Peter Spork

Das Schlafbuch

Warum wir schlafen und wie es uns am besten gelingt

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Das Rätsel Schlaf

Kapitel 1: Die dunkle Seite des Lebens

Nacht im Kabelsalat

Dickes Blut und üble Gase

Lauschangriff aufs Hirn

Im Halbschlaf

Vom leichten und vom tiefen Schlaf

Der dritte Zustand

Der Schlaf hat eine Architektur

Warum wir nachts aufwachen

Der Morgen danach

Regeln für das Schlaflabor

Kapitel 2: Wie das Gehirn den Schlaf steuert

Wach bleiben und einschlafen nach Plan

Die Suche nach dem Schlafzentrum

Einschlafen im Flip-Flop-Stil

Ein Riegel fürs Bewusstsein

Die Quelle unserer Träume

Warum Medikamente gegen Heuschnupfen müde machen

Der Scheinschlaf

Kapitel 3: Boten der Nacht

Die innere Uhr

Zeit zum Schlafen

Prozess S und Prozess C

Wie Schlafdruck entsteht

Warum Säuglinge nachts wach werden

Wenn Kern und Schale eins werden

Von Hochs und Tiefs

Wachstum und Erneuerung

Vorbereitung auf den Tag

Teil 2: Schlaf muss sein

Kapitel 4: Wie Tiere schlafen

Schlafen Würmer?

Fliegen auf Speed

Schlafgenetik: Eine neue Wissenschaft

Warum schlafende Vögel nicht vom Baum fallen

Alle Tiere schlafen

Schlafen mit dem halben Hirn: Der Trick der Wale

Schlafentzug ist tödlich

Kapitel 5: Wie Menschen schlafen

Weltrekord im Wachbleiben

Wenn Menschen zu wenig schlafen

Schlafmangel macht dumm

Schlafmangel macht dick

Schlafmangel macht krank

Schlafmangel ist lebensgefährlich

Wie viel Schlaf braucht der Mensch?

Von Lang- und Kurzschläfern

Länger leben mit weniger Schlaf?

Wer eine Schlafkur braucht

Von Eulen und Lerchen

Der soziale Jetlag

Das Ende der Jugend

Wie man seine Rhythmen verstellt

Kapitel 6: Wenn der Schlaf gestört ist

Die 88 Schlafkrankheiten

Schwierige Diagnose

Grübelei und Insomnie: Kampf der Unruhe

Entspannung als Schlüssel zur Einschlaftür

Coaching und Hygiene: Wege aus der Schlaflosigkeit

Schlafmittel und -mittelchen

Schlafapnoe: Schnarcher in Lebensgefahr

RLS: Wenn die Beine kribbeln

Schwache Rhythmen: Warum Ältere schlechter schlafen

Lichttherapie: Helligkeit für starke Rhythmen

Melatonin: Guter Zeitgeber – schlechtes Schlafmittel

Schichtarbeit: Wenn die Nacht zum Tag wird

Strategien gegen den Jetlag

Schlafstörungen bei Kleinkindern: Schlummern lernen

Parasomnien: Vom Zähneknirschen und Schlafwandeln

Narkolepsie: Die Schlafanfallkrankheit

Wie Krankheiten der Schlafforschung helfen

Teil 3: Warum wir schlafen

Kapitel 7: Lernen im Schlaf

Wie Strom das Gedächtnis verstärkt

Das Rätsel Erinnerung

Die virtuellen Lieder der Singvögel

Tetris für die Forschung

Schlafen für den Geistesblitz

Jedem Hirnteil seine Schlaftiefe

Besser lernen – schneller vergessen

Kapitel 8: Die Welt der Träume

Was wir im Schlaf erleben

Wie wir uns vor unseren Träumen schützen

Wir träumen auch im Tiefschlaf

Wie Träume entstehen

(Fast) jeder Mensch träumt

Was Freud schon ahnte

Traum oder Halluzination?

Kapitel 9: Der Sinn des Schlafs

Eine Frage ohne Antwort

Schlaf ist mehr als Ruhe

Schlaf spart Energie

Schlafen für den Körper

Aufwachen, um zu schlafen

Schlafen fürs Gehirn

Schlaf und Bewusstsein

Schlusswort

Schlafen Sie sich schlau, glücklich, jung und gesund

Anhang

Test 1: Welcher Schlaftyp sind Sie?

Test 2: Brauchen Sie mehr Schlaf?

Test 3: Leiden Sie unter einer Schlafstörung?

Medizinisch-wissenschaftliche Fachverbände

Internet-Adressen

Literatur

Bildnachweis

Dank

Personenregister

Sachregister

Teil 1:

Das Rätsel Schlaf

Kapitel 1

Die dunkle Seite des Lebens

Nacht im Kabelsalat

Nein, das mit dem Einschlafen wird heute nichts. Wie auch? Am Schädel kleben Elektroden, zwischen den Haaren fixiert mit hartem Gips. Auf der Stirn, über dem Herzen, unter Augen und Kinn halten Pflaster weitere Sensoren. Temperatursonden haften an diversen Stellen meines müden Körpers, an Füßen, Händen, Oberschenkeln und Bauch. Hinter dem rechten Ohr sitzt die Erdung.

Bin ich in eine Geschichte von Franz Kafka geraten? Träume ich? Oder hat mich jemand in eine Glühlampe verwandelt? Nichts dergleichen. Ich habe mir die eigenartige Situation selber und ganz bewusst eingebrockt, damals, als ich mich zu der Expedition in eines der spannendsten Forschungsgebiete unserer Zeit entschloss: Ich will die neuesten Erkenntnisse der Schlafforschung zusammentragen, will Lösungen sammeln für ein großes, jahrtausendealtes Rätsel: Warum müssen wir schlafen? Warum verbringen wir ein Drittel unseres Lebens in einem passiven, unproduktiven, weitgehend schutzlosen Zustand?

Diese Frage stellte sich der griechische Arzt und Philosoph Alkmaion als einer der Ersten im fünften Jahrhundert vor Christus. Bis heute konnte sie niemand schlüssig beantworten. «Es ist wahrscheinlich die größte offene Frage der Biologie», sagt Allan Rechtschaffen, Schlafforschungspionier von der Universität in Chicago, USA.

Deshalb liege ich also hier, in einem tristen Krankenhausbett in einem noch trister, fast karg anmutenden kleinen Raum. Er gehört zum Schlaflabor des Zentrums für Chronobiologie an der Universität Basel, einer der ersten Adressen, wenn es um die Erforschung unseres Schlaf-Wach-Rhythmus geht. Ich liege auf dem Rücken, wage es nicht, mich zu bewegen. Etliche dünne bunte Kabel laufen an meinem Körper entlang, verlassen am Kragen meinen Schlafkittel, um sich hinter meinem Kopf zu einem ansehnlichen Strang zu bündeln. Sie fesseln mich ans Kopfende des Bettes und rauben mir die letzte Hoffnung auf das vertraute, allabendliche Wegdämmern, auf die schönen, nutzlosen Momente im Zwischenreich von wachem und schlafendem Bewusstsein.

Was tun? Statt Schäfchen zu zählen, repetiere ich im Geiste das bevorstehende Programm. Die Datenaufnehmer sollen meine Physiologie überwachen, Hirn- und Herzströme, Augenbewegungen, Rumpf- und Extremitätentemperatur sowie die Muskelspannung erfassen. Ich dagegen soll einfach nur schlafen. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

Ich bin Opfer einer für Teilnehmer wissenschaftlicher Schlafexperimente alltäglichen Prozedur. Wer freiwillig im Dienst der Forschung seine Nächte durchleuchten lässt, muss sich nun mal mit Sensoren aller Art belauschen lassen, muss akzeptieren, dass Wissenschaftler möglichst viele Körpervorgänge während des geheimnisvollen Ruhezustands erfassen wollen. Ich muss mich also wohl oder übel abfinden mit dem Kabelsalat und all den Pflastern und Elektroden, die den gewohnten Wechsel zwischen Bauch- und Seitenlage verhindern, der mich normalerweise sanft in den Schlaf wiegt.

Immerhin ist dies nur eine Probenacht. Wäre ich eine echte Versuchsperson, sollte sie mich an das unbequeme Prozedere gewöhnen und zudem klären, ob ich für spätere Experimente überhaupt tauge, weil ich zum Beispiel keine Schlafstörung habe. Dann müsste ich später wiederkommen, vielleicht sogar mehrere Testnächte im Labor bleiben und dürfte je nach Versuchsanordnung mitunter 48 Stunden kaum das Bett verlassen.

Probenacht im Schlaflabor. Die Doktorandin Mirjam Münch verkabelt den Autor Peter Spork.

Die Kabel leiten die Daten aus meinem Innersten zu einem Computer im Nebenzimmer. Dort sitzt Mirjam Münch und kontrolliert mit Hilfe einer Infrarotkamera an der Zimmerdecke meine missliche Lage. Eine Stunde lang hatte mich die Biologie-Doktorandin zuvor verkabelt. Jetzt betrachtet sie aufmerksam, wie die Botschaften aus meinem Körper mehr oder weniger zackige Linien auf ihren Monitor malen. Sie sieht, wie meine Körperkerntemperatur sinkt, die Herzschlagfrequenz langsamer wird und die Wellen der summierten elektrischen Aktivität meiner Gehirnzellen allmählich ruhiger werden.

Mirjam Münch weiß also, was ich allenfalls ahnen kann: dass die Schläfrigkeit mich allmählich übermannt, dass ich trotz der unbequemen Lage alsbald meine fast fünfzehntausendste Reise durch die Nacht antreten werde. Und ihre Erfahrung sagt ihr, dass diese Reise nicht wesentlich anders werden wird als die vielen zuvor – trotz der ungewohnten Umgebung.

Der Schlaf ist eine viel zu starke Macht, als dass wir uns mit unserem bloßen Willen gegen ihn auflehnen könnten. Sind wir gesund, ausreichend müde und entspannt und liegen dann auch noch halbwegs bequem, holt uns die dunkle, die unbewusste Seite unseres Lebens mit ziemlicher Sicherheit ein. Die Schläfrigkeit entführt uns in eine Welt jenseits der wachen Realität. Wie gut uns das allnächtlich tut, das merken wir meist erst, wenn wir – warum auch immer – eine Nacht fast gar nicht schlafen konnten.

Dickes Blut und üble Gase

Das Nachdenken habe ich mittlerweile aufgegeben, habe sogar meine Furcht vor der Zerstörung der fragil anmutenden, aber verblüffend widerstandsfähigen Verkabelung überwunden und mich auf die Seite gedreht. Ich möchte nur noch wegnicken und vertraue auf die Erfahrung der Wissenschaft. Fast jeder verkabelte Proband schlafe rasch ein, berichtet etwa der berühmte israelische Schlafforscher Peretz Lavie: Mehr als 15 000 Menschen hatten in seinem Schlaflabor bereits übernachtet, zumeist Menschen mit Schlafkrankheiten, als er bilanzierte: «Einige hatten Probleme mit dem Einschlafen, während andere Schwierigkeiten hatten, wach zu bleiben, aber die Gesamtzahl derer, die im Labor wirklich nicht einschlafen konnten, war nicht größer als zehn.»

Auch dass ich den ersehnten Moment des Einschlafens niemals registrieren werde, ist mir klar. Just in diesem Augenblick wird sich mein Bewusstsein nämlich abkoppeln – vielleicht einer der Gründe, warum wir uns so nach ihm sehnen. Es gehöre «zu den bestimmenden Merkmalen des Schlafs, nicht zu wissen, dass wir schlafen, während wir es tun», formuliert ein weiterer Pionier der Schlafforschung, der US-Amerikaner William Dement: «Schlaf ist ein Wahrnehmungsloch in der Zeit.»

Dement, Lavie und all ihre zahlreichen Kollegen haben jahrzehntelang hart gearbeitet, um die große Frage nach dem Sinn des Schlafs überhaupt erst konkret stellen zu können. Bis vor hundert Jahren glaubten die Menschen, der Schlummer sei ein weitgehend passiver Zustand, ausgelöst durch die unterschiedlichsten Ereignisse des zurückliegenden Tagewerks, die unser Bewusstsein zu einer Auszeit nötigen. Die verschiedenen Theorien der griechischen Vordenker hielten sich bis ins 18. Jahrhundert: Das Blut ziehe sich nachts aus dem Gehirn in den Körper zurück, weshalb wir schlafen müssten, soll laut den Schriften des Philosophen Platon sein Vorgänger Alkmaion schon 500 vor Christus vermutet haben. Auch wenn diese Idee falsch war, es im Gegenteil sogar so ist, dass das Blut im Schlaf aus dem Kern des Körpers in die Extremitäten dringt, so war es doch erstaunlich hellsichtig, die Ursache des Schlafs im Gehirn zu suchen, das Alkmaion übrigens bereits als Hort unseres Verstandes ausmachte.

Platon selbst, aber auch Hippokrates, Aristoteles und viele andere Denker dieser Zeit entwickelten dann immer neue Theorien über die Schlafentstehung, die der Wahrheit auch nicht wirklich näher kamen: Giftige, im Wachzustand angesammelte oder mit der Nahrung aufgenommene Gase müssten abgebaut werden, dachten die einen. Überhitztes, eingedicktes oder aufgestautes Blut ließe sich nur im Schlaf abkühlen, verdünnen oder verteilen, glaubten die anderen. Dem Gehirn billigten sie ausnahmslos eine besondere Rolle zu. Entweder weil sich dort das schlafauslösende Gas konzentriere oder weil die Wärme es besonders stark erhitze und es sich im Schlaf abkühlen müsse.

Erstaunlich modern hatte auch im Mittelalter die Naturheilkundlerin Hildegard von Bingen über den Schlaf gedacht: Weil der Mensch grundsätzlich aus zwei Teilen bestehe, Ruhe und Aktivität, brauche sein Wachsein einen Gegenpol, und das sei der Schlaf. Er diene als Nahrung für das so genannte Mark – in ihren Augen eine Art Denkorgan, das durch das Wachen verdünnt worden wäre. Andere Naturgelehrte vermuteten, der Schlaf sei eine logische Reaktion des Körpers, der sich sozusagen abschalte, wenn nachts die stimulierenden Reize durch die Außenwelt ausblieben. Und noch im 19. Jahrhundert diskutierte Alexander von Humboldt einen möglichen Sauerstoffmangel im Gehirn als Schlafauslöser.

Diese Theorien waren aufregend und phantasievoll, zum Teil sogar erstaunlich gut durchdacht und gar nicht so falsch – ihnen allen fehlte jedoch das wissenschaftliche Fundament. Das bauten in den 1920er und 1930er Jahren vor allem drei Physiologen, die damit auch die Ära der modernen Schlafforschung einleiteten: Der Schweizer Walter Rudolf Hess untersuchte an der Züricher Universität das Gehirn von Tieren und fand Areale, die das Schlafbedürfnis regulieren. Der gebürtige Russe Nathaniel Kleitman gründete an der Universität von Chicago das weltweit erste Schlaflabor und begann, die dunkle Seite des menschlichen Lebens eingehend zu beobachten. Und der amerikanische Millionär und Wissenschafts-Autodidakt Alfred Loomis untersuchte mit studierten Mitarbeitern in seinem Privatlabor in Tuxedo Park, New York, neben vielen anderen Naturphänomenen als Erster systematisch die Hirnströme schlafender Menschen.

Das erste Etappenziel der jungen Wissenschaft war bald erreicht. Vor gut 50 Jahren setzte sich die Erkenntnis durch, dass den Menschen kein externer Auslöser in den Schlaf treibt – weder müde machende Gase noch Dickmacher fürs Blut. Die Forscher fanden heraus: Es sind aktive Signale des Gehirns, die dafür sorgen, dass wir zeitweilig unser waches Bewusstsein verlieren. Seitdem ist klar, wir müssen vor allem im zentralen Denkorgan nach Sinn und Zweck des Schlafes fahnden.

Das war der Startschuss für die zweite Etappe der modernen Schlafforschung: Zigtausende Menschen und Tiere haben die Wissenschaftler inzwischen verkabelt und in Schlaflabors überwacht. Das Rätsel Schlaf gelöst haben sie noch nicht. Einige streiten sogar noch darüber, wo die exakte Grenze zwischen Schlaf und Wachheit überhaupt verläuft. Doch derzeit sammeln Neurobiologen, Tierforscher, Physiologen, Psychologen, Schlafmediziner und viele andere Expertengruppen aus aller Welt so viele neue Daten über den Schlaf wie nie zuvor. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit, bis uns der rätselhafte Zustand endlich seine letzten Geheimnisse offenbart.

Ein ausgezeichneter Gedanke! Vermutlich einer meiner letzten an diesem heißen Basler Tag im Mai. Denn kurz nachdem ich ihn gedacht habe, muss ich endlich eingeschlafen sein. Am nächsten Morgen erfahre ich, dass mein Wegdämmern im Kabelsalat gar nicht so lange gedauert hat. Nach 17 Minuten war ich eingeschlafen. Mir kam es vor wie eine Ewigkeit.

Lauschangriff aufs Hirn

Doch woher wissen wir, dass jemand wirklich schläft? Dafür gibt es zwei sichere Zeichen. Zum einen schiebt der Schlaf eine Mauer zwischen Innen- und Außenwelt. Unsere Sinneswahrnehmungen erreichen nicht mehr jene Teile in der Rinde des Großhirns, in denen wir die Gegenwart reflektieren, das aktuelle Geschehen mit bereits Dagewesenem vergleichen und vor dem Hintergrund der nahen Vergangenheit sowie unserer inneren Verfassung gewichten. Kurz: Das Wachbewusstsein verschwindet.

Zum anderen lässt sich der Schlaf aber jederzeit von außen beenden. Wenn wir zum Beispiel einen Wecker klingeln hören oder uns jemand unsanft am Arm stößt, löst das in unbewusst aktiven Hirnzentren einen Alarm aus, der uns schleunigst in die wache Welt zurückholt. Wer schläft, kann geweckt werden, wer im Koma liegt, bewusstlos oder narkotisiert ist, nicht. «Schlaf ist der regelmäßig wiederkehrende Zustand einer jederzeit reversiblen, mehr oder weniger ausgeprägten Bewusstlosigkeit», lautet die medizinische Definition des Schlafs.

Die Doktorandin Münch, die im Nebenzimmer sitzt und all die schlafforschungsrelevanten Messgrößen meiner Physiologie auf ihrem Computermonitor verfolgt, sucht aber nach ganz anderen, mindestens genauso untrüglichen Schlafzeichen: Sie heißen Thetawellen, Schlafspindeln und K-Komplexe und kennzeichnen typische Muster in der Hirnstromaufzeichnung.

Vor gut 80 Jahren war es ein unermüdlicher deutscher Psychiater, der diese Technik als Erster erfolgreich am Menschen testete und damit ganz nebenbei die moderne Schlafforschung erst möglich machte. Hans Berger, Leiter der Neurologie am Landeskrankenhaus Jena, klebte ein Jahr lang immer wieder dünne Silberplättchen auf die Kopfhaut von Versuchspersonen und schloss sie an empfindliche Voltmeter an. Dann maß er den Spannungsunterschied zwischen dem Silberplättchen und einer so genannten indifferenten Elektrode, die fern des Gehirns am Kopf klebte, zum Beispiel hinter dem Ohr. 1925 gelang ihm schließlich der Nachweis, dass das lebende Gehirn tatsächlich selbständig Stromschwankungen erzeugt. 1929 machte er dann die erste Hirnstromaufzeichnung eines schlafenden Menschen.

Gleichzeitig erfand Berger eine bis heute gültige Namensgebung sowohl für das gesamte Verfahren als auch für die Unterscheidung der verschiedenen Hirnstrommuster. Das mehr oder weniger systematische Krickelkrakel nannte der Psychiater Enzephalogramm. Heute heißt es Elektroenzephalogramm und wird meist EEG abgekürzt. Es misst die Summe der Stromschwankungen jener Abermillionen Nervenzellen des Gehirns, die sich in der Nähe der Elektrode befinden.

Diese sind manchmal sehr rhythmisch und im Gleichklang aktiv, manchmal feuern sie aber auch ziemlich unsynchron durcheinander. Das EEG ist im einen Fall regelmäßig und schwingt wellenförmig, etwa zehnmal pro Sekunde auf und nieder. Im anderen Fall gleitet es in ein chaotisches Zickzack ab, in dem Frequenzen von 13 bis 30 Schwingungen pro Sekunde vorherrschen. Das regelmäßige Muster nannte Berger Alpharhythmus, das unregelmäßigere, schnellere Betarhythmus. Weil beim Alpharhythmus viele Nervenzellen synchronisiert sind, sie sich also in ihrer Spannung addieren, zeigt bei ihnen die Hirnstromkurve meist einen stärkeren Ausschlag als bei den Betawellen.

Moderne Hirnforscher gewinnen heute mit vielen über den Kopf verteilten Elektroden ein detailliertes Bild der Arbeit der Großhirnrinde. Wenn wir wach sind, können sie sehen, welches Areal gerade heftig erregt ist – sprich einen besonders raschen Betarhythmus erzeugt – und welches weniger stark gefordert wird – sprich langsame Beta- oder Alphawellen generiert. Bei Schlafenden haben sie sogar entdeckt, dass verschiedene Teile unseres Gehirns zur gleichen Zeit unterschiedlich tief schlummern können.

Für eine normale Schlafbeobachtung reichen aber wenige Stromabnehmer aus. Mich zum Beispiel zieren im Basler Labor gerade mal drei Elektroden auf der Stirn und zwei im Haar. Sie liefern die ganze Nacht hindurch ein völlig normales, unauffälliges EEG. Der Computer speichert aber noch mehr, er erstellt ein umfangreiches so genanntes Somnogramm. Was früher nur auf einer 300 Meter langen Papierrolle Platz fand, passt heute zum Glück bequem auf den Bruchteil einer Festplatte: mein Schlaf, zerstückelt in fast 60 Millionen Einzeldaten und wieder zusammengesetzt in knapp tausend handliche 30-Sekunden-Häppchen mit mehreren parallel verlaufenden Zickzacklinien, die man nacheinander am Bildschirm betrachten kann.

Polysomnographie. Was Ärzte im Schlaflabor messen: Hirnströme (EEG), Augenbewegungen (EOG) links und rechts, Muskelspannung (EMG) an Kinn und Wade, Schnarchgeräusche, Herzströme (EKG), Blutsauerstoffgehalt (SaO2), Luftfluss durch Nase und Mund sowie die Atembewegungen.

 

Etwa acht Stunden lang speichert der Rechner 128-mal pro Sekunde 16 Werte ab: das EEG an allen fünf Elektroden, die Spannung an beiden Augenmuskeln, Elektrookulogramm oder EOG genannt, die elektrische Aktivität der Kinnmuskeln, namens Elektromyogramm oder EMG, und die Herzmuskelaktivität, allgemein bekannt als Elektrokardiogramm oder EKG. Hinzu kommt die Körpertemperatur an mehreren Stellen des Rumpfes und der Extremitäten.

Eine solche Aufzeichnung, die nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Medizin eine große Rolle spielt, heißt Polysomnographie. Je nachdem, worauf es den Experten besonders ankommt, zeichnen sie zusätzlich Atemfluss und -bewegung, den Blutsauerstoffgehalt, eventuelle Schnarchgeräusche, die Bewegungen von Armen und Beinen oder, bei Männern mit Verdacht auf Potenzstörungen, das Auftreten oder Ausbleiben nächtlicher Erektionen auf. Die bekommen nämlich alle körperlich gesunden Männer, auch solche mit psychisch bedingten Potenzproblemen. Bei körperlich verursachter Impotenz bleiben sie indes aus.

Die wichtigsten Informationen über Art und Qualität des Schlafs liefert aber der Lauschangriff auf das Gehirn. In meinem Basler EEG zum Beispiel dominieren kurz vor dem Zubettgehen, als ich noch aufgeregt und aktiv bin, wie bei jedem normalen Menschen die unregelmäßigen Betawellen. Kein Wunder, denn sie sind typisch für Erregungen und eine gespannte Aufmerksamkeit und umso kurzwelliger, je mehr das Hirn zu tun hat. Als ich dann aber im Bett liege und mich allmählich entspanne, kommen die gleichmäßigen Alphawellen, die ein sicheres Indiz für innere Einkehr und Ruhe sind.

Jetzt befinde ich mich in einem Zustand, der an Meditation oder Selbsthypnose erinnert. Ich bin noch wach, aber vollkommen entspannt und damit bereit, die Reise in den unbewussten Teil der Nacht anzutreten.

Im Halbschlaf

Während des Einschlafens beginnen die Abermilliarden Nervenzellen im Großhirn mit einem eigenartigen Spiel. Sie koppeln ihre elektrische Aktivität noch stärker aneinander als im Alphawellenstadium, und gleichzeitig fahren sie ihre Erregbarkeit zurück. Sie scheinen sich zunehmend auf sich selbst und ihre eigene Vernetzung konzentrieren zu können, weniger auf die Verarbeitung äußerer Reize. Als sichtbarste Folge verlangsamt sich das synchrone Auf und Nieder ihrer Spannung. Der Hirnstromrhythmus wird langsamer.

Auch mein EEG macht da keine Ausnahme: Es mischen sich zunehmend Wellen unter den Alpharhythmus, die ungefähr die doppelte Länge haben. Diese Thetawellen sind typisch für den leichten Schlaf, gewinnen aber noch keine endgültige Macht über mich. Ich befinde mich in einem üblicherweise mehrere Minuten dauernden Übergangszustand zwischen Wachen und Schlafen, dem Halbschlaf, von Experten «Schlafstadium eins» genannt.

Meine Muskulatur entspannt sich, und so kann es immer wieder passieren, dass einzelne Gliedmaßen als Reaktion auf unbedeutende Signale heftig zucken. Das sind völlig normale Einschlafbewegungen, die jeder kennt. Im Wachzustand würde der Gegenspieler des zuckenden Muskels sofort reflexartig gegen die falsche Aktivität seines Kollegen anarbeiten. Jetzt ist seine Spannung aber schon so weit heruntergefahren, dass er nicht mehr reagiert.

Ich döse vor mich hin, nicke immer wieder für einen Augenblick ein und werde kurz darauf nochmal wach. Klare Gedanken fasse ich vermutlich keine mehr – und selbst wenn, könnte ich mich später nicht an sie erinnern, weil das zwischenzeitige Wegdämmern immer wieder meinen Kurzzeitspeicher löscht. Schon jetzt blendet das Gehirn also zeitweilig die Umwelt aus, und zwar genau dann, wenn die Thetawellen auftauchen.

Das bewies mit einem erschreckend simplen Versuch vor mehr als 30 Jahren William Dement, der 1970 an der Universität von Stanford, USA, eines der weltweit ersten Schlafforschungszentren gründete: Er fixierte im Bett liegenden Testpersonen die Augenlider, damit sie nicht mehr blinzeln oder beim Einschlafen die Augen schließen konnten, überwachte ihr Gehirn per Enzephalogramm und blitzte ihnen dann in unregelmäßigen Abständen alle paar Sekunden mit einer hellen Lampe ins Gesicht. Sobald sie einen Lichtblitz sahen, mussten die Probanden einen Knopf drücken.

Das fast an Folter grenzende Experiment gelang, weil die Testpersonen die Nacht zuvor kaum schlafen durften. Sie waren reichlich übermüdet. So fielen sie trotz der zwanghaft geöffneten Augen und der ungemütlichen Situation immer wieder in leichten Schlaf und nahmen den Lichtblitz nicht mehr wahr. Wachten sie gleich danach auf oder wurden sie geweckt, leugneten sie, geschlafen zu haben, und behaupteten, es hätte keinen Blitz gegeben. Die Wissenschaftler wussten es natürlich besser – und hatten einen unzweideutigen Beleg: Immer wenn die Probanden auf das Licht nicht mehr reagierten, zeigte ihr EEG die typischen, etwa fünfmal pro Sekunde schwingenden Thetawellen.

«Nun konnten wir den Schlafbeginn als den Punkt bestimmen, an dem sich das Hirnwellenmuster eindeutig und unübersehbar veränderte», erinnert sich Dement: «Der Moment des Schlafens tritt ein, wenn das Gehirn einen Schalter knipst und sich von der Außenwelt abschottet.» Allerdings legt das Denkorgan diesen Schalter ein paar Minuten lang immer wieder hin und zurück.

Vom leichten und vom tiefen Schlaf

Im Halbschlaf kämpfen Wach- und Schlafbewusstsein also für eine Weile miteinander. Theta-, Alpha- und gelegentlich sogar noch Betawellen ringen um die Vorherrschaft im EEG. Und nur wenn wir innerlich nicht mehr zu sehr aufgewühlt sind und nichts Störendes in unserer Umgebung passiert, gewinnt der Schlaf. Dann zeigt das EEG fast nur noch Thetawellen.

Erst dann sind wir per Definition richtig eingeschlafen. Das «Schlafstadium zwei» ist erreicht. In dieser Phase tauchen im EEG erstmals zwei eigenartige Muster auf, die typisch für das schlafende Gehirn sind und von allen Assistenten, die überall auf der Welt Schlaflaboraufzeichnungen nach den gleichen Regeln auswerten, als erste untrügliche Zeichen dafür gedeutet werden, dass der Proband endgültig in die geheimnisvolle Welt des Schlummers entschwunden ist.

Das eine Muster sieht aus wie eine quer gelegte Spindel und heißt auch so: Schlafspindel. Sie dauert eine knappe Sekunde und erinnert an allmählich auf und ab schaukelnde Alphawellen. Ausgehend von einer bestimmten Region im Mittelhirn, breitet sich in diesem Moment ein kleiner, von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergeleiteter Erregungsschauer über das gesamte Gehirn aus. Immer mehr Nervenzellen in der Umgebung einer Mess-Elektrode finden sich zu einem raschen, starken Rhythmus zusammen, erzeugen ein kurzes, aber deutlich sichtbares gemeinsames Konzert, um danach wieder auseinanderzudriften und erneut in der Anonymität der flachen Thetawellen unterzutauchen.

 

Zehn Sekunden aus fünf typischen EEGs verschiedener Schlaf- und Wachzustände

 

Das zweite sichere Schlafzeichen sind die K-Komplexe, einzelne große Wellen, die das EEG für eine halbe bis ganze Sekunde überlagern, als wären sie ein Tsunami in der gemächlichen Dünung eines windstillen Meeres. Während dieser Momente sind die Nervenzellen besonders gut synchronisiert, plötzliche Erregungen leiten sie kaum noch weiter. Stattdessen steigt ihre elektrische Spannung kontinuierlich auf einen erstaunlich hohen Wert, um anschließend entsprechend tief zu fallen.

Dieser Zustand des leichten Schlafes, den auch geübte Laien unschwer am Thetawellenmuster des EEGs erkennen, das mehrfach pro Minute von Schlafspindeln und K-Komplexen durchsetzt ist, ist der Geisteszustand, in dem wir uns im Laufe unserer Nächte am häufigsten aufhalten. Wir verbringen im Stadium zwei etwa unsere halbe Schlafenszeit – oder, wenn wir 75 Jahre alt werden, ungefähr zwölfeinhalb Jahre unseres Lebens.

Doch der Leichtschlaf ist zunächst nur eine Durchgangsstation, in der man etwa eine Viertelstunde verweilt. Dann scheinen die K-Komplexe häufiger und länger zu werden. Es sind plötzlich nicht mehr nur einzelne, isolierte Wellen, sondern ganze Folgen hoher Berge und tiefer Täler, die ein- bis viermal pro Sekunde auf und nieder schwingen. Das ist der berühmte Deltarhythmus, der Bote des Tiefschlafs, den Experten sinnigerweise auch Deltaschlaf nennen. Er scheint für die Gesundheit aller hochentwickelten Tiere und auch des Menschen so wichtig zu sein, dass sich der Körper davon umso mehr nimmt, je länger er zuvor nicht schlafen konnte.

Zunächst befinden wir uns wieder in einem Zwischenzustand, in dem sich Theta- und Deltawellen abwechseln. Er heißt «Schlafstadium drei», ist ein leichter Tiefschlaf, aus dem wir nur noch schwer geweckt werden können. Doch rasch ist «Schlafstadium vier», der echte, der besonders erholsame Tiefschlaf erreicht, aus dem wir nur mit äußerster Mühe zu wecken sind, und danach haben wir ziemlich schlechte Laune. Anders als nach dem Wecken aus dem Leichtschlaf sind wir anfangs extrem schlaftrunken, und es dauert oft mehrere Minuten, bis wir uns an die wache Welt gewöhnen.

Die Thetawellen sind im Stadium vier weitgehend verschwunden, Schlafspindeln und K-Komplexe kaum noch zu erkennen. Auf dem EEG zeigt sich nur noch das gleichmäßig langwellige, aber extrem stark auf und nieder wogende Bild des Deltaschlafs. Ihn zu ergründen, haben sich derzeit einige der renommiertesten Gruppen von Schlafforschern vorgenommen. Sie wollen verstehen, was die Nervenzellen anstellen, während ihre elektrische Aktivität so streng aneinandergekoppelt ist und sich so langsam, aber intensiv verwandelt, dass auf dem EEG die riesigen, langgestreckten Wellen erscheinen.

Immer mehr Forscher glauben, dass das Gehirn in diesen Momenten auf vielen Ebenen entscheidende Grundlagen für unser Erinnerungsvermögen legt. Es häufen sich die Hinweise, dass es intensiv verarbeitet, was es in den Tagen zuvor erlebt hat. Es trainiert neu gelernte Bewegungsabläufe, wiederholt Formeln und Vokabeln, gewichtet, vergleicht und sortiert Sinneseindrücke und besetzt sie mit emotionalen Zusammenhängen.

Der dritte Zustand

Die Upanishaden gehören zu den ältesten philosophisch-theologischen Texten der Welt. Zwischen 800 und 600 vor Christus formulierten darin Brahmanen die wesentlichen Grundaussagen der indischen Religion. Der angesehene Schlafforscher Alexander Borbély von der Züricher Universität macht mich darauf aufmerksam, dass sie sich auch mit den Seinsformen des Menschen beschäftigten und vier Zustände unterschieden: das Wachsein, den Tiefschlaf, das Träumen und einen überbewussten Zustand des eigentlichen Selbst.

Ob das vierte, überbewusste Leben existiert, darüber mag man sich heute wie damals trefflich streiten. Doch sogar die Anerkennung einer dritten Bewusstseinsform ließ in unserem Kulturkreis mehr als 2500 Jahre auf sich warten: Es gehört zu den wichtigsten Erkenntnissen der modernen Schlafforschung, dass wir nicht nur entweder wach sind oder schlafen, sondern nachts immer wieder einen dritten Zustand erreichen, der sich von den anderen beiden völlig unterscheidet.

Auch in meiner Baseler Schlaflabornacht wird das nicht anders sein. Noch befinde ich mich zwar im Deltaschlaf. Etwa eine halbe Stunde genießt mein Körper das vollkommene, naturgegebene Regenerationsprogramm. Doch das wird sich bald ändern. Der Schlaf wird wieder leicht, und schließlich passiert etwas Eigenartiges: Mein EEG wird unruhig, zackig, liefert schnelle, fast unrhythmische Signale, ganz so, als sei ich wieder aufgewacht. Doch nichts dergleichen. Ich schlafe offensichtlich gut. Die Augenlider sind geschlossen, aber die Augäpfel zucken darunter heftig hin und her.

Die Biologin Münch ist kein bisschen überrascht. Für sie bietet sich ein gewohntes Bild. Aber noch vor einem halben Jahrhundert stand ein junger Neurophysiologe an der Universität von Chicago beim Anblick ähnlicher Daten vor einem Rätsel. Eugene Aserinsky arbeitete 1953 für den Vater der modernen Schlafforschung, Nathaniel Kleitman, und sollte den Schlaf von Testschläfern überwachen. Anfangs ging es um die Analyse langsamer Bewegungen der geschlossenen Augen, wie sie bei jedem Menschen zu Beginn und Ende des Schlafs auftreten. Kleitman vermutete, sie würden nachts in regelmäßigen Abständen wiederkehren.

Deshalb erfanden die Chicagoer Physiologen die bis heute gängige Methode, auch die Ströme der Augenmuskulatur mit Elektroden zu überwachen, das EOG. Allerdings traute Aserinsky der Erfindung nicht recht über den Weg. Als sich nämlich immer wieder ungewöhnlich heftige und schnelle Ausschläge in die Aufzeichnungen der Augenbewegungen einschlichen, vermutete der Jungforscher eine Störung der Versuchsapparatur. Doch das rätselhafte Phänomen kam immer wieder, und nach mehreren Nächten war es endlich so weit: Aserinsky hatte einmal zu viel gestutzt und ging zum Schläfer, um der Sache auf den Grund zu gehen. Seine Überraschung soll grenzenlos gewesen sein, als er den Schein der Taschenlampe auf die Augenlider der Testperson richtete und bemerkte, wie sich die leichte Wölbung der darunterliegenden Iris ungewöhnlich rasch bewegte.

Vater der modernen Schlafforschung. Hier lässt sich Nathaniel Kleitman im eigenen Schlaflabor verkabeln. Der in Russland geborene Mediziner wanderte vor dem Ersten Weltkrieg in die USA aus. Dort wurde er Professor für Physiologie und gründete in den 1920er Jahren an der Universität von Chicago das erste Schlaflabor der Welt. Er starb 1999 im Alter von 104 Jahren.

 

Das war der Moment, als der dritte natürliche Zustand unserer Existenz wiederentdeckt wurde, der lange zuvor als Stadium des Träumens in die Upanishaden Eingang gefunden hatte. Der Mensch, den Kleitmans Assistent fassungslos beobachtete, war nicht wach, und er schlief auch nicht richtig. Er verhielt sich dennoch völlig normal, wie die Forscher in den nächsten Monaten erkannten. In ihrer Begeisterung suchten sie bei zukünftigen Experimenten gezielt nach den schnellen Augenbewegungen – und wurden bei allen Testschläfern fündig. Seitdem ist klar: Unabhängig von Alter und Geschlecht beginnen alle gesunden Menschen immer mal wieder für einige Minuten mit dem eigenartigen Zucken der Augen.

Selbst bei den meisten schlafenden Säugetieren konnten die Wissenschaftler das heftige Augenrollen finden. Und bald darauf entdeckten sie, dass menschliche Säuglinge besonders viel Zeit im neu entdeckten Zustand verbringen, dem Experten Namen wie «aktiver» oder «paradoxer Schlaf» gaben. Neugeborene widmen ihm sogar die Hälfte ihres etwa 16-stündigen täglichen Schlafes. Die Vermutung, er sei zuständig für die Entwicklung und das Wachstum des Gehirns, tauchte deshalb schon früh auf und ist bis heute nicht widerlegt.

1954 publizierten Aserinsky und Kleitman ihre Studien und nannten das Phänomen «REM-Schlaf». Die Abkürzung steht für sein typischstes Zeichen, die schnellen Augenbewegungen, auf Englisch «Rapid Eye Movements». Doch die sind nicht das einzig Sonderbare an dem dritten Zustand. Tatsächlich scheint das Gehirn in diesen Momenten Schwerstarbeit zu verrichten. Unser Denkorgan ist dann nämlich genauso aktiv wie beim erregten Wachsein. «Die Ähnlichkeit zwischen dem Gehirn im REM-Schlaf und dem wachen Gehirn ist frappierend», schreibt William Dement, der als junger Student bei Kleitman bereits die Entdeckung der schnellen Augenbewegungen hautnah miterleben durfte und viele der Folgeexperimente durchführte.

Und der REM-Schlaf hat noch eine weitere Besonderheit zu bieten. Im Jahre 1959 machte der französische Hirnforscher Michel Jouvet von der Universität Lyon eine kuriose Entdeckung. Während das schlafende Gehirn in der REM-Phase auf Hochtouren läuft, ist der Rest des Körpers noch viel stärker abgeschaltet, als er es im gewöhnlichen Schlaf ohnehin schon ist.

Das elektrische Signal der Muskelaktivität (EMG), dessen Aufzeichnung der US-Amerikaner Anthony Kales kurz darauf einführte, zeigt praktisch keine Ausschläge. Unsere Muskulatur kann im REM-Schlaf noch nicht mal richtig zucken. Würden wir mitten im REM-Schlaf unser Bewusstsein zurückerlangen, ohne richtig aufzuwachen, was bei manchen Menschen tatsächlich gelegentlich passiert, müssten wir voller Panik feststellen, dass wir uns nicht bewegen können und Gefangene in unserem eigenen Körper sind.

Tatsächlich ist es der paradoxe Schlaf, der uns nahezu vollständig paralysiert. Jouvet entdeckte ein kleines Nervenbündel in einem ursprünglichen Teil an der Basis des Gehirns, dem so genannten Brückenhirn, das alle Nervenbahnen blockiert, die über das Rückenmark zu den Muskeln des Körpers führen. Unser Körper ist so still und unbeweglich wie in keinem anderen lebendigen Zustand, weshalb die Experten von REM-Paralyse sprechen. Nur die Augenmuskeln, deren sie steuernde Nerven nicht über das Rückenmark führen, dürfen sich zusammenziehen, soviel sie wollen.

Rasch kamen die Schlafforscher auf die Idee, Menschen während ihrer REM-Phasen zu wecken und zu fragen, ob sie gerade etwas erlebt hätten. Sie vermuteten, die aufgewühlten EEGs spiegelten die Aktivität eines träumenden Gehirns. Und tatsächlich erzählten die Probanden fast immer von Träumen oder traumähnlichen Erlebnissen. Schlafende, die die Forscher aus einem anderen als dem REM-Stadium weckten, berichteten dagegen fast nie von den surrealen, jedem Menschen vertrauten Ausflügen in eine meist sehr seltsame, nicht vergegenständlichte Welt.

Auch mit ihrer Einschätzung, den dritten Zustand schlicht «das Träumen» zu nennen, hatten die Brahmanen vor 2500 Jahren also gut gelegen. Bis heute bezeichnen manche Experten die REM-Phasen als Traumschlaf. Die meisten sind davon aber inzwischen wieder abgekommen, weil wir in Wahrheit auch in den anderen Schlafphasen träumen – dann allerdings weniger lebendig und bruchstückhafter.

Der Schlaf hat eine Architektur

Ob ich in meiner verkabelten Basler Nacht von langen, dünnen Giftschlangen, Blutegeln, die an meiner Stirn kleben, der Fesselung an einen Marterpfahl oder dem Horrortrip in die Schlafentzugskammer eines verrückt gewordenen Neuroforschers träume, daran kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich ungewöhnlich oft und lange aufgewacht bin.

Aus den Aufzeichnungen im Computer kann selbst der erfahrenste Biologe noch nicht mal ansatzweise auf Art und Inhalt von Träumen schließen. Was die Forscher aber deutlich sehen, ist, wann und wie lange ich am häufigsten und intensivsten geträumt habe: Bei normalen erwachsenen Schläfern wie mir setzen das Augenrollen und das krickelige EEG des REM-Schlafs nämlich mit einer verblüffenden Regelmäßigkeit ein, mehrmals pro Nacht, etwa alle eineinhalb Stunden.

Das ist keine wirklich neue Erkenntnis: Lange Zeit bevor er den REM-Schlaf entdeckte, schon in «Sleep and Wakefulness», dem 1939 erschienenen ersten Standardwerk seiner Zunft, beschrieb der begnadete Beobachter Nathaniel Kleitman, wie schlafende Menschen in regelmäßigen Abständen unruhig werden, sich bewegen und manchmal sogar kurz aufwachen. Er vermutete zu Recht, diese Momente seien die Höhepunkte eines angeborenen zyklischen Aktivitätsprogramms, an dessen Tiefpunkten wir besonders fest schlafen und schwer zu wecken sind. Eine innere 90-Minuten-Uhr takte den Schlaf erwachsener Menschen in diesem grundlegenden Rhythmus aus Ruhe und Aktivität, den er «Basic Rest Activity Cycle», kurz BRAC, nannte. Bei Säuglingen dauert ein solcher Zyklus übrigens nur 50 bis 60 Minuten.

Bis heute ist die BRAC-These umstritten, aber es gibt inzwischen sogar Hinweise, dass sich die periodisch wiederkehrenden Aktivitätsschübe nicht nur im Schlaf zeigen, sondern unterschwellig den wachen Alltag eines jeden von uns durchdringen. In den Hochphasen sind wir besonders fit und können schwer einschlafen, in den Tiefs fühlen wir uns eher schlapp und müde, nutzen sie nachmittags häufig für ein mehr oder weniger gewolltes Nickerchen und abends für den endgültigen Einstieg in den Nachtschlaf. Verschiedene Studien haben zudem ergeben, dass arbeitende Menschen gerne alle 90 Minuten eine Pause einstreuen, sich in Tagträumen ergehen oder eine Kleinigkeit essen. Und dass die meisten Kinofilme, viele wissenschaftliche Vorträge oder die Zeit zwischen zwei Schulpausen ebenfalls 90 Minuten dauern, ist sehr wahrscheinlich auch eine unbewusste Anpassung an die geheime Macht der BRACs.

Das beständigste und deutlichste Zeichen des 90-Minuten-Rhythmus ist jedoch der von Kleitman schon so früh beobachtete Wechsel der Schlafphasen. Die detaillierte Aufklärung dieser so genannten Schlafzyklen gelang allerdings erst mit der Erfindung der Polysomnographie und der Entdeckung des REM-Schlafs. Als Kleitman und seine Mitarbeiter nämlich weitere Testschläfer analysierten, entdeckten sie, dass sich der äußerliche Eindruck vom mehr oder weniger festen Schlaf in den Hirnstrommustern widerspiegelt – und dass sich eine typische, mehrmals pro Nacht wiederholende Abfolge der Schlafstadien bei allen Menschen verblüffend stark ähnelt.

Jeder Schlafzyklus beginnt mit dem Schlafstadium eins oder zwei, dann wird der Schlaf immer tiefer, um nach einiger Zeit des Tiefschlafs wieder zum Leichtschlaf zurückzukehren. Das Ende jedes Schlafzyklus, der auch bis zu 20 Minuten länger oder kürzer als 90 Minuten sein kann, bildet schließlich die REM-Episode. Während oder nach dem REM-Schlaf wachen wir oft kurz auf, woran wir uns später aber nur selten erinnern – und dann gleiten wir erneut in den Leichtschlaf ab. Der nächste von insgesamt vier bis sechs Zyklen beginnt.

 

Schlafprofil eines jungen Menschen

Schlafprofil eines älteren Menschen

Typische Schlafprofile. Im Laufe einer Nacht durchwandern wir mehrere, etwa 90 Minuten lange Zyklen aus den Schlafstadien eins bis vier und dem REM-Schlaf. Mit zunehmender Schlafdauer wird der Schlaf insgesamt weniger tief, und die REM-Phasen werden länger. Ältere Menschen haben einen flacheren Schlaf und wachen häufiger für längere Zeit auf.

 

Über die ganze Nacht betrachtet, kommt ein zweiter Trend hinzu: Die Tiefschlafphasen werden von Zyklus zu Zyklus kürzer und seltener. Später in der Nacht erreichen wir die Schlafstadien drei und vier überhaupt nicht mehr, wachen dafür aber öfter auf und verbringen die meiste Zeit im Stadium zwei. Der paradoxe Schlaf mit Augenrollen und heftigen Träumen folgt einem gegenläufigen Trend: Dauert der erste REM-Schlaf im Durchschnitt nur etwa zehn Minuten, werden es von Mal zu Mal etwa zehn Minuten mehr. Die letzte REM-Episode am Morgen kann dann sogar eine Dreiviertelstunde lang für aufregende Träume sorgen.

Wer also besonders lange schläft und morgens gerne «bis in die Puppen» im Bett bleibt, um immer wieder wegzunicken, verlängert vor allem seinen Leichtschlaf und durchlebt besonders lange REM-Episoden. Die Beobachtung, am späten Morgen ungewöhnlich viel und lebendig zu träumen, die wohl jeder schon einmal gemacht hat, hängt damit zusammen.

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Warum wir nachts aufwachen

M-Phasen

M-Phasen

8-mal

Auch ich wache in meiner ersten Schlaflabornacht ständig auf. Und niemand wird es wundern, dass ich angesichts der eigenartigen Lage Probleme mit dem raschen Wiedereinschlafen habe. Doch mein Wissen um die Zusammenhänge zahlt sich aus: Ich versuche, ruhig zu bleiben, weiß, dass alles in Ordnung ist, weiß auch, dass die Zeit jetzt viel langsamer vergeht als sonst und ich bei weitem nicht so lange wach liege, wie es mir vorkommt. Tatsächlich erfahre ich später, dass die Schlafunterbrechungen nur fünf bis 15 Minuten lang gewesen sind.

Der Morgen danach

Ich bin schlaftrunken. Mein Gehirn arbeitet noch nicht auf der Höhe der Zeit. Das volle Wachbewusstsein ist noch nicht zurückgekehrt. Also bleibe ich einfach liegen. Das scheint mir vorerst das Beste zu sein. «Es ist schon gut, dass im Allgemeinen morgens das Badezimmer nicht plötzlich am anderen Ende der Wohnung liegt und dass wir auch die Zahnbürste da finden, wo sie immer steht», kommentiert der Münchner Biologe Till Roenneberg diese seltsame Phase nach dem Aufwachen, die bei normalen Menschen etwa eine halbe Stunde anhält, in Extremfällen aber bis zu eine Stunde dauern kann.

    

Regeln für das Schlaflabor

Renz entkabelt mich und sagt, ich dürfe erst mal in Ruhe duschen und frühstücken. Danach schauen wir uns mein Somnogramm an. Die Zickzacklinien auf dem Monitor spulen die Nacht noch einmal wie im Zeitraffer vor meinem inneren Auge ab: Das erstaunlich kurze, mir aber ewig lang vorgekommene Einschlafen, den ersten Tiefschlaf, dem zum ersten Mal das heftige Augenrollen des REM-Schlafs folgt, und dann eine schrecklich lange Aufwachphase von etwa 15 Minuten. Danach schlafe ich gut: Es folgen ein paar weitere, kaum gestörte Schlafzyklen, die so oder so ähnlich in jedem Lehrbuch zu finden sind. Und schließlich werde ich endgültig wach.

Die Assistentin beherrscht eine schwierige und mühsame Kunst. Während sie die elektrischen Daten meiner vergangenen Nacht durchgeht, entscheidet sie mit sicherem Blick in überraschend kurzer Zeit, in welchem Stadium ich mich gerade befinde. Sie folgt einem standardisierten Schema, das überall auf der Welt identisch funktioniert. Das war nicht immer so: Als die Schlafforschungspioniere in den späten 1950er Jahren die erste Einteilung ihrer Schlaflaboraufzeichnungen anhand bloßer EEGs in vier Stadien Non-RE plus RE vornahmen, machte das jeder, wie er wollte. Für die Analyse von Details, die mehr verraten als die ungefähre Schlaftiefe, fehlten feste Regeln, welches EEG welchem Schlafzustand zuzuordnen ist. Der wachsenden Gemeinde der Experten fiel der Vergleich ihrer Resultate schwer. Außerdem reichte die Aufzeichnung der Hirnstromkurven für die Bestimmung der Schlaftiefe nicht immer aus.

Das änderte sich erst im Jahre 1968, als eine Gruppe internationaler Schlafforscher begann, die bahnbrechenden Erkenntnisse der vergangenen zwei Jahrzehnte zusammenzufassen und daraus allgemeingültige Regeln für die Analyse des menschlichen Schlafs abzuleiten: Allan Rechtschaffen aus Kleitmans Chicagoer Arbeitsgruppe und Anthony Kales aus Los Angeles, der die Technik der Elektromyographie entwickelte, verbanden mit Kollegen die Erkenntnisse über Augenbewegungen, Hirnstromwellen und Muskelspannungsmessungen und schrieben eine Art Anleitung, mit deren Hilfe bis heute jeder Mensch die Architektur des Schlafes nachvollziehen kann, vorausgesetzt, er hat die Geräte zur Messung einer Basis-Somnographie, bestehend aus EEG, EOG und EMG.

 

  

Mein ganz persönliches Hypnogramm wird mir also auch nicht alle Fragen beantworten können. Aber ich habe in dieser Nacht ungewöhnlich viel über den Schlaf und seinen Sinn nachgedacht. Ich habe auch die Erkenntnis gewonnen, dass Schlafforscher selbst 80Jahre nach der Erfindung ihrer Wissenschaft vor allem eines sind: ideenreiche, ausgebuffte Tüftler, die mit unzähligen Tricks einem fast unlösbaren Rätsel auf der Spur sind. Schließlich sollen sie etwas ergründen, zu dessen inhärenten Eigenschaften es gehört, sich dem Bewusstsein zu entziehen.