soll.»

Ackermann breitete die Arme auf der Sofalehne aus. «Den kleinen Glasbau neben der Küche? Also, wenn de mich frags’, ich würd’ da ’n Esszimmer draus machen, mit Rattanmöbel oder so. Stell ich mir ganz gemütlich vor.»

Schnittges setzte sich in den Sessel und nickte nachdenklich. «Gar keine schlechte Idee. Sag mal, kennst du dich ein bisschen im Gartenbau aus?»

Wieder brauste ein Wagen mit Sirenengeheul vorbei.

Ackermann sprang auf und lief zum Fenster. «Jetz’ guck dir dat an! Dat muss wat Größeres sein. Sieht aus, als wär’ dat bei ‹Ophey›.»

Schnittges, der ihm gefolgt war, runzelte fragend die Stirn.

«Dat is’ dieser Wellnesstempel», erklärte Ackermann. «Haben aber auch ’n ganz gutes Restaurant.»

Inzwischen war es dunkel geworden, und man konnte drüben auf der anderen Seite des Ackers bis auf die Blaulichter kaum etwas erkennen.

Ackermann schnappte plötzlich nach Luft und packte Bernies Arm. «Los, komm mit, mach voran!»

«Spinnst du?», schüttelte Schnittges ihn ab. «Ich bin doch kein Gaffer.»

Doch Ackermann zeigte nur stumm auf das Auto, das gerade am Haus vorbeifuhr, und da verstand Schnittges – es war van Appeldorns Wagen.

Ackermann zappelte vor Aufregung. «Jetz’ komm in die Pötte, Bernie! Quer über ’t Feld ging et am schnellsten, aber da ham se grad eingesät, dat tut man nich’. Nimm aber trotzdem für alle Fälle ’ne Taschenlampe mit, sons’ brechen wir uns die Knochen, so finster, wie dat hier überall is’.»

 

Sie liefen den Seeweg entlang und bogen in den stockdunklen Hohlweg zum Hotel ein.

«Vorsicht!», rief Schnittges und riss Ackermann zur Seite, um einen großen Wagen vorbeizulassen, der mit hoher Geschwindigkeit um die Kurve kam.

Ackermann beugte sich nach vorn und stützte die Hände auf die Knie. «Die Karre vom ED – van Gemmern», japste er. Dann richtete er sich auf und grinste Schnittges an. «Mann, Mann, über zwanzig Jahr’ is’ in diesem Kaff nix passiert, un’ kaum ziehs’ du hierhin …»

Bernies Handy klingelte. Es war die Zentrale: «Tötungsdelikt in Goch-Kessel. Norbert will dich dabeihaben. Schreib dir mal die Adresse auf.»

«Nicht nötig», antwortete Schnittges finster. «Ich bin schon vor Ort.»

Am Flatterband, mit dem man den Hotelparkplatz abgesperrt hatte, blieben sie stehen und schauten sich um.

Zwei uniformierte Kollegen beim Transporter der Spurensicherung nickten grüßend, dann schulterten sie Stative und Scheinwerfer und trugen sie zur Mitte des Platzes, wo Klaus van Gemmern dabei war, ein hohes, weißes Zelt aufzubauen. Ein dritter Kollege lief mit einer Kabeltrommel zur Tür des Restaurants. Dort scharten sich Schaulustige und drängten ins Freie, wurden aber von Peter Cox energisch ins Haus zurückgeschickt.

Ein Stück weiter links, unter der einzigen Laterne des Parkplatzes, entdeckten sie Norbert van Appeldorn, der mit einem älteren Mann sprach und sich dabei Notizen machte.

Schnittges schlüpfte unter dem Absperrband hindurch. In diesem Moment flammten im Zelt die Lampen auf und tauchten alles in der Umgebung in gleißende Helligkeit.

«Bernie!» Van Appeldorn war herangekommen. Im kalten Licht wirkten seine Gesichtszüge hart. «Das ging aber fix!»

Schnittges nickte. «Ich wohne gleich um die Ecke.»

«Ach, stimmt, du wolltest ja umziehen.» Dann entdeckte er Ackermann. «Was hast du denn hier verloren?»

«Ich habe Bernie besucht», erklärte Ackermann ungeduldig. «Wat is’ hier eigentlich los?»

«Ein Toter mit Schussverletzung», antwortete van Appeldorn. «Seht’s euch selbst an.»

Bernie Schnittges blieb im Zelteingang stehen. Der Tote lag auf dem Rücken, die Arme nah am Körper. Er trug einen hellen Anzug, ein gebügeltes Hemd und eine ordentlich gebundene Krawatte.

Schnittges schluckte. Dem Mann hatte es den halben Schädel weggefetzt, den Hinterkopf und einen Teil des Gesichts, aber man konnte noch erkennen, wie jung er war. Die Sommersprossen wirkten auf der fahlen Haut wie aufgemalt. Das heile Auge war weit aufgerissen und von einem strahlenden Blau.

«Mein Gott!», keuchte Ackermann, der sich an Schnittges vorbeigeschoben hatte.

Van Gemmern grunzte zustimmend, machte noch ein Foto und legte die Kamera in den Koffer zurück. «Sieht nach einem Hochgeschwindigkeitsgeschoss aus.»

Überall auf dem Asphalt klebten Knochensplitter, Hirnmasse, blutige Haut- und Fleischfetzen. «Die Schädelkalotte ist quasi weggesprengt worden.»

Er ging in die Hocke und fing an, die Taschen des Toten zu durchsuchen. Sorgfältig tütete er Autoschlüssel und einen einzelnen Schlüssel mit einem hölzernen Anhänger ein. Dann zog er ein rotes Lederportemonnaie hervor und schaute hinein.

«Rund zweihundert Euro in bar», sagte er. «Keine Kreditkarten, kein Ausweis.»

«Mist!» Auch van Appeldorn war jetzt hereingekommen.

«Dat et heutzutage noch jemand gibt, der kein Handy hat!», murmelte Ackermann kopfschüttelnd, aber niemand antwortete ihm.

«Was schätzt du, Klaus, wie lange ist er tot?», fragte Schnittges.

Van Gemmern kniff missbilligend die Lippen zusammen, besann sich dann aber. «Nicht viel länger als zwei Stunden, aber nagelt mich nicht darauf fest. Ich habe schon in der Pathologie angerufen, Bonhoeffer müsste bald hier sein.» Dann drückte er van Appeldorn zwei der Plastiktüten in die Hand, die mit dem Autoschlüssel behielt er. «Ein Citroën», sagte er. «Davon dürften hier nicht allzu viele herumstehen. Ich versuche gleich mal mein Glück.»

Van Appeldorn brummte zustimmend und fasste Schnittges an der Schulter. «Komm», sagte er. «Peter wartet in der Kneipe. Der Wirt hat uns einen Raum zur Verfügung gestellt.»

«Un’ ich?», fragte Ackermann vorsichtig, was bei van Appeldorn zu einem tiefen Seufzen führte. «Dann komm, in Gottes Namen, mit, wenn du sowieso schon da bist.»

Auf dem Weg ins Restaurant berichtete er ihnen das wenige, das er bis jetzt herausgefunden hatte: Bei «Ophey» im Saal wurde heute eine Hochzeit mit über hundert Gästen gefeiert. «Hundert Leute?» Schnittges stöhnte. Es würde Stunden dauern, die Gäste einzeln zu befragen.

«Ich bin ja auch noch da», meldete sich Ackermann, «un’ die grünen Jungs helfen bestimmt gerne.»

Van Appeldorn nickte zustimmend und fuhr mit seinem Bericht fort: Gegen Viertel nach acht war der Vater der Braut, ein Herr Wagner, nach draußen gegangen, weil er die Notizen für die Rede, die er halten sollte, in seinem Auto vergessen hatte. Dabei hatte er auf dem Parkplatz den Toten entdeckt.

«Er ist dann sofort in den Saal zurück und hat den Wirt verständigt, der die Zentrale angerufen hat. Der ist übrigens ganz pfiffig, der Wirt. Hat sich in die Tür gestellt und dafür gesorgt, dass keiner von den Gästen nach draußen ging, und hat gleichzeitig den Parkplatz im Auge behalten. Erst als wir kamen, hat er seinen Posten verlassen. Wagner sagt, er hätte den Toten vorher noch nie gesehen, er wäre auf keinen Fall auf dem Fest gewesen. Aber ich bin mir nicht sicher, was seine Aussage angeht. Der Mann ist ziemlich von der Rolle, und nüchtern ist er auch nicht mehr.»

 

Der Hochzeitsgesellschaft hatte es gründlich die Stimmung verhagelt. Die Leute standen in kleinen Gruppen zusammen und sprachen leise miteinander. Die Mitglieder einer Vier-Mann-Combo hatten ihre Instrumente weggestellt und stierten gelangweilt vor sich hin. Das opulente Nachspeisenbüfett war so gut wie unberührt.

Als die Kripoleute hereinkamen, verstummten die Gespräche, und die Braut im traditionellen Sahnebaiserkleid versuchte, die Männer mit Blicken zu erdolchen.

«Et is’ aber auch ’n Schand», flüsterte Ackermann. «Dat soll schließlich der schönste Tag im Leben sein, un’ dann so wat.»

Van Appeldorn räusperte sich. «Guten Abend, van Appeldorn, Kripo Kleve. Wir möchten gleich mit Ihnen allen kurz reden. Es dauert nur noch einen Moment.»

«Hier entlang», rief der Wirt vom Tresen her und zeigte auf den Durchgang hinter sich.

 

Peter Cox wartete in einer Kammer, in der überzählige Tische und Stühle gelagert wurden. Die Luft war voller Staub, obwohl das Fenster weit geöffnet war.

Cox hatte einen Tisch in die Mitte geschoben und holte Stühle heran. Als er Ackermann erblickte, hielt er inne. «Was machst du denn hier?»

Ackermann verdrehte die Augen. «Ich war auf Besuch bei Bernie.»

Von draußen hörte man das empörte Geschnatter einer Ente und wildes Geplätscher, jemand hupte.

Sie setzten sich.

«Der Tote hat keine Papiere bei sich», sagte van Appeldorn. «Nur einen Autoschlüssel, den Klaus auf dem Parkplatz ausprobieren will, und das hier.» Er zeigte Cox die beiden Plastikbeutel.

Ackermann zog den mit dem Schlüssel zu sich heran. «Dat könnt ’n Hotelschlüssel sein. Auf dem Anhänger is’ ’ne ‹3› eingebrannt.»

«Hier im Hotel hat er jedenfalls nicht gewohnt», bemerkte Cox. «Der Wirt sagt, er hat an diesem Wochenende nur eine Frauengruppe aus Münster zum Wellnessurlaub da. Ist Bonhoeffer schon gekommen?»

«Nein», antwortete van Appeldorn, «aber Klaus ist heute ausgesprochen leutselig. Er sagt, der Mann wäre vermutlich vor zwei Stunden gestorben.»

Schnittges schaute auf seine Uhr. «Es bedeutet wahrscheinlich nichts, aber vorhin haben drüben auf dem Feld ein paar Männer geschossen, sahen aus wie Jäger. Das war um 19 Uhr 8.»

Cox lachte leise. «Du hast auf die Uhr geguckt. Das kenne ich, Bullenreflex.»

«Denks’ du etwa, dat war ’n Jagdunfall?», rief Ackermann. «Im Leben nich’! Bei dem Geschoss?»

«Ich denke gar nichts», gab Schnittges zurück. «Ich wollte es nur erwähnen.»

Aber Ackermann ließ nicht locker. «Auf wat sind die denn gegangen? Et is’ nämlich überhaupt keine Jagdsaison, soviel ich weiß.»

«Ich habe keinen blassen Schimmer», meinte Schnittges geduldig. «Auf Vögel vielleicht?»

«Dat kann, doch, dat könnte sein …»

«Dann nehmen wir uns jetzt erst einmal die Leute im Saal vor», entschied van Appeldorn und blickte Schnittges an. «Wie sähe deine Personenbeschreibung aus, Bernie?»

Schnittges schloss kurz die Augen, bevor er sprach: «Junger Mann, Anfang bis Mitte zwanzig, etwa eins achtzig groß, schlank, kurzes rotblondes Haar, blaue Augen, Sommersprossen, gepflegte Erscheinung. Hellgrauer Anzug, Einreiher, grau-weiß gestreiftes Hemd, dunkelrote Krawatte, uni, schwarze Lederschuhe, schwarzer Gürtel.»

Zwei

Zu der Hochzeitsgesellschaft hatte der Mann nicht gehört, das war schnell klar, und es schien ihn auch keiner von den Gästen zu kennen. Schüsse wollte auch niemand gehört haben, das sei auch nicht weiter verwunderlich, belehrte man die Kripoleute, schließlich habe die Band gespielt.

Erst als sie zum Schluss das Personal befragten, hatten sie Glück; der Wirt und eine der Kellnerinnen glaubten, den Toten zu kennen.

Van Appeldorn atmete hörbar auf. «Dann kommen Sie doch bitte mit uns nach nebenan.»

Ackermann hielt die Tür zur Kammer weit auf. «Immer rein inne Sardinenbüchse!»

Es stellte sich heraus, dass der junge Mann in der vergangenen Woche dreimal bei «Ophey» gegessen hatte.

«Kam jedes Mal so gegen sieben, Viertel nach sieben», sagte die Kellnerin. «Ich glaube, das war am Montag, am Dienstag und am Donnerstag.»

«Stimmt genau», bestätigte der Wirt. «Hat immer Wasser getrunken und nach dem Essen ’n Grappa.»

«Wie hieß der Mann?», fragte van Appeldorn.

«Keine Ahnung», antworteten die beiden wie aus einem Mund, dann fuhr der Wirt fort: «Ich hab schon darüber nachgedacht, von wegen Kreditkarte, aber Essig, der hat immer bar bezahlt.»

«Und das da ist sein Portemonnaie», meinte die Kellnerin und zeigte auf den Plastikbeutel, der immer noch auf dem Tisch lag. «Ist mir aufgefallen, weil das doch eine komische Farbe ist für einen Mann.»

«Von hier kam der nicht», unterbrach sie der Wirt. «Das ist schon mal sicher. Sprach auch nicht so, obwohl, viel gesagt hat der sowieso nicht. Jedenfalls würden wir ihn kennen, wenn er aus Kessel käm’. Vielleicht hatte der ja geschäftlich hier zu tun, obwohl, für einen Geschäftsmann war er ja ein bisschen jung. Obwohl, aussehen tat er danach, ich mein’, immer im Anzug und so.»

«Wenn der geschäftlich hier war, dann hat er vielleicht wat mit de Kiesbaggerei zu tun», überlegte Ackermann.

«Hab ich auch schon drüber nachgedacht», stimmte der Wirt ihm zu. «Besonders, weil die da doch gerade wieder ein neues Stück erschließen wollen.»

«Fällt Ihnen sonst noch etwas zu dem jungen Mann ein?», unterbrach van Appeldorn ihre Spekulationen.

«Tut mir wirklich leid», meinte die Kellnerin, und der Wirt schüttelte bedauernd den Kopf.

«Hören Sie sich doch mal im Dorf um», riet er ihnen im Hinausgehen. «Wenn hier ein Fremder rumläuft, fällt das auf.»

«Da wären wir von selbs’ gar nich’ draufgekommen», murmelte Ackermann.

 

Sie waren gerade dabei, ihre Sachen zusammenzupacken, als van Gemmern kam.

«Der Leichenwagen ist da. Soll er ihn einpacken?»

«Ist Bonhoeffer denn schon fertig?», wunderte sich Cox.

«Jap, ist schon wieder weg, hatte keine Zeit. Todeszeitpunkt zwischen 18 Uhr 30 und 19 Uhr 30. Hochgeschwindigkeitsgeschoss, Patronenhülse haben wir noch nicht. Bonhoeffer kennt einen Waffenexperten, den ich gern hinzuziehen würde, einen Herrn von Rath.»

«Guntram von Rath», fiel ihm Ackermann ins Wort. «Den kenn ich, der hat in Grunewald ’n Schießstand unter sich. Guter Mann.»

«Fein», sagte van Gemmern trocken. «Ich habe das Auto gefunden, zu dem der Schlüssel passt, Düsseldorfer Kennzeichen. Hier, ich habe es notiert.» Er legte einen Zettel auf den Tisch. «Der Wagen ist innen wie geleckt, keine Papiere, nichts. Außen nicht mehr so, wie auch alle anderen Autos, auf denen sich der Schädel verteilt hat. Die dürfen nicht vom Fleck bewegt werden, bis ich mit denen fertig bin, und das kann eine Weile dauern.»

«Das wird die Leute draußen im Saal sicher noch heiterer stimmen», frotzelte Cox, schnappte sich den Zettel mit dem Autokennzeichen und ging zur Tür. «Ich mach mal über Funk die Halterabfrage.»

«Es gibt da ein Problem», fuhr van Gemmern fort. «So wie es aussieht, hat der Schütze in dem angrenzenden Gehölz gestanden, und da wird die Suche nach Spuren und nach der Patrone schon bei Tageslicht schwierig genug. Jetzt ist sie auf alle Fälle unmöglich.»

«Dann müssen wir das Waldstück schleunigst absperren lassen.» Van Appeldorn stand auf, aber van Gemmern winkte ab. «Schon erledigt.»

«Okay, dann mach Schluss für heute», sagte van Appeldorn. «Ich lasse über Nacht Wachen an der Absperrung.»

Sie gingen gemeinsam hinaus. Inzwischen war es deutlich abgekühlt – es war eben doch erst April –, und Schnittges fröstelte. In der Eile vorhin hatte er ganz vergessen, einen Pullover mitzunehmen.

Peter Cox saß in einem der Streifenwagen am Funk und schrieb sich etwas auf. Schließlich kam er zu ihnen. «Der Halter ist ein gewisser Sebastian Finkensieper, geboren am 26. Juni 1980, wohnhaft 40545 Düsseldorf, Kaiser-Wilhelm-Ring 219. Die K-Wache fährt die Adresse an. Sie melden sich gleich.»

«Vom Alter her könnt’ dat unser Jung sein, aber weiß man et?», meinte Ackermann.

«Kümmerst du dich um den Rest, Peter?», fragte van Appeldorn. «InPol-Anfrage, EMA-Daten, die ganze Palette. Am besten, du fährst ins Büro.»

Peter Cox deutete einen Salut an. «Ich denke, ich schalte auch die Zentralstelle in Berlin ein. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass so ein junger Kerl kein Handy hat.»

Als er zu seinem Wagen ging, den er hinter dem Hotel geparkt hatte, hörte er, wie im Saal ein Tumult ausbrach. Anscheinend hatte van Gemmern den Gästen gerade mitgeteilt, dass sie ihre Autos stehenlassen mussten.

«Zwanzig nach eins», stellte van Appeldorn fest. «Da werden wir die Anwohner wohl erst morgen befragen.»

«Heute», korrigierte ihn Ackermann. «Also, ich geh’ ja gerne Klinken putzen. Un’ ich kenn mich auch ’n bissken aus hier. Da vorne auf der rechten Seite am Baggerloch steht nur ein Haus. Da wohnt Kurt Goossens. Der war hier vor Jahren ma’ Ortsvorsteher, bis se den Titel abgeschafft haben. Hat gut anne Kiesbaggerei verdient, bei dem Grund, der dem gehört hat. Is’ übrigens auch der Jagdpächter hier. So an die hundertachtzig, zweihundert Hektar, würd’ ich schätzen.»

«Ackermann», presste van Appeldorn zwischen den Zähnen hervor.

Jupp Ackermann hob die Hände und grinste versöhnlich. «Ich weiß, ich weiß, is’ ja schon gut. Also, geradeaus is’ nur Wasser, un’ anner Ecke links kommt der Reiterhof. Dat heißt, wenn man die Straße langgeht, liegt der natürlich rechter Hand. Un’ ich mein’, wenn Bernie dahinten die Schüsse von den Jägern gehört hat, dann müsste man auch die Leute fragen, die vorne am Seeweg wohnen. Nicht wegen de Jäger, sondern wegen dem anderen Schuss …» Er brach ab und runzelte die Stirn. «Wenn der da vorne aus dem Büschken gekommen is’, dann muss dat aber ’n Superschütze gewesen sein. Dat sind doch sicher gut hundertfuffzig Meter, wenn nich’ sogar noch mehr.»

Sie schwiegen einen Moment.

«Was ist mit dem Hotelschlüssel?», fragte Schnittges dann. «Wir könnten uns das Branchenbuch vornehmen und die Hotels in der Umgebung abtelefonieren.»

Van Appeldorn machte eine vage Kopfbewegung. «Der Schlüssel sieht mir nicht so aus, als würde er zum Ersten Haus am Platz gehören, und dass die kleineren Klitschen einen Nachtportier haben, bezweifele ich. Nun denn, van Gemmern soll auf alle Fälle ein Foto von dem Schlüssel machen, das können wir dann zur Not an die Presse geben.»

Er zwinkerte, seine Augen waren trocken vor Müdigkeit.

Der Kollege vom Streifenwagen kam zu ihnen herüber. «Die K-Wache D’dorf hat sich gemeldet. An der besagten Adresse steht Finkensieper auf dem Klingelschild, aber da ist keiner zu Hause.»

«Danke.» Van Appeldorn unterdrückte ein Gähnen. «Ich fahre noch ins Präsidium und gucke, wie weit Peter gekommen ist. Und Helmut muss ich auch noch anrufen. Mach du Schluss für heute, Bernie. Team dann früh um halb acht.»

Schnittges rieb sich die Arme. «Mir ist schweinekalt. Kannst du Jupp und mich bei mir zu Hause absetzen, liegt an deinem Weg.»

 

Peter Cox steckte sein Handy wieder ein und lächelte versonnen vor sich hin.

Am Britischen Ehrenfriedhof war er auf den Parkplatz gefahren und hatte Penny angerufen – so viel Zeit musste sein. Sie hatte noch nicht geschlafen, sondern auf ihn gewartet und dabei offenbar munter weiter in ihrem neuen Heim gewerkelt.

Es war alles so rasend schnell gegangen mit ihnen beiden, aber er fühlte sich kein bisschen überfahren, nicht einmal verwirrt. Penny Small, eine Kollegin aus Worcester, und er hatten sich erst im vergangenen Frühling kennengelernt, als sie für kurze Zeit bei ihnen im Team mitgearbeitet hatte, und waren sich sofort sehr nahegekommen.

Beide hatten sie nicht einen Augenblick daran gezweifelt, dass sie zusammenbleiben würden, und Penny, die einen englischen Vater und eine deutsche Mutter hatte und beide Sprachen fließend beherrschte, hatte sich kurzerhand auf einen Posten beim KK11 beworben. Eigentlich war es aussichtslos gewesen, aber dann hatte Astrid Steendijk, Toppes Lebensgefährtin, ihren Job bei der Kripo von heute auf morgen an den Nagel hängen müssen, nur dadurch war eine Stelle frei geworden. Seitdem glaubte Cox an das Schicksal.

Penny war kein Mensch, der halbe Sachen machte, und hatte ohne langes Federlesen ihr kleines Haus in England verkauft und mit ihm zusammen das Haus in Kleve angeschafft, in dem sie jetzt seit fast vier Wochen campierten – Wohnen konnte man es noch nicht nennen. Es war ein schönes altes Haus oben an der Lindenallee, aber es musste noch sehr viel daran getan werden, nur deshalb hatten sie es überhaupt so günstig bekommen können.

Und so mutierte Peter Cox, der in seinem ganzen Leben nicht einmal eine Wand gestrichen, geschweige denn einen Parkettboden verlegt oder ein Dach isoliert hatte, jetzt in jeder freien Minute zum Heimwerker, und mit Penny zusammen, die handwerklich mehr als geschickt war und eine Engelsgeduld hatte, genoss er jeden Moment davon.

Cox ließ den Wagen an und schmunzelte in sich hinein. Zum ersten Mal war sein Leben rund, und daran konnte auch dieser Mord nichts ändern.