Roger Cicero

Weggefährten

Meine Songs fürs Leben

Mit Nils Jung

Inhaltsverzeichnis

Prelude

Intro

Alone Again

Kinderferienträume

Mario Lanza

Live

Kool Roy

Den Naturgewalten ausgeliefert

Songs In The Key Of Life

Abenteuerlust

The Beatles

Verlust und Schmerz

Sometimes It Snows In April

Beste Unterhaltung

Victor Borge

Schmetterlinge im Bauch, Engel in der Luft

Moody’s Mood

Jazz ist anders

I Wish You Love

Das Streben nach Perfektion

Sinatra Live At The Sands

Der Duft der großen, weiten Welt

Move on up

Songs, die Halt geben

I Was Brought To My Senses

Musik, um andere zu unterhalten

On Broadway

Süße Melancholie

From The Morning

Pure Inspiration

How Come You Don’t Call Me Anymore

Gefährlich bei Dunkelheit

Grace

Hoffnung in Reinform

Brighter Day

Feeling ist Gott

Al Green

Nur genießen

Billie, Eva, Chaka und Joni

Kathrin

I’ve Just Seen A Face

Outro

Alone Again

Roger dankt:

Rechtenachweis

Bildnachweis

Prelude

Die Lieblingsbeschäftigung aller Musiker ist, hemmungslos über Musik zu schwafeln. Das Klischee stimmt. Insofern würde dieses Buch ein Geschenk an mich selbst werden, so dachte ich mir. Ich könnte einfach meiner Leidenschaft nachgehen, diesmal eben in schriftlicher Form.

 

Doch unverbindlich über Musik reden oder Musik treffend beschreiben, das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Letzteres ist gar nicht so einfach. Das merke ich immer wieder, wenn ich beispielsweise in Interviews dazu aufgefordert werde. Musik ist in erster Linie zum Hören gemacht, nicht um darüber zu schreiben oder zu lesen. Stimmt – im Prinzip. Aber natürlich liegt der Zauber von Musik auch nicht einfach nur in einem Haufen Töne, der in eine halbwegs sinnvolle Ordnung gebracht wurde. Es gibt viele Aspekte, die weit darüber hinausgehen. Musik ist ein sinnliches Erlebnis, keine reine Kopfsache. Und es gibt viel über Musik zu erzählen, weil Musik eben selbst so viel zu erzählen hat. Aus dem Leben zum Beispiel. In diesem Fall aus meinem Leben.

 

Die Songs, um die es in diesem Buch geht, sind für mich untrennbar mit bestimmten Gefühlen oder Ereignissen verbunden. Ich kann mich an kaum eine einschneidende oder wegweisende Situation meines Lebens erinnern, die nicht von einem Titel oder Musiker geprägt worden wäre – ich erinnere mich in Songs, das ist so. Vermutlich geht es vielen Menschen ähnlich: Die erste große Liebe, wilde Jugendjahre, später vielleicht die Erlebnisse mit den eigenen Kindern – was auch immer, oft gehört eine bestimmte Musik einfach dazu. Und wenn man sich das bewusst macht, scheint Musik fast wie ein Speicher voller nahezu greifbarer Erlebnisse zu sein. Vielleicht weil sie auf einer sinnlichen Ebene immer auch an Gefühle erinnert, nicht nur an die tatsächlichen Geschehnisse, die wir wie Szenen eines Films sehen. Musik erst macht den Film zum Kino.

In jedem Fall wohnt einem guten Song immer eine gewisse Magie inne. Er löst bei mir intensive Emotionen aus, die ich meist nicht wirklich benennen kann. Auch nicht konkret beschreiben, denn Worte bilden automatisch Kategorien, und kategorisiert würde ein Gefühl nicht korrekt wiedergegeben, sondern verändert oder verfälscht. Und Emotionen sind schließlich dazu da, um gefühlt zu werden, nicht um sie in Schubladen zu zwängen, die meist sowieso nur klemmen. Bestimmte Songs geben mir den Raum, Emotionen zu erleben, ohne sie bewerten oder zumindest rational erfassen zu müssen. Einfach so, ohne Denken, gehen sie direkt ins Herz. Ein guter Song ermöglicht mir ein Schwelgen in Gefühlen, der braucht kein Etikett. Das war schon immer so.

 

Im Titel des Buches und in seinen Kapiteln geht es fast immer ausdrücklich um Songs, nur selten um andere Formen von Musik, genau wie in diesem Vorwort. Das hat ganz einfache, persönliche Gründe. Ich bin in erster Linie Sänger, auch wenn meine Eltern da ursprünglich andere Pläne hatten. Natürlich faszinieren mich Ausdruck, Klang und Farbe anderer Stimmen – das ist seit jeher mein erster Anknüpfungspunkt gewesen. Ich habe mir Musik schon immer über die Stimme erschlossen, zumeist mit meiner eigenen. Es gibt Ausnahmen, doch normalerweise ist es so: Ich muss ein Stück auf der Gitarre oder auf dem Piano spielen und dazu singen, um es wirklich nachvollziehen, verstehen und nachempfinden zu können.

Sich einem Song auf diese Weise zu nähern bedeutet automatisch, die akustische Oberfläche der Musik zu durchdringen. Es ist schon sehr spannend, was in einem Song alles passiert, was sich in ihm verbirgt und dann nach und nach zeigt. Die erste Begegnung ist meist eine einzige herausragende Interpretation eines Titels, die sich fest in die eigenen Gehörgänge eingebrannt hat und die erst mal alles andere überdeckt – unverrückbar. Das geht mir wie allen anderen auch. Aber die Songs selbst sind ja nicht statisch, wenn man einmal allen Zierrat beiseiteräumt und einen tieferen Blick wagt. Besonders Jazzmusiker schauen meist losgelöst vom ursprünglichen Interpreten auf ein Stück: Ein guter Song wird im Kern als eine tiefe, ehrliche und gekonnt ausformulierte Emotion betrachtet. Und um diesen Kern wahrnehmen zu können, muss man den Song zunächst unbedingt erst mal von der ganzen Produktion, von Arrangement, Interpretation und mitschwingendem Zeitgeist befreien. Erst dann kann man die Seele des Songs erkennen und ihn sich zu eigen machen. Das bedeutet, den Song mit eigenen Gefühlen in Verbindung zu bringen, ihn zu filtern, um ihn schließlich authentisch wiedergeben zu können. Einer meiner Dozenten in Holland sagte dazu einmal sehr treffend, ein Song sei wie ein Weihnachtsbaum: Man könne ihn auf zig verschiedene Weisen schmücken, es bleibe aber dennoch immer der gleiche Baum. Einen guten Song kann man sich also als Baum vorstellen, der über einen stabilen Stamm und genügend Äste zum Schmücken verfügt, sodass er viel Gestaltungsspielraum bietet.

 

Es gibt eine Menge ganz unterschiedlicher Musik, die mir gut gefällt. Und je mehr ich höre, desto mehr wird es – aus allen Richtungen, ich laufe nicht mit Scheuklappen durchs Leben. Doch «meine» Songs, um die es in den folgenden Kapiteln geht, haben einen ganz besonderen Stellenwert, weil sie sich in bestimmten Lebenslagen bei mir regelrecht angedockt haben und mir seitdem zu treuen Begleitern geworden sind. Während der Arbeit an diesem Buch haben diese Stücke viele Bilder und Anekdoten hervorgerufen, an die ich mich, ohne sie zu hören, vermutlich gar nicht mehr hätte erinnern können. Es war fast so, als hätte ich ein Best-Of-Album zusammengestellt – eine Kombination aus Musik- und Fotoalbum.

Dementsprechend ist es ein sehr persönliches Musikbuch geworden. Subjektiv und ohne Distanz, impulsiv und sprunghaft, durchzogen von Fachsimpeleien und eigentlich belanglosen Dingen, die mir aber wichtig sind, zum Beispiel schamlose Loblieder auf meine großen Helden.

Trotzdem oder vielmehr deswegen hoffe ich, das Buch vermittelt etwas – so, wie nur Musik etwas vermitteln kann. Vor allem Spaß, denn den hatte ich beim Verfassen. Und den habe ich auch immer wieder beim Hören «meiner» Songs.

 

Roger Cicero, im April 2010

Intro

Alone Again

Es sollte nach Rumänien gehen. Meine Familie väterlicherseits stammt aus einem kleinen, etwas abgelegenen Bergdorf in den Karpaten, das früher im Winter oft völlig von der Außenwelt abgeschnitten war. Seit dem Tod meines Großvaters lebte meine Oma allerdings in Cluj, ehemals Klausenburg. Kein Problem, jetzt war ohnehin Sommer, und mein Vater hatte mich eingeladen, gemeinsam mit ihm die große und weitverzweigte Familie zu besuchen. Kaum hatte ich also meinen 14. Geburtstag gefeiert, zu Hause bei meiner Mutter in Berlin, machte ich mich auf den Weg zu meinem Vater nach Zürich. Ohne zu wissen, was mir bevorstand – ich war schließlich noch nie «drüben» gewesen.

 

Das Erste, was mich erwartete, war die Reise in einem grotesk überladenen Auto. Zu Ostblock-Zeiten war ein solcher Familienbesuch eine komplizierte Angelegenheit, die viel Vorbereitung verlangte. Vor allem was die Mitbringsel betraf: Kofferraum, Rückbank, Dachgepäckträger, sogar der Fußraum waren restlos angefüllt mit Alltagsdingen. Konservendosen und Klamotten, Kosmetika, Haarspray, Zahnpasta und – warum auch immer – haufenweise Nylon-Strumpfhosen. Wir hatten alles dabei. Stangenweise Zigaretten nicht zu vergessen, die waren in einigen Gefilden ja fast so etwas wie eine Währung. Nur die Plätze vorn und der Blick durch die Windschutzscheibe blieben noch halbwegs frei – Verkehrssicherheit war jedoch etwas anderes. Der Audi 100 meines Vaters bot einen unvorstellbaren Anblick. Und noch dazu in dieser Farbe: Hellgrün-Metallic. Das tat schon in den Augen weh! Ich habe selten eine hässlichere Lackierung gesehen. Aber mein Vater hat diese Karre geliebt. Ich erinnere mich noch, wie er mich am Zürcher Flughafen voller Stolz ins Parkhaus führte, ich sollte raten. «Der Schönste ist meiner!», sagte er im Brustton der Überzeugung, mit einem glücklichen Funkeln in den Augen. Auf seinen Wagen hätte ich mit Sicherheit als Letztes gezeigt.

 

Von Zürich aus ging es mit dem Autozug durch Österreich, von dort auf vier Rädern durch Ungarn nach Rumänien. Insgesamt drei Tage für etwa 1500 Kilometer, wobei die Zugfahrt bloß einige Stunden in Anspruch nahm. Den Großteil der Reisedauer verbrachten wir also im prallgefüllten Audi.

Und kaum raus aus dem Autozug, wurde es holprig. Mein Gott, was war das denn? Schon nach kurzer Zeit wurde mir schwummrig, während mein Vater den Wagen in gemäßigtem Tempo über die ungarischen Schlaglochpisten manövrierte. Er schaute amüsiert zu mir herüber und sagte, ich solle mich nicht so anstellen, das ginge doch noch. Und er hatte recht: In Ungarn konnte man noch «Schlaglöcher» dazu sagen – auf den rumänischen Überlandstraßen dagegen taten sich Krater von der Größe halber Autos auf, denen man ausweichen musste, wenn man heil sein Ziel erreichen wollte.

Wie die Straßen, so die Zöllner: Während wir die Grenze nach Ungarn noch ohne größere Probleme hatten passieren können, verlangten die rumänischen Beamten unumwunden 2000 Dollar, um den Schlagbaum zu öffnen. Wir mussten sie also schmieren. Das war auch kein Geheimnis, Westwaren durften nicht einfach so eingeführt werden, und wir hatten ja wirklich ein halbes Kaufhaussortiment im Wagen. In solchen Fällen wurden «Gefälligkeiten» wohl ganz selbstverständlich erwartet, mein Vater schien jedenfalls nicht überrascht. Im Gegenteil, er hatte scheinbar Übung in solchen Situationen: Es wurde verhandelt, argumentiert und gestikuliert; ich verstand kein Wort, aber am Ende wechselten zwei Stangen Marlboro den Besitzer, und wir waren durch.

Solche Aufreger waren Highlights. Abgesehen davon langweilte mich die Fahrt enorm. Mit meinem heutigen Wissen hätte ich der Strecke durch den damals wirklich «Wilden Osten» mit Sicherheit etwas abgewinnen können, aber mit 14 schaut man nicht aus dem Fenster. Mein Unmut wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass der Wagen keine Klimaanlage hatte – ich ging kaputt vor Hitze. Aber natürlich gab es ein Kassettendeck, also hörten wir Musik, um uns die Zeit zu vertreiben. Das gehörte zu den Dingen, die wir immer schon gut gemeinsam tun konnten. Allerdings gab es selten Gelegenheit dazu, und wenn, dann nur kurz. Jetzt hatten wir Zeit im Überfluss, und mein Vater war in seinem Element.

 

Es gab eine Zeit, in der hatte ich mich seinen Vorstellungen von Musik konsequent verschlossen. Kein Wunder: Als ich klein war, hatten meine Eltern einen kleinen Mozart aus mir machen wollen und mich im Alter von vier Jahren ans Klavier gesetzt, was mir damals ganz gewaltig gegen den Strich gegangen war. Mein Vater hatte bis dato schon eine steile Karriere als Pianist hingelegt. Er galt als der talentierteste Jazzpianist im gesamten Ostblock, bis er sich während einer Tournee nach Westberlin absetzte. Und kaum war er im Westen, stand er regelmäßig mit internationalen Größen wie Errol Garner, Stan Getz oder gar Josephine Baker auf der Bühne, erwarb sich den vielsagenden Spitznamen «Mr. Golden Hands» und produzierte mit seinem Album «Rokoko Jazz» einen weltweiten Millionen-Seller.

1972, mit Eugen

Eine ziemlich ehrfurchteinflößende Erfolgsliste, von der ich als kleines Kind natürlich nichts wusste. Aber den immensen Anspruch meines Vaters, den musste ich wohl gespürt haben. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass sein Sohn ihm in Talent und Freude am Klavierspiel nachkam. Er selbst hatte auch mit vier Jahren zu spielen begonnen – allerdings freiwillig –, im Alter von zehn dann bereits bei der ehrwürdigen Aurelia Cionca studiert, der letzten Schülerin von Franz Liszt. Sie war eine absolute Weltklassepianistin. Und so setzte er mir, ganz wie es sich für ihn gehörte, eine alte, gestrenge Matrone als Lehrerin vor die Nase. Was natürlich zum Scheitern verurteilt war.

Mit meinem kindlichen Dickschädel rebellierte ich gegen das Wunschdenken meiner etwas verdutzten Eltern – mir war nicht beizukommen, und musikalisch war erst mal Sendepause. So lange, bis ihre Versuche mit dem Klavier endlich ein Ende hatten. Denn eigentlich fand ich Musik schon spannend, aber ich brauchte einen anderen Zugang – den ich wenig später in Gesang und Gitarre fand. Kein Notenpauken, keine Fingerübungen und trockenen Lehreinheiten mehr, stattdessen zwei Akkorde, ein paar Zeilen Text, und schon ging es los. Ein Traum! Seitdem erschließe ich mir Musik über Melodie und Begleitung. Und über Songs. Nur war mir das nicht bewusst gewesen bis zu dieser langen Autofahrt, bis zu dem Zeitpunkt, als mein Vater anfing, genau darüber zu sprechen.

1970, mit Josephine Baker, falsch datiert von Eugen

Er erklärte anfangs beiläufig, was das Besondere, das Außergewöhnliche an dem jeweiligen Titel war und was ganz allgemein einen guten Song ausmacht. Er sprach über Dynamik, Aufbau und Dramaturgie, über den Spannungsbogen, der irgendwo anfängt, seinen Höhepunkt erreicht, zum Schluss aber auch wieder nach Hause finden muss – oder aber sich linear steigert, um dann auf dem Höhepunkt zu enden. Bisher hatte ich die Songs, die ich mochte, immer nur oberflächlich betrachtet und nachgesungen, wenn ich konnte. Nun eröffnete mein Vater mir einen Blick hinter das Offensichtliche. Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf die vielen kleinen, aber entscheidenden Details, die man in einem Song erlauschen kann. Und mein Interesse an seinen Ausführungen wuchs.

 

Während der Reise legte mein Vater mir viele musikalische «Perlen» ans Herz. Musik von Errol Garner etwa, den er sehr verehrte; ich erinnere mich auch an Titel von Michel Legrand, einem absoluten Ausnahmekomponisten. Beeindruckend fand ich auch Songs von Manhattan Transfer mit ihrem sehr schwierigen Close-Harmony-Gesang, noch dazu, weil mein Vater die Musiker persönlich kannte.

Das Kassettendeck hatte keine Suchfunktion, wir mussten also zurückspulen, wenn wir einen Song noch einmal hören wollten. Und das passierte häufig, denn mein Vater erklärte leidenschaftlich und akribisch, bis man einen Titel und seine Besonderheiten wirklich durchdrungen hatte. Irgendwann begannen wir während des Spulens zu zählen, um abzuschätzen, wann wir die Stopptaste drücken mussten. Ein Spiel – aus der Ungeduld geboren. Bald hatte jeder Song seine eigene Zahl, und wir trafen exakt die Pausen zwischen den Stücken.

 

Bei «Alone Again» von Gilbert O’Sullivan mussten wir bis 21 zählen, das weiß ich heute noch. Ein sehr, sehr trauriger Titel, zumindest was den Text angeht. Auch die Melodie hat eine gewisse Melancholie, entschärft, aber dennoch den fast depressiven Inhalt.

«Alone again, naturally» – mal wieder allein. Mit dem Gefühl konnte ich etwas anfangen als Musikerkind getrennt lebender Eltern, der Vater fast permanent auf Tour. Mein Vater vermutlich auch, immerhin ist Alleinsein häufig das Los eines Musikers: Man ist ein Ein-Mann-Unternehmen, auf sich selbst angewiesen, viel auf Reisen; zwar ständig von Leuten umgeben, aber nur sehr selten von denen, die man liebt.

Jedenfalls hatten wir plötzlich eine gemeinsame Ebene gefunden, und der Song gab eine Menge her. Musikalisch ist «Alone Again» eine wahre Fundgrube, im Prinzip ein Popsong, aber eben ein anspruchsvoller. Harmonisch komplex, mit jazzigen, aber nie kompliziert klingenden Akkordfolgen, organisch verbunden mit einer sehr einfach scheinenden, eingängigen Melodie. Und der Song lag mir auch stimmlich: die mittelhohe Tonlage, die simple, aber sehr gefühlvolle Melodieführung, die Art des Ausdrucks. Es war schon auf der Fahrt ein erhebendes Gefühl, ein Stück Musik mitzuträllern, das man so tief durchdrungen und verstanden hatte. Zum ersten Mal hatte ich nicht einfach nur eine Melodie nachgesungen.

 

Während wir den Song immer wieder hörten und die Kassetten bis zur Unkenntlichkeit abnutzten, klickerte es nur so in meinem Kopf. Auch wenn mein Vater sein Licht immer unter den Scheffel stellte und sagte: «Je mehr man über Musik weiß, desto mehr erkennt man, was man alles nicht weiß», ging mir langsam auf, über welch umfassende Kenntnisse er verfügte und was ich alles nicht wusste. Ich war ziemlich überrascht, dass es überhaupt so vieles gab, was man über Musik wissen konnte.

Zugleich wurden sein musikalisches Empfinden und die immense Bedeutung von Musik für seine Persönlichkeit für mich auf einmal spürbar. Ohne dass ich das nun groß reflektierte, aber ich verstand ihn, und das war bei meinem Vater nicht immer einfach. Ich verstand nun auch eine seiner liebsten Aussagen, die für mich zuvor immer nach oberlehrerhaftem Tadel geklungen hatte: «Den Beruf Sänger gibt es nicht, es gibt nur den Beruf Musiker. Ein Sänger ist ein Musiker, der singt. Aber als Erstes ist er Musiker.» Musiker als solcher, das war ihm wichtig. Der Beruf bedeutet mehr, als technisch sein Instrument zu beherrschen.

Nachdem er beim ersten Versuch mit dem Klavierunterricht bei mir kolossal gescheitert war, packte mich mein Vater also im zweiten Anlauf – obwohl ich nicht glaube, dass er es darauf angelegt hatte. Diesmal ließ er den technischen, instrumentellen Teil beiseite, der ihm bei seinem Instrument so wichtig war, und erzählte von einem philosophischen, leidenschaftlichen und vor allem sehr persönlichen Standpunkt aus. So bahnte er mir mit «Alone Again» den Weg in seine Welt der Musik. Und entließ mich mit offenen, staunenden und völlig neuen Augen und Ohren. Und einem ganz anderen Selbstverständnis.

 

Das Programm in Rumänien war straff, die Familie ist unübersichtlich und groß, mein Opa hatte wohl verdammt viele Geschwister. Und wo wir auch ankamen, wir wurden mit südländisch anmutendem Temperament begrüßt. Ich wurde geherzt und gedrückt von zahllosen Verwandten, von deren Existenz ich bis dahin nichts gewusst hatte.

Nachts in der Küche meiner Oma in Klausenburg

Und deren Sprache ich nicht sprach. Mein Vater, multilingual begabt, ohne irgendetwas außer Rumänisch wirklich zu beherrschen, musste für mich übersetzen, was ihm aber offensichtlich zu mühsam war. Während der lebhaften, scheinbar lustigen und mindestens halbstündigen Begrüßungen stand ich also jeweils wie Falschgeld herum und bekam hinterher meist eine lustlose Zusammenfassung wie «Sie freuen sich».

Anschließend erwartete uns überall eine wahre Flut von Essen. Zur Feier des Tages wurden verschiedenste Speisen aufgefahren, von denen ich nur die wenigsten kannte, die aber natürlich alle probiert werden mussten. Alles andere wäre eine Beleidigung des Gastgebers gewesen.

 

Wenn es schlimm kam, wurde einem zur Krönung auch der selbstgebrannte Zuika kredenzt, ein Pflaumenschnaps. Davon hatte jeder dort Litervorräte in seiner Speisekammer lagern, abgefüllt in Plastikkanistern. Nicht ohne Grund, schließlich wurde das Zeug nicht nur zum Trinken, sondern auch zum Desinfizieren verwendet – zum Beispiel nachdem mir ein Hund ins Bein gebissen hatte.

Das alte, halbblinde Tier war mir auf dem Bauernhof irgendeines Großcousins über den Weg gelaufen. Mit seinem verbliebenen Auge hatte mich der Hund so traurig angeschaut, dass ich eine Weile mit ihm spielte. Zum Dank biss er mir kräftig in die Wade. Als Behandlung gab es dann Zuika aus der Teetasse. Erst zum Trinken, dann direkt auf die Wunde. Es hat gewirkt.

 

Neben den Familienbesuchen trafen wir auch eine Reihe orthodoxer Würdenträger, mein Großvater war schließlich Priester gewesen. Die Audienzen waren beeindruckend und befremdlich zugleich, wobei die Geistlichen auf mich einen weitaus lockereren Eindruck machten als zum Beispiel katholische Pfarrer hierzulande. Immerhin dürfen sie dort ja Familie haben, sonst hätte es meinen Vater vermutlich auch nicht gegeben.

Neben einem rumänisch-orthodoxen Bischof

Es war eine andere Welt, in die ich dort, anfangs etwas widerwillig, eintauchte. Ich weiß nicht, ob ich diesen ersten Besuch in Rumänien wirklich genossen habe, dazu war mir vermutlich alles zu fremd. Ich war ein pubertierender Jugendlicher aus Westberlin, und Rumänien war arm, ländlich und irgendwie einige Jahrzehnte zurück. Aber die gesammelten Eindrücke sehe ich nach wie vor sehr stark und farbig vor meinem inneren Auge, wahrscheinlich gerade weil es dort so fremd und zugleich so herzlich zuging.

Auf dem Rückweg blieben wir einen Tag in Budapest und übernachteten dort gleich zweimal – zur Akklimatisierung, bevor es zurück in den Westen ging. Im Vergleich zu Rumänien wirkte Ungarn schon wie ein Land, in dem Milch und Honig flossen.

 

Zurück in Zürich, transkribierte mein Vater «Alone Again» für mich, wie üblich ergänzt um seine typischen Spielereien und harmonischen Schlenker. Für ihn war das eine Sache von Minuten, obwohl er transkribieren aus irgendeinem Grunde überhaupt nicht mochte. Das Skript habe ich heute noch.

 

Anschließend habe ich mir «Alone Again» auf der Gitarre draufgeschafft, sodass ich üben konnte. Und dann habe ich den Song bei jeder Gelegenheit gespielt.

Unter anderem gab ich ihn auch vor Horst Jankowski zum Besten, als mein Vater gerade mit ihm und seinem Trio unterwegs war. Dieser Übermut bescherte mir mit 16 Jahren meinen ersten TV-Auftritt, bei Swing & Talk auf 3sat, begleitet von der RIAS Bigband – unglaublich! Es war allerdings auch vorerst der letzte, weil ich mich in meiner Euphorie wohl etwas danebenbenommen und mich allen Ernstes mit dem Regisseur der Sendung angelegt hatte, woraufhin das Wort die Runde machte, der kleine Cicero sei noch arroganter als der große 

 

Vor allem aber sind mein Vater und ich, wann immer es passte, zusammen mit «Alone Again» auf die Bühne gegangen. Das heißt, mein Vater bat mich für diesen einen Titel zu sich herauf. Ich kann mich nicht erinnern, dass er das jemals zuvor getan hätte; überhaupt hatten wir bis dahin nie einen Song gemeinsam gespielt.

Spontan-Konzert in einer ungarischen Kneipe

Direkt nach der Rumänien-Reise in einem Jazz-Club in Baden-Baden

Das erste Mal passierte das fast unmittelbar nach unserer Reise. Dieser Auftritt in einem Jazzclub in Baden-Baden, von dem es sogar ein Foto gibt, ist mir noch sehr präsent. Ich war aufgeregt, hatte unheimliches Lampenfieber, aber irgendwie fühlte ich mich auch sicher. Es passte einfach, und ich hatte das Gefühl, dass es den Leuten gefallen würde, wenn ich sänge.

Genau so war es dann auch. Und «Alone Again» wurde fortan «unser» Song.