Daniel Hope

mit Wolfgang Knauer

Wann darf ich klatschen?

Ein Wegweiser für Konzertgänger

Mit Zeichnungen von Christina Thrän

Inhaltsverzeichnis

Widmung

EIN WORT VORWEG WARUM DIESES BUCH?

KAPITEL 1 WOZU KONZERTE?

Klassik lohnt sich

Rich People’s Music?

KAPITEL 2 EINLADUNG INS KONZERT

Muss man Experte sein?

Frackzwang für Beethoven?

Wie erfährt man mehr?

KAPITEL 3 SCHNELLKURS IN MUSIKGESCHICHTE

Die Sache mit den Epochen

Was ist so klassisch an der Klassik?

Wie romantisch ist die Romantik?

Wie modern ist Barock?

Der Sound von heute oder: Warum ist die Moderne so anstrengend?

KAPITEL 4 AN DER ABENDKASSE

Musik hat ihren Preis

Wo ist der beste Platz?

Namen wie Musik – Die berühmten Konzertsäle

KAPITEL 5 DER COUNTDOWN LÄUFT

Vorn im Saal

Hinter der Bühne

Geübt und geprobt

KAPITEL 6 DAS ORCHESTER KOMMT

Eine sensible Familie

Die richtige Stimmung

KAPITEL 7 DER DIRIGENT TRITT AUF

Gespannte Erwartung

Legenden und Kultfiguren

Einige der großen Legenden: Mythische Maestri

KAPITEL 8 DER SOLIST MACHT SICH BEREIT

Warten auf den Auftritt

Neue Stars und alte Löwen

Bestimmt der Solist, was er spielt?

Bitte auf die Bühne, Herr Hope

KAPITEL 9 MIT UND OHNE NOTEN

Auswendig oder vom Blatt

In Dur und Moll

Von Largo bis Presto

KAPITEL 10 SPIEL, SATZ UND SIEG

Hören und Fühlen

Kleine und große Dramen

Laut, lauter, Orchester

KAPITEL 11 ES DARF GEKLATSCHT WERDEN

Das schönste Geräusch nach der Musik

Zugabe: Lohn für die Belohnung

Was in der Zeitung steht

EIN WORT ZUM SCHLUSS WIEDERSEHEN MIT LARRY

DISKOGRAPHIE DANIEL HOPE

PERSONEN- UND SACHREGISTER

 

Für Menahem, der die Musik sowie die Bühne

wie kein anderer liebt und beherrscht.

EIN WORT VORWEG

WARUM DIESES BUCH?

«Wird es in zwanzig Jahren noch klassische Konzerte geben?» Wäre mir diese Frage am Anfang meiner Musikerlaufbahn gestellt worden, hätte ich sie als völlig hypothetisch und fiktiv abgetan. Natürlich wird es Konzerte geben, hätte ich geantwortet, genauso wie es Autos, Fußballspiele und Urlaubsreisen geben wird. Weil Konzerte ganz einfach zum Leben dazugehören und weil Musik die Live-Aufführung so nötig braucht wie der Fisch das Wasser und der Mensch die Luft zum Atmen.

Mittlerweile bin ich nicht mehr so sicher. Das Interesse an der Klassik hat spürbar nachgelassen, Veranstalter klagen über Besucherschwund, die Schallplattenindustrie verzeichnet dramatische Einbrüche bei den Verkaufszahlen, und die Klassik-Programme der Radiosender suchen ihr Heil fast nur noch in kulinarischen Häppchen. Haben die traditionellen Konzerte da noch eine Zukunft?

Als ich vor einiger Zeit in einem Interview danach gefragt wurde, habe ich denn auch aus meinen Zweifeln kein Hehl gemacht: Wenn es nicht gelingt, das Publikum von morgen zu finden, wird der Konzertbetrieb, wie wir ihn heute kennen, wohl tatsächlich aussterben. Zwei Stunden lang still sitzen und andachtsvoll einer Programmfolge zuhören, die nach dem immer gleichen Muster zusammengestellt wird, ist gerade für junge Leute kaum noch verlockend. Sie verlangen nach neuen Formen, wollen nicht durch starre Rituale und elitäres Gehabe unnötig auf Distanz gehalten werden, sondern die Musik ganz unmittelbar erleben, ohne Schwellenangst und ohne das Gefühl, als Nicht-Experten fehl am Platz zu sein.

Aus Gesprächen mit Klassik-Einsteigern habe ich immer wieder herausgehört, dass es vor allem die oft altmodisch und verstaubt wirkende Atmosphäre ist, die so manchen vom Konzertbesuch abhält. Und hinzu kommen die vielen Details im Ablauf eines Konzerts, die zwar für routinierte Abonnenten völlig selbstverständlich sind, Neulingen aber leicht wie böhmische Dörfer vorkommen. Von solchen auf Anhieb schwer durchschaubaren zeremoniellen Handlungen, scheinbar kuriosen Usancen und eingefahrenen Spielregeln handelt dieses Buch, eingeschlossen die Frage, wann man eigentlich klatschen darf.

Es ist kein Musiklexikon, erst recht keine wissenschaftliche Abhandlung, auch kein Konzert-Knigge, sondern ein Wegweiser. Und weil ich als Musiker in vielen Konzerthäusern ein und aus gehe und mich mit dem Betrieb ganz gut auskenne, biete ich mich als Fremdenführer an. Als eine Art Lotse, der bei der Orientierung hilft, von der Musik erzählt, von den Musikern, die sie aufführen, von dem, was auf der Bühne passiert, und auch von dem, was sich dahinter abspielt.

Die Lektüre soll dabei helfen, den Konzertsaal nicht mehr als eine fremde, unbekannte Welt zu empfinden, und dazu anregen, sich weiter mit der Musik zu beschäftigen. Und vor allem dazu, bald wieder ins Konzert zu gehen.

KAPITEL 1

WOZU KONZERTE?

«Die Musik spricht für sich allein,

vorausgesetzt, wir geben ihr eine Chance.»

Yehudi Menuhin, Geiger

Klassik lohnt sich ♪ Rich People’s Music? ♪ Es gibt doch alles auf CD ♪ Momentaufnahmen für die Ewigkeit

KLASSIK LOHNT SICH

Ich muss gestehen – ich liebe Konzerte. Es gibt nichts Aufregenderes und Spannenderes. Beethoven, Mendelssohn, Brahms live zu hören. Das ist das Größte, nichts sonst setzt in einem einzigen Moment so viel Adrenalin und Glückshormone frei.

Ob ich übertreibe?

Mag sein, dass ich mich in meiner Begeisterung für die Musik ein bisschen hinreißen lasse. Aber eines steht für mich fest: Wer noch nie in einem Konzert gesessen hat, weiß nicht, was ihm entgangen ist.

Wenigstens ein einziges Mal muss man es miterlebt haben. Muss dabei gewesen sein, wenn durch Instrumente aus Holz und Metall und aus Zeichen und Strichen auf Notenpapier urplötzlich Klänge hervorbrechen, wie in einer Explosion. Das ist wie Magie, so als seien Zauberkräfte am Werk.

Natürlich werden es nicht alle so empfinden. Einigen wird es gehen wie beim Bungee-Springen, und sie sagen hinterher: Einmal und nie wieder! Aber die meisten, die Zeuge dieses Wunders geworden sind, werden nicht genug davon bekommen.

Es fragt sich nur, wie lange überhaupt noch Gelegenheit dazu besteht. Stichwort: Klassik-Krise. Sogar Insider reden davon und prophezeien das nahe Ende des Konzertbetriebs, so wie ein bekannter Londoner Musikkritiker, der vor ein paar Jahren in einem Buch behauptete, die klassische Musik habe «ausgespielt». Bestärkt sehen sich die Pessimisten durch das immer weiter steigende Durchschnittsalter der Konzertbesucher; in Deutschland liegt es nach einer aktuellen ARD-Studie bereits bei 63 Jahren. Man kann sich also leicht ausrechnen, dass die Musiker in spätestens zwanzig Jahren vor leeren Reihen spielen, sofern nicht Jüngere nachrücken. Für mich eine Horrorvorstellung.

Woher kommt es, dass so wenig junge Leute Lust haben, ins Konzert zu gehen? An der Musik kann und darf es nicht liegen. Jedenfalls besagen andere Umfragen, dass über fünfzig Prozent aller Menschen über achtzehn offen sind für klassische Musik, dass aber nur sechs Prozent regelmäßig ins Konzert oder in die Oper gehen.

Über fünfzig Prozent – ist das nicht eine riesige Chance?

Was ist es dann, das die jungen Leute abschreckt? Finden sie Klassik langweilig oder uncool? Haben sie Angst davor, sich länger als ein paar Minuten am Stück konzentrieren zu müssen? Oder hat man ihnen in der Schule nicht erzählt, dass es außer Rock, House und Rap auch noch andere Musik gibt auf der Welt? Und was ist mit denen, die schon angefangen haben, sich für die Klassik zu interessieren, aber trotzdem glauben, dass Konzerte nichts für sie sind?

Ich bin Berufsmusiker, mir kann das Thema einfach nicht egal sein. Also habe ich jede Gelegenheit genutzt herauszufinden, was die Jüngeren am Konzertbetrieb stört, nervt, anödet. Ich habe mit vielen von ihnen gesprochen, wenn ich selbst irgendwo gespielt hatte und hinterher wissen wollte, wie es ihnen gefallen hat.

Immer wieder hörte ich die gleichen Kommentare: Zur Musik reichte die Skala von «ganz okay» bis «saugeil», aber das Drum und Dran sei ziemlich schlimm. Viel zu steif und förmlich, zu teuer und einfach nicht zeitgemäß. Und außerdem könne man als Konzertsaal-Neuling leicht den Eindruck gewinnen, das ergraute Stammpublikum würde lieber unter sich bleiben. Wer keine große Ahnung von der Klassik hat und womöglich auch noch an der falschen Stelle klatscht, fühlt sich oft nicht akzeptiert.

Manches ist sicher nur ein Vorurteil. Vieles aber trifft wohl zu. Die verstaubte Atmosphäre ist längst auch anderen aufgefallen, nicht nur Besuchern, sondern auch denen, die oben auf dem Podium stehen. Und es soll nicht unterschlagen werden, dass schon jetzt eine Menge dagegen getan wird. Immer mehr Veranstalter und Künstler versuchen sich in neuen und moderneren Formen, erproben Modelle, die für Jüngere attraktiver sind, ohne dass die Älteren dadurch vertrieben werden. Denn das darf ja keinesfalls passieren, dass sich nun plötzlich diejenigen ausgeschlossen fühlen, die seit vielen Jahren in Konzerte gehen.

Und was ist mit dem Fachwissen, ohne das man angeblich aufgeschmissen ist im Konzertsaal? Vor allem die Einsteiger haben da so ihre Befürchtungen. Ich möchte alle beruhigen, die glauben, sie verstünden zu wenig von Musik. Man muss kein Experte sein, um ein Konzert zu besuchen, und schon gar nicht, um die Musik genießen zu können. Aber das soll nicht heißen, dass man es für immer bei seiner Ahnungslosigkeit belässt. Wenn man nur ein paar Kenntnisse mitbringt, ein bisschen weiß von den Komponisten und ihren Werken, wird man schnell merken, dass man mehr von den Stücken hat, die man hört. Und wenn man immer weiter fragt und sucht und auf diese Weise immer mehr über die Musik erfährt, umso besser.

Dann nämlich gibt man der Musik tatsächlich die Chance, von der Yehudi Menuhin, der berühmte Geiger, gesprochen hat – die Chance, zu uns zu sprechen. Sie hat uns unendlich viel zu sagen. Je länger und intensiver man sich mit ihr beschäftigt, desto stärker wird es einem bewusst werden, und man wird feststellen: Klassik lohnt sich. Vor allem und in erster Linie, wenn man sie live erlebt, im Konzert.

RICH PEOPLE’S MUSIC?

«Musik zu hören ist zweifellos eine der

extravagantesten Arten, sein Geld auszugeben.»

Mauricio Kagel, Komponist

Vor einiger Zeit war ich zu einem kurzen Gastspiel in San Francisco, und der Terminplan war sehr eng. Ein paar Stunden nach der Ankunft die ersten Proben, zwei Tage später das Konzert und am Morgen danach schon wieder die Abreise. Als ich aus dem Hotel kam, war mein Gepäck bereits im Taxi verstaut. Bis auf die Geige. Sie trug ich wie immer über meiner Schulter. Seit ich sie mitsamt Geigenkasten vor Jahren mal in einem Restaurant vergessen und vor Schreck fast einen Herzinfarkt erlitten hatte, lasse ich sie keine Sekunde mehr aus den Augen. Nicht auszudenken, wenn ich sie damals nicht wiedergefunden hätte! Eine Januarius-Gagliano-Violine von 1769. Fünfzehn Jahre habe ich daran abbezahlt.

Dem Taxifahrer, etwa in meinem Alter, fiel sie sofort auf. Nachdem ich eingestiegen und er losgefahren war, rief er, um die Popmusik aus dem Radio zu übertönen, nach hinten: «In welcher Band spielen Sie?» Anscheinend hielt er mich für einen Pop-Musiker. Erst wollte ich so tun, als hätte ich die Frage nicht gehört. Ich war hundemüde, hatte kaum geschlafen, weil es nach dem Konzert einen Empfang und anschließend noch eine wilde Party gab, und hatte nicht die geringste Lust, mich zu unterhalten.

Aber ich wollte nicht unfreundlich wirken. «In keiner Band», klärte ich ihn auf, «ich spiele klassische Musik.» Er verdrehte die Augen und schaltete sofort das Radio aus. Dabei beobachtete ich ihn im Rückspiegel und sah, dass sein Ausdruck etwas ironisch wurde: «Aha, I see. Rich People’s Music!»

Ich weiß nicht, wieso, aber die Bemerkung ärgerte mich. Wieder eines dieser üblichen Vorurteile. Wahrscheinlich sagt er gleich auch noch, dass Klassik unmodern und muffig ist, dachte ich. Sollte ich eine Diskussion anfangen? Eigentlich nicht. Aber da fiel mir die Idee mit dem Buch ein, für das ich immer noch Stoff sammelte. Vielleicht würde sich ja etwas Brauchbares ergeben. Also gab ich mir einen Ruck, beugte mich nach vorn, und schon waren wir mitten im Gespräch.

Larry, so hieß der Taxifahrer, hatte seine festgefügten Ansichten, über die Kirche, die Wall Street und über Obama, aber auch über Musik, und er vertrat sie wortreich und ziemlich intelligent. Er hatte ursprünglich Anwalt werden wollen, sein Studium aber an den Nagel gehängt, als sein Vater starb und er als Ältester für die Familie sorgen musste. Als Kind, erzählte er stolz, hatte er für kurze Zeit Klavierstunden, konnte sogar mit einiger Mühe das Albumblatt «Für Elise» spielen. Aber dann reichte das Geld nicht mehr für den Unterricht, und seitdem hatte er mit Beethoven und Klassik nicht mehr viel im Sinn, höchstens dass er gelegentlich im Auto den örtlichen Klassiksender einschaltete oder zu Hause eine von den alten Opernplatten auflegte, die ihm sein Dad hinterlassen hatte. In Konzerte ging er nie, viel zu teuer, nicht seine Gehaltsklasse. Die Musik der Reichen eben.

Wenn ich an die gesalzenen Preise dachte, die man in Amerika und auch anderswo für Konzert- und Opernkarten bezahlen muss, konnte ich kaum widersprechen. Zumindest wenn die großen Stars auftreten, sind Tickets für Normalverdiener kaum noch erschwinglich.

ES GIBT DOCH ALLES AUF CD

Aber Larry fand das nicht weiter schlimm. Arm und Reich gab es ja immer, in Amerika sowieso. Wenn man unbedingt Mozart oder Beethoven oder sonst wen hören will, meinte er, legt man einfach eine CD auf oder lädt sich Aufnahmen aus dem Netz herunter. Man spart nicht nur einen Haufen Geld, sondern kann auch noch zu Hause bleiben und es sich mit einem Bier auf dem Sofa bequem machen, während man sich sein Lieblingsstück reinzieht. Genauso wie bei einer Baseball-Übertragung im Fernsehen. Wozu da noch Konzerte?

«Weil das Konzert live ist und die CD nicht!» Ich erschrak fast selbst über die Vehemenz, mit der ich das sagte. Aber ich kann mich immer wieder aufregen, wenn Leute sagen, die CD sei doch genau das Gleiche wie ein Konzert und genauso live. Sie können das nur behaupten, weil sie nicht kapiert haben, wie Schallplatten gemacht werden. Da wird erst einmal zwei, drei oder mehr Tage lang aufgenommen und hinterher so lange geschnitten, bis alle Patzer und Unebenheiten beseitigt sind und die gelungensten Passagen übrig bleiben.

«Wie bitte? Das ist doch Betrug!», meinte Larry.

In gewisser Weise schon, gab ich ihm recht. Selbst da, wo «live» draufsteht, wird mehr als nur ein bisschen nachgeholfen: Entweder werden mehrere Aufnahmen zusammengeschnitten oder von einzelnen Stellen, die nicht hundertprozentig geklappt haben, Korrekturaufnahmen gemacht, die man nachträglich einfügt.

Larry fand, das sei ja noch größerer Betrug. Aber ich hielt ihm entgegen, dass es ihn mit Sicherheit viel mehr stören würde, wenn er auf einer CD immer wieder denselben Horn-Kiekser oder schiefen Geigenton hören müsste, nur weil man sich den Schnitt gespart hat. Und außerdem erinnerte ich ihn daran, dass es beim Film genauso gemacht wird: Auch der wird ja nicht in einem Rutsch, sondern in endlos vielen Einzel-Takes gedreht, und die werden anschließend in mühevoller Kleinarbeit so zusammengesetzt, wie der Regisseur oder, häufiger noch, das Studio es haben will.

Und im Übrigen – wo wäre die Musik denn heute ohne Schallplatte? Dass sie sich so über die Welt ausgebreitet und so viele Menschen erreicht hat, wäre doch ohne diese grandiose Erfindung nie und nimmer möglich gewesen. Mittlerweile kann man fast alles, was je komponiert wurde, auf Platte oder CD hören, obendrein in ungezählten verschiedenen Versionen. Ein Riesenfortschritt! Wer sich in früheren Jahrhunderten für Musik interessierte, musste versuchen, Noten aufzutreiben, vorausgesetzt, er wusste überhaupt von der Existenz eines Stücks und kannte sich aus mit der Notenschrift.

Und hören konnte man Musik nur, wenn man sie sich entweder selber spielte oder ins Konzert ging, was allerdings lange Zeit einzig und allein den hohen Herrschaften des Adels vorbehalten war. Bis in die Beethoven-Zeit waren Konzerte, abgesehen von der Musik in Kirchen, fest in aristokratischer Hand, und erst danach entwickelte sich allmählich ein bürgerliches Musikleben.

Also nichts gegen die Schallplatte, meinte Larry; sie hat uns die Demokratisierung der Musik gebracht. Ich gab ihm recht. Und uns Musikern hat sie außerdem ungeahnte Möglichkeiten eröffnet. Nicht etwa nur als zusätzliche Einnahmequelle, sondern auch zur Steigerung des Bekanntheitsgrades und zur Dokumentation der eigenen Karriere. Und dann noch etwas: Dank der Schallplatte konnten sich die Musiker zum ersten Mal selbst hören. Eine Revolution! Die Geiger zum Beispiel kannten die Klänge, die sie produzierten, ja nur aus der unmittelbaren Nähe zu ihrem Instrument. Wie sich ihr Spiel aus der Distanz anhörte, wussten sie nicht. Jetzt plötzlich konnten sie sich gleichsam mitten ins Publikum setzen und selbstkritisch überprüfen, wie ihr Spiel klang. Die Wirkung muss ungeheuer gewesen sein, noch weit stärker als der Effekt, den jeder Laie kennt, wenn er zum ersten Mal seine eigene Stimme vom Tonband hört. Der berühmte Geiger Joseph Joachim soll vor Überwältigung sogar geweint haben, als man ihm eine Aufnahme von sich selber vorspielte. Inzwischen ist die Tonaufzeichnung als Mittel zur eigenen Kontrolle der Spieltechnik unverzichtbar geworden.

MOMENTAUFNAHMEN FÜR DIE EWIGKEIT

Allerdings gibt es auch eine Kehrseite: Wenn man die CD einspielt, entspricht sie dem, was man zu diesem Zeitpunkt für das Optimum hält. So und nicht anders, denkt man, wenn man die ziemlich anstrengende Aufnahmeprozedur hinter sich hat, und ist zufrieden mit sich und seiner Arbeit. Wenn die CD dann aber nach ein paar Monaten auf den Markt kommt, kann es schon wieder ganz anders sein. Da findet man unter Umständen, dass man diese oder jene Passage doch lieber anders gespielt hätte, hier ein anderer Akzent oder dort ein schnelleres Tempo besser gewesen wäre.

Das liegt daran, dass die Auffassung von einem Stück nie gleich bleibt, sondern sich immer weiterentwickelt, sich ständig ändert, nicht gravierend und schon gar nicht radikal und grundsätzlich, aber doch in Nuancen. Der Dirigent Simon Rattle hat mal gesagt: «Aufnahmen sind wie Kinder. Man freut sich riesig über sie, freut sich aber noch mehr, wenn sie wachsen.» Heute spiele ich ein Stück so, morgen schon wieder anders. Jede Aufführung ist neu. Weil auch die Umstände, unter denen sie stattfindet, immer neu sind. Viele Faktoren kommen da zusammen, die Atmosphäre, die Stimmung im Publikum, meine Tagesform, die Intuition des Augenblicks, vielleicht auch neue Einsichten und Erkenntnisse.

Die CD kann aber nur eine einzige Version festhalten, sie ist eine Momentaufnahme, und wer sie noch im Ohr hat, während er dasselbe Stück in einem Live-Konzert hört, stellt die Unterschiede fest, vergleicht und wundert sich womöglich. Und dann kommt die Frage: «Warum haben Sie das Stück heute anders gespielt als auf Ihrer Platte?» Genau begründen lässt es sich nicht. Es ist halt das Wesen des Live-Konzerts, dass es die Musik immer wieder neu entstehen lässt. Und nie ist das Ergebnis so wie vorher oder nachher. Eben weil die Bedingungen nie identisch sind. Andere Zuhörer, andere Säle, andere Begleitumstände, und wie sie sich auswirken, kann niemand voraussagen, man merkt es erst während des Konzerts selbst.

Nur eines steht fest: Das wahre Musikerlebnis hat man erst, wenn man unmittelbar dabei ist, wenn man hört und sieht, wie geschriebene Noten plötzlich zum Leben erweckt werden, wenn Melodien aufsteigen und sich ein riesiger Raum mit Klängen füllt, wenn man von der Musik umgeben wird und spürt, wie sie einen ergreift. Das ist das Original, die CD nur das Abbild.

Natürlich konnte ich mir nicht verkneifen, Larry von Sergiu Celibidache zu erzählen, der sich als Dirigent immer geweigert hat, Schallplatten zu produzieren, mit der Begründung, das Mysterium Musik lasse sich nicht zu einem tönenden Pfannkuchen platt pressen. Das war zwar ziemlich überspitzt formuliert, aber etwas Wahres ist schon daran. Zweifellos gibt es Aufnahmen, die perfekt sind und wunderbar klingen. Aber etwas fehlt. Das Einmalige und Unwiederbringliche der Live-Aufführung.

Larry war noch nicht restlos überzeugt. Aber wir waren inzwischen am Flughafen angekommen und mussten unsere Unterhaltung beenden. Vorerst jedenfalls. Mir hatte es Spaß gemacht, mit ihm zu reden, und mein Kater war etwas weniger geworden. Auch Larry schien an einer Fortsetzung interessiert zu sein. Also gab ich ihm meine E-Mail-Adresse, und wir verabredeten uns lose bis zu meinem nächsten Besuch in San Francisco. Ich versprach, ihn dann mit ins Konzert zu nehmen, um ihm zu beweisen, dass tatsächlich stimmt, was ich erzählt hatte.

KAPITEL 2

EINLADUNG INS KONZERT

«Es ist ein großer Fehler zu glauben,

dass man Musik verstehen muss, um sie

genießen zu können.»

Manuel de Falla, Komponist

Muss man Experte sein? ♪ Wann versteht man Musik? ♪ Frackzwang für Beethoven? ♪ Sonntagsstaat oder Räuberzivil? ♪ Wie erfährt man mehr? ♪ Pre-Concert-Talks und Programmhefte ♪ Warum redet er? Er soll spielen!

MUSS MAN EXPERTE SEIN?

Ziemlich lange hatte ich den beiden zugeredet, Moritz und Lena, einem jungen Ehepaar, mit dem ich seit einiger Zeit befreundet war. «Kommt doch einfach mal, wenn ich spiele», hatte ich gesagt, «hört es euch an und sagt mir, wie es euch gefallen hat.» Dass sie eine Antenne für klassische Musik hatten, wusste ich. Oft genug hatten sie mir erzählt, dass sie gern abends zu später Stunde bei einem Glas Wein im Wohnzimmer sitzen und «Kuschelklassik» aus dem Radio hören.

Nichts gegen «Musik zum Entspannen und Wohlfühlen», wie sie werbewirksam genannt wird. Und warum nicht damit beginnen, wenn man in die Klassik einsteigen will? Aber es ist eben tatsächlich nur ein Anfang, nicht mehr als ein winziger Bruchteil der Musik, ein Mini-Ausschnitt vom Ganzen. Und warum, fragte ich die beiden, sollte man am Eingang stehen bleiben, wenn das gesamte Riesenreich der Musik offen vor einem liegt? Es ist ein Reich mit unglaublich vielen kostbaren Schätzen, die darauf warten, entdeckt zu werden. Im Konzertsaal kann man ihnen begegnen.

Klar, dass man nicht von jeder Entdeckung begeistert ist, da geht es mir als Geiger gar nicht anders als dem Publikum. Manche Stücke lassen einen kalt, und man hat sie schnell wieder vergessen. Aber dann gibt es andere, von denen man sagt: Schade, dass ich ihnen nicht schon viel früher begegnet bin.

Doch davon wollten Moritz und Lena lange Zeit nichts wissen. Zwei Stunden ruhig sitzen und zuhören, wie sich oben auf der Bühne hundert Mann in Pinguin-Anzügen an einer endlosen Sinfonie abarbeiten? Das sei vielleicht etwas für kulturbeflissene Bildungsbürger im Seniorenalter, aber nichts für sie. Ihnen genügten die wenigen Kuschel-Hits vollauf. Und sowieso seien sie eigentlich eher Popmusik-Fans und verstünden gar nicht genug von der Klassik, da würden sie im Konzert nur dumm auffallen.

Wie gut ich dieses Argument kannte! Immer wieder hatte ich es gehört, wenn mir Leute erklären wollten, weshalb sie auf Konzertbesuche lieber verzichten. Dabei wird in keiner Musikhalle der Welt am Eingang ein Nachweis über erfolgreiche Teilnahme am Musikunterricht verlangt, und nirgendwo muss man erst einmal den Quintenzirkel aufsagen oder die Lebensdaten von Haydn, Mozart oder Brahms herbeten, bevor man Platz nehmen darf. Auch Notenlesen oder Spielpraxis auf einem Instrument sind keine Bedingung. Mitbringen muss man nur die Bereitschaft, wirklich zuzuhören.

Musik zu erleben – darum geht es. Sich ihr mit allen Sinnen, buchstäblich mit Haut und Haaren zu öffnen, sie in sich hineinzulassen. Wie man das macht? Gute Frage. Wichtig auf jeden Fall, dass man sich auf die Musik konzentriert, sie nicht nur an sich vorbeirauschen lässt und dabei heimlich die Nachbarn beobachtet oder die Lampen an der Decke zählt, sondern jeden Ton aufzunehmen versucht. Ohne sich ablenken zu lassen und mit den Gedanken ständig woanders zu sein. Ein Patentrezept, wie es funktioniert, gibt es nicht, man muss es ausprobieren.

Auch soll man nicht glauben, die Komponisten hätten vorgeschrieben, wie das Publikum auf ihre Stücke reagieren soll, ob euphorisch oder nachdenklich, aufgewühlt oder ruhig, fröhlich oder traurig. Vielleicht hatten sie beim Komponieren eine bestimmte Idee, aber tatsächlich wirkt die Musik auf jeden anders. Und das ist auch richtig so. Gerade an der Vielfalt der Emotionen, die sie auslöst, erkennt man, welche Macht sie hat. Es gibt keine Normen für Gefühle, die automatisch zu greifen beginnen, je nachdem, welcher Takt gerade an der Reihe ist.

Vor einiger Zeit habe ich mal ein kleines Experiment mit einer Gruppe von Kindern zwischen fünf und neun Jahren gemacht: Ich bat sie, mit geschlossenen Augen einer Melodie zuzuhören, die ich ihnen auf der Geige vorspielte, und mir hinterher zu sagen, woran sie bei der Musik gedacht haben. Es waren die unterschiedlichsten Bilder, die in ihnen aufgetaucht waren, und manche darunter waren so voller Phantasie, Erfindung und Gefühl, wie ich sie mir selbst nie im Leben ausgemalt hätte. Das zeigte mir, dass Musik absolut nicht einheitlich auf die Menschen wirkt.

WANN VERSTEHT MAN MUSIK?

Als ich mal wieder mit Moritz und Lena über dieses Thema sprach, hatte ich gerade eine Biographie über Leonard Bernstein gelesen, und eine Aussage von ihm war mir noch im Kopf: «Die Musik drückt das aus, was ihr empfindet, wenn ihr sie hört. Wir brauchen nichts über Halbtöne, Ganztöne und Akkorde zu wissen, um Musik zu verstehen. Wenn sie uns etwas sagt, ein Gefühl erweckt, wenn sie in uns eine Veränderung bewirkt, dann verstehen wir Musik.»

Ein wunderbares Statement. Einfacher und überzeugender kann man es nicht ausdrücken. Das Zitat tat seine Wirkung bei den beiden. Wenn ein so großer Musiker so etwas gesagt hatte, wollten sie sich nicht länger sträuben.

Gäbe es doch heute noch Musikbotschafter wie Leonard Bernstein! Die klassische Musik hätte es wahrhaftig leichter. Er hatte ein einmaliges Talent, Menschen an die Musik heranzuführen und ihnen falsche Skrupel auszureden. In alten Fernsehaufzeichnungen seiner «Young People’s Concerts» kann man hören und sehen, mit welcher Leidenschaft und Begeisterung er über Musik sprach, wie schlicht und einleuchtend und dazu noch witzig er die Ohren für große klassische Werke öffnete und zeigte, wie schnell man beispielsweise Zugang zu einer Beethoven-Sinfonie finden kann. Wer je die Möglichkeit hat, diese Aufnahmen irgendwo kennenzulernen, sollte sie unbedingt nutzen. Der Gewinn ist garantiert.

An Bernstein hat mir auch noch etwas anderes immer besonders imponiert: Dass er nichts von Grenzen und Barrieren in der Musik wissen wollte. Schablonen wie «ernst» und «leicht», E oder U kamen für ihn nie in Frage. «Für mich ist jede gute Musik ernste Musik», lautete sein Credo. Er hatte absolut recht. Wie sehr es stimmte, habe ich festgestellt, als ich Pop-Größen wie Sting begegnete und mit ihnen zusammen Musik machte. Für mich öffneten sich dadurch völlig neue Horizonte. Ich habe deswegen meinen Brahms nicht anders gespielt als vorher, genauso wenig wie nach der Beschäftigung mit traditioneller indischer Musik. Aber ich habe meine Geige neu entdeckt und zusätzliche Inspiration erhalten. Und im Fall der indischen Musik, die eine komplexe rhythmische Struktur hat, ergab sich eine sehr positive Wirkung auf meine Interpretationen von Stücken etwa von Strawinsky und Messiaen, die ebenfalls rhythmisch schwierig sind.

Doch zurück zu Moritz und Lena, die ich unbedingt ins Konzert bugsieren wollte. Dass einer wie ich bei aller Begeisterung für die Klassik auch offen ist für Pop und andere Musik, schien sie irgendwie zu beruhigen. Daran änderte auch nichts, dass ich in einem Punkt keinen Zweifel aufkommen ließ: Wenn ich wählen müsste, es nur ein Entweder-oder gäbe, dann würde ich mich immer für Mozart, Beethoven, Brahms, Tschaikowsky und all die anderen entscheiden.

Es gibt großartige Pop-Musik, und man sollte sie keinesfalls unterschätzen, auch schon deshalb nicht, weil sie eine so riesige Anhängerschaft hat. Gute Pop-Songs finden schnell ihre Liebhaber, weil sie kurz und meist einfach gebaut sind, sofort ins Ohr gehen und sich einprägen. Pop verhält sich zur Klassik ungefähr so wie Champagner zu Rotwein. Der Champagner wirkt unmittelbar, geht rasch ins Blut, ist unheimlich effektvoll, aber nur für kurze Zeit. Die Wirkung von gutem Rotwein kommt dagegen langsam, ganz allmählich, hält dafür viel länger vor. Den Champagner-Geschmack hat man schnell vergessen, aber den edlen Wein spürt man auch noch am nächsten Tag auf der Zunge, und manchmal erinnert man sich noch nach Monaten an einen sehr guten Tropfen.

Mit diesem Vergleich waren die letzten Zweifel des jungen Paares endlich beseitigt. Sie waren bereit, die Probe aufs Exempel zu machen.

Wir stießen an, mit einem Glas Rotwein natürlich, die beiden nahmen die Einladung ins Konzert an und versprachen, sich zu freuen.

FRACKZWANG FÜR BEETHOVEN?

«Wir brauchen Musik.

Das Gespenst ist die lautlose Welt.»

Ingeborg Bachmann, Dichterin

Mein beharrliches Drängen hatte also endlich Erfolg, Moritz und Lena wollten zum ersten Mal ein Konzert besuchen. Ich hatte das Gefühl, dass sie es nicht als Pflichtübung betrachteten, sondern sich auf das Ereignis wirklich freuten. Konzerte sind etwas Außergewöhnliches, hatte ich ihnen erzählt, Erlebnisse ganz eigener Art, die man nicht so schnell vergisst. Und je besser man sich darauf vorbereitet, desto mehr hat man davon.

«Wie ist der Dresscode?», war ihre erste Frage. Ob sie sich groß in Schale werfen müssten, womöglich in Abendkleid und Smoking. Ich gab Entwarnung. Vorschriften für die Garderobe gibt es nicht. Vor ein paar Jahrzehnten lagen die Dinge noch anders, da waren das elegante Kostüm oder Kleid für die Damen und der gedeckte Anzug für die Herren geradezu Pflicht, und noch früher, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, putzten sich die Konzertbesucher heraus, als wollten sie zum Staatsbankett oder zum Wiener Opernball. Konzerte waren gesellschaftliche Großereignisse, für die man in vielen Städten eigens repräsentative Prachtbauten errichtet hatte, goldstrotzende Säle mit Marmorsäulen und kostbaren Kandelabern. «Zur Pflege der Tonkunst wie der Geselligkeit», wie es damals hieß. Und völlig selbstverständlich war, dass man solche Prunksäle nicht in Alltagsklamotten betrat. Aber das war auch in einer Zeit, als man Einladungen zum Abendessen nur im Frack folgte.

Diese Epoche ist lange vorbei. Zwar ist die große Konzertgala noch nicht völlig ausgestorben, aber sie kommt nur noch selten vor, etwa wenn in Bayreuth die Wagner-Festspiele eröffnet werden oder am Neujahrsmorgen, wenn die Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal zur Walzerseligkeit bitten. Aber im normalen Konzert würden Smoking und Ballkleid «overdressed» wirken, zumal auch auf den Podien inzwischen ein Trend weg von der alten Kleiderordnung feststellbar ist.

Der Frack als Dienstanzug für die Herren ist zwar in vielen großen Sinfonie-Orchestern immer noch üblich, allerdings scheint er sich auf dem Rückzug zu befinden. So elegant die traditionellen «Schwalbenschwänze» auch sein mögen, zumindest wenn sie sorgfältig gebügelt sind und perfekt sitzen, langsam aber sicher scheinen sie sich zum nostalgischen Erinnerungsposten zu entwickeln. Sie sind halt doch ein Relikt aus vergangenen Jahrhunderten und passen nicht mehr so recht in unsere Zeit.

Viele Ensembles haben sich schon ganz von ihm getrennt und bevorzugen stattdessen moderneres und weniger steifes Outfit, allerdings weiterhin einheitlich und vorwiegend in Schwarz.

Auch die weiblichen Orchestermitglieder mögen es lieber bequem, wobei man nicht vergessen darf, dass Frauen ja nicht gleich ab Beginn der Konzertgeschichte mitspielen durften, sondern sich ihren Platz in den Klangkörpern erst allmählich erobern mussten, das Frack-Zeitalter insofern also weitgehend übersprungen haben. Früher legten sie, passend zu den männlichen Fräcken, lange Abendroben an, in England auch gern in leuchtenden Bonbonfarben, mittlerweile wählen sie meist schlichtere Kleider oder Hosenanzüge.

«SO EINEN FROK MUSS ICH HABEN …»

… schrieb Mozart 1782 an seine Gönnerin, die Baronin Waldstätten – in der Hoffnung, dass sie ihm die Anschaffung des teuren Textils finanzieren werde. Gemeint war ein Frack, ein Gehrock für Straße wie Gesellschaft, nicht schwarz wie der «König der Herrenanzüge» heute, sondern aus leuchtend roter Seide und mit Perlmuttknöpfen besetzt. Für einen, der wie Mozart auf feine Garderobe hielt und im kaiserlichen Wien etwas gelten wollte, gerade die richtige Bekleidung. Die Männerwelt liebte es damals farbenfroh, so wie Goethes Romanheld Werther, der wenige Jahre zuvor mit seinem blauen Frack zur gelben Weste und hellen Lederhose zum modischen Trendsetter geworden war.

Schwarz wurde das ursprünglich aus England stammende Kleidungsstück (frock = Rock) erst mit der Französischen Revolution von 1789, als alles, was an höfische Eleganz erinnerte, zumindest vorübergehend verdammt wurde und es zum Bürgerstolz gehörte, statt bunter Seide dunkle Wolle zu tragen.

Im Biedermeier wurden die Fräcke als Ausgeh- und Gesellschaftsanzug dann zwar noch einmal farbig, doch ab Mitte des 19. Jahrhunderts dominierte das dezente Schwarz. Außerdem warf sich der Herr von Welt nur noch zu besonders festlichen Anlässen in den Frack, sofern er nicht über eine Ausgehuniform als Alternative verfügte.

Für Musiker wurden die schwarzen, selten dunkelblauen Jacken mit seidenen Revers und den typischen Schwalbenschwänzen am Rücken zur zwingend vorgeschriebenen Dienstkleidung. Als Abweichung vom «zivilen» Frack wurde ihnen lediglich gestattet, statt der weißen Weste einen Kummerbund um die Taille zu tragen. (Zur Vermeidung von Irrtümern tragen Kellner zum Frack stets eine schwarze Weste und statt weißer eine schwarze Schleife.) Gestärkte Piquébrust, einfache Manschetten und Hosen ohne Aufschlag, aber mit Satin-Galons an den Seitenähten gehören freilich in jedem Fall zum «König der Anzüge», so wie die schwarzen Lackschuhe.

Es muss aber nicht immer der Frack sein: In Amerika treten die Herren des Orchesters im Sommer oft in weißer Smoking-Jacke mit schwarzer Fliege und schwarzer Hose auf – und manchmal fühlt man sich dann wie in einem Film der dreißiger Jahre.

SONNTAGSSTAAT ODER RÄUBERZIVIL?

Ob traditioneller Frack oder legerer Dress, der Aufzug, in dem die Künstler auftreten, entscheidet nicht über die Qualität ihres Spiels. Immer vorausgesetzt natürlich, dass die Textilien nicht bei der Handhabung der Instrumente stören oder so dick und undurchlässig sind, dass man darunter schnell ins Schwitzen kommt. Ebenso wenig hängt die musikalische Leistung davon ab, wie das Publikum erscheint, ob im Sonntagsstaat oder in Räuberzivil.

Ist es also völlig egal, wie man ins Konzert geht?

Ein ganz und gar uneingeschränktes Ja fällt mir da schwer. Wahrscheinlich liegt es an meiner Erziehung und an Gewohnheit von Kindesbeinen an, jedenfalls finde ich, dass die Musik einen gewissen Respekt verdient und dass man ihn durchaus auch an seiner Garderobe zeigen sollte. Ein Konzert hat für mich etwas Festliches, so wie ein Opern- oder Theaterbesuch, und zu festlichen Anlässen wähle ich die entsprechende Kleidung. Nicht übertrieben, aber doch anders als zu Hause vor dem Fernsehapparat oder beim Gang auf den Wochenmarkt. Ganz abgesehen davon, dass mir Shorts und T-Shirt beispielsweise in einem alten Barocksaal oder in einem so schönen Haus wie dem Champs-Élysées-Theater in Paris wie ein kleiner Stilbruch vorkommen würden. Wenn das Konzert allerdings in einem Loft oder Fabrikgebäude stattfindet, was mehr und mehr im Kommen ist, dann ist alles recht.

Aber warum eigentlich sollte man zur Einstimmung auf ein schönes und außergewöhnliches Ereignis nicht an seinen Kleiderschrank gehen und den Sakko beziehungsweise das Kleid oder Kostüm herausholen? Man zeigt sich dadurch doch auch selber, dass man etwas nicht Alltägliches vorhat.

Man soll sich übrigens nicht täuschen: Auch die Musiker oben auf dem Podium haben manchmal einen Blick dafür. Ich selbst jedenfalls freue mich, wenn ich beim Auftritt sehe, dass sich die Besucher ein bisschen fein gemacht haben, empfinde das als ein Zeichen ihrer Wertschätzung gegenüber dem, was sie erwartet. Aber nochmals: Einen speziellen Dresscode für den Konzertsaal gibt es nicht, allen bleibt überlassen, was sie anziehen, und der individuelle Geschmack gibt jedem etwas anderes ein.