Anrufung des Blinden Fisches

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2010

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Hamburg,

nach einem Entwurf von Ott + Stein

Coverabbildung Mike Jordan

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00741-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00741-3

Endlich allein. Endlich im Flugzeug. Endlich auf Nachtflug zwischen den Städten. Die Alterstollheit des Großen Schiem, des ungekrönten Königs der Branche, hat uns fünf Tage in der Hauptstadt zusammengezwungen gehalten. Aus allen vier deutschen Himmelsrichtungen, aus allen vier Dependancen der Agentur hatte Schiem uns für eine erste Arbeitswoche zu sich ins Zentralbüro kommandiert. Wir, die Elite der Texter, saßen mit knirschenden Kiefern, mit zitternder Schreibhand vor der Videoprojektionswand, auf der Schiems neues Vorhaben erschien. Der Große Schiem, den auch die Älteren unter uns nur als den Alten kennen, hat unsere Erwartungen, die stets das denkbar Schlimmste imaginieren, erneut übertroffen. Immer übertrumpft er, der Firmeninhaber, uns, seine hochbezahlten Spezialisten. Wir, die Fixesten unter den Zungenfertigen der Branche, stehen, lallend um das erste Wort ringend, vor der kühnen Vorgabe Schiems. Geblendet von seinem jüngsten Projekt, wagen wir nicht, es einen hellen Wahnsinn zu nennen.

 

Endlich allein. Endlich im Flugzeug. Freitagnacht auf Heimflug Richtung Süden. Für zwei Tage der Fuchtel Schiems entkommen. Zum Schein nur. Denn Montag

 

Endlich allein. Endlich im Flugzeug. Mein Platz in dieser Maschine ist für die nächsten Wochen reserviert. Der heutige Flug scheint ausgebucht. Mein Nebenmann schiebt sich an mir vorbei auf den Fensterplatz. Seine Brille, seine Krawatte, das Gesicht kommen mir bekannt vor, als hätten wir im Verlauf der letzten, der furchtbaren Woche einmal gemeinsam vor einem der Aufzüge oder an der Kasse der Cafeteria gestanden. Schiem erwartet,

 

Endlich allein. Endlich allein in einem Dämmern, das nicht der Agentur gehört. Nur meinen Platz hat Schiem gechartert, die anderen Passagiere fliegen auf Kosten anderer Firmen. Einen hat mein Blick im Vorübergehen erkannt. Ein Informatiker, vor Jahren hat er mit mir in Südwest angefangen, aber schon bald fiel er einer von Schiems Säuberungen zum Opfer. Entschlackung nennt es der Große Schiem. Statistisch ist jede Niederlassung zweimal im Jahr davon betroffen. Doch zu einem abschätzbaren Rhythmus lässt Schiem es nie kommen. Bei uns passierte fast ein Jahr nichts, dann, diesen Frühling, zwei radikale Säuberungen im Abstand von knapp vier Wochen, und schon war Südwest auf mich, den Texter,

 

Endlich im Flugzeug. Endlich nimmt die Entfernung zu. Der Mann neben mir hat sich ein Getränk bringen lassen. Es ist etwas Dunkles, vielleicht Rotes. Ich weise mit dem Finger auf sein Glas und verlange mit einem Kopfnicken das Gleiche. Mein Nebenmann grunzt leise. Vielleicht schmeichelt ihm, dass ich mich ihm anschließe. Aber ich lasse mich nicht auf ein Gespräch ein. Zwei Tage lang

 

Endlich im Flugzeug. Endlich Zeit und Raum, sich unter Unbekannten zu betrinken. Während der Projektwochen ist gemeinsamer Alkoholgenuss verpönt. Selbst nach dem Ende der Arbeitszeit, spät am Abend, bringt das Team der Texter nicht den Mut auf, um ein paar Flaschen zusammenzusitzen.

 

 

Endlich allein. Endlich auf Heimflug. Erneut vergeblicher Versuch, den nicht verschütteten Rest des rötlichen Gebräus über die Lippen zu bringen. Leichthin kann

 

Endlich im Flugzeug. Endlich zum Schein dem Bannkreis des Großen Schiem entronnen. In böser Voraussicht hat er unsere Heimflüge gebucht, mit Schadenfreude sieht er uns jeden Freitag in den Zubringerkleinbus steigen. Ohne Hoffnung führte ich vorhin das Glas abermals an die Lippen, ließ den von Speichel längst wässrig verdünnten Cocktail bis an die Zungenspitze schwappen. Aber dann wuchs mir unvermutet Beistand zu, von rechts

 

Endlich allein. Endlich auf Nachtflug zwischen den Städten. Mein einstiger Mittexter hat seine Position nicht verändert. Sein süßlich pfeffriger Atem streicht mir über Stirn und Wangen. Gewiss war auch er all die Jahre ununterbrochen in Schiems Diensten. Wer kann wissen, wie viele Projekte seitdem im Namen Schiems das Licht der Welt erblickten. Die rechte Hand des Kollegen legt sich auf die Muschel meines linken Ohrs; fast übermannt mich die Versuchung, die Augen ganz zu schließen. Es wäre wohl erlaubt. Es wäre letztlich im Sinne Schiems. Auch für die Dauer dieses Projekts hat der Große Schiem ein strenges Bilderverbot über uns verhängt. Erneut fand er einen endgültigen, uns in unserem Tun demütigenden Spruch, um den Abgrund zwischen uns und den mit dem bloßen Augenschein operierenden Kollegen zu markieren. Wie beim ersten Mal duckten wir unsere Köpfe verschreckt unter die unumstößliche Wahrheit. Also vertraut auch jetzt, ins kümmerliche Leselicht des Nachtflugs blinzelnd, der Texter gemäß Schiems Gebot aufs Wort – und nichts verrückt sich in der Rangordnung

Wir zwei, wir Brüder im Geiste, wir rauchten und rauchten. Wir rauchten beide, was wir nur konnten, und standen im eisigen Regen. Der Ostwind des hauptstädtischen Winters kasteite den Stirnbalkon unserer Penthouse-Wohnung. Unsere Hemden blähten sich zwangsbeatmet, unsere Krawatten peitschten uns um die Hälse, und wenn einem von uns eine Böe die ganze Glut von der Zigarette riss, gab ihm der andere Windschutz mit Oberkörper und Händen, bis der kaltgeköpfte Stummel von neuem entfacht war.

Wir rauchten um die Wette. Der launige Sturm nahm unseren Balkon von allen drei offenen Seiten. Die nach unten geschnipsten Kippen erreichten in der Regel nicht die Marmorfliesen. Im Fall noch wurden sie durch das Balkongitter hinausgerissen. Ein einziger Filter lag in einer Fugenrille zu unseren Füßen. Wir hatten gewettet, dass der, der zuerst drei auf dem Balkonboden liegen hatte, nicht zur Buckligen Gräfin hinausfahren musste.

Beide lehnten wir mit den Rücken an den Glasschiebetüren unseres Speisezimmers. Längst waren wir so ausgekühlt, dass wir keine Kälte mehr spürten. Beide dachten wir an das Bild, das wir heute Nacht von der Buckligen Gräfin kaufen wollten, und beide schauderten wir vor

Um uns wurde es dunkel, doch auch im Dämmerlicht waren unsere Kippen mühelos an den Farben ihrer Filter zu unterscheiden. Der Sturm hatte ein wenig nachgelassen. Unser Wettkampf ging seiner Entscheidung entgegen; schon stand es Zwei zu Zwei. Wir rauchten, so gut wir nur konnten. Wer die Nacht bei der Buckligen Gräfin verbringen musste, war doppelt geschlagen. Er würde, das Gemälde vor Augen und verstrickt in die immer komplizierter werdenden Verhandlungen, stundenlang ohne erlösenden Lungenzug auskommen müssen. Die Bronchien der Buckligen Gräfin reagierten allergisch auf vieles, vor allem aber auf das Partikelgemisch ordinären Zigarettenrauchs. Bereits ein Hauch des erkalteten Dunstes konnte einen ihrer unvergleichlichen asthmatischen Wutanfälle auslösen, und dann war jedem, auch dem zahlungslustigsten Kunden, das Bild verloren.

 

 

Ich fuhr Richtung Wannsee, einem aufklarenden Nachthimmel entgegen. Von unserem Balkon hattest du mir noch einmal gewinkt und mir Unverständliches, gewiss

Eine Schande war es stets gewesen und eine himmelschreiende Ungerechtigkeit dazu, dass unsere Sammlung, dass wir beide keinen Piotr Neuma besaßen. Wie Phönix war das Werk dieses Malers aus der Asche der sowjetischen Staatskunst aufgestiegen. Keiner, auch der ausgefuchsteste Kenner nicht, hatte vorher von Neuma

Wie die Hyänen stürzten sich die japanischen Sammler, die amerikanischen Galeristen und, mit schwerfälliger Verzögerung, auch die russischen Museen auf die ins Helle der Anerkennung geratenen Stücke. Innerhalb weniger Jahre waren fast alle der bei Verwandten und Freunden Neumas verstreuten Bilder ausfindig gemacht und aufgekauft. Meist hatten sie halbvergessen auf Dachböden und in Kellern gelegen. Neuma hatte seine Gemälde zu Hochzeiten und Kindstaufen verschenkt, und die ignoranten, im besten Fall feigen Empfänger hatten seinen Werken meist bloß wenige Tage im bescheidenen Licht der privaten Öffentlichkeit gegönnt.

Nur eine Ausnahme war bekannt. Der Leiter eines sibirischen Ambulatoriums hatte dem Künstler im zweiten Nachkriegswinter das aus Leningrad mitgebrachte Bild gegen zwei Dosen Tabak abgetauscht. Es hing, den Blicken der Kranken und der Gesunden offen, fast vier Jahrzehnte auf der Röntgenstation der schäbigen Klinik. Dann nahm es der Arzt in den Ruhestand mit nach Moskau, und dort wurde die frühe Arbeit der Anlass zu Neumas Entdeckung. Wir beide hatten das Bild im zurückliegenden

Die Kunstwissenschaftler sind sich nicht einig darüber, welche Tat der rosa- und blaurotdurchflutete Held da zu bewältigen hat. Die üblichen Echtheitsprüfungen mit Röntgengeräten haben auf allen Gemälden Piotr Neumas einen verborgenen zweiten Titel zutage gefördert. Er lautet in diesem Fall: Stalin Beatmet Den Leichnam Hitlers. So einleuchtend es ist, dass dergleichen damals, kurz nach Ende des Großen Vaterländischen Krieges, verborgen bleiben musste, so unklar bleibt bis heute der Sinn dieser Benennung. Denn auf dem Bild ist bei bestem Willen nur ein einziger Körper zu erkennen.

Als Kunsthändlerin mit fragwürdigem Ruf war uns die Bucklige Gräfin auch früher keine Unbekannte gewesen. Seit Jahren gilt sie hier in der Hauptstadt als eine der besten Adressen für alle, die illegal ausgeführte sakrale Kunst aus Russland erwerben wollen. Aber da wir kein Interesse an wurmstichigen Ikonen mit starrglotzenden Heilanden hatten, waren wir nie mit ihr in Berührung