Petra Schier

Frevel im Beinhaus

Historischer Roman

 

Der Weg der Frevler ist wie die dunkle Nacht;

sie merken nicht, worüber sie fallen.

Sprüche 4, 19

Personen in dieser Geschichte

Familie:

Adelina Burka: Apothekerin mit eigenem Geschäft am Alter Markt

Neklas Burka: ihr Gemahl, städtischer Medicus

Colin: Sohn von Adelina und Neklas, drei Jahre alt

Griet: uneheliche Tochter von Neklas und somit Adelinas Stieftochter

Vitus: Adelinas jüngerer Bruder, geistig zurückgeblieben, 19 Jahre alt

Freunde:

Jupp Kornbläser: Chirurg und alter Freund von Neklas

Marie Kornbläser: Jupps Ehefrau und Adelinas gute Freundin, Tochter eines ehemaligen Ratsherrn und Schöffen

Binah und Malka: Jupps halbjüdische Zwillingstöchter, sechs Jahre alt

Georg Reese: Tuchhändler, ehemaliger Ratsherr, jetzt Gewaltrichter

Gesinde:

Franziska: eine junge Magd im Hause Burka

Ludowig: Knecht im Hause Burka und Gefährte von Franziska

Magda: ältliche Magd im Hause Burka

Weitere Personen:

Vater Emilianus: hoher Geistlicher, enger Freund des Erzbischofs

Endres: ein Schlitzohr, sitzt derzeit für diverse Vergehen in der Kunibertstorburg ein

Tilmann Greverode: Hauptmann der Stadtsoldaten

Mira von Raderberg: Lehrmädchen in Adelinas Apotheke, von adeliger Abstammung, 16 Jahre alt

Amtmeister Hirzelin: Vorsitzender der Gaffel Himmelreich

Hugo und Michel: zwei Büttel

Köbes: Messerschmied

Else: Frau von Köbes

Zunftmeister Leuer: ältester Meister der Zunft Himmelreich

Ludmilla: alte Hebamme und Weise Frau, lebt vor den Toren der Stadt in einer Waldhütte

Pitter: Wachmann in der Kunibertstorburg

Bruder Thomasius: Dominikaner

Wolfram Stache: Stadtsoldat

Meister Winkler: ein weiterer Apotheker vom Alter Markt

Historische Person:

Erzbischof Friedrich III. von Saarwerden

Und nicht zu vergessen:

Fine: schwarz-weiße Katze von Vitus

Moses: sandfarbener, struppiger Hund, der Adelina einst in einer stürmischen Gewitternacht zugelaufen ist

 

… sowie die vielen, vielen Bewohner und Besucher Kölns, für deren Aufzählung hier leider der Platz fehlt.

Prolog

Sie blieb stehen und versuchte tief durchzuatmen. Die Sonne brannte schon seit den frühen Morgenstunden unbarmerzig auf die Dächer Kölns herab. In den engen Gassen staute sich heiße Luft, die sich mit dem Gestank der Abfälle in den Rinnsteinen und dem Duft von frisch gebratenen Zwiebeln und gekochtem Kohl mischte. Schweiß stand ihr auf der Stirn, den sie immer wieder mit dem Ärmel ihres Kleides wegwischte. Der Korb an ihrem Arm schien immer unhandlicher zu werden, obwohl er nicht wirklich schwer war. Dennoch stapfte sie tapfer weiter.

An der Kreuzung zu einer weiteren Gasse, die der vorherigen glich, blieb sie erneut stehen. Ihr Rücken begann zu schmerzen, und das Kind in ihrem Leib bewegte sich unruhig. Sie wusste, dass es unvernünftig war, so kurz vor der Niederkunft derart weite Strecken zu laufen, noch dazu ganz allein. Aber wie sonst sollte sie ihren Mann bei der täglichen harten Arbeit unterstützen? Sie besaß ja nicht einmal eine Magd, die ihr die schweren Arbeiten hätte abnehmen können. Er hatte es selbst erledigen wollen aus Rücksicht auf ihren Zustand, aber sie hatte ihn beruhigt und ihm versprochen, langsam zu gehen und Pausen einzulegen.

Jetzt, um die Mittagszeit, waren die Straßen und Gassen wie leer gefegt. Die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Auch die Bettler und das unehrliche Gelichter waren für eine Weile von der Bildfläche verschwunden. Vermutlich hatten sie sich irgendwo verkrochen. So gab es weder Gedränge auf den Plätzen, noch lief sie Gefahr, belästigt zu werden.

Fast hatte sie die Judengasse erreicht. Von dort aus war es nicht mehr weit. Der Gedanke beflügelte ihre Schritte. Sie wechselte den Korb vom rechten Arm auf den linken und überlegte, ob sie auf dem Rückweg einen Bogen über den Fischmarkt machen sollte. Vielleicht ergatterte sie ein wenig billigen Lachs fürs Abendbrot.

Plötzlich hielt sie inne und verlangsamte ihre Schritte. War da hinter ihr ein Geräusch gewesen? Sie blickte über ihre Schulter zurück und erschrak, als sie den Mann dicht hinter sich stehen sah. Er grinste sie verschlagen an – kannte sie ihn irgendwoher?

Und dann tauchte wie aus dem Nichts ein zweiter Mann auf, der ein Messer in der Hand hatte. Auch er lächelte heimtückisch.

Bevor sie auch nur Luft holen konnte, packten die beiden sie, hielten ihr den Mund zu, sodass sie nicht schreien konnte, und schleppten sie in den Eingang eines Hauses.

Ihr Herz pochte wild vor Schreck und Furcht. Sie wehrte sich, trat um sich und wollte einem der beiden Angreifer gerade in die Hand beißen, als etwas hart gegen ihren Hinterkopf krachte. Sie spürte den heftigen Schmerz und dann … nichts mehr.

1

«Gottlob sind wir wieder hier.» Adelina ließ sich erschöpft auf die Ofenbank in ihrer Küche sinken und lockerte mit den Fingerspitzen ihre Haube. «Bei diesem Wetter ist das Reisen geradezu eine Strafe.» Mit halbgeschlossenen Augen beobachtete sie ihren hünenhaften Knecht Ludowig, der eine schwere Reisetruhe an der geöffneten Küchentür vorbei zur Treppe schleppte.

Neklas betrat nun ebenfalls die Küche und schenkte sich aus dem Krug, der auf dem langen Eichentisch stand, Wein in einen Zinnbecher. «Reisen kann bei jedem Wetter beschwerlich sein. In deinem Fall jedoch …» Er musterte sie besorgt.

Sie winkte lächelnd ab. «Mir geht es gut. Ich bin nur müde. Hoffentlich bringt Franziska etwas aus der Garküche mit.» Sie sah sich um. «Wohin ist eigentlich Vitus verschwunden?»

«In den Garten. Vermutlich sucht er nach Fine. Schließlich hat er die Katze die ganzen acht Wochen über vermisst.» Neklas trank von seinem Wein. «Kortrijk ist ruhiger als Köln, nicht wahr?»

«Mag sein.» Adelina hob die Schultern. «Ich bin dennoch froh, endlich wieder zu Hause zu sein. Nichts gegen deine Familie, aber …»

«Sie kann recht anstrengend sein, ich weiß.» Er stellte den leeren Becher auf den Tisch. «Ich gehe hinüber zu Jupp und sehe nach, was es Neues gibt.»

«Sag Marie, dass ich morgen zu ihr komme. Heute wird es das Beste sein, in der Apotheke nach dem Rechten zu sehen.»

«Ruh dich doch erst einmal richtig aus.» Streng blickte Neklas sie an.

«Ja, ja.» Sie scheuchte ihn mit einer Handbewegung hinaus. Nachdem er die Küche verlassen hatte, stand Adelina etwas schwerfällig auf und rieb sich den schmerzenden Rücken. Die mehrtägige Fahrt von Kortrijk nach Köln hatte sie wirklich sehr angestrengt. Aber sie hatte darauf bestanden, jetzt zu reisen, denn ein paar Wochen später wäre es vielleicht schon zu gefährlich gewesen. Noch einmal zupfte sie an ihrer Haube herum, unter der sich ihr schwarzes, zu ordentlichen Schnecken geflochtenes Haar verbarg.

«Herrin, braucht Ihr etwas?» Magda, die ältliche Magd, trat durch die Tür. Um ihre Augen lagen viele kleine Fältchen, die von ihrem heiteren Gemüt zeugten. «Ich habe Colin in sein Bett gebracht. Er ist dabei zum Glück nicht aufgewacht.»

«Ich habe auch lange genug gebraucht, um ihn zum Einschlafen zu bringen.» Adelina lächelte wieder. «Ist Mira schon von dem Besuch bei ihrer Familie zurück?»

«Nein.» Magda schüttelte den Kopf. «Ich hab seit ihrer Abreise vor sechs Wochen nichts von ihr gehört.»

«Ich hoffe, ihre Familie kann sie bald wieder entbehren», sagte Adelina. «Wenn ich die Apotheke morgen wieder öffnen will, brauche ich jede Hilfe.»

«Mutter?» Mit leicht geröteten Wangen und blitzenden Augen kam ihre Stieftochter Griet in die Küche gerannt. Ihre zu Zöpfen geflochtenen schwarzen Locken wippten erregt auf und ab. Adelina stellte fest, dass das Mädchen schon wieder gewachsen war. Griet benötigte ein neues Kleid. «Mira ist noch gar nicht wieder hier! Ihre Kammer ist leer; nur das dicke Kräuterbuch liegt auf dem Tisch. Und in meiner Kammer liegt eine tote Maus auf dem Boden.»

Adelina nickte. «Mira ist noch bei ihrer Familie. Warum hast du die tote Maus nicht gleich hinausgebracht?» Sie wandte sich an Magda. «Was macht Fine eigentlich den ganzen Tag? Eine so faule Katze habe ich selten gesehen.»

Die Magd gluckste. «Das arme Tier hat Vitus vermisst. Und sie hat sich mehrmals mit dem dicken schwarzen Kater geprügelt, der seit kurzem hier herumschleicht.»

«Ich bring die Maus schon weg», sagte Griet und machte auf dem Absatz kehrt.

Adelina wandte sich ebenfalls zur Tür.

«Ihr seid schon ganz schön rund», befand Magda mit einem Blick auf Adelinas gewölbte Leibesmitte. «Wird nicht mehr so lange dauern, nicht wahr?»

«Das Kind soll im September geboren werden», antwortete Adelina und legte automatisch ihre rechte Hand schützend auf ihren Bauch. «Ich werde Ludmilla in den nächsten Tagen Nachricht geben, damit sie mich vorher noch einmal besuchen kommt.» Mit diesen Worten machte sie sich auf den Weg in ihre Apotheke, die sie, wie sie beim Anblick des polierten Verkaufstresens und der ordentlich aufgeräumten Regale ringsum merkte, bereits schmerzlich vermisst hatte. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über eines der Regalbretter und musterte dann missbilligend die Spur, die sie in die dünne Staubschicht gezogen hatte. Das war eine gute Beschäftigung für Griet, beschloss sie und ging zur Tür, um sie aufzuschließen und frische Luft hereinzulassen.

Sie lachte über sich selbst, als sie die Tür aufstieß und ihr sofort schwere Gerüche entgegenkamen. Der Sommer in Köln hielt nur selten frischen Wind bereit und noch seltener Wohlgerüche. Das bunte Treiben auf dem Alter Markt hatte ihr trotzdem während ihres Besuchs bei ihrer Schwiegermutter gefehlt.

Jetzt, am späten Nachmittag, schoben sich unzählige Kauflustige – Hausfrauen, Mägde und Besucher der Stadt – zwischen den Ständen und Schragentischen der Bauern und Kaufleute hindurch. Barfüßige Gassenjungen in schmutzigen und meist zerrissenen Kleidern rannten umher. Hühner gackerten in ihren Käfigen, irgendwo blökte ein Schaf, und über allem schwebte ein Gesumm von unzähligen Stimmen, immer wieder durchbrochen von den lockenden Rufen der Marktschreier. Erst nach dem Läuten der Vesperglocke von Groß St. Martin würde sich das Gedränge nach und nach etwas lichten.

Gerade wollte Adelina ihre Tür wieder schließen, als sie die Gestalt einer jungen Frau wahrnahm, die einen großen Korb am Arm trug und auf die Apotheke zusteuerte. Ihr rotblondes Haar trug sie zu einem festen Knoten hochgesteckt mit einem schlichten Kopftuch bedeckt, und die hellen Augen funkelten erfreut über ihrer kleinen Stupsnase. «Herrin!», rief sie von weitem und beschleunigte ihre Schritte. «Ihr seid ja schon da! Wir hatten Euch erst für den späten Abend zurückerwartet.»

Adelina öffnete die Tür wieder etwas weiter und trat beiseite. «Guten Tag, Franziska. Wie ich sehe, warst du einkaufen und …» Sie schnupperte. «Hast du gebratene Hühnchen mitgebracht?»

«Aber ja doch, wie Ihr es Donatus gesagt habt. Als er uns die Nachricht von Eurer bevorstehenden Rückkehr überbrachte, meinte er, ich solle eine sehr große Portion besorgen, denn Ihr wäret gefräßig wie ein … ähm …» Franziskas Gesicht überzog eine feine Röte, als sie sich ihrer ungezogenen Worte bewusst wurde.

Adelina lachte jedoch nur. «Gefräßig wie ein Wolf? Da hat er gar nicht so unrecht. Bring die Sachen hinein, ich schließe ab und komme nach.» Sie kam jedoch wieder nicht dazu, da plötzlich ein langgezogenes Heulen und dann wildes Bellen erklangen. Im nächsten Moment schoss eine Fellkugel auf Adelina zu. Jaulend und winselnd sprang der kleine Hund an ihr hoch und brachte sich beinahe um vor Freude, seine Herrin wiederzusehen.

«Moses!» Sie beugte sich zu ihm hinab und ließ es zu, dass der Hund ihr Gesicht und ihre Hände abschleckte. «Wo kommst du denn her? Warst du drüben bei Marie?» Sanft tätschelte sie sein prall gefülltes Bäuchlein. «Anscheinend hat sie gut für dich gesorgt.» Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie ihre Nachbarin und gute Freundin Marie Kornbläser mit ausgebreiteten Armen auf sich zukommen. Sie trug ein praktisches braunes Arbeitskleid mit Schürze, da sie wohl bis eben ihrem Gemahl, dem Chirurgen, den alle nur Meister Jupp nannten, in seinem Behandlungsraum geholfen hatte. Ihr hellblondes, fast weißes Haar hatte sie vollständig unter einer mit Blumen bestickten Haube verschwinden lassen.

«Adelina, wie schön, dass ihr wieder hier seid!», rief sie vergnügt, und ihre hellen Augen blitzten fröhlich. Sie umarmte Adelina herzlich und musterte sie dann eingehend. «Du siehst erschöpft aus. Eine so weite Reise in deinem Zustand ist anstrengend.»

«Das kannst du laut sagen. Aber wir mussten jetzt reisen. Stell dir vor, wir hätten länger gewartet und das Kind wäre womöglich auf der Fahrt geboren worden. Neklas hatte schon jetzt arge Bedenken, weil die Straßen ja so schlecht sind. Er hat mir meinen Sitzplatz im Wagen mit drei Decken ausgepolstert. Mein Rücken fühlt sich trotzdem an, als habe man mich verprügelt.»

«Das kann ich mir vorstellen. Aber nun seid ihr wieder hier.» Marie hakte sich bei Adelina unter. «Kann ich dir bei irgendetwas helfen? Ich muss dir unbedingt erzählen, was sich in den letzten beiden Monaten in Köln zugetragen hat. Du wirst es kaum glauben – die Geißler sind durch die Stadt gezogen, mehrmals sogar. Der Stadtrat musste sie mit Waffengewalt vertreiben und hat allen eine schwere Strafe angedroht, die mit ihnen sympathisieren. Gerade in den letzten Tagen brodelt es in Köln mal wieder.»

«Das ist doch nichts Neues», warf Adelina ein.

«Vielleicht nicht», gab Marie zu. «Man munkelt, dass der Erzbischof und einige seiner Mitkurfürsten planen, König Wenzel abzusetzen. Stell dir das mal vor …» Während sie weiter munter auf Adelina einredete, lotste sie sie in die Küche, wo sich die beiden Frauen am Tisch niederließen. Adelina lauschte dem Klatsch sehr aufmerksam, damit sie für ihren morgigen ersten Arbeitstag gerüstet war.

Wenig später stießen auch Neklas und Jupp zu ihnen. Das folgende Abendessen fand in einer vergnügten Runde statt, zu der sich natürlich auch Griet, Vitus und das Gesinde gesellten. Sogar Binah und Malka, Jupps achtjährige rotlockige Zwillingstöchter, durften daran teilnehmen. Sie und Griet steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, und Adelina ließ sie gewähren. Obwohl Griet mittlerweile fast zwölf Jahre alt war, gab sie sich gerne mit den jüngeren Mädchen ab. Adelina freute sich, dass ihre ehemals so stille Stieftochter inzwischen viele Freunde gefunden hatte. Nur noch selten schien sie an ihre schlimme Vergangenheit zu denken. Adelina und Neklas taten alles, was möglich war, um die Schrecken ihrer Kindheit verblassen zu lassen, ihr eine glückliche und sichere Zukunft zu bieten.

Als sich das Gespräch erneut den politischen Entwicklungen in Köln zuwandte, riss sie sich von diesen Gedanken los. Wichtiger war es jetzt, etwas über die allgemeine Stimmungslage in Köln zu erfahren.

2

«Mutter, wann kommt Mira zurück?», fragte Griet, während sie die winzigen Gewichte der Apothekerwaage polierte.

Adelina war gerade dabei, die Zutaten für eine Arznei im Mörser zu zerstoßen, die Magister Pierre van Stijn, der Medicus der Universität, bei ihr bestellt hatte. Nachdem vor einem Jahr der alte Magister Arnoldus gestorben war, hatte van Stijn dessen Posten an der Universität nun ganz übernommen. Ihm oblag es seither, neben den medizinischen Vorlesungen die Scholaren ärztlich zu betreuen. Beinahe täglich schickte er einen der Jungen mit einer Arzneibestellung zu ihr. Die Universität wuchs und gedieh – und mit ihr natürlich auch die Menge an größeren und kleineren Verletzungen und Krankheiten, die sich die jugendlichen Scholaren immer wieder zuzogen.

«Ich weiß es nicht», antwortete Adelina. Vorsichtig füllte sie das grobe Pulver in ein mit Wachshaut ausgekleidetes Leinensäckchen. «Wir haben noch keine Nachricht von ihrer Familie. Aber da sie schon fast sieben Wochen fort ist, dürfte es nicht mehr lange dauern, bis sie zurückkehrt.»

«Hoffentlich.» Griet legte das letzte polierte Gewicht zurück in die Sammelschale. «Es macht keinen Spaß, die ganze Arbeit allein zu machen.»

Adelina lächelte. «Du machst das aber gut, Griet. Und bedenke, dass Mira sehr lange nicht mehr bei ihrer Familie zu Besuch war. Zuletzt vor anderthalb Jahren. Ganz sicher ist sie froh, ein bisschen Zeit mit ihren Verwandten zu verbringen.»

Griet hob den Kopf. «Glaubst du, die wollen sie überhaupt haben? Sie besuchen sie doch auch niemals hier. Na ja, außer ihrer Mutter. Bestimmt sind sie froh, Mira los zu sein.»

«Griet!» Streng schüttelte Adelina den Kopf. «Solche Reden möchte ich von dir nicht hören. Miras Mutter hat sich damals gegen die Pläne ihres Gemahls durchgesetzt, der Mira ins Kloster geben wollte. Aber das hat sie ganz sicher nicht getan, um sie loszuwerden.»

«Das meine ich ja auch nicht. Ihre Mutter ist zwar ein bisschen hochnäsig, aber trotzdem nett. Wenn Miras Stiefvater sie ins Kloster schicken wollte …»

«Ich weiß, was du meinst. Der Adel bringt jüngere Töchter sehr oft in einem Stift oder Kloster unter. Daran ist nichts Ungewöhnliches.»

«Das machen sie doch nur, um die Mitgift zu sparen.»

«Griet, hüte deine Zunge!» Nun runzelte Adelina deutlich verärgert die Stirn. Wenn sie nicht achtgab, würde ihre Stieftochter ein allzu vorlautes Mundwerk entwickeln.

Da Griet wegen ihres harschen Tonfalls den Kopf einzog, sagte sie mit etwas milderer Stimme: «Ein Kloster verlangt auch so etwas wie eine Mitgift für eine Novizin. Oft steigen adelige Mädchen zu bedeutenden Positionen auf, können sogar Äbtissin werden und großen Einfluss erlangen.»

«Mira als Äbtissin?» Griet machte große Augen, dann zuckte es um ihre Mundwinkel. Nur mit äußerster Anstrengung schien sie das Lachen unterdrücken zu können.

Auch Adelina verkniff sich ein Schmunzeln. «Du siehst, ihre Mutter tat gut daran, sie in unsere Obhut zu geben. Als Apothekerlehrling ist sie weitaus besser aufgehoben.»

«Es ist trotzdem komisch, dass sie so lange weg ist und uns keine Nachricht schickt», beharrte Griet. «Was, wenn ihr Stiefvater sie doch noch ins Kloster gesteckt hat?»

Adelina schüttelte verwundert den Kopf. «Weshalb in aller Welt sollte er das tun? Sie hat schon weit mehr als die Hälfte ihrer Ausbildung hinter sich. Wenn sie sich anstrengt, kann sie die Gesellenprüfung sogar etwas früher ablegen. Nun hör auf, dir unnötige Gedanken zu machen. Das bringt Mira auch nicht schneller wieder her. Geh lieber ins Hinterzimmer und sieh nach der Destille. Aber pass mit dem neuen Alembik auf. Er ist größer als der alte und schwerer.»

«Ist gut.» Gehorsam ging Griet zu der Tür, die in die Kammer hinter der Apotheke führte. «Ich hab trotzdem kein gutes Gefühl dabei», murmelte sie gerade so laut, dass Adelina sie noch verstehen konnte. Dann schlug die Tür hinter ihr zu.

Adelina sah ihrer Stieftochter überrascht nach. Seit ihrer Rückkehr nach Köln waren fünf Tage vergangen, und die letzten beiden hatte Griet immer wieder nach Mira gefragt. Ob sie sie derart vermisste? Während ihres Aufenthalts in Kortrijk hatte sie nie etwas verlauten lassen. Zwar war zwischen den Mädchen in den vergangenen Jahren eine innige Freundschaft gewachsen, und vielleicht sah Griet in der mittlerweile knapp sechzehnjährigen Mira so etwas wie eine große Schwester, aber das erklärte nicht diese merkwürdige Sorge, die nun in Griets Gesicht geschrieben stand. Mira war auch früher schon zu längeren Besuchen bei ihrer Familie gewesen.

Adelina legte das sauber verschnürte Säckchen mit der Arznei zu zwei weiteren auf den Tresen, dann holte sie die Zutaten für eine Salbe gegen Gicht aus den Regalen. Bestimmt war Griet nur verschnupft darüber, dass sie alle Arbeiten in der Apotheke, auch die weniger angenehmen wie Putzen und Staub wischen, ganz allein übernehmen musste. Das tat sie zumeist klaglos, und sie gab sich sogar beim Lernen redliche Mühe, das konnte Adelina erkennen. Doch Mira war es, die ein wirkliches Talent für das Apothekerhandwerk besaß, ganz besonders für die Herstellung von Duftessenzen und Konfekt. Griet orientierte sich gern an dem älteren Lehrmädchen und bemühte sich, ihr alle Handgriffe abzuschauen. Da sie jetzt allein war, fehlte ihr diese Stütze vermutlich.

Spontan beschloss Adelina, in der kommenden Woche mit Griet ein paar zusätzliche Lektionen einzulegen und mehr mit ihr zu üben.

Das Klingeln des Glöckchens an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Überrascht und erfreut zugleich blickte sie dem hageren Mann in Kaufmannskluft entgegen, dessen schütteres braunes Haar inzwischen zunehmend von grauen Strähnen durchzogen wurde. «Guten Tag, Herr Reese, wie geht es Euch?»

Sie kannte den Tuchhändler schon lange; vor Jahren hatte sie ihm mehrmals bei der Aufklärung von Morden an Kölner Bürgern helfen können. Noch immer bekleidete er das Amt des städtischen Gewaltrichters. Wenngleich sich Adelina seit den letzten Vorfällen erfolgreich aus allen städtischen Angelegenheiten und insbesondere aus gefährlichen Ermittlungen herausgehalten hatte, war der Kontakt zu Reese nie ganz abgebrochen. Das war vor allem auf die Tatsache zurückzuführen, dass seine Frau eine Schwäche für Adelinas gutes, wenn auch sehr teures Konfekt hatte. Dies schien heute wieder Reeses Anliegen zu sein, denn er trug eine der hölzernen Konfektschachteln bei sich.

«Frau Adelina, ich grüße Euch.» Lächelnd kam er näher und stützte sich dabei schwer auf einen Gehstock, um seinen mit einem Verband umwickelten Fuß zu entlasten. «Rosa hat mir keine ruhige Minute mehr gelassen, nachdem sie erfahren hat, dass Ihr von Eurem Verwandtenbesuch zurück seid. Sie wünscht eine Schachtel voll kandierter Kirschen, ohne die sie, wie sie behauptet, nicht mehr lange leben würde.» Er verzog die Lippen zu einem nachsichtigen Lächeln. «Sie übertreibt natürlich, wie gewöhnlich. Oder mischt Ihr in dieses Konfekt etwa eine Essenz, die die Menschen dazu bringt, immer mehr davon zu wollen?»

Adelina lachte. «Aber nicht doch, Herr Reese, was denkt Ihr Euch? Wir Frauen lieben nun einmal süße Sachen. Aber sagt, was ist geschehen? Habt Ihr Euch den Fuß verstaucht?»

«Nein, das nicht.» Reese trat an den Tresen und lehnte den Gehstock daneben. «Muss wohl die Gicht sein. Mein Zeh ist ganz rot und geschwollen, und das Auftreten schmerzt. Da ich schon mal hier bin, wollte ich Euch um eine Arznei gegen die Schmerzen bitten.»

«Aber sicher.» Adelina wies auf die Zutaten, die sie gerade bereitgestellt hatte. «Ich war gerade dabei, eine Salbe gegen Gicht zuzubereiten. Das kann aber etwas dauern. Wenn Ihr wollt, gebe ich Euch fürs Erste eine Mischung aus Goldrute und Brennnesseln mit. Lasst Eure Gemahlin einen Sud daraus bereiten, von dem Ihr dreimal täglich trinken müsst. Die Salbe lasse ich Euch morgen bringen.»

«Ich danke Euch.» Reese atmete sichtlich auf. Er zog seine Geldbörse aus einer Innentasche seines Zunftmantels und legte ein paar Münzen auf den Tresen. «Ihr seht gut aus, Frau Adelina. Eure Schwangerschaft scheint schon weit fortgeschritten zu sein. Wird Euch die Arbeit in der Apotheke nicht allmählich zu beschwerlich?»

«Bis jetzt noch nicht.» Rasch nahm Adelina die Münzen an sich und legte sie in die Geldkassette unter dem Tresen. «Ich habe meine Apotheke in den vergangenen Wochen sehr vermisst und bin froh, wieder hier zu sein.» Sie schwieg einen Moment. «Wie ich hörte, planen die Kurfürsten den Sturz des Königs.»

Reese kräuselte die Lippen. «Das ist Euch also schon zu Ohren gekommen, wie? Na, hätte mich auch gewundert, wenn diese Information vor Eurer Tür haltgemacht hätte.»

«Ist der Stadtrat in diese Angelegenheit verwickelt?»

«Nicht direkt.» Nachdem Adelina das leere Konfektkästchen wieder aufgefüllt hatte, nahm er es an sich und griff wieder nach seinem Stock. «Der Erzbischof hat die Stadt nicht um Einmischung oder Unterstützung gebeten, aber der Rat steht in jedem Falle hinter ihm.»

«Der Rat toleriert also die Absetzung König Wenzels?»

Reese schnaubte. «Wir würden sie sogar begrüßen. Wenzel ist kein König, sondern ein unnützer, fauler Hundsfott. Nur Saufereien, Weiber und Schwermütigkeit – mehr hört man nicht von ihm. Ein solch unwürdiger Mann darf einfach nicht der Verwalter unseres Reiches sein.»

«Und wer soll sein Nachfolger werden?»

«Das ist noch nicht sicher.» Reese senkte die Stimme ein wenig. «Man sagt, Ruprecht von der Pfalz habe die besten Aussichten.» Er wandte sich zum Gehen.

Adelina eilte zu ihm, um die Tür aufzuhalten. Reese trat auf den Marktplatz, machte jedoch sogleich wieder einen Schritt rückwärts, denn ein Trupp bewaffneter Reiter passierte gerade die Apotheke. Neugierig ging auch Adelina hinaus. Den blauen Mänteln nach handelte es sich um erzbischöfliche Soldaten. An ihrer Spitze ritt ein großer, beleibter Geistlicher im Dominikanerhabit auf einem ebenso stattlichen Rappen, einige weitere Ordensbrüder auf wesentlich kleineren Reittieren folgten dem Trupp. Der Mönch jedoch, der gleich neben dem beeindruckenden Geistlichen ritt, blickte ausgerechnet in diesem Moment zu ihr herüber. Adelina zuckte zusammen, als er ihr mit einem feinen Lächeln zunickte. Dann beugte er sich zu dem Priester hinüber und flüsterte ihm etwas zu, woraufhin dieser sich zu Adelina umdrehte und sie einen Augenblick lang anstarrte.

Sie schauderte aus einem unerfindlichen Grund; das feiste, ungewöhnlich braunhäutige Gesicht des Geistlichen hatte zwar keinerlei Regung gezeigt, dennoch hatte sie den Eindruck, er habe sich ihre Züge während dieses kurzen Moments genau eingeprägt.

Energisch räusperte sie sich und rieb sich über die Oberarme. «Bruder Thomasius.»

Reese blickte sich zu ihr um. «In der Tat, das habt Ihr richtig erkannt. Seit er das Predigen des Jüngsten Gerichts aufgegeben hat, taucht er immer öfter in Vater Emilianus’ Gesellschaft auf.»

«Ich habe ihn schon sehr lange nicht mehr gesehen», sagte Adelina. «Wer ist dieser Vater Emilianus?»

«Ein Gefolgsmann und enger Vertrauter des Erzbischofs», erklärte Reese. «Er scheint auf dem Weg zum Rathaus zu sein. Entschuldigt mich, ich denke, es wäre besser, wenn auch ich mich sogleich dorthin begebe.» Er nickte ihr freundlich zu und humpelte in Richtung der Judengasse, in der sich das Rathaus der Stadt Köln befand.

Einen Moment lang blieb Adelina noch vor ihrer Apotheke stehen. Bruder Thomasius trieb sich jetzt also bei den erzbischöflichen Gefolgsleuten herum. Kurz nachdem sie Neklas geheiratet hatte, war der hagere Dominikanermönch in Köln aufgetaucht und hatte begonnen, Unfrieden zu stiften. Er kannte manch dunkle Kapitel aus Neklas’ Vergangenheit, ja, war sogar in einige davon selbst verwickelt gewesen. Außerdem besaß er ein ausgesprochen sauertöpfisches Wesen und bemühte sich redlich, den Menschen das Leben schwerzumachen. Lange Zeit hatte er Neklas mit seinen Verdächtigungen verfolgt und gleichzeitig auf den Plätzen und in den Gassen Kölns von der Sündhaftigkeit der Menschen und Gottes Zorn gepredigt, der die Menschen niederschmettern würde. Seit jenem Sommer vor drei Jahren, als er ihnen geholfen hatte, Griet aus den Fängen eines habgierigen Entführers zu befreien, hatte sein beständiges Hetzen nachgelassen. Seit einigen Monaten hatte Adelina nichts mehr von ihm gehört und schon vermutet, dass er die Stadt verlassen habe. Offenbar hatte sie sich geirrt. Wenn Neklas am Abend von seinen Patientenbesuchen heimkehrte, würde sie ihm sofort berichten, was sie soeben erfahren hatte.

Langsam ging sie zurück in ihre Apotheke und kümmerte sich wieder um die Herstellung der Gicht-Salbe. Dabei lauschte sie mit einem Ohr den Geräuschen, die aus dem hinteren Teil des Hauses kamen. Sie vernahm das Lachen ihres dreijährigen Sohnes Colin, fröhliches Hundegebell und die mahnende Stimme ihrer Magd Franziska. Mit einem kurzen Blick ins Hinterzimmer überzeugte sie sich, dass Griet noch immer auf die Apparatur achtgab, mit der sie derzeit Aqua Ardens herstellten – Weingeist, den sie verschiedenen Arzneien zusetzten.

Zufrieden kratzte Adelina die nun zerkleinerten Ingredienzien aus dem Mörser in eine kleine Holzschüssel und verrührte alles mit Gänseschmalz. Danach deckte sie die Schüssel ab und stellte sie beiseite.

Sie dachte gerade, dass heute ein ungewöhnlich ruhiger Freitag sei, als die Tür aufgestoßen wurde und Meister Jupp die Apotheke betrat. «Adelina? Wärest du so gut, kurz mit nach nebenan zu kommen? Einer meiner Gesellen hat auf der Straße eine junge schwangere Frau aufgelesen, die gestürzt ist. Sie ist nicht schwer verletzt, musste sich jedoch schon zweimal übergeben. Vielleicht hast du eine Arznei für sie?»

«Aber ja doch, ich komme sofort.» Adelina nickte ihm zu. «Nur einen Augenblick.»

Meister Jupp zog sich zurück. Adelina nahm schnell ein paar Gefäße sowie ein Leinenbeutelchen aus dem Regal. Sie packte alles in einen kleinen Weidenkorb und rief Griet herbei. «Bring dies nach nebenan zu Meister Jupp, ich komme sofort nach.»

Das Mädchen gehorchte, während Adelina rasch durchs Hinterzimmer in den Wohnbereich des Hauses ging und nach Magda rief. Statt ihrer kam jedoch Franziska aus der Küche, den fröhlich krähenden Colin an der Hand. «Ja, Herrin, was gibt es? Magda ist draußen im Garten. Soll ich sie holen?»

«Mama! Wir spielen mit Moses Fangen. Komm gucken!» Mit einem freudigen Lachen hob Colin die Ärmchen in die Höhe, sein Zeichen, dass er auf den Arm genommen werden wollte. Doch Adelina schüttelte den Kopf. «Nicht jetzt, Colin. Ich bin beschäftigt.» Sie wandte sich an die Magd. «Hab bitte ein Auge auf die Apotheke. Ich muss kurz hinüber zu Meister Jupp und einer Schwangeren helfen, der es nicht gutgeht. Griet nehme ich mit.»

«Aber sicher doch, ich passe schon auf.» Franziska nahm nun ihrerseits Colin auf die Hüfte. «Kommt, junger Herr, wir bewachen die Apotheke Eurer Frau Mutter», sagte sie in soldatischem Ton, der Colin zu gefallen schien, denn er klatschte begeistert in die Hände. «Ich bin ein Ritter und du das Pferdchen», krähte er, während er auf ihrer Hüfte herumruckelte. «Hopp, hopp, hü!»

Franziska lachte und ging hinter Adelina in die Apotheke, wo sie sich mit dem Jungen auf einen Hocker setzte und ihn auf ihren Knien reiten ließ.

Adelina beeilte sich, in das Nebengebäude zu gehen, das an ihrem eigenen Haus klebte wie ein siamesischer Zwilling. Vor Jahren hatte Neklas es einem Ratsherrn abgekauft und sich im Untergeschoss Behandlungsräume eingerichtet, die er sich mit dem Chirurgen teilte. Im Obergeschoss hatten sie mehrere Durchbrüche gemacht, um für ihre wachsende Familie und das Gesinde ausreichend Wohnraum zu schaffen.

Als Adelina Meister Jupps Knochenwerkstatt, wie er seinen Behandlungsraum gerne scherzhaft nannte, betrat, schlug ihr der scharfe Geruch von getrockneten Heilkräutern entgegen, mit denen Jupp und seine Gesellen Umschläge bereiteten. Es roch ähnlich wie in ihrer Apotheke, doch schwebte bei ihr nicht über allem der Geruch von Blut und Eiter.

In der Mitte des Raums stand der große Behandlungstisch aus Eichenholz, an dessen Seiten mehrere breite Lederfesseln und Gurte befestigt waren, um den Patienten, wenn nötig, zu fixieren oder ruhigzustellen. Auf einem Tisch an der Wand lagen ordentlich sortiert Meister Jupps Instrumente und Werkzeuge, angefangen bei winzigen Nadeln zum Starstechen über verschieden große Schaber, Löffel, Messer und Sägen bis hin zu furchterregend aussehenden Haken und Klemmen. An der Wand über dem Tisch hingen mehrere Zangen zum Zahnreißen. In den Regalen daneben gab es weitere Gerätschaften, über deren Verwendung Adelina lieber nicht zu genau Bescheid wissen wollte. Sie war zwar nicht empfindlich, doch selbst ihr jagten die Schreie, die schon so manches Mal zu ihr herübergeschallt waren, wenn Meister Jupp einen Verunglückten behandelte, einen Schauer über den Rücken.

Auf einem der Regalbretter stapelten sich Behältnisse für die Kräuter und Verbandmaterial. In einer Ecke des Raumes standen eine Schüssel mit Wasser und eine Karaffe mit Leinöl. Hier reinigten Meister Jupp und seine Gesellen nach getaner Arbeit ihre Hände und ihr Werkzeug. Letzteres wurde nach jeder Behandlung sorgfältig mit dem Öl eingerieben, damit es nicht rostete.

Der unangenehme Blutgeruch kam jedoch eindeutig von dem Behandlungstisch, der nach nunmehr dreijähriger Benutzung unzählige dunkle Flecken aufwies, die trotz der Reinigungen tief ins Holz eingezogen waren. Eine dunkelrot, fast schwarz geränderte Schüssel, die in einem Fach unter dem Tisch lagerte, machte noch eine weitere Verwendungsart desselben deutlich: Hier wurde regelmäßig zur Ader gelassen.

Adelina durchquerte den Raum und ging auf die blasse junge Frau zu, die auf einem Hocker kauerte und von Marie gerade einen Becher Bier gereicht bekam. Meister Jupp stand daneben, Griet hingegen hatte sich mit ihrem Korb in eine Ecke zurückgezogen. Adelina wusste, dass sie sich vor den Werkzeugen in diesem Raum fürchtete. Deshalb hatte sie sie angewiesen, mit ihr zu kommen. Als Apothekerlehrling musste Griet lernen, sich auch mit den Behandlungsmethoden von Badern und Chirurgen vertraut zu machen. Also winkte sie ihrer Stieftochter, näher zu kommen, und sprach dann die junge Frau an. «Guten Tag. Ich bin Meisterin Adelina Burka aus der Apotheke von nebenan. Wie ich hörte, geht es Euch nicht gut, deshalb habe ich ein paar Kräuter und Arzneien mitgebracht …»

«Oh, das ist doch nicht nötig», wehrte die Schwangere ab. «Ich habe dem guten Meister Jupp schon gesagt, dass ich nicht viel Geld habe und mir teure Arznei gar nicht leisten kann.»

«Frau Katharina wohnt unten am Mühlenbach beim Filzengraben», erklärte Marie. «Ihr Mann ist Schuhmacher.»

«Mein Friedel flickt die Schuhe für die Arbeiter an der Dombaustelle», berichtigte Frau Katharina.

Adelina verstand. Ein Flickschuster hatte meist kaum ein höheres Einkommen als ein Tagelöhner, doch das hatte sie bereits geahnt, als sie das abgetragene Kleid der Frau gesehen hatte. Ihr dunkelblondes Haar steckte unter einer einfachen kopftuchähnlichen Haube, die an den Rändern schon ein wenig ausgefranst war.

Aufmunternd lächelte sie ihr zu. «Wenn Euer Gemahl bereit wäre, auch das eine oder andere Paar Schuhe aus meinem Haushalt herzurichten, braucht Ihr Euch um die Bezahlung keine Gedanken zu machen.»

Frau Katharinas Miene entspannte sich, und sie nickte zögernd. «Das wäre wohl möglich, Frau Meisterin. Vielen Dank.»

«Dann erzählt mir nun, was Euch geschehen ist.»