Will Adams

Das Gottesgrab

Thriller

Deutsch von Andree Hesse

 

NACHDEM ALEXANDER DER GROSSE IM JAHRE 323 VOR CHRISTUS IN BABYLON GESTORBEN WAR, WURDE SEIN LEICHNAM IN EINER PRÄCHTIGEN PROZESSION NACH ÄGYPTEN GEBRACHT UND SCHLIESSLICH IN ALEXANDRIA BEIGESETZT, WO ER UNGEFÄHR SECHSHUNDERT JAHRE AUFGEBAHRT BLIEB.

 

DAS MAUSOLEUM DES ALEXANDER GALT ALS WELTWUNDER. RÖMISCHE HERRSCHER WIE JULIUS CÄSAR, AUGUSTUS UND CARACALLA PILGERTEN AN DIESEN ORT. DOCH NACH EINER REIHE VON ERDBEBEN, BRÄNDEN UND KRIEGEN VERFIEL ALEXANDRIA, UND DAS GRABMAL GING VERLOREN.

 

TROTZ ZAHLREICHER AUSGRABUNGEN IST ES NIE GEFUNDEN WORDEN.

PROLOG

DIE LIBYSCHE WÜSTE, 318 VOR CHRISTUS

An der niedrigsten Stelle der Höhle befand sich eine Quelle. Eine dicke Schicht aus Flechten und Schmutz bedeckte die Oberfläche, die seit Jahrhunderten nur durch die Berührung von Insekten oder durch das Blubbern des Gases aus der Tiefe der Wüste gekräuselt wurde.

Plötzlich aber barst diese Haut. Kopf und Schultern eines Mannes tauchten aus dem Wasser auf. Mit nach oben gewandtem Gesicht schnappte er gierig nach Luft. Nur langsam beruhigten sich seine Atemzüge, es war, als wolle sein Herz im Inneren zerplatzen. Erst nach und nach kam er wieder zu sich.

In der Höhle war es stockdunkel, nicht einmal das Wasser schimmerte. Die Erleichterung des Mannes, seinen Tauchgang überlebt zu haben, wich schnell der Angst, dass er nur eine Todesart gegen eine andere getauscht hatte. Er tastete sich an der Kante des Beckens entlang, bis er einen flachen Vorsprung gefunden hatte, stemmte sich hoch und setzte sich. Erst dann griff er unter seiner nassen Tunika nach dem Dolch. Aber eigentlich bestand keine Gefahr, dass er verfolgt worden war. Er hatte sich Stück für Stück durch den Wasserkanal zwängen müssen und konnte sich nicht vorstellen, dass der Libyer, der mit dem Schwert auf ihn hatte einstechen wollen, die Verfolgung aufgenommen hatte. Der fette Kerl wäre sofort im Kanal stecken geblieben und ertrunken.

An seinem Gesicht schwirrte etwas vorbei. Er schrie panisch auf und fuchtelte mit der Hand. Das Echo klang seltsam verlangsamt und dunkel. War diese Höhle doch nicht so klein? Wieder flatterte etwas an ihm vorbei. Es klang wie ein Vogel, aber kein Vogel konnte sich in dieser Finsternis orientieren. Vielleicht eine Fledermaus. In der Dämmerung hatte er ganze Kolonien von Fledermäusen gesehen, die wie Mücken durch die Obstgärten in der Ferne geschwärmt waren. Hoffnung keimte in ihm auf. Wo Fledermäuse waren, da gab es auch einen Weg hinaus. Er tastete die Felsen ab und begann die Wand hinaufzuklettern, die am wenigsten steil war. Er war kein athletischer Mann, und im Dunkeln war der Anstieg tückisch. Aber immerhin gab es in der Wand Vorsprünge oder Löcher, an denen er sich festhalten konnte. Als er an eine Stelle kam, an der es nicht weiterging, kletterte er zurück und fand einen anderen Weg. So ging es stundenlang weiter. Er wurde hungrig und müde. Doch dann stürzte er wieder auf den Boden der Höhle und schrie vor Schreck auf. Ein gebrochenes Bein hätte sein Ende bedeutet. Stattdessen schlug er mit dem Kopf gegen einen Felsen und verlor das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, wusste er im ersten Moment nicht, wo er war. Dann kehrte seine Erinnerung zurück, und es packte ihn eine so tiefe Verzweiflung, dass er beinahe wieder ins Wasser gesprungen wäre. Aber er konnte sich nicht vorstellen, noch einmal durch den Kanal zu tauchen. Nein. Lieber weitermachen. Erneut versuchte er, die Felswand zu erklimmen. Und noch einmal. Schließlich erreichte er einen unsicheren Vorsprung hoch über dem Boden der Höhle, gerade breit genug, um darauf zu knien. Er kroch weiter, links die Felswand, rechts der Abgrund. Ein Fehler, und er würde zu Tode stürzen. Diese Gewissheit bremste ihn nicht, sie schärfte nur seine Konzentration.

Als er nach einer Weile auch auf der anderen Seite eine Felswand spürte, hatte er das Gefühl, ins Innere einer steinernen Schlange zu kriechen. Aber es war nicht mehr ganz so finster wie zuvor. Es wurde immer heller, und mit einem Mal fand er sich ins Licht der untergehenden Sonne getaucht, die nach dem langen Aufenthalt in der totalen Finsternis so blendete, dass er seine Augen abschirmen musste. Die untergehende Sonne! Seit dem Hinterhalt durch Ptolemäus’ Truppen war also mindestens ein Tag vergangen. Er bewegte sich näher an den Rand und schaute hinab. Nichts als nackter Fels und ein klaffender Abgrund. Er schaute nach oben. Der Anstieg war steil, aber es sah machbar aus. Bald würde die Sonne verschwunden sein. Ohne nach unten oder nach oben zu schauen, begann er vorsichtig loszuklettern. Geduld, nur keine übereilte Hast. Einige Male bröckelte der Sandstein unter seinen Händen und Füßen. Als er die überhängende Bergkuppe erreicht hatte, versank die Sonne am Horizont. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit letzter Kraft zog er sich an Fingernägeln, Händen und Ellbogen hoch, er suchte fieberhaft mit Knien und Füßen nach Halt und schürfte sich die Haut an den schroffen Felsen auf. Dann hatte er es endlich geschafft. Er drehte sich auf den Rücken und schaute dankbar in den Nachthimmel.

Kelonimos hatte nie von sich behauptet, ein tapferer Mann zu sein. Er war Lehrer und Heilkundiger, kein Krieger. Trotzdem spürte er den stummen Vorwurf seiner Kameraden. Zusammen im Leben, zusammen im Tod. Das war ihr Schwur gewesen. Als sie schließlich von Ptolemäus umzingelt worden waren, hatten alle anderen ohne Bedenken den Sud aus Kirschlorbeerblättern geschluckt, den Kelonimos für sie zubereitet hatte, damit sich ihre Zungen unter Folter nicht lösten. Er selbst aber hatte sich gesträubt. Plötzlich hatte er furchtbare Angst gehabt, zu früh dahinzuscheiden und dieses herrliche Geschenk des Lebens zu verlieren. Nie wieder die hohen Berge seiner Heimat zu erblicken, die saftigen Ufer ihrer Flüsse oder die Wälder aus Kiefern und Silbertannen. Nie wieder den alten Weisen auf dem Marktplatz zu lauschen. Nie wieder die Umarmungen seiner Mutter zu spüren, seine Schwester zu necken oder mit seinen beiden Neffen zu spielen. Deshalb hatte er nur so getan, als würde er das Gift nehmen. Und als die anderen um ihn herum ihr Leben aushauchten, war er in die Höhle geflohen.

Im Mondlicht war ringsherum nichts als Wüste zu sehen; er war völlig allein. Seine Kameraden waren Schildknappen in Alexanders Armee gewesen, furchtlose Herrscher der Welt allesamt. Nirgendwo hatte er sich sicherer gefühlt als in ihrer Gesellschaft. Ohne sie war er schwach und verletzlich, hilflos in einem Land fremder Götter und unverständlicher Sprachen. Er ging den Abhang hinab, schneller und schneller, panische Angst im Nacken. Dann begann er Hals über Kopf zu laufen, bis er über eine Furche im harten Sand stolperte und stürzte.

Während er sich aufrappelte, überkam ihn eine grauenvolle Ahnung. Im ersten Moment wusste er nicht, woher sie kam. Doch dann zeichneten sich seltsame Formen in der Dunkelheit ab. Als er sich ihnen näherte, begann er zu weinen. Er erkannte das erste Paar. Bilip, der ihn getragen hatte, als ihn seine Kraft vor Areg verlassen hatte. Iatrokles, der ihm wundersame Sagen über ferne Länder erzählt hatte. Kleomenes und Herakles waren die Nächsten. Sie waren zwar bereits tot gewesen, aber Kriminelle und Verräter wurden bei den Makedoniern gekreuzigt, und Ptolemäus hatte aller Welt zeigen wollen, wofür er diese Männer hielt. Dabei waren nicht sie es gewesen, die dem letzten Wunsch des sterbenden Alexanders nicht nachgekommen waren. Nicht sie hatten ihre persönlichen Ziele über die Wünsche ihres Königs gestellt. Nein. Diese Männer hatten nur das tun wollen, was die Aufgabe von Ptolemäus gewesen wäre: ein Grabmal für Alexander zu errichten, in Sichtweite der Ruhestätte seines Vaters.

Kelonimos fiel die gleichmäßige Anordnung der Kreuze auf. Sie standen jeweils in Paaren da. Eins nach dem anderen. Aber ihre Gruppe hatte aus vierunddreißig Männern bestanden. Ohne ihn waren es nur dreiunddreißig. Eine ungerade Zahl. Wie konnten immer zwei Kreuze nebeneinanderstehen? Eine schwache Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht war außer ihm noch jemand davongekommen. Er eilte die grauenvolle Todesallee entlang. Alte Freunde auf beiden Seiten, aber sein Bruder war nicht darunter. Vierundzwanzig Kreuze, aber an keinem hing sein Bruder. Sechsundzwanzig. Im Stillen betete er zu den Göttern, seine Hoffnung wurde immer stärker. Achtundzwanzig. Dreißig. Zweiunddreißig. Und an keinem hing sein Bruder. Weitere Kreuze gab es nicht. Einen Moment verspürte er Euphorie. Aber nicht lange. Wie ein Dolchstoß in die Rippen wurde ihm plötzlich klar, was Ptolemäus getan hatte. Rasend vor Wut und Schmerz schrie er auf und fiel auf die Knie in den Sand.

Als sein Zorn schließlich abflaute, war Kelonimos ein anderer Mensch geworden, ein Mann mit einem festen Ziel. Er hatte den Schwur dieser Männer einmal verraten. Noch einmal würde er ihn nicht verraten. Zusammen im Leben, zusammen im Tod. Ja. Das war er ihnen schuldig. Was auch immer es kostete.

KAPITEL 1

DIE RIFFE VON RAS MOHAMMED, SINAI, ÄGYPTEN

I

Daniel Knox döste zufrieden an Deck, als sich die junge Frau provozierend vor ihn stellte und die Nachmittagssonne verdeckte. Er blinzelte, doch als er sah, wer vor ihm stand, fuhr er auf und blickte sich schnell um. Max hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie die Auserwählte von Hassan Al Assyuti war, und der war stolz auf seinen Ruf, schnell gewalttätig zu werden. Besonders wenn es jemand wagte, in seinem Revier zu wildern. «Ja?», fragte er.

«Sie sind also wirklich Beduine?», sprudelte sie los. «Dieser Max hat jedenfalls gesagt, Sie wären Beduine, aber ich finde, Sie sehen gar nicht so aus. Verstehen Sie mich nicht falsch, irgendwie sehen Sie schon so aus, also ich meine Ihre Hautfarbe und Ihr Haar und die Augenbrauen, aber …»

Kein Wunder, dass Hassan ein Auge auf sie geworfen hat, dachte Knox, während sie weiterredete. Seine Vorliebe für Blondinen war bekannt, und diese hatte ein charmantes Lächeln, bezaubernde türkisgrüne Augen und eine schöne Haut mit ein paar hellen Sommersprossen. Außerdem brachte der grün-gelbe Bikini ihre schlanke Figur perfekt zur Geltung. «Die Mutter meines Vaters war Beduinin», sagte er, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen. «Das ist alles.»

«Wow! Eine Beduinengroßmutter!» Sie nahm das zum Anlass, sich zu ihm zu setzen. «Wie war sie denn so?»

Knox stützte sich auf einen Ellbogen und blinzelte in die Sonne. «Sie war schon tot, als ich geboren wurde.»

«Oh, das tut mir leid.» Eine feuchte Locke fiel ihr ins Gesicht. Sie strich ihr Haar zurück und hielt es mit beiden Händen zu einem Pferdeschwanz, sodass ihre Brüste hervorstanden. «Sind Sie hier aufgewachsen? In der Wüste?»

Er schaute sich um. Sie befanden sich auf Max Stratis Tauchschiff, mitten im Roten Meer. «Wüste?», fragte er.

«Tsts!» Sie boxte ihm spielerisch gegen die Brust. «Sie wissen, was ich meine.»

«Ich bin Engländer», sagte er.

«Ich mag Ihr Tattoo.» Sie fuhr mit der Fingerspitze über den blaugoldenen, sechzehnzackigen Stern auf seinem rechten Oberarm. «Was ist das?»

«Der Stern von Vergina», antwortete Knox. «Ein Symbol der Argeaden.»

«Der was?»

«Der alten königlichen Familie von Makedonien.»

«Was? Meinen Sie Alexander den Großen?»

«Sehr gut.»

Sie rümpfte ihre Nase. «Sind Sie ein Fan von ihm? Ich habe gehört, er wäre ein Säufer und Ekel gewesen.»

«Dann haben Sie etwas Falsches gehört.»

Sie lächelte. Anscheinend gefiel es ihr, zurechtgewiesen zu werden. «Na los, klären Sie mich auf.»

Knox runzelte die Stirn. Wo sollte man bei einem Mann wie Alexander anfangen? «Einmal belagerte er mit seinen Truppen eine Stadt namens Multan», erzählte er ihr. «Das war schon am Ende seiner Feldzüge. Seine Männer hatten das Kämpfen satt und wollten nur noch nach Hause. Aber Alexander ließ das nicht zu. Er war als Erster oben auf der Stadtmauer. Die Verteidiger stießen alle Angriffsleitern weg, deshalb war er plötzlich ganz auf sich allein gestellt. Jeder normale Mensch hätte versucht, sich in Sicherheit zu bringen, nicht wahr? Aber wissen Sie, was Alexander getan hat?»

«Was?»

«Er sprang ins Innere der Festung. Nur so konnte er seine Männer dazu bringen, ihm zu folgen.» Und das taten sie auch. Sie haben die Stadt in Schutt und Asche gelegt, um ihn zu retten, und sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Die Wunden, die er an diesem Tag davontrug, haben wahrscheinlich zu seinem frühen Tod geführt, aber auch seinen Mythos vergrößert. «Er rühmte sich damit, dass sein gesamter Körper mit Narben übersät war, außer sein Rücken.»

Sie lachte. «Hört sich nach einem Psycho an.»

«Das waren andere Zeiten», sagte Knox. «Als er die Mutter des persischen Herrschers gefangen nahm, hat er sie unter seinen persönlichen Schutz gestellt. Als er starb, fiel sie in so tiefe Trauer, dass sie sich zu Tode hungerte. Nicht als ihr eigener Sohn starb, sondern als Alexander starb. Das tut man nicht für einen Psychopathen.»

«Mmmh», sagte sie. Offenbar langweilte sie die Geschichte schon. Sie kniete sich hin, beugte sich über ihn und warf den Deckel der Kühlbox auf. Seelenruhig begutachtete sie jede einzelne Flasche und Dose, während genau vor seiner Nase ihre Brüste im Bikinioberteil umherschaukelten. Knox konnte ihre Brustwarzen erkennen. Plötzlich fühlte sich sein Mund etwas trocken an. Dass sie es nur darauf anlegte, tat der Wirkung keinen Abbruch. Aber sofort musste er auch an Hassan denken und wandte den Blick ab. Sie ließ sich zurückfallen, eine offene Flasche in der Hand und ein schelmisches Lächeln auf den Lippen. «Wollen Sie auch was?», fragte sie.

«Nein, danke.»

Sie zuckte mit den Achseln und nahm einen Schluck. «Kennen Sie Hassan schon lange?»

«Nein.»

«Sind Sie ein Freund von ihm?»

«Ich stehe nur auf seiner Gehaltsliste, Schätzchen.»

«Aber er ist koscher, oder?»

«Das ist wohl kaum die passende Beschreibung für einen Moslem.»

«Sie wissen, was ich meine.»

Knox zuckte mit den Schultern. Um kalte Füße zu kriegen, war es längst zu spät für sie. Hassan hatte sie in einem Nachtklub aufgegabelt, nicht in der Sonntagsschule. Wenn er ihr nicht gefiel, hätte sie nein sagen sollen, ganz einfach. War sie naiv oder dumm? Allerdings schien sie genau zu wissen, was sie mit ihrem Körper anstellte.

In diesem Moment tauchte Max Strati hinter dem Kabinengang auf und eilte mit großen Schritten auf sie zu. «Was ist denn hier los?», fragte er eisig. Vor zwanzig Jahren hatte er seinen Urlaub in Scharm El Scheich verbracht und war dort hängengeblieben. Inzwischen hatte er sich in Ägypten etwas aufgebaut, und das wollte er nicht riskieren, indem er Hassan verärgerte.

«Wir reden nur», sagte Knox.

«Das kannst du nach Feierabend machen», sagte Max. «Herr Al Assyuti wünscht, dass seine Gäste noch einen letzten Tauchgang machen.»

Knox erhob sich. «Ich bereite alles vor.»

Das Mädchen sprang begeistert auf. «Super! Ich dachte, wir würden heute nicht mehr runtergehen.»

«Sie werden uns nicht begleiten, Fiona», sagte Max knapp. «Wir haben nicht genug Sauerstoffflaschen. Sie bleiben hier bei Herrn Al Assyuti.»

«Oh.» Plötzlich wirkte sie verängstigt wie ein kleines Kind und legte Hilfe suchend eine Hand auf Knox’ Unterarm. Er schüttelte sie ab und ging verärgert zum Heck, wo neben den Plastikkisten mit Neoprenanzügen, Schwimmflossen, Schnorcheln und Taucherbrillen die Sauerstoffflaschen in Stahlregalen lagen. Ein kurzer Blick bestätigte, was Knox bereits gewusst hatte: volle Flaschen gab es mehr als genug. Da er Max Stratis stechenden Blick spüren konnte, drehte er sich lieber nicht um. Das Mädchen war nicht sein Problem. Sie war alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Er hatte keine Beziehung zu ihr und keinerlei Verpflichtungen. Um sich in dieser Stadt zu etablieren, hatte er sich den Arsch abgearbeitet, und das würde er nicht aufs Spiel setzen, nur weil irgendein unreifes junges Ding ihren Preis falsch eingeschätzt hatte. Aber seine Rechtfertigungen halfen nicht viel. Mit einem flauen Gefühl im Magen hockte er sich vor die Kisten, um das Equipment zu checken.

II

DIE AUSGRABUNGSSTÄTTE DER MAKEDONISCHEN ARCHÄOLOGISCHEN STIFTUNG IM NILDELTA, NORDÄGYPTEN

«Hallo!», rief Gaille Bonnard. «Ist da jemand?»

Sie wartete geduldig auf eine Antwort, aber es kam keine. Seltsam. Kristos hatte ihr gesagt, dass Elena ihre Hilfe bei der Übersetzung eines Ostrakons brauchte, aber weder sie noch ihr Wagen waren zu sehen, und das Magazin, in dem sie normalerweise arbeitete, war geschlossen. Eine leichte Verärgerung kam in Gaille auf. Der Weg hierher hatte ihr nichts ausgemacht, aber sie verschwendete ungern ihre Zeit. Doch dann bemerkte sie, dass die Tür der Baracke nur angelehnt war. Bei Gailles früheren Besuchen war die Tür immer abgeschlossen gewesen. Sie klopfte an, zog sie auf und schaute hinein. An den Wänden standen Regale, in denen Taschenlampen, Hämmer, Hacken, Eimer, Seile und andere archäologische Ausrüstungsgegenstände lagerten. Und im Boden befand sich ein dunkles, quadratisches Loch, aus dem eine Holzleiter herausragte.

Gaille bückte sich und rief hinunter. Keine Antwort. Sie wartete einen Augenblick und rief erneut. Als sich immer noch nichts tat, richtete sie sich auf und überlegte. Elena Koloktronis war die Leiterin dieser Ausgrabung der Makedonischen Archäologischen Stiftung, und sie gehörte zu jenen Chefinnen, die ihr gesamtes Team für unfähig halten und lieber alles selbst erledigen. Ständig unterbrach sie eine Arbeit, um sich um eine andere zu kümmern. Vielleicht war das auch jetzt der Fall. Oder sie hatte die Nachricht nicht erhalten. Leider konnte man Elena nie etwas recht machen. Wenn man sie suchte, hätte man sich besser nicht von der Stelle gerührt. Wenn man auf sie wartete, war sie sauer, dass man sie nicht gesucht hatte.

Als sich Gaille erneut bückte, schmerzten ihre Beine von der Arbeit des Tages. Leicht beunruhigt rief sie erneut in das dunkle Loch. Und wenn Elena gestürzt war? Gaille schaltete eine Taschenlampe an, aber der Schacht war zu tief und der Lichtstrahl verlor sich in der Dunkelheit. Besser, sie schaute nach. Da sie Höhenangst hatte, holte sie tief Luft und stellte erst einen Fuß auf die oberste Strebe, dann den anderen. Als sie sich sicher fühlte, stieg sie vorsichtig hinab. Die Leiter quietschte, ebenso die Seile, mit denen sie an der Wand befestigt war. Der Schacht führte viel weiter in die Tiefe, als sie gedacht hatte, vielleicht sechs Meter. Normalerweise konnte man im Delta nicht so tief graben, ohne den Grundwasserspiegel zu erreichen, aber die Ausgrabungsstätte lag auf einem Hügel, der von den jährlichen Überschwemmungen des Nils verschont blieb. Deshalb war er schon in der Antike bewohnt gewesen. Gaille rief erneut, hörte aber nur ihren eigenen Atem, der in dem engen Schacht verstärkt wurde. Lose Erde rieselte an ihr vorbei. Doch die Neugier war größer als ihre Vorsicht. Natürlich kannte sie die Gerüchte über diesen Ort, obwohl keiner ihrer Kollegen offen darüber sprechen wollte.

Schließlich kam sie unten an. Der Boden war mit Basalt-, Granit- und Quarzscherben übersät, als wären alte Monumente und Statuen zerschlagen und hinabgeschüttet worden. Ein schmaler Gang führte nach links. Sie rief erneut, dieses Mal leiser, und hoffte, keine Antwort zu erhalten. Ihre Lampe begann zu flackern und ging dann ganz aus. Sie klopfte sie gegen die Wand, und die Lampe leuchtete wieder. Als Gaille weiterging, knirschten die Scherben unter ihren Füßen. Zu ihrer Linken sah sie eine Wandmalerei in erstaunlich hellen Farben. Offenbar war sie gesäubert, vielleicht sogar retuschiert worden. Eine menschliche Gestalt im Profil, gekleidet wie ein Soldat, aber mit dem Kopf und der Mähne eines grauen Wolfes. In der linken Hand hielt sie einen Stab, in der rechten eine Militärstandarte, deren Stange zwischen den Füßen ruhte. Neben der Schulter entfaltete sich eine scharlachrote Fahne vor einem türkisfarbenen Himmel.

Mit den antiken ägyptischen Göttern kannte sich Gaille nicht besonders gut aus, doch ihr Wissen reichte, um Wepwawet zu erkennen, einen Wolfgott, der mit anderen Göttern schließlich zu Anubis, dem Schakal, verschmolzen war. Er war vor allem als Kriegsgott verehrt und häufig auf ägyptischen Militärstandarten dargestellt worden. Sein Name bedeutete ‹Wegeöffner›, er war sozusagen der Kundschafter der Armee gewesen. Aus diesem Grund war ein Miniaturroboter, der zur Erforschung der Luftschächte in den großen Pyramiden konstruiert worden war, nach einer Abwandlung seines Namens benannt: Upuaut. Soweit Gaille wusste, hatte er im Mittleren Reich um sechzehnhundert vor Christus an Bedeutung verloren. Das hieß, dass diese Wandmalerei über dreitausendfünfhundert Jahre alt sein musste. Die Standarte, die Wepwawet hielt, erzählte jedoch eine andere Geschichte: Darauf sah man Kopf und Schultern eines gutaussehenden jungen Mannes, dessen Gesicht einen glückseligen Ausdruck hatte und wie das einer Renaissance-Madonna leicht nach oben geneigt war. Man konnte nie sicher sein, ob man es wirklich mit einem Porträt von Alexander dem Großen zu tun hatte; sein Einfluss auf die Ikonographie war so groß gewesen, dass die Menschen noch Jahrhunderte später so aussehen wollten wie er. Wenn dies nicht Alexander war, dann war das Bild zweifellos von ihm beeinflusst und konnte unmöglich früher datiert sein als 332 vor Christus. Und das warf eine wichtige Frage auf: Was um Himmels willen hatte er auf einer Standarte zu suchen, die von Wepwawet gehalten wurde? Einem Gott, der schon lange vor Alexanders Zeit aus dem Blickfeld verschwunden war?

Sie schob diese Gedanken beiseite und ging weiter. Elenas Namen murmelte sie inzwischen nur noch als Entschuldigung, falls sie jemandem begegnen sollte. Als ihre Taschenlampe erneut ausging, wurde es völlig finster um sie herum. Wieder klopfte sie die Lampe gegen die Wand, bis sie aufleuchtete. Sie kam zu einer weiteren Wandmalerei, die mit der ersten identisch, aber noch nicht vollständig gereinigt war. Die Wände sahen verkohlt aus, als hätte hier ein großes Feuer gewütet. Weißer Marmor leuchtete vor ihr auf, zwei Steinwölfe, die auf dem Bauch lagen. Weitere Wölfe. Sie runzelte die Stirn. Als die Makedonier Ägypten erobert hatten, gaben sie vielen Städten zu Verwaltungszwecken griechische Namen, die sich häufig von lokalen Kultgöttern ableiteten. Wenn Wepwawet der Kultgott dieses Ortes gewesen war, dann wird dies bestimmt 

«Gaille! Gaille!» Aus der Ferne rief Elena. «Sind Sie da unten? Gaille!»

Gaille lief den Gang zurück. «Elena?», rief sie hinauf. «Sind Sie das?»

«Was haben Sie dort unten zu suchen?»

«Ich dachte, Sie wären gestürzt und brauchen Hilfe.»

«Kommen Sie hoch!», befahl Elena wütend. «Sofort.»

Gaille kletterte hinauf. Sie hielt die Luft an, bis sie oben war. Dann sagte sie schnell: «Kristos hat mir gesagt, Sie wollten …»

Elena stürzte auf Gaille zu. «Wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass niemand hier rein darf?», schrie sie. «Wie oft?»

«Es tut mir leid, Frau Koloktronis, aber …»

«Für wen halten Sie sich eigentlich?» Ihr Gesicht war gerötet, an ihrem Hals traten die Sehnen hervor. «Wie können Sie es wagen, dort runterzugehen? Wie können Sie es wagen?»

«Ich dachte, Sie wären gestürzt», wiederholte Gaille. «Ich dachte, Sie würden Hilfe brauchen.»

«Wagen Sie es nicht, mich zu unterbrechen.»

«Das war nicht …»

«Wagen Sie es nicht! Wagen Sie es nicht!»

Gaille blieb reglos stehen. Einen Augenblick überlegte sie, zurückzublaffen. Schließlich war es nicht mal drei Wochen her, dass Elena überraschend angerufen und sie förmlich angefleht hatte, ihr Projekt an der Sorbonne – die Arbeit an einem altägyptischen Wörterbuch – zu unterbrechen, um für eine erkrankte Skryptologin einzuspringen. Doch in dieser Welt merkte man sofort, ob man den anderen gewachsen war, und Gaille hatte keine Chance gehabt. Sie war entsetzt gewesen, als Elena das erste Mal explodiert war; doch ihre neuen Kollegen hatten nur abgewinkt und ihr gesagt, dass Elena seit dem Tod ihres Mannes so sei. Sie brodelte innerlich wie ein Vulkan und brach unvorhersagbar mit blinder, feuriger und manchmal aufsehenerregender Gewalt aus. Mittlerweile waren ihre Ausbrüche fast zu einer Gewohnheit geworden, die man fürchtete und ertrug wie den Zorn der Götter. Also stand Gaille einfach da und ließ alles über sich ergehen: Elenas verletzende und gehässige Bemerkungen über ihre armseligen Fähigkeiten, ihren Undank und den Schaden, den ihre Karriere nehmen würde, wenn dies herauskam – wobei Elena natürlich alles tun würde, um sie zu schützen.

«Es tut mir leid, Frau Koloktronis», sagte Gaille, als der Ausbruch endlich vorüber war. «Kristos sagte, dass Sie mich sehen wollten.»

«Ich habe ihm gesagt, dass ich zu Ihnen kommen würde.»

«Mir hat er etwas anderes gesagt. Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie nicht gestürzt sind.»

«Wohin sind Sie gegangen?»

«Nirgendwohin. Ich bin nur die Leiter hinuntergeklettert.»

«Na gut», sagte Elena widerwillig. «Dann reden wir nicht mehr davon. Aber sagen Sie Qasim nichts, sonst kann ich Sie nicht schützen.»

«Ja, Frau Koloktronis», sagte Gaille. Qasim war der für die Ausgrabungsstätte zuständige Vertreter der ägyptischen Antiquitätenbehörde. Er tat mindestens genauso geheimnisvoll wie Elena, wenn es um diesen Ort ging. Bestimmt wäre es peinlich für Elena, wenn sie zugeben müsste, dass die Tür weder verschlossen noch bewacht gewesen war.

«Kommen Sie mit», sagte Elena, schloss die Stahltür und führte sie dann durch das Magazin. «Ich habe hier ein Ostrakon, zu dem ich gerne Ihre Meinung hätte. Zu 99,99 Prozent ist mir die Übersetzung klar. Vielleicht können Sie mir bei den restlichen 0,01 Prozent helfen.»

«Ja, Frau Koloktronis», sagte Gaille unterwürfig. «Sehr gerne.»

III

«Bist du bescheuert?», schnauzte Max, der Knox ans Heck des Schiffes gefolgt war. «Hast du Todessehnsucht, oder was? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst Hassans Mädchen in Ruhe lassen?»

«Sie wollte mit mir reden», entgegnete Knox. «Sollte ich unhöflich sein?»

«Du hast mit ihr geflirtet.»

«Sie hat mit mir geflirtet.»

«Das ist noch schlimmer. Himmel!» Er schaute sich mit angsterfülltem Blick um. So wurden die Leute, wenn sie für Hassan arbeiteten.

«Tut mir leid», sagte Knox. «Ich halte mich von ihr fern.»

«Das solltest du auch. Glaub mir, wenn du Hassan auf die Füße trittst, können du und dein Kumpel euer kleines Projekt vergessen, was auch immer das für ein Scheiß ist.»

«Nicht so laut.»

«Ich warne dich nur.» Er drohte mit dem Finger, als wollte er noch etwas sagen, doch dann wandte er sich um und ging davon.

Knox schaute ihm hinterher. Er mochte Max nicht, und Max mochte ihn nicht. Aber sie hatten eine Zweckbeziehung. Max leitete die Tauchschule, und Knox war ein guter und verlässlicher Tauchlehrer, der wusste, wie man die Touristen so umgarnte, dass sie ihn weiterempfahlen. Außerdem arbeitete er für Peanuts. Im Gegenzug durfte er für sein kleines Projekt, wie Max es abschätzig genannt hatte, Max’ Schiff und Sonargerät benutzen. Knox lächelte amüsiert. Sollte Max Strati jemals herausfinden, was er und Rick suchten, würde er es nicht mehr als kleines Projekt abtun.

Knox war vor drei Jahren nach Scharm gekommen. Er war erst vier Wochen dort gewesen, als etwas Außerordentliches passiert war. Und der Auslöser war genau jenes Tattoo gewesen, das auch Fiona aufgefallen war. Als er eines Abends bei einem Bier an der Strandpromenade gesessen hatte, war ein kräftig gebauter Australier zu ihm gekommen. «Was dagegen, wenn ich mich setze?», hatte er gefragt.

«Bitte.»

«Ich bin Rick.»

«Daniel. Aber jeder nennt mich Knox.»

«Ja. Das hat man mir gesagt.»

Knox musterte ihn. «Haben Sie sich über mich erkundigt?»

«Man sagt, Sie seien Archäologe.»

«War ich mal.»

«Sie haben die Arbeit aufgegeben, um Tauchlehrer zu werden?», fragte Rick skeptisch.

«Sie hat mich aufgegeben», erklärte Knox. «Krach mit dem Establishment.»

«Aha.» Er beugte sich vor. «Interessantes Tattoo.»

«Finden Sie?»

Rick nickte. «Kann ich Ihnen etwas zeigen, ohne dass Sie es gleich überall herumposaunen?»

«Sicher», sagte Knox achselzuckend.

Rick griff in seine Tasche und holte eine Streichholzschachtel hervor. Eingebettet in Watte lag darin ein dicker, goldener Anhänger; er war ungefähr drei Zentimeter lang und hatte am schmalen Ende eine Öse für eine Kette oder einen Haken. Kleine rosafarbene Flecken ließen darauf schließen, dass er in den Korallen gelegen hatte. Und auf der Unterseite war ein sechzehnzackiger Stern zu sehen. «Ich habe ihn vor ein paar Jahren gefunden», erklärte Rick. «Ich dachte, Sie könnten mir mehr darüber erzählen. Es ist doch Alexanders Symbol, oder?»

«Ja. Wo haben Sie ihn gefunden?»

«Na klar», entrüstete sich Rick, nahm den Anhänger, legte ihn eifersüchtig in die provisorische Schatulle und steckte sie wieder ein. «Als wenn ich Ihnen das erzählen würde. Und? Fällt Ihnen was dazu ein?»

«Es könnte alles Mögliche sein», erwiderte Knox. «Eine Troddel für eine Robe, ein Klöppel oder so etwas. Vielleicht ein Ohrring.»

«Was?», fragte Rick stirnrunzelnd. «Alexander hat Ohrringe getragen?»

«Der Stern bedeutet nicht, dass ihm das Stück persönlich gehört hat. Vielleicht gehörte es nur zu seinem Hof.»

«Ach.» Rick sah enttäuscht aus.

Knox musterte ihn. «Und Sie haben es hier in den Riffen gefunden, richtig?»

«Ja. Warum?»

«Es ist nur merkwürdig. Alexander ist nie hier gewesen. Seine Männer auch nicht.»

Rick schnaubte. «Ich dachte, Sie seien Archäologe! Selbst ich weiß, dass er in Ägypten war. Er hat diesen Ort in der Wüste besucht.»

«Ja, das Orakel von Amun in der Oase Siwa. Aber er ist nicht nach Scharm gekommen, glauben Sie mir. Er ist an der Nordküste des Sinai entlanggezogen.»

«Ach. Und das war sein einziger Besuch hier?»

«Ja, außer …» Knox’ Herz schlug plötzlich wie verrückt. Ihm war ein unglaublicher Gedanke gekommen. «Mein Gott!», murmelte er.

«Was?», fragte Rick aufgeregt.

«Nein. Nein, das kann nicht sein.»

«Was denn? Erzählen Sie!»

Knox schüttelte entschieden den Kopf. «Nein. Es ist nichts.»

«Kommen Sie schon, Kumpel. Jetzt müssen Sie es mir erzählen.»

«Nur wenn Sie mir sagen, wo genau Sie den Anhänger gefunden haben.»

Rick sah ihn an. «Sie glauben, es gibt mehr? Das glauben Sie doch, oder?»

«Eigentlich nicht. Aber es ist möglich.»

Rick zögerte. «Und Sie sind wirklich Taucher?»

«Ja.»

«Ich könnte einen Partner gebrauchen. Allein tut man sich schwer hier. Wenn ich es Ihnen sage, suchen wir gemeinsam, okay?»

«Okay.»

«Gut. Dann erzählen Sie.»

«Na schön. Aber denken Sie daran, es ist reine Spekulation. Die Chancen, dass es wirklich das ist, was ich denke …»

«Hab ich kapiert. Schießen Sie los.»

«Die lange oder die kurze Version?»

Rick zuckte mit den Achseln. «Ich hab eh nichts zu tun.»

«Zuerst muss ich Ihnen ein paar Hintergrundinformationen geben. Wie gesagt, Alexander kam nur einmal in seinem Leben nach Ägypten, und zwar für wenige Monate. Er durchquerte den Norden der Sinai-Halbinsel bis zum Nildelta, dann zog er gen Süden in die alte Hauptstadt Memphis, gleich südlich von Kairo, wo er gekrönt wurde. Danach ging es wieder nach Norden, um Alexandria zu gründen, dann westlich entlang der Küste nach Paraetonium, dem heutigen Marsa Matruh, und schließlich Richtung Süden durch die Wüste nach Siwa. Anscheinend haben er und seine Leute sich verlaufen. Ein Bericht sagt, dass sie verdurstet wären, wenn nicht zwei sprechende Schlangen sie zur Oase geführt hätten.»

«Diese sprechenden Schlangen. Immer zur Stelle, wenn man sie braucht.»

«Aristobulus erzählt eine plausiblere Geschichte. Seiner Meinung nach sind sie zwei Raben gefolgt. Wenn man eine gewisse Zeit in der Wüste verbringt, kann man davon ausgehen, irgendwann welche zu sehen. An manchen Stellen sind es so ziemlich die einzigen Vögel, die man zu Gesicht bekommt. Sie sind häufig in Paaren unterwegs und ziemlich freche Biester. Wenn sie keine Schlangen oder Heuschrecken zum Fressen finden, suchen sie die Lager von Reisenden nach Abfall ab, ehe sie wieder in die nächste Oase verschwinden. Wenn man ihnen also folgt …»

Rick nickte. «Wie Delphine im Sandmeer.»

«Wenn Sie so wollen», stimmte Knox zu. «Jedenfalls brachten sie Alexander nach Siwa, wo er das Orakel befragte, und dann ging es wieder in die Wüste. Dieses Mal folgte er aber dem Karawanenweg östlich zur Oase Bahariyya, wo ihm ein berühmter Tempel gewidmet wurde, und schließlich zurück nach Memphis. Das war es dann schon. Danach ging es wieder gegen die Perser. Doch nach seinem Tod wurde er zur Bestattung nach Ägypten zurückgebracht.»

«Aha! Und Sie glauben, daher stammt dieser Anhänger?»

«Ich halte es für möglich. Sie dürfen eines nicht vergessen: Wir reden hier von Alexander dem Großen. Er führte dreißigtausend Makedonier über den Hellespont, um Xerxes’ Invasion von Griechenland zu rächen, obwohl er wusste, dass er es mit zehnmal größeren Armeen zu tun bekommen würde. Er schlug die Perser nicht ein Mal, nicht zwei Mal, sondern drei Mal vernichtend und setzte dann einfach seinen Weg fort. Er trug zahllose Schlachten aus, und er gewann sie alle. Alexander machte sich zum mächtigsten Mann, den die Welt jemals gesehen hat. Als sein bester Freund Hephaiston starb, bettete er ihn auf einem wunderschön geschnitzten, achtzig Meter hohen Scheiterhaufen, ein Gebilde wie die Oper in Sydney. Und dann steckte er es einfach an und erfreute sich am Feuer. Sie können sich also vorstellen, dass seine Leute auf etwas ganz Besonderes bestanden, als Alexander starb.»

«Kapiere.»

«Ein Scheiterhaufen kam nicht in Frage. Alexanders Leichnam war viel zu kostbar, um verbrannt zu werden. Abgesehen von allen anderen Aufgaben musste der neue makedonische König seinen Vorgänger bestatten. Wer also Alexanders Leichnam hatte, konnte auch die Herrschaft für sich beanspruchen; zumal Alexander keinen Nachfolger bestimmt hatte und jeder um den Thron kämpfte.»

Rick deutete auf das leere Glas vor Knox. «Noch ein Bier?»

«Ja, gerne.»

«Zwei Bier», rief Rick dem Barmann zu. «Entschuldigen Sie. Sie sagten gerade, jeder kämpfte um den Thron.»

«Genau. Die Frage der Thronfolge war ziemlich offen. Alexander hatte einen Bruder, aber der war ein Schwachkopf. Und seine Frau Roxanne war zwar schwanger, aber niemand konnte wissen, ob sie einen Sohn gebären würde. Außerdem war Roxanne eine Barbarin, und die Makedonier hatten nicht die ganze bekannte Welt erobert, um von einem Halbblut regiert zu werden. Deshalb versammelte sich die Armee in Babylon, und man fand einen Kompromiss: Der schwachsinnige Bruder und das ungeborene Kind, das tatsächlich ein Junge wurde, Alexander der Vierte, sollten gemeinsam regieren. Die verschiedenen Regionen des Reiches aber sollten von Statthaltern verwaltet werden, die einem Triumvirat unterstanden. Können Sie mir folgen?»

«Ja.»

«Einer von Alexanders Generälen war Ptolemäus. Er war derjenige, der behauptete, dass Alexander von sprechenden Schlangen nach Siwa geführt worden war. Aber lassen Sie sich davon nicht täuschen. Er war ein sehr gescheiter und fähiger Mann. Ihm war klar, dass das Reich ohne Alexander in Einzelteile zerfallen würde, und er beanspruchte Ägypten für sich. Das Land war reich, lag abseits und würde kaum in die Kriege anderer verwickelt werden. Also machte er sich selbst zum Statthalter, wurde schließlich Pharao und gründete die Dynastie der Ptolemäer, die mit Kleopatra endete. Alles klar?»

Das Bier wurde gebracht. Sie prosteten sich zu. «Fahren Sie fort», sagte Rick.

«Es war nicht leicht für Ptolemäus, sich selbst zum Pharao zu krönen», sagte Knox. «Die Ägypter erkannten nicht einfach jeden an. Ein Herrscher musste eine Legitimität vorweisen. Bei Alexander war das anders, er war ein lebender Gott von unbestritten königlichem Blut gewesen, der die verhassten Perser außer Landes getrieben hatte. Von einem solchen Mann regiert zu werden war keine Schande. Ptolemäus aber war für die Ägypter ein unbeschriebenes Blatt. Was er also brauchte, war ein Symbol der Regentschaft.»

«Aha», meinte Rick und wischte sich Schaum von der Oberlippe. «Alexanders Leiche.»

«Volle Punktzahl», grinste Knox. «Ptolemäus wollte Alexanders Leichnam. Aber da war er nicht der Einzige. Der Kopf des makedonischen Triumvirates war Perdikkas. Er hatte eigene Ziele. Er wollte Alexander zurück nach Makedonien bringen, um ihn neben seinem Vater Philipp in der königlichen Gruft in Aigai in Nordgriechenland zu bestatten. Aber es war nicht leicht, den Leichnam von Babylon nach Makedonien zu bringen. Man konnte ihn nicht einfach aufs erstbeste Schiff laden. Er musste mit einem gewissen Stil reisen.»

Rick nickte. «Geht mir genauso.»

«Dem Historiker Diodorus von Sizilien verdanken wir eine sehr detaillierte Beschreibung. Alexanders Leiche wurde einbalsamiert, in einen Sarg aus Blattgold gelegt und mit teuren, süßlich riechenden Gewürzen bedeckt. Außerdem wurde ein Katafalk, ein Leichenwagen, in Auftrag gegeben. Der Wagen war so prachtvoll, dass der Bau über ein Jahr dauerte. Ein Goldtempel auf Rädern, sechs Meter lang, vier Meter breit. Goldene, mit Akanthus umrankte ionische Säulen trugen ein hohes, gewölbtes Dach aus goldenen und mit Juwelen besetzten Schindeln. Vom Dach erhob sich ein goldener Mast, der in der Sonne funkelte wie Blitze. An jeder Ecke des Katafalks befand sich eine goldene Statue von Nike, der antiken Siegesgöttin, die eine Trophäe hielt. Die goldenen Leisten waren mit Steinbockköpfen verziert, an denen goldene Ringe hingen, die eine helle, vielfarbige Girlande trugen. Zwischen den Säulen war ein Goldnetz gespannt, das den Sarg vor der glühenden Sonne und dem Regen schützen sollte. Der Eingang wurde von goldenen Löwen bewacht.»

«Eine ganze Menge Gold», sagte Rick skeptisch.

«Alexander war unglaublich reich», entgegnete Knox. «Allein in seinen persischen Schatzkammern befanden sich über siebentausend Tonnen Gold und Silber. Zwanzigtausend Maultiere und fünftausend Kamele waren nötig, um das alles zu bewegen. Wissen Sie, wie das Gold gelagert wurde?»

«Wie?»

«Es wurde geschmolzen und in Töpfe gegossen, dann wurde einfach der Ton abgeschlagen.»

«Verdammte Scheiße», lachte Rick. «Mir würde es schon reichen, eins von den Dingern zu finden.»

«Genau. Und die Generäle wagten es nicht, knauserig damit zu sein. Alexander war ein Gott für die makedonischen Truppen. Wenn sie geizig gewesen wären, hätten sie schnell die Loyalität ihrer Soldaten verloren. Jedenfalls war der Leichenwagen irgendwann fertig. Er war allerdings so schwer, dass die Wagenbauer extra gefederte Räder und Achsen erfinden mussten, und trotzdem musste die Strecke von einem Trupp Straßenbauer noch speziell präpariert werden. Man brauchte vierundsechzig Maultiere, um den Wagen zu ziehen.» Er hielt inne und trank einen Schluck Bier. «Vierundsechzig Maultiere», wiederholte er nickend. «Jedes Tier trug ein mit Edelsteinen verziertes Kummet und ein vergoldetes Hauptgestell. Und bei jedem Tier hing an beiden Seiten des Hauptgestells ein goldenes Glöckchen, und jedes dieser Glöckchen war mit einem goldenen Klöppel versehen, mit genau so einem, wie Sie ihn in Ihrer Streichholzschachtel haben.»

«Sie verarschen mich», sagte Rick geschockt.

«Und außerdem», grinste Knox, «sind dieser Katafalk und das ganze Gold einfach von der Bildfläche verschwunden, und zwar spurlos.»

KAPITEL 2

EINE HOTELBAUSTELLE, ALEXANDRIA

I

Auf Mohammed El Dahabs Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto seiner Tochter Layla. Es war vor zwei Jahren aufgenommen worden, kurz bevor sie krank wurde. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, während der Arbeit regelmäßig auf das Foto zu schauen. Manchmal erfreute ihn der Anblick ihres Gesichts. Häufig jedoch, wie in diesem Moment, verließ ihn der Mut. Mit Daumen und Zeigefinger knetete er seinen Nasenrücken und murmelte ein leises, inniges Gebet. So betete er vielleicht dreißig Mal am Tag für sie, ebenso während seiner rituellen reh’kahs. Bisher hatten seine Gebete wenig geholfen, aber so war der Glaube nun einmal. Man musste es immer wieder versuchen.

Draußen ertönten merkwürdige Geräusche, Schreie und frohlockendes Gelächter. Er schaute gereizt aus seinem Bürofenster. Die Arbeit auf der Baustelle war zum Erliegen gekommen. Seine Kolonne hatte sich in einer Ecke versammelt, Ahmed tanzte wie ein Derwisch bei einem moulid. Verärgert lief Mohammed hinaus. Allah hatte ihn mit den faulsten Arbeitern in ganz Ägypten gestraft. Jede Ausrede war ihnen recht! Mit finsterer Miene ging er hinaus und wollte seine Männer ordentlich zusammenstauchen, doch als er sah, was den Aufruhr verursacht hatte, verflog sein Ärger schlagartig. Der Bagger hatte ein großes Loch in den Boden gerissen und eine Wendeltreppe freigelegt, die in einen tiefen, dunklen Schacht führte, in dem Staub wirbelte. Die Treppe sah alt aus, so alt wie die Stadt.

Mohammed und seine Männer starrten sich an. Jeder von ihnen hatte den gleichen Gedanken. Wie lange war dieser Schacht verborgen gewesen? Wer konnte ahnen, welche Reichtümer dort unten lagen? Alexandria war nicht nur eine der antiken Metropolen gewesen, sie rühmte sich auch eines verlorenen Schatzes von Weltruhm. Gab es einen Mann unter ihnen, der nicht davon geträumt hatte, den goldenen Sarkophag des Stadtgründers Iskandar Al Akbar, Alexander des Großen, zu entdecken? Junge Burschen gruben Löcher in öffentliche Parkanlagen; Frauen erzählten ihren Freundinnen von seltsamen Echos, die sie hörten, wenn sie gegen die Wände ihrer Keller klopften; Diebe brachen in antike Zisternen und verbotene Keller von Tempeln und Moscheen ein. Aber wenn sich der Schatz irgendwo befand, dann hier im Herzen des antiken königlichen Viertels der Stadt. Mohammed war kein Träumer, aber als er in diesen tiefen Schacht schaute, zog sich sein Magen zusammen.

War dies am Ende das Wunder, auf das er gewartet hatte?

Er bat um Fahds Taschenlampe und setzte vorsichtig seinen linken Fuß auf die oberste Stufe. Mohammed war ein großer Mann, und das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sein beträchtliches Gewicht auf den ausgetretenen Stein verlagerte. Doch er machte einen stabilen Eindruck. Mit dem Rücken zum rauen Kalkstein der Außenwand probierte er die nächsten Stufen. Die Innenwand, die die Wendeltreppe von dem breiten, zentralen Schacht trennte, war aus Ziegeln gemauert, von denen viele verwittert oder herausgefallen waren. Mohammed warf einen Stein in das Loch und wartete mit angehaltenem Atem, bis er vier Herzschläge später am Boden aufkam. Als die Wendeltreppe sich über ihm schloss, sah er, dass die gesamte Treppe in den Fels gehauen war. Es war eher eine Skulptur als ein Bauwerk. Diese Erkenntnis schenkte ihm Vertrauen. Immer im Kreis stieg er weiter hinab. Schließlich wurde die Treppe gerade und führte durch einen Torbogen in einen großen, runden Raum, der voller Sand, Steine und heruntergefallener Ziegel war. In der Mitte umrahmten vier stabile Säulen den offenen Grund des zentralen Schachtes. Im schwach hereinfallenden Tageslicht schwirrten trägen Planeten gleich zahllose Staubkörner, die sich wie ein Film auf seine Lippen legten und in der Kehle kratzten.

Es war kühl hier unten und herrlich still nach dem unablässigen Lärm der Baustelle. Einschließlich der Treppe, über die er gekommen war, führten vier Torbögen aus dieser Rotunde, einer in jede Himmelsrichtung. In die runde Kalksteinwand waren gebogene Bänke mit einer Haube aus Austernschalen eingelassen, die prächtig verziert waren mit paradierenden Göttern, fauchenden Medusen, wilden Bullen, schwebenden Vögeln, knospenden Blumen und Efeuranken. Durch den ersten Torbogen sah man in einen dunklen, abschüssigen Gang, dessen Boden mit Schutt und Staub übersät war. Mohammed schluckte, als er die Spinnweben mit der Hand zur Seite fegte. Sowohl Furcht als auch Vorfreude kamen in ihm auf. Ein niedriger Seitengang führte von dem gewundenen Hauptgang in eine große, hohe Kammer, in deren Wänden sich viele Reihen rechteckiger Öffnungen befanden. Eine Katakombe. Er ging zur linken Wand, leuchtete auf einen verstaubten gelben Schädel und schob ihn mit einem Finger zur Seite. Eine kleine, angelaufene Münze fiel aus dem Kiefer. Er hob sie auf, betrachtete sie und legte sie zurück. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die Öffnung. Als er die vielen Schädel und Knochen sah, verzog er das Gesicht. Dann ging er zurück in den Hauptgang, um seine Erkundung fortzusetzen. Er kam an vier weiteren Bestattungskammern vorbei, ehe er zwölf Stufen hinabstieg, dann weitere fünf, bis er den Absatz einer anderen Treppe und den Grundwasserspiegel erreichte. Er ging zurück in die Rotunde. Auch Ahmed, Husni und Fahd waren heruntergekommen, mit Händen und Füßen scharrten sie im Schutt. Er wunderte sich, dass sie sich nicht weiter umgeschaut hatten, doch dann wurde ihm klar, dass nur dort natürliches Licht hereinfiel und er die einzige Taschenlampe hatte.

«Was ist das hier?», fragte Ahmed. «Was habe ich da gefunden?»

«Eine Nekropole», antwortete Mohammed knapp. «Eine Totenstadt.» Seltsam verärgert durch ihre Anwesenheit, ging er durch das zweite Portal in eine geräumige, geschlossene Kammer, die mit Kalksteinquadern gesäumt war. Vielleicht ein Festsaal, in dem die Hinterbliebenen jedes Jahr um ihre Angehörigen trauerten. Eine kurze Treppe führte durch ein letztes Portal in einen kleinen Vorhof. Auf einem Absatz war ein Paar hoher, angelaufener und beschlagener Metalltüren mit sechseckigen Griffen in die weiße Marmorwand eingelassen. Mohammed zog an der linken Tür. Sie öffnete sich mit einem Quietschen. Er zwängte sich hindurch in eine breite, hohe und leere Vorkammer. An manchen Stellen war der Putz von den Wänden gebröckelt, sodass man den rauen Kalkstein darunter sehen konnte. In den Sturz über dem Torbogen in der gegenüberliegenden Wand waren in zwei Reihen griechische Schriftzeichen eingemeißelt, die Mohammed nicht lesen konnte. Über eine Stufe gelangte er in eine zweite Hauptkammer von ähnlicher Breite und Höhe, aber doppelter Tiefe. In der Mitte stand eine kniehohe Plinthe, eine große Steinplatte, die den Eindruck machte, dass einmal etwas so Wichtiges auf ihr gelegen hatte wie ein Sarkophag. Wenn, dann war er jedoch seit langem verschwunden.

An der Wand neben der Tür war ein mattes Bronzeschild angebracht. Ahmed versuchte es abzureißen. «Stopp!», schrie Mohammed. «Bist du verrückt? Willst du für ein altes Schild und ein paar Scherben wirklich zehn Jahre in Damanhur riskieren?»

«Außer uns weiß niemand von diesem Ort», entgegnete Ahmed. «Wer weiß, welche Schätze hier unten liegen? Genug für uns alle.»

«Diese Nekropole ist schon vor Jahrhunderten geplündert worden.»

«Aber hier liegt noch genug herum», gab Fahd zu bedenken. «Die Touristen zahlen jeden Preis für antiken Plunder. Mein Cousin hat einen Marktstand in Al Gomhurriya. Er weiß, was solche Sachen wert sind. Wenn wir ihn holen …»

«Hört mir zu», sagte Mohammed. «Hört mir alle zu. Ihr werdet nichts mitnehmen, und ihr werdet niemandem etwas erzählen.» «Wer gibt dir das Recht, Entscheidungen zu treffen?», wollte Fahd wissen. «Ahmed hat die Treppe gefunden, nicht du.»

«Aber das ist meine Baustelle, nicht eure. Wenn jemand davon erfährt, werde ich euch zur Rechenschaft ziehen. Kapiert?» Er musterte einen nach dem anderen, bis sie seinem Blick auswichen und davongingen. Besorgt schaute er ihnen hinterher. Solchen Männern Geheimnisse anzuvertrauen war, als wollte man Wasser in einem Sieb aufbewahren. Die Slums von Alexandria waren voller Verbrecher, die allein für das Gerücht eines solchen Fundes zwanzig Kehlen aufschlitzen würden. Aber deswegen würde er nicht nachgeben. Sein ganzes Leben hatte sich Mohammed bemüht, ein guter Mensch zu sein. Die Tugend war für ihn ein Quell tiefer Freude gewesen. Wenn er nach einer besonders großzügigen oder vernünftigen Tat den Raum verließ, hatte er sich vorgestellt, mit welcher Bewunderung sich die anderen über ihn äußerten. Doch als Layla krank geworden war, hatte er plötzlich gemerkt, dass es ihm völlig egal war, was die Leute über ihn dachten. Seitdem interessierte ihn nur noch, dass seine Tochter gesund wurde. Aber wie konnte er den Fund zu diesem Zweck nutzen? Die Anlage zu plündern war sinnlos. Auch wenn Ahmed optimistisch war, Mohammed glaubte nicht, dass es hier genug zu holen gab. Und wenn er versuchte, die anderen auszuschließen, würden sie ihn an seine Chefs verraten, vielleicht sogar an die Polizei. Das wäre ein schwerer Schlag für ihn. Als Bauleiter war er per Gesetz verpflichtet, einen solchen Fund der staatlichen Antiquitätenbehörde zu melden. Wenn man dort erfuhr, dass er ihn geheim gehalten hatte, würde er seinen Job verlieren, seine Arbeitslizenz und mit ziemlicher Sicherheit auch seine Freiheit. Das durfte er einfach nicht riskieren. Sein Gehalt war zwar kümmerlich, aber es war alles, was zwischen Layla und dem Abgrund stand.

Die Lösung, die ihm schließlich einfiel, war so simpel, dass er es kaum fassen konnte, nicht gleich darauf gekommen zu sein.