Jan Fleischhauer

Unter Linken

Von einem, der aus Versehen konservativ wurde

Inhaltsverzeichnis

Zitat

Meine Mutter, die Linke und ich – eine Einleitung

Die Erfindung des Opfers – die Linke bringt sich in Stellung

Auf dem Weg zum Sonnenstaat – eine kleine Geschichte der Linken

Wider die Herrschaft der Vernunft – die Linke und das Bildungssystem

Die Eroberung des Sozialstaats – die Linke macht Karriere

Wir Kleinbürger – die Linke und das Volk

Opferneid – die Linke und der Antisemitismus

Der Täter als Opfer – die Linke und das Böse

Türken und andere Juden – die Linke und die Fremden

Alles Faschisten – die Linke und ihre Gegner

Die Worte des Baums – die Linke und der Humor

Ein Schlusswort – oder: Warum man in der Krise eigentlich nur konservativ bleiben kann

Ergänzungen und Empörungen – ein Nachtrag zur Taschenbuchausgabe

Literaturhinweise

Personenregister

Sachregister

Danksagung

 

«Man kommt immer noch früh genug zu spät.»

Helmuth Plessner

MEINE MUTTER, DIE LINKE UND ICH – EINE EINLEITUNG 

Ich kann von mir sagen, ich kenne mich aus mit den Linken, ich habe mein halbes Leben unter ihnen verbracht. Meine Eltern waren links, die Schulkameraden und die Mehrzahl meiner Lehrer, die Kommilitonen an der Universität und natürlich alle Professoren. Die meisten meiner Kollegen sind es noch heute.

Es ist nicht so, dass ich darunter gelitten hätte. Ich bin sehr behütet aufgewachsen, links behütet eben. Meinen ersten Disneyfilm habe ich zusammen mit meinen eigenen Kindern gesehen. Als McDonald’s eine Filiale in unserem Stadtteil aufmachte, hielt mir mein Vater einen ernsten Vortrag über den verderblichen Einfluss amerikanischer Fastfood-Kultur. Der Genuss meines ersten Burgers war ein Akt jugendlicher Auflehnung; bis heute habe ich bei einem der gelegentlichen Besuche einen Rest schlechten Gewissens.

Ich gehöre zu einer Generation, die gar nichts anderes kennt als die Dominanz der Linken. Wo ich aufgewachsen bin, waren alle links. Das ist insofern nicht ganz selbstverständlich, als ich in einer Gegend groß wurde, die man gemeinhin als Villenviertel bezeichnet. Die Freunde meiner Eltern wählten SPD oder, später dann, Grün und deren Freunde natürlich auch. Irgendwo muss es in unserer Nähe auch ein paar Unionsanhänger gegeben haben, vermutlich sogar unter den Nachbarn, schließlich war Wellingsbüttel im Hamburger Norden einer der wenigen Stadtteile, wo die CDU in den siebziger Jahren auf über 50 Prozent der Stimmen kam. Aber man sah sie nie. Im Hockeyclub traf man Henning Voscherau, den späteren SPD-Bürgermeister, und beim Einkaufen den ‹Panorama›-Chef vom NDR, der gerade ein kritisches Feature über Franz Josef Strauß und die Waffenlobby fertiggestellt hatte.

Meine Mutter ist 1969 bei den Sozialdemokraten eingetreten, aus Begeisterung für Willy Brandt. Sie hat ihre Verpflichtungen dort immer sehr ernst genommen. Wenn man auf Politik zu sprechen kam, konnte sie ausgesprochen leidenschaftlich werden, was dazu führte, dass Diskussionen mit ihr so lange dauerten, bis man manchmal einfach aus Erschöpfung nachgab. Ich habe sie in all den Jahren nicht einmal sagen hören, der Partei sei in einer wichtigen Sache ein Fehler unterlaufen. Taktische Schwächen sicher, aber nichts Grundlegendes. Wahrscheinlich hielt sie es für ausgeschlossen, dass auch sozialdemokratische Parteiführer unwissend oder gar korrupt sein könnten. Die andere Seite hingegen irrte sich ständig, sie reihte Fehlentscheidung an Fehlentscheidung oder war innerlich so verrottet, dass sie aus Berechnung das Land in die Irre leitete. Es war erstaunlich, wie schwer es den Sozialdemokraten unter diesen Umständen fiel, sich an der Macht zu halten. Aber das bewies nach Meinung meiner Mutter nur, mit welch unsauberen Methoden der Gegner kämpfte.

Die SPD war in meiner Familie weit mehr als ein Zusammenschluss Gleichgesinnter, sie galt bei uns als eine Art politische Heilsarmee, die Deutschland von den Resten des Faschismus reinigen und in eine bessere, gerechtere, demokratischere Zukunft führen würde. Sie stand für das Gute im Land, sie verkörperte in der Summe ihrer Mitglieder und Anhänger gewissermaßen die in Deutschland verfügbare Gutherzigkeitsmenge. Vielleicht redeten wir deshalb auch nie von der SPD als SPD, sondern immer nur von der Partei, so wie in katholischen Haushalten andächtig von der Kirche gesprochen wird, eine von mehreren überraschenden Parallelen zwischen linker und christlicher Welt, wie ich später feststellen konnte.

Was von Konservativen zu halten war, lag auf der Hand: Entweder waren sie stockreaktionär, weil sie sich dem Fortschritt verweigerten, oder auf gefährliche Weise borniert, also wahlweise verachtens- oder bemitleidenswerte Figuren. Bei uns zu Hause hießen sie nur «die Schwarzen», ein Begriff, der für mich verdächtig nach dem schwarzen Mann klang, vor dem man sich als Kind tunlichst in Sicherheit brachte. Meine erste politische Kindheitserinnerung ist das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im Bundestag. Ich war neun Jahre alt, in der Küche lief das Radio; ich wartete auf das Mittagessen, aber meine Mutter stand regungslos am Herd und hörte mit geschlossenen Augen zu, wie die Stimmenauszählung übertragen wurde. Wenn ich nicht genau wüsste, wie wenig sie mit Religion am Hut hat, würde ich im Nachhinein schwören, dass sich ihre Lippen dabei bewegten. Hätte vom Ergebnis der Ausbruch eines neuen Krieges abgehangen, wäre die Spannung nicht größer gewesen – und die Erlösung, dass es anders kam als allgemein erwartet und der Kanzler vor dem feigen Anschlag der CDU wie durch ein Wunder gerettet war. Ich begriff früh, dass in der Politik zwei ewige Mächte miteinander ringen, die Macht des Lichts und die der Finsternis. Je früher man sich entschied, auf welcher Seite man sein wollte, desto besser.

Mein Vater stand den Sozialdemokraten eher gefühlsmäßig nahe. Er hatte Kunstgeschichte und Germanistik studiert, auch promoviert über den Bildhauer Ernst Barlach, und war dann irgendwie reingerutscht in den Journalismus, zunächst als Redakteur beim Landesstudio Hannover des NDR. Wenige Monate nach meiner Geburt bekam er das Angebot, ins Funkhaus nach Hamburg zu wechseln. Er machte schnell Karriere und war dann mehrere Jahre Pressechef, ein Posten, der, wenn schon kein Parteibuch, doch einen gewissen Überzeugungsgleichklang voraussetzte.

Bei politischen Diskussionen hielt sich mein Vater zurück, da ließ er meiner Mutter den Vortritt, aber es war klar, dass er sie in allem unterstützte. Ich habe ihn später mal in Verdacht gehabt, heimlich die CDU gewählt zu haben, als Oskar Lafontaine gegen Helmut Kohl antrat. Ich weiß, er hegte auch für Gerhard Schröder und Joschka Fischer nicht viel Sympathien. Er hielt den ersten für einen politischen Heiratsschwindler und den anderen für einen aufgeblasenen Pinsel ohne Kinderstube. Er selber war eher ein Schmidt-Sozialdemokrat. Aber er hat stets vehement abgestritten, die CDU jemals auch nur in Betracht gezogen zu haben. Eine Stimme für Kohl hätte die sofortige Scheidung bedeutet, und auch später noch wäre jede Affäre mit einer anderen Frau aus Sicht meiner Mutter verzeihlicher gewesen als ein Seitensprung am Wahltag.

Es ist kein Schaden, in einem Haushalt aufzuwachsen, in dem die nationale Herkunft von Imbisskost ein politisches Thema ist, das über das richtige Bewusstsein Aufschluss gibt: Es trainiert einen, von klein auf wachsam zu sein gegen moralische Fallstricke. Wie bei allen guten linken Familien konnten bei uns scheinbar alltägliche Entscheidungen eine Tragweite haben, die sich politisch Außenstehenden nur schwer erschließt. Bei jedem Einkauf im Supermarkt war nicht nur ein Urteil über Frische und Geschmack der angebotenen Waren zu treffen, sondern auch über ihre moralische Qualität. Biohaferflocken waren Industriemüsli unbedingt vorzuziehen, selbst wenn sie wie Kleie schmeckten, weil wir grundsätzlich großen Marken misstrauten und kleine Kooperativen unterstützten. Natürlich kaufte meine Mutter aus Prinzip nie Pepsi (USA/​Großindustrie/​republikanisch) – und Coca-Cola (USA/​Großindustrie/​demokratisch) auch nur an Kindergeburtstagen und wenn wir mit Erbrechen im Bett lagen. Dann wurde sie uns in kleinen Mengen eiskalt eingeflößt, weshalb sich Cola für mich bis heute, ob nun intendiert oder nicht, mit Krankheit verbindet. Als in den Zeitungen stand, dass in Afrika die Kinder am Milchpulver von Nestlé starben, war sofort das Nesquik vom Frühstückstisch verschwunden. Nachdem mich ein Freund darauf aufmerksam gemacht hatte, dass auch Smarties von Nestlé waren, betete ich inständig, meine Mutter möge das nie herausfinden.

Sobald es um politische Belange ging, konnte sie erstaunlich rigoros sein. Bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr bin ich praktisch ohne Apfelsinen aufgewachsen, eine Erfahrung, die ich mit meinem britischen Journalistenkollegen Nick Cohen teile, wie ich neulich überrascht festgestellt habe: Bestimmte Entbehrungen scheinen die Kinder der Linken gemeinsam erlebt zu haben, und zwar überall im Westen. In diesem Fall waren die zitrusfruchtproduzierenden Länder der Welt für einen Zeitraum, der unglückseligerweise mit unserer Kindheit zusammenfiel, in die Hände von irgendwelchen Caudillos oder anderweitig fragwürdigen Machthabern geraten. Spanische Orangen konnte man nicht kaufen, solange General Francisco Franco an der Macht war, weil jeder Kauf eine indirekte Unterstützung der Diktatur bedeutet hätte. Südafrika kam wegen des Apartheidregimes nicht in Frage, und Jaffas aus Israel schienen politisch nicht korrekt, solange die Palästinenser so viel zu leiden hatten. Am Anfang blieben uns noch die Orangen aus Florida, aber nach der Wahl von Nixon zum Präsidenten war es auch damit vorbei. Dass mein Bruder und ich nicht dem Skorbut zum Opfer fielen, verdanken wir dem Hinscheiden Francos mit 82 Jahren im November 1975.

Man kann auch ohne Nesquik und Zitrusfrüchte eine glückliche Kindheit verleben. Ich habe keinen Grund, mich zu beklagen – andere Kinder müssen wegen ihres Glaubens ohne Koteletts groß werden und vier Wochen im Jahr fasten. Außerdem waren erstaunliche Ausnahmen möglich. Zu meinem Leidwesen hatte meine Mutter auch eine starke Abneigung gegen Comics gefasst. Das sei Schund, befand sie, und Schund kam bei uns nicht ins Haus. Die Ausnahme von der Regel war ‹Asterix›: Ich besaß alle Bände, angefangen bei ‹Asterix der Gallier› bis ‹Asterix auf Korsika›. Was aus Frankreich kam, galt als kulturhaltig und war damit vom Schundverdacht befreit, eine Aufwertung, die sich allerdings nicht auf das benachbarte Belgien erstreckte, womit die ‹Tintin›-Serie von Hergé wiederum unter das No-Comics-Verdikt fiel. Auch beim Fernsehen gab es feine Unterschiede. Hollywood war sogar schlimmer Schund – es sei denn, die Filme waren alt und schwarzweiß oder von Emigranten wie Billy Wilder und Ernst Lubitsch gedreht, dann waren sie Kulturgut und auch für Kinder geeignet. Wie mein Vater die Westernserie ‹Bonanza› als Familienprogramm am Sonntag durchgesetzt hat, ist mir bis heute ein Rätsel.

Ich weiß nicht mehr, wann mir zum ersten Mal aufging, dass nicht alle Familien so waren wie meine. Ich wusste natürlich, dass es Leute gab, die alles ablehnten, wofür Sozialdemokraten standen, davon war ja am Esstisch ständig die Rede, aber sie spielten eher als abstrakte Bedrohung eine Rolle. In meinem direkten Umfeld kamen sie nicht vor.

Im Grunde ist das bis heute so geblieben. Inzwischen kenne ich viele Konservative, das bringt schon mein Beruf mit sich. Das Land wird, nach sieben Jahren unter Rot-Grün, schon länger wieder von der CDU und ihrer Kanzlerin geführt, auch die meisten Bundesländer haben an ihrer Spitze einen Ministerpräsidenten der Union stehen. Aber das ändert nichts daran, dass die Konservativen überall dort, wo darüber befunden wird, wie die Dinge zu sehen und zu bewerten sind, praktisch nicht vorkommen. Gehen Sie in irgendein Schauspielhaus, in ein Museum oder ein Freiluftkonzert: Sie werden schnell feststellen, dass Ideen, die außerhalb der linken Vorstellungswelt siedeln, dort nichts verloren haben. Ein zeitgenössisches Theaterstück, das nicht kritisch mit der Marktwirtschaft abrechnet? Undenkbar. Ein Künstler, dem bis zur Abwahl von George W. Bush zu Amerika auf Anhieb mehr als Guantánamo, Abu Ghraib und die fehlende Unterschrift unter dem Kyoto-Protokoll einfiel? Indiskutabel. Rock gegen Links? Ein Scherz.

Die Linke hat gesiegt, auf ganzer Linie, sie ist zum Juste Milieu derer geworden, die über unsere Kultur bestimmen. Wenn man nach einer Definition sucht, was links sein bedeutet, lässt sich auf ein beeindruckendes Theoriegebäude zurückgreifen. Links ist eine Weltanschauung, auch eine Welterklärung, wie alles mit allem zusammenhängt – aber zunächst ist es vor allem ein Gefühl. Wer links ist, lebt in dem schönen Bewusstsein, im Recht zu sein, ja, einfach immer recht zu haben. Linke müssen sich in Deutschland für ihre Ansichten nicht wirklich rechtfertigen. Sie haben ihre Meinung weitgehend durchgesetzt, nicht im Volk, das störrisch an seinen Vorurteilen festhängt, aber in den tonangebenden Kreisen, also da, wo sie sich vorzugsweise aufhalten.

Sicher, unterwegs haben sie ein paar Niederlagen einstecken müssen. Sie haben den Kampf gegen das Kabelfernsehen verloren, und sie haben auch die Wiedervereinigung nicht verhindern können, aber all das schrumpft im Rückblick zu Nebensächlichkeiten. Die andere Seite weiß noch nicht einmal, wie sie sich selber nennen soll. Niemand in Deutschland, der noch bei Trost ist, bezeichnet sich selbst als rechts. Bürgerlich vielleicht oder konservativ, aber selbst das nur mit angehaltenem Atem. Rechts ist nicht die andere Seite des Meinungsspektrums, es ist ein Verdammungsurteil.

In der Meinungswirtschaft, in der ich mein Geld verdiene, gibt es praktisch nur Linke. Und wer es nicht ist, behält das lieber für sich. Sie meinen, ich übertreibe? Vor der Bundestagswahl 1998 veranstaltete die Redaktion der ‹Welt›, konservatives Flaggschiff des Springer-Konzerns, eine Wahlumfrage, bei der die Redakteure neben ihrem Tipp für den Wahlausgang auch ihre eigenen Präferenzen angeben konnten: Rot-Grün lag bei beiden Auszählungen mit weitem Abstand vorn. Das Ergebnis hing kurze Zeit am Schwarzen Brett, dann war es verschwunden. So deutlich wollte man Besuchern der Redaktion doch nicht auf die Nase binden, dass der heimliche Lebenstraum des normalen ‹Welt›-Redakteurs ein Platz bei der ‹Süddeutschen Zeitung› ist.

Ein Grund für die kulturelle Dominanz der Linken mag sein, dass die andern nichts zu sagen haben oder ihre eigenen Ideen so überzeugend sind, dass neben ihnen alles verblasst. Ich vermute eher, viele sind links, weil es die anderen auch sind. Die Anpassungsneigung des Menschen ist eine experimentalpsychologisch gut dokumentierte, aber im Alltagsleben regelmäßig unterschätzte Eigenschaft. Was Überzeugung genannt wird, ist oft nichts anderes als eine Adaptionsleistung im Meinungsumfeld. Opportunismus ist ein hässliches und hier auch ein nicht ganz zutreffendes Wort, weil es die Übernahme von Meinungen aus Berechnung voraussetzt. Nennen wir es lieber Sozialinstinkt: Niemand möchte im Büro derjenige sein, der beim Gang zum Mittagessen als Einziger bei der Frage übergangen wird, ob er mitkommen wolle.

Ich habe irgendwann den Anschluss verpasst. Ich kann nicht sagen, wann es passierte, es gibt keinen Tag und kein Ereignis, die mich von der Linken entfremdeten. Ich kann noch nicht mal behaupten, ich hätte bewusst Abstand genommen. Es passierte einfach. Plötzlich konnte ich nicht mehr lachen, wenn man sich zum hundertsten Mal über die Physiognomie Kohls lustig machte. Ich stellte fest, dass ich erleichtert war, als meine Söhne das Puppenhaus, das mein Schwiegervater und ich für sie gebaut hatten, zu einer Parkgarage umfunktionierten. Wenn die Diskussion auf die Nutzlosigkeit von Ehe und Familie kam, war ich derjenige, der insgeheim jedem verheirateten Paar die Daumen drückte, es möge möglichst lange durchhalten. Einmal traute ich mich sogar, in einem Partygeplänkel zum Klimawandel ein gutes Wort für die Atomenergie einzulegen – der Abend war dann allerdings gelaufen.

Am Anfang versuchte ich, meine konservativen Neigungen zu unterdrücken. Ich redete mir ein, sie würden vorbeigehen wie jugendliche Hitzewallungen. Beim nächsten Kohl-Witz lachte ich dafür besonders laut, um nicht aufzufallen. Kurz, ich verhielt mich wie ein vierzigjähriger Familienvater, der plötzlich entdeckt, dass er schwul ist und nicht weiß, was er tun soll.

Es hatte frühe Anzeichen auf meine Veranlagung gegeben, im Nachhinein ließen sie sich deutlich erkennen. Meine Schulfreundin Fontessa meint sogar, sie habe es schon immer gewusst. Als wir vor drei Jahren bei einem Klassentreffen Jugenderinnerungen austauschten und ich dabei auch auf meinen Seitenwechsel zu sprechen kam, sah sie mich nur mitleidig an und sagte: «Jan, du warst doch nie richtig links, das war doch bei dir immer nur Pose.» Ich fühlte mich ertappt, dabei meinte sie es gar nicht bös.

Das Schwierigste für jeden späten Konservativen ist immer das Coming-out. Es ist ein Moment, den man hinauszögert, solange es geht. Man fürchtet die Reaktion der Kollegen, man will auch seine Eltern nicht beschämen. Meine Mutter wird kommendes Jahr 75, was es zunehmend unwahrscheinlich macht, dass sie ihre Vorurteile gegenüber Konservativen jemals ablegen wird. Sie versucht, im Umgang höflich zu sein und sich nichts anmerken zu lassen, aber manchmal treten ihre Vorbehalte in einer selbst für mich schockierenden Deutlichkeit zum Vorschein. «Ein schrecklicher, schrecklicher Mensch», seufzte sie indigniert, als ich nach dem Wahlsieg von CDU-Bürgermeister Ole von Beust über den ‹Zeit›-Herausgeber Michael Naumann mit ihr telefonierte: «Dass wir von so jemandem regiert werden.» Sie klang gerade so, als ob Hamburg von einem gerichtsnotorischen Betrüger geführt würde, und ich kann nicht ausschließen, dass sie es genauso sieht. Was den eigenen Sohn angeht, hat sie beschlossen, über alle Verirrungen hinwegzusehen. Sie verhält sich wie eine dieser englischen Damen, die nichts mehr im Leben wirklich erschüttern kann und die einfach weiterplaudern, wenn neben ihnen jemand aus der Rolle fällt.

Inzwischen habe ich gelernt, mit meinem Konservativsein offensiv umzugehen. Ich traue mich manchmal sogar, Vorurteile direkt anzusprechen. Neulich hatten wir ein Ehepaar zu Gast, das wir seit längerem kennen, aber bei dem der Kontakt zuletzt etwas abgebrochen war. Er ist vor nicht allzu langem Professor für Jura an einer ostdeutschen Uni geworden, sie promotet Golfplätze. Das Gespräch kam zügig auf den letzten Michael-Moore-Film, und unser Freund behauptete plötzlich, im gesamten Mittleren Westen der USA dürfe der Film nicht gezeigt werden. So wie er es sagte, klang es, als ob Moore ein französischer Autorenfilmer sei, der den Amerikanern endlich den Spiegel vorhalte, was die nicht ertragen konnten. Ich hatte eine ziemlich präzise Vorstellung, wie das Gespräch weitergehen würde, und wusste, dass ich mich nachher wieder über mich ärgern würde, weil ich nicht entschieden genug widersprochen hatte. «Um es kurz zu machen, weil wir ja dann eh auf diesen Punkt kommen», hörte ich mich selber sagen: «Nein, ich glaube nicht, dass die CIA hinter den Anschlägen vom 11. September steckt, und ja, wir haben gerne in Amerika gelebt.» Es war dann sehr still, wir tranken unseren Tee, und die beiden verabschiedeten sich schnell. Ich war erschrocken über mich selbst, aber auch ein klein wenig stolz.

Wer über die Linke schreibt, und das nicht im Ton der Bewunderung, zieht Kritik auf sich, das beginnt schon mit dem Begriff links. Man kann zu Recht einwenden, dass zwischen einem grünen Attac-Anhänger, einem gestandenen Ruhrpott-Sozialdemokraten und dem Funktionär der Linkspartei mehrere Welten liegen. Um Missverständnisse zu vermeiden, deshalb ein paar Sätze zur Klärung.

Die Linke ist, genau genommen, eine begriffliche Fiktion. Anders gesagt: Links ist ein Gattungsbegriff, und als solcher hat er Nachteile. Er ebnet, wie alle generischen Bezeichnungen, Differenzen ein und ist notgedrungen unscharf, weil er den Blick auf die Gemeinsamkeiten richtet und nicht auf das Trennende. Wer jeder Verästelung nachspürt, verliert sich im Besonderen und übersieht das Allgemeine. Natürlich existieren zwischen Schnecken, Muscheln und Kopffüßlern gravierende Unterschiede, dennoch fasst sie der Biologe im Stamm der Mollusken zusammen. Ohne Verallgemeinerung kommt man zu keiner Erkenntnis.

Wenn ich von der Linken spreche, meine ich zunächst ein Milieu, das mir seit meiner Kindheit vertraut ist und das man als Links-Bürgertum bezeichnen kann. Im englischen Sprachraum haben sich Begriffe wie «chattering class» oder «creative class» durchgesetzt, Mittelklasse-Sozialismus oder Links-Chic sind andere Versuche der Beschreibung, aber sie meinen in etwa alle das Gleiche. Dieses Milieu ist bevölkert von einem bestimmten Typus, den man leicht an seinen Konsum- und Kulturgewohnheiten erkennen kann (auch wenn er sich selber auf seinen Nonkonformismus viel zugutehält) und der sich durch ein ausgeprägtes Elitebewusstsein auszeichnet, wobei Elite zu den Begriffen gehört, die für ihn so tabu sind wie Nation, Heimat oder Volk.

Man schwärmt für Obama, fürchtet sich vor dem Klimawandel und dem Überwachungsstaat, achtet auf biologisch einwandfreie Ernährung und liest die Meinungsspalte der ‹Süddeutschen›, das Feuilleton der ‹Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung› und, mit einer gewissen zur Schau gestellten Verachtung, den Politikteil des ‹Spiegel›. Die Kinder gehen auf ausgesuchte Schulen, auch wenn man grundsätzlich für die Gemeinschaftsschule ist, das Wochenende verbringt man gerne bei Freunden auf dem Land, die dort seit Jahren eine Natursteinkate renovieren, natürlich denkmalschutzgerecht, und beim Italiener erfolgt die Bestellung grundsätzlich in der Landessprache des Wirtes, egal wie gut oder schlecht man Italienisch spricht. Das eine oder andere mag sich auch bei Liberalen und Konservativen finden, aber eben nicht in der Ausschließlichkeit und schon gar nicht als Konstitutionsmerkmal eines Lebensstils.

Der Marktwirtschaft steht man in dieser Gesellschaftsschicht kritisch gegenüber, ohne genau sagen zu können, was die Alternative wäre. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist so gesehen ein Gottesgeschenk, weil sie einen in allen Vorurteilen aufs schönste bestärkt und jeder weiteren Argumentationsmühe enthebt. Man muss in einer Diskussion nur «Ackermann» oder «Wall Street» rufen, wenn sich jemand mit einem schüchternen Einwand hervortraut, und schon wackeln alle Umstehenden einverständig mit den Köpfen, und der Störenfried zieht sich, Entschuldigungen murmelnd, zurück. Nun hofft man nur insgeheim, dass die Krise des Kapitalismus nicht zu weit voranschreitet, weil auch der eigene Wohlstand dranhängt und seit 150 Jahren der Beweis aussteht, dass mit dem alten Marx ebenfalls ein auskömmlicher Lebensabend garantiert wäre.

Mit anderen Worten: Dies ist die politische und intellektuelle Klasse, die (unter wechselnden kulturellen Vorzeichen) seit den Sechzigern die geistige Republik regiert und zuletzt, mit Schröder und Fischer an der Spitze, auch das Land und die sich nun nach vier Jahren in der Großen Koalition aus der Opposition heraus anschickt, das Kanzleramt zurückzuerobern, diesmal wohl mit der Linkspartei als unbequemem, aber notwendigem Mehrheitsbeschaffer. Der sozialdemokratische Gewerkschaftssekretär oder ostdeutsche Altkommunist kommen in dieser Welt nur am Rande vor, deshalb sind sie als solche ausgewiesen, wenn ich sie meine. Dennoch verbindet auch diese Traditionsmilieus mit dem Links-Bürgertum mehr als nur eine ideengeschichtliche Herkunft: Sie eint der Glaube, einer besseren, gerechteren Sache zu dienen. Daher die moralische Selbstzufriedenheit, trotz aller internen Spannungen.

Die linke Familie hat viele Sippen, die heftig miteinander konkurrieren, weshalb sie hier in allen Facetten und Spielarten nicht dargestellt werden können, aber am Ende bleibt es eine Familie, die sich auch als solche begreift. Man kann diese Form von Zugehörigkeitsgefühl nicht zuletzt in der politischen Selbstzuschreibung erkennen. Die Wahlforscher reden ständig vom Schwinden der Bindungskräfte, und so hat sich der Eindruck festgesetzt, auch die Lager hätten sich aufgelöst. Die Union baut auf dieser Annahme inzwischen ihre gesamte Politik auf. Aber in Wirklichkeit wissen die Leute sehr wohl, wo ihre politische Heimat liegt. Wenn man die Bürger bittet, sich auf einer Skala von rechts bis links einzuordnen, können die meisten ganz genau sagen, wo sie stehen. Nur eine Minderheit sagt, dass sie sich nicht entscheiden könne oder keine Meinung habe. Der einzige Unterschied zwischen links und rechts ist dabei, dass die Linken kein Problem haben, sich auch als solche zu bezeichnen, während die Rechten dazu neigen, sich möglichst nah an die Mitte zu schmiegen, aus Angst, man könnte ihnen sonst aus ihrer Selbsteinschätzung einen Strick drehen.

Ich habe mich im Internet umgesehen: Es gibt viele Bücher über die Linke, sie heißen ‹Links!› oder ‹Links neu denken›, und sie beschreiben alle, wie gut es sich anfühlt, auf der richtigen Seite zu stehen. Ich habe mich gelegentlich gefragt, wer eigentlich die Käufer sind. Wer braucht Bücher, die ihm sagen, was er eh schon weiß? Wahrscheinlich handelt es sich um eine Untergattung der Selbstbestätigungsliteratur, statt unter Lebenshilfe stehen sie im Regal eben unter Politik.

Daneben gibt es die kleine Gruppe der Abrechnungsbücher. Die Autoren sind meist Sechzigjährige, die in jungen Jahren Mitglied einer kommunistischen Sekte waren, Maoisten, Spartakisten oder Angehörige des Kommunistischen Bunds Westdeutschland, Versprengte der Weltrevolution, die irgendwann die Biege gemacht haben und nun mit den Irrtümern und Illusionen von damals aufräumen. Es sind verdienstvolle Werke darunter, ‹Das rote Jahrzehnt› von Gerd Koenen zum Beispiel oder ‹Unser Kampf› von Götz Aly, lehrreiche Schilderungen der Selbstgenügsamkeit und geradezu manischen Weltabgewandtheit der Linken in den Aufbaujahren der Bewegung. Sie seien jedem zur Lektüre empfohlen, der meint, dass die Achtundsechziger und ihre Epigonen auch nur jemals einen Bruchteil politischen Überblicks besessen hätten. Aber immer bleiben diese Abrechnungen notgedrungen auf der Höhe ihrer Zeit. Sie finden keinen rechten Anschluss zur Gegenwart, vielleicht auch, weil viele der Wortführer von damals ihn nicht wirklich gefunden haben.

Dieses Buch will nicht mit Verspätung recht behalten. Es hat keine Rechnungen offen, die es zu begleichen gilt. Es will nicht belehren oder agitieren, es will auch niemanden auf die Seite ziehen. Warum auch?

Ich gehöre keiner Partei oder Gruppierung an. Ich habe nichts zu bekennen oder wiedergutzumachen, jedenfalls nicht im politischen Sinn. Für mich und meine Generation gilt die Gnade der späten Geburt: Als wir in die Pubertät kamen, waren die Achtundsechziger schon im Staatsdienst und die RAF im Hungerstreik. Uns blieben als revolutionäre Betätigungen nur noch Hausbesetzungen und Friedensdemonstrationen. Da ging es auch hoch her, aber das Engagement lieferte nicht mehr den Stoff für Ritterkreuze.

Dieses Buch ist ein Erkundungsbericht aus dem Imperium der Linken. Es bedient sich zur Erkenntnisgewinnung der teilnehmenden Beobachtung einer Welt, die vielen fremd sein dürfte, deren politische Betätigung sich auf den gelegentlichen Gang zum Wahllokal beschränkt. Wer kommt schon auf die Idee, dass man mit dem Genuss eines amerikanischen Brausegetränks den Ausverkauf seiner Ideale begehen könnte? Eliten neigen dazu, Denk- und Verhaltensweisen auszubilden, die sie von der Masse abheben. Manches muss dem Außenstehenden lebensfremd oder geradewegs bizarr erscheinen, aber das heißt nicht, dass es bedeutungslos wäre. In der Übertreibung zeigt sich oft das Eigentliche.

Bei der Beschäftigung mit Herrschaftsformationen tritt neben die ethnographische Beschreibung das Interesse an den Methoden der Herrschaftssicherung, das unterscheidet die Feldforschung vom reinen Erfahrungsbericht. Wie wurde die Macht erobert? Wie wird sie befestigt? Welches sind die Ideen, die alle der herrschenden Klasse Zugehörigen an ihre gesellschaftliche Sonderrolle glauben lassen? Und was macht eigentlich eine Bewegung, die erreicht hat, was sie sich wünschte? Die Verteidigung des Status quo ist insgesamt eine zähe Sache, aus der kein Funke zu schlagen ist. Vielleicht sind Linke auch deshalb oft so gereizt.

Eine Reihe linker Errungenschaften werden dem Leser angesichts der Verwerfungen im Wirtschaftsleben merkwürdig zeitenthoben erscheinen. Was kümmern einen feministische Emanzipationsprojekte oder sozialpolitische Fortschrittsprogramme, lässt sich einwenden, wenn reihenweise Betriebe zusammenklappen und ganze Industriekonzerne gleich hinterher? Das ist brav gedacht, aber in Bezug auf die hier zur Rede stehenden Ambitionen auch rührend naiv. Tatsächlich bietet die Krise die willkommene Gelegenheit, all das zu vollenden, was im ersten Anlauf nicht gelang. Der Widerstand ist geschwächt, die Gegenseite in Erklärungsnot, das will ausgenutzt sein und wird es auch.

Die Linke hat sich noch nie durch etwas so Vorübergehendes wie eine Wirtschaftskrise oder einen Staatsbankrott von ihren Unternehmungen abbringen lassen, das macht eine ihrer Stärken aus. Sie hat den Zusammenbruch eines Weltimperiums überlebt, das zu seinem Schutz über 27 000 Atomwaffen, 2,8 Millionen Soldaten und die größte Geheimpolizei der Erde verfügte, ohne dass dies nachhaltige Schäden an ihrem Glaubensgerüst angerichtet hätte. An der ostdeutschen Hinterlassenschaft des Kommunismus kaut die Bundesrepublik noch heute: 1,5 Billionen Euro sind seit der Wiedervereinigung vom Westen in den Osten geflossen, weitere 160 Milliarden werden es bis 2020 sein, wenn der Solidarpakt offiziell ausläuft, und das schließt die Sozialtransfers dann noch nicht ein. Ohne die Sanierung des Beitrittsgebiets wäre die Wachstumsquote in den alten Bundesländern zwischenzeitlich etwa doppelt so hoch ausgefallen, wie die EU-Kommission in einem Bericht 2002 feststellte, aber all das hindert die Entscheidungsträger bei Grünen und SPD nicht, einen Schulterschluss mit den Rechtsnachfolgern der SED anzustreben, die unverdrossen weiter die «Systemfrage» stellen. Wenn die Vergangenheit einen Hinweis auf die Haltbarkeit von Utopien gibt, dann muss man sich um die Linke keine Sorgen machen: Der Zähler der Bundesanstalt für Arbeit stand bei fünf Millionen Arbeitslosen, als die Regierung in Berlin, damals noch unter rot-grüner Leitung, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auf den Weg brachte, das keinen einzigen neuen Job schuf, dafür aber festlegte, dass niemand einen wegen sexueller, geschlechtlicher oder religiöser Ungleichbehandlung verlieren darf. Der Arbeitsmarkt lässt also, gemessen am Stand der Arbeitslosen, noch einigen Spielraum für die Verwirklichung ehrgeiziger Zukunftsvorhaben.

Wenn überhaupt, dann will dies Buch ermutigen, sich nicht mehr darum zu scheren, ob man in den politischen Mainstream passt. Es ist gar nicht so schlimm, nicht mehr links zu sein: Man verliert ein paar Freunde und gehört in bestimmten Kreisen nicht mehr dazu, aber dafür bessert sich schlagartig die Stimmung. Das ist zumindest die Erfahrung des Autors.