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Eigenanzeige

Danksagung

Jede Autorin wird erklären, dass ihr Buch ohne die Arbeit vieler, vieler Menschen nicht möglich gewesen wäre. Hier sind einige der Leute, die dabei geholfen haben, Lila Merriweather und die Welt von Cloudburst Falls ins Leben zu rufen:

Ich danke meiner Agentin Annelise Robey für all ihre hilfreichen Ratschläge.

Ich danke meiner Lektorin Alicia Condon für ihren scharfen Blick und die aufmerksamen Anmerkungen. Sie machen das Buch immer ein Stück besser.

Ich danke allen bei Kensington, die an diesem Projekt mitgearbeitet haben, besonders Alexandra Nicolajsen und Vida Engstrand für ihre Werbung. Und ein Danke geht auch an Justine Willis.

Und schließlich möchte ich all meinen Lesern da draußen danken. Ich schreibe Bücher, um euch zu unterhalten, und das ist mir immer eine besondere Ehre. Ich hoffe, ihr habt genauso viel Spaß dabei, über Lila zu lesen, wie ich, über sie zu schreiben.

Viel Spaß!

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1

Aller schlechten Dinge sind drei.

Die drei Hexen. Diese drei Bären, denen Goldlöckchen begegnet ist.

Die drei mit Schwertern bewaffneten Wachen, die mich gerade jagten.

»Komm zurück, du Diebin!«, brüllte einer der Männer. Seine Stimme hallte über die Dächer.

Grinsend lief ich schneller.

Vor einer halben Stunde hatte ich mir Zugang zu dem luxuriös eingerichteten, aber schlecht bewachten Stadthaus eines reichen Buchhalters mit Familienverbindungen verschafft, der seiner Geliebten eine Rubinkette gekauft hatte – was seine Frau nicht allzu sehr begeistert hatte.

Deshalb war ich auf Kosten und auf Befehl der wütenden Ehefrau ausgesandt worden, besagte Kette zu stehlen. Es war ein Kinderspiel gewesen, am Abflussrohr in den ersten Stock des Hauses zu klettern, eine Balkontür zu knacken und mich ins Innere zu schleichen. Ich hatte nicht mal den Bürosafe aufbrechen müssen, da die Kette in einer offenen, schwarzen Samtschatulle auf dem Schreibtisch des Buchhalters ruhte, wo mein gieriger Blick die Rubine sofort entdeckte. Also hatte ich den Deckel geschlossen und die Schatulle mit ihrem kostbaren Inhalt in meinen langen, saphirblauen Trenchcoat geschoben.

Dann hatte ich den Rest des Schreibtisches nach weiteren Dingen durchsucht, die ich stehlen konnte.

Es hatte mich ein wenig überrascht, in einer der Schubladen ein Paar diamantbesetzte Manschettenknöpfe zu entdecken. Die Diamanten waren nicht so groß und eindrucksvoll wie die Rubine, doch sie waren trotzdem in meine Tasche gewandert, zusammen mit einem goldenen Füller, einem Brieföffner aus Sterling-Silber und einem Briefbeschwerer aus Kristall.

Nichts, was ich in meinem siebzehnjährigen Leben nicht schon Dutzende Male gestohlen hätte. Tatsächlich war dieser Job einfacher gewesen als die anderen Diebestouren, auf die Mo mich in letzter Zeit geschickt hatte.

Man hätte mich als eine Art modernen, weiblichen Robin Hood bezeichnen können, der fröhlich von den Reichen stahl. Nur dass ich meine Beute niemals an die Armen verschenkte. Es gab nur drei Leute auf der Welt, die mir etwas bedeuteten – ich, ich und ich. Na ja, vielleicht vier, wenn mir gerade danach war, Mo mit in die Rechnung aufzunehmen. Aber Mo konnte gut auf sich selbst aufpassen, und ich hatte genug damit zu tun, mich selbst durchzufüttern.

Sobald ich sichergestellt hatte, dass alles Diebesgut sicher in meinen Manteltaschen verstaut war, sah ich mich im Rest des Büros um. Doch die Vasen und der restliche Nippes war zu groß und unförmig, als dass ich das Zeug hätte wegschleppen können, und die Möbel waren einfach zu schwer.

Also hatte ich mich entschlossen, zu verschwinden, zufrieden mit meinem Beutezug. Und natürlich war genau in diesem Moment ein Wachmann in den Raum getreten, um die Kette für seinen Boss zu holen.

Er hatte nach seinen zwei Kumpel geschrien, alle drei waren mit gezogenen Schwertern ins Büro gestürmt, und ich hatte schnellstens den Rückzug durch eine Seitentür angetreten. Von dort war ich auf das Dach des Hauses geklettert und von dort auf das benachbarte Gebäude gesprungen … und dann auf das nächste … und dann auf das nächste 

Fünf Minuten später rannte ich immer noch über die Dächer der besseren Häuser von Cloudburst Falls in West Virginia. Es hatte sich herausgestellt, dass die Wachen schwerer abzuschütteln waren, als ich erwartet hatte. Doch ich hatte einen Plan.

Ich hatte immer einen Plan.

Ich näherte mich dem Rand des Daches und legte noch einen Zahn zu, um mich auf den Sprung aufs nächste Dach vorzubereiten. Zu meinem Glück standen die Stadthäuser hier nah nebeneinander und hatten Flachdächer. Auf vielen von ihnen gab es kleine Gärten oder sogar Vogelvolieren. Dieses spezielle Dach wies sogar beides auf. Die Rosen bewegten sich, als ich an ihnen vorbeirannte, und ein paar Blütenblätter wurden in die feuchte Luft gewirbelt, während die Tauben traurig gurrten, weil ich ihren Schlaf gestört hatte.

Der Abstand zwischen den Dächern war nicht groß, vielleicht knapp einen Meter, und ich bewältigte den Sprung mühelos. Meine Füße bewegten sich für einen Moment in der Luft, bevor meine Turnschuhe wieder festen Boden fanden.

Ich stolperte kurz, und mein Mantel flatterte um meine Beine. Während ich darum kämpfte, wieder Geschwindigkeit aufzunehmen, warf ich einen kurzen Blick über die Schulter. Obwohl es nach zehn Uhr abends war und dunkle Regenwolken am Himmel hingen, konnte ich die Wachen, die mich verfolgten, so deutlich sehen, als wäre es heller Tag. Das verdankte ich meinem Talent für Sicht. Die Männer wirkten wie normale Menschen, aber ich konnte nicht sagen, ob sie wirklich langweilige Normalsterbliche waren oder eher interessantere Magier wie ich.

Die Wachen schienen kein Talent zu besitzen, zumindest benutzten sie keine offensichtliche Magie. Sonst hätten sie bereits Blitze, Eissplitter oder sogar Feuerbälle auf mich geworfen. Ein Teil von mir wünschte sich fast, die Wachmänner hätten mich mit Magie beschossen. Das hätte mir die Flucht erleichtert.

Denn ich besaß noch ein weiteres, ungewöhnliches Talent.

Doch es sollte nicht sein. Die Männer sprangen auf das Dach, gerade als ich bereits zum nächsten flog – dem letzten in dieser Häuserreihe.

Ich rannte ans andere Ende des Flachdaches. Dieses Stadthaus lag an einer Straße, was bedeutete, dass das nächste Gebäude gute dreißig Meter entfernt stand – viel zu weit für einen Sprung. Und da ich mich auf einem Privathaus befand, gab es nicht einmal eine Feuerleiter, an der ich hätte nach unten klettern können – sondern nur ein klappriges Abflussrohr, das locker an der Seitenwand befestigt war.

Doch das wusste ich bereits, denn ich hatte die Nachbarschaft früher am Abend ausgekundschaftet. Ehrlich gesagt war das sogar der Grund, warum ich zu diesem Haus gelaufen war.

Also ließ ich die Hände in die Manteltaschen gleiten und sortierte die Gegenstände darin – die Schatulle mit der Kette, das übrige Diebesgut, mein Handy, mehrere Vierteldollarmünzen, ein halber Schokoladenriegel, den ich genascht hatte, während ich das Haus des Buchhalters beobachtet hatte. Schließlich schlossen sich meine Finger um zwei Stücke weiches, nachgiebiges Metall, und ich holte die Kettenhandschuhe heraus, um sie mir über die Hände zu ziehen.

Die Wachen bewältigten den letzten Sprung mühelos. Na ja, wenn man bedachte, wie groß sie waren und wie lang ihre Beine, war es für sie eher ein großer Schritt. Ich drehte mich zu ihnen um. Die Wachmänner grinsten und verlangsamten ihre Schritte, als ihnen klar wurde, dass mir die Dächer ausgegangen waren.

Einer der Wachmänner trat vor. Seine grünen Augen glitzerten im Halbdunkel wie die eines Baumtrolls, und sein schwarzes Haar war so kurz geschnitten, dass es aussah, als trüge er eine Mütze aus Schatten.

»Gib uns die Kette, und wir lassen dich leben«, knurrte er. »Sonst …«

Er ließ sein Schwert durch die Luft sausen, genau auf Höhe meines Halses.

»Ab mit dem Kopf?«, murmelte ich. »Wie klischeebeladen.«

Er zuckte mit den Achseln.

Ich ließ die Hand zu meiner Hüfte und dem Schwert wandern, das dort hing. Ich dachte kurz darüber nach, die Waffe aus ihrer Lederscheide zu ziehen, in Angriffsposition zu gehen und einen Ausfall zu wagen, entschied mich dann jedoch dagegen. Auf keinen Fall würde ich mich auf einen Kampf mit drei Wachen einlassen – nicht für das bisschen Geld, das Mo mir zahlte.

»Komm schon«, rumpelte der Mann. »Ich zerstückle nicht gerne kleine Mädchen, aber ich habe es schon getan.«

Ich nahm keinen großen Anstoß an seinem »Kleine Mädchen«-Kommentar. Er sah aus, als sei er mindestens fünfzig.

Also seufzte ich und ließ die Schultern sinken, als würde ich meine Niederlage eingestehen. Dann griff ich in meine Manteltasche, zog die Samtschatulle heraus und hob sie hoch, sodass der Anführer der Wachen sie sehen konnte. Seine Augen waren nicht so scharf wie meine – das galt für die meisten Leute –, aber er erkannte sie.

»Diese Kette?«

Er nickte, trat vor und streckte mir die Hand entgegen.

Ich grinste und schob die Schatulle zurück in meine Tasche. »Ich hab’s mir anders überlegt, ich behalte sie doch lieber. Bis später, Jungs.«

Damit sprang ich auf das Sims rings um das Dach, griff nach dem Abflussrohr und trat in die Nachtluft.

Das nasse Metall des Rohrs glitt durch meine Finger wie ein geölter Blitz. Hätte ich die Handschuhe nicht getragen, hätte mir das Rohr das Fleisch bis auf die Knochen aufgerissen. Der Wind pfiff durch meine schwarzen Haare und riss einzelne Strähnen aus dem Pferdeschwanz. Ich stieß ein kleines, glückliches Lachen aus, weil das Gefühl des Fallens einfach berauschend war. Im letzten Moment packte ich das Rohr so fest ich nur konnte, und das Kratzen von Metall hallte durch die Luft.

Fünf Sekunden später trafen meine Sneakers auf den Asphalt des Gehweges. Ich ließ das Rohr los, trat zurück und sah nach oben.

Die Wachen hatten sich über den Rand des Daches gebeugt und starrten mit weit aufgerissenen Mündern zu mir herunter. Einer von ihnen lief zum Abflussrohr, als wollte er mir folgen, doch in seiner Eile riss er einfach nur den oberen Teil des Metalls aus seiner Halterung in der Hauswand. Der Rest des Rohrs löste sich ebenfalls und fiel klappernd zu Boden, wobei beim Aufprall ein paar Funken durch die Luft stoben. Sah aus, als wäre er doch ein Magier, und zwar einer mit einem Talent für Stärke. Verdrossen drehte sich der Wachmann zu dem Anführer um und hielt ihm das Rohrstück entgegen.

Der Anführer versetzte ihm mit dem Knauf seines Schwertes einen Schlag gegen den Kopf. Der zweite Wachmann sackte in sich zusammen und verschwand aus meinem Blickfeld, wahrscheinlich bewusstlos durch den harten Schlag. Anscheinend besaß auch der Anführer ein Stärketalent. Der dritte Wachmann beäugte den Gehweg, als denke er darüber nach, einfach über die Kante zu springen, aber das Dach lag mindestens achtzehn Meter über dem Boden. Niemals hätte er diesen Fall überleben können, außer er besaß irgendeine Art von Heiltalent. Und selbst dann wäre er ein großes Risiko eingegangen, das die Schmerzen der gebrochenen Knochen kaum wert war. Das wusste der Wachmann so gut wie ich, also zog er sich vom Rand des Daches zurück. Und genau darauf hatte ich spekuliert.

Als ihm klar wurde, dass er mich nicht fangen würde, schrie der Anführer seine Wut heraus, und er wedelte mit dem Schwert in der Luft herum. Aber das war auch alles, was er tun konnte.

Ich salutierte spöttisch, dann schob ich die Hände in die Manteltasche, schlenderte den Gehweg entlang und pfiff ein kleines Liedchen dabei.

Alles reine Routine.

Trotz der späten Stunde waren die kopfsteingepflasterten Straßen von Cloudburst Falls nicht menschenleer.

Ganz und gar nicht.

Lichter strahlten aus den Läden, Hotels und Restaurants, und der goldene Schein vertrieb die dunkelsten Schatten aus den umliegenden Gassen, wenn auch nicht die Dinge, die darin lebten. Sterbliche und Magier aller Formen, Größen, Altersgruppen und Ethnien ergossen sich in die und aus den Läden, die alle mit Burgen, Schwertern und anderer magischer Themenkunst dekoriert waren. In einem Diner aßen die Gäste an einem langen Tresen, während geflügelte Pixies von kaum fünfzehn Zentimeter Größe durch die Luft schossen und dampfende Teller voller Hackbraten und Kartoffelbrei auf ihren winzigen Köpfen und Rücken balancierten.

Alle Kunden sahen aus wie normale Menschen, trotzdem fiel es leicht, die Magier von den Sterblichen zu unterscheiden. Die Magier waren vollkommen auf ihre Cheeseburger, Milchshakes und Pommes konzentriert. Die Menschen dagegen ließen ihr Essen kalt werden, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, die durch die Luft schießenden Pixies anzustarren. Tölpel, so nannten die meisten Magier die Sterblichen abwertend, und das aus gutem Grund.

Ich stoppte an einer Kreuzung und beobachtete den Verkehr. Überwiegend sah ich Autos mit Kennzeichen aus anderen Bundesstaaten und Touristenbusse. Hin und wieder kamen auch Magier auf Fahrrädern vorbei, die ihr Talent für Stärke oder Geschwindigkeit dazu einsetzten, die Beine schnell oder mühelos genug zu bewegen, um Anhänger mit knutschenden Pärchen darin hinter sich herzuziehen. Ein Schild in einem Blumenbeet erklärte Cloudburst Falls zum »magischsten Ort in Amerika«, einer Touristenstadt, in der der »Märchen wahr werden«.

Ich schnaubte. Sicher, Märchen waren hier durchaus real – allerdings inklusive all der Monster. Monster, die sich nach Blut und Knochen verzehrten, in die sie ihre Zähne und Klauen schlagen konnten, egal ob diese Knochen nun Mensch, Magier oder anderen Wesen gehörten.

Während ich an der Fußgängerampel wartete, hob ich den Blick zum Cloudburst Mountain, dem schroffen Gipfel, der über der Stadt aufragte. Die Bergspitze war von hellen Wolken verhüllt. Sie bestanden aus dem weißen Nebel, der von den Dutzenden Wasserfällen aufstieg, die ununterbrochen über die Seiten des Berges nach unten stürzten. Der Nebel legte sich um den Gipfel wie ein Sahnehäubchen. Und es waren der Berg, die Wasserfälle und die unglaubliche Aussicht von dort oben, deretwegen die Touristen in die Stadt strömten.

Zusammen mit den Monstern.

Dutzende verschiedene Tourismusunternehmen beförderten Leute auf den Berg und in die umliegenden Wälder, damit sie Monster in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten konnten. Es ähnelte ein wenig der Südstaatenvariante einer Safari in Afrika. Diejenigen Touristen, die weniger abenteuerlustig und frischluftversessen waren, konnten in der Stadt bleiben, um die Monster aus sicherer Entfernung in den Parks, Streichelzoos und Ähnlichem zu bestaunen. Und gleichzeitig konnten sie Cloudburst Falls bewundern, das insgesamt an einen kitschigen Mittelaltermarkt erinnerte.

Ein Stück unter den Wolken breiteten sich Herrenhäuser aus weißem, grauem und schwarzem Stein über die Flanken des Berges aus. Die Lichter in ihren Fenstern glitzerten wie Sterne. Tagsüber hätte ich die Fahnen mit den Wappen sehen können, die auf den Türmen innerhalb der weitläufigen Anwesen gehisst worden waren. Die Farben und Symbole standen für die Familien – oder Mafiabanden –, die in dieser Stadt das Sagen hatten, zusammen mit anderen Magiern.

Doch es gab zwei Mafiabanden, die im wahrsten Sinne des Wortes über allen anderen standen – die Sinclair-Familie und die Draconi-Familie. Ihre Herrenhäuser waren am größten, eindrucksvollsten und lagen am höchsten auf dem Berg – das der Sinclairs auf der Westflanke, das der Draconis auf der Ostflanke.

Sie standen auch über mir. Auch wenn ich nur wenig Respekt für die Sinclairs und die Draconis und ihre ständigen Fehden aufbrachte. Doch das galt eigentlich für jeden. Man konnte kaum die Jobs erledigen, die ich so durchzog, und dabei groß Regeln folgen. Noch weniger konnte man sich darum kümmern, wen man gegen sich aufbrachte, wenn man die Regeln brach.

Trotzdem achtete ich immer darauf, mich möglichst unauffällig zu verhalten – aus den verschiedensten Gründen. Das bedeutete, nicht von den Familien zu stehlen. Zumindest nicht von ihren prominentesten Mitgliedern. Ihre Handlanger dagegen, wie der Buchhalter, den ich heute Nacht bestohlen hatte, waren Freiwild.

Mich von den Familien fernzuhalten war so ungefähr die einzige Regel, die ich befolgte. Schließlich gab es jede Menge reicher Leute in der Stadt, die ich ausrauben konnte, ganz zu schweigen von all den Touristen, die gewöhnlich erst in ihren Hotelzimmern bemerkten, dass ihre Geldbeutel, Kameras und Handys fehlten.

Mo ging manchmal auf den Berg, um seine unzähligen unrechtmäßig erworbenen Waren an jede Familie zu verkaufen, die ihn durchs Tor ließ. Ich schloss die Finger um die Schatulle in meiner Tasche und fragte mich, an wen er wohl die Kette verkaufen wollte. Wahrscheinlich an irgendeinen Familientrottel, der nach einem Geschenk Ausschau hielt – oder jemanden bestechen musste.

Die Ampel schaltete um, und ich überquerte die Straße. Gleichzeitig verdrängte ich jeden Gedanken an die Sinclairs, Draconis und die anderen Familien aus meinem Kopf.

Je weiter ich nach Westen kam, desto dünner wurde der Verkehr auf den Straßen und desto weniger magisch und schick wirkte die Umgebung. Die hell erleuchteten Läden verschwanden und wurden von heruntergekommenen Reihenhäusern ersetzt. Dies als den schlechten Teil der Stadt zu bezeichnen, wäre noch zu freundlich gewesen, da selbst zusammengeklebte Streichhölzer wahrscheinlich stabiler gestanden hätten als die meisten der Gebäude in diesem Viertel. Fast bei jedem Haus, das ich passierte, waren Stufen eingebrochen, die Veranden hingen schief, und große Löcher klafften in den Dächern, als wäre etwas vorbeigekommen und hätte Stücke aus dem matten, verwitterten Metall gebissen.

Vielleicht war es ja sogar so. Zusätzlich zu Menschen und Magiern bildeten Monster den dritten, wenn auch kleinsten Teil der Bevölkerung von Cloudburst Falls. In diesem Teil der Stadt waren sie keineswegs selten. All diese heruntergekommenen Häuser, vernagelten Ladengeschäfte und leer stehenden Lagerhäuser boten wunderbare Verstecke, in denen sich etwas zusammenrollen konnte, um darauf zu warten, dass der nächste Tourist vorbeischlenderte.

Ich war die einzige Person auf der Straße, also zog ich mein Schwert und ließ den Blick meiner blauen Augen von rechts nach links huschen, um in die Schatten zu spähen, die dank der zerstörten Straßenlaternen den Gehweg einhüllten. Die Dunkelheit störte mich allerdings kaum, was ich meinem Sichttalent verdankte. Ich konnte trotzdem alles deutlich sehen.

Wie alles andere wurde auch die Magie von der Zahl drei beherrscht. Es gab drei große Kategorien der Macht – Stärke, Geschwindigkeit und Sinne. Die letzte Kategorie teilte sich wiederum in Sicht, Geruch, Klang, Geschmack und Berührung. Fast alle Talente waren Variationen dieser drei Bereiche – ob es nun um die Fähigkeit ging, ein Auto mit einer Hand hochzuheben, sich schneller zu bewegen als eine zustoßende Schlange, oder auf dreißig Meter Entfernung zu hören, wie eine Münze zu Boden fiel. Und als wäre das alles noch nicht genug, waren manche Leute auch dazu fähig, ihre Magie zu rufen, um Feuerbälle, Blitze oder giftige Wolken in den Händen zu halten, sodass jeder ihre Macht sehen und fühlen – und von ihr verletzt werden konnte.

Zusätzlich gab es drei Stufen der Begabung: mindere Macht, moderate Macht und bedeutende Macht – je nachdem, wie stark die individuelle Magie war und wie viele verschiedene Dinge man damit anstellen konnte. Die meisten Leute fielen in die ersten beiden Kategorien, doch manche Talente wurden automatisch als bedeutende Macht eingestuft, weil sie so selten, mächtig oder beides waren.

Eigentlich waren wir Magier sozusagen Zirkusfreaks, die fähig waren, erstaunliche Dinge mit ihren Körpern anzustellen. Starke Frauen, schnelle Männer, Leute, die ihre Gliedmaßen in die unmöglichsten Haltungen verdrehen, mit einer Handbewegung Illusionen erzeugen oder ihr Aussehen verändern konnten, indem sie nur daran dachten. Dazu gab es Monster statt Löwen und Tiger. O Mann.

Sicht war ein recht häufiges Talent, zusammen mit den anderen verstärkten Sinnen. Doch es gehörte auch zu den nützlicheren Talenten. Auf jeden Fall war es besser als eine Begabung für Geruch. Der Gestank des Müllbergs an einer Häuserecke sorgte dafür, dass ich angewidert die Nase rümpfte. Ich konnte mir nicht mal vorstellen, wie viel schlimmer dieser Gestank auf einen magisch verstärkten Geruchssinn wirken musste.

Ich ließ die Reihenhäuser hinter mir und trat auf das Kopfsteinpflaster der Brücke, die sich über den Bluteisen-Fluss zog. In einen Stein, der in die hüfthohe Säule am linken Ende der Brücke eingelassen war, waren drei X geritzt worden. Eine deutliche Warnung: Hier Monster.

Ich hielt in der Mitte der Brücke an, kurz bevor ich den Scheitelpunkt erreicht hatte, sah über die Steinbalustrade und lauschte. Doch ich hörte und sah nichts abgesehen vom leisen Plätschern des Flusses unter mir. Kein metallisches Schlagen, keine Krallen, die über den Stein kratzten, kein Monster, das sich in Erwartung eines leckeren Bissens die Lefzen leckte. Entweder das Lochness, das unter der Brücke wohnte, glitt gerade durch den Fluss wie der schwarze, riesige Oktopus, dem es ähnelte, oder es tat sich bereits an seinem heutigen Abendessen gütlich.

Ich dachte darüber nach, die Brücke zu überqueren, ohne den üblichen Zoll zu zahlen. Doch ich wollte nichts riskieren. Außerdem war es nur höflich, den Tribut zu entrichten. Meine Mutter hatte großen Wert darauf gelegt, den Zoll zu bezahlen, die alten Traditionen zu achten und jeder Kreatur – ob nun Mensch, Magier oder Monster – den Respekt zu zollen, den sie verdiente. Besonders denjenigen, die einen mit einem Happs verschlingen konnten.

Also grub ich die drei Vierteldollarmünzen aus meiner Tasche. Ich legte die Münzen auf einen glatten Stein genau in der Mitte der Brücke, der ebenfalls mit den drei X gekennzeichnet war.

Ziemlich billig, wenn ich so darüber nachdachte. Besonders wenn man die Mondpreise bedachte, die Touristen wie Einheimische überall sonst in der Stadt zahlten. Ich hätte dem Monster auch den zerknüllten Fünf-Dollar-Schein in meiner Tasche geben können, doch dieses Lochness bevorzugte aus irgendwelchen Gründen Kleingeld. Vielleicht, weil die Münzen als perfekte silberne Kreise im Mondlicht glänzten. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was das Wesen damit anfangen wollte. Eventuell schleppte das Lochness das Geld in eine versteckte Höhle, häufte es zu einem Hügel auf und schlief darauf, wie Drachen es in den alten Märchen immer mit Gold, Edelsteinen und anderen Kostbarkeiten taten.

Das Lochness war nicht das einzige Monster in der Stadt. Und jedes Scheusal forderte eine andere Art von Tribut, damit es Wanderer sicher passieren ließ. Meistens waren es nur kleine Dinge wie eine Haarlocke, ein Blutstropfen oder ein Schokoriegel. Letzteres galt für Baumtrolle. Anscheinend hatten sie eine Schwäche für Zucker. Und wenn ein paar Münzen oder ein Schokoriegel verhindern konnten, dass etwas mich angriff, umbrachte und auffraß, war es sinnvoll, mitzuspielen und nett zu sein.

Nachdem ich den Tribut gezollt hatte, drehte ich mich um und ging weiter über die Brücke 

Klimper. Klimper. Klimper.

Meine Schritte stockten, und ich packte den Knauf meines Schwertes fester. Mühsam widerstand ich der Versuchung, einen Blick über die Schulter zu werfen, um zu sehen, was meine Münzen von dem Stein genommen hatte.

Manchmal, Talent hin oder her, war es besser, gewisse Dinge nicht zu sehen.

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2

Zehn Minuten später bog ich ab und hielt auf ein großes Ziegelgebäude zu. Ein verblasstes Schild auf dem Rasen wies es als Bibliothek von Cloudburst Falls – Filiale West aus. Auf diesem Schild war keine hübsche Burg abgebildet, nur ein einfacher Bücherstapel. Wie alles andere in dieser Gegend hatten auch das Schild und die Bibliothek schon bessere Zeiten gesehen.

Ich schob mein Schwert wieder in die Scheide, dann hob ich die Hand und zog zwei dünne Stäbe aus den Resten meines Pferdeschwanzes. Sie sahen aus wie zwei schwarze Haarstäbe, doch eine schnelle Drehung gab den Blick auf die Dietriche frei, die sich darin versteckten.

Ich benutzte die Dietriche, um eine Seitentür zu öffnen, dann glitt ich ins Gebäude. Der Innenraum war dunkel, doch das störte mich nicht. Selbst wenn ich mein Talent für Sicht nicht gehabt hätte, wäre es mir trotzdem möglich gewesen, mich sicher zwischen den Regalen zu bewegen. Meine Mom hatte mich früher im Sommer jeden Samstag hergebracht. Ich hatte mir schon vor langer Zeit jeden Zentimeter der Bibliothek eingeprägt, von den winzigen Stühlen und Tischen in der Kinderabteilung über die Bilder und Sprüche, die jemand in die Regale mit der Jugendliteratur geritzt hatte, bis hin zu den Ausleihtresen mit ihren veralteten Computern.

Ich wanderte durch die Regalreihen, bis ich eine Tür erreichte, die zu einem Lagerraum voller Papierhandtücher und Putzmittel führte. Hier standen auch Kisten mit alten Büchern herum, die niemand mehr lesen wollte. Ich schob mich an den Kisten vorbei in den hinteren Teil des Raums, wo sich eine weitere Tür befand.

Auch dieses Schloss knackte ich, dann verschloss ich die Tür wieder hinter mir. Inzwischen war ich so tief in die Bibliothek vorgedrungen, dass keinerlei Licht mehr hereinkam. Doch hier gab es nichts, was mich verletzen konnte, also wanderte ich durch einen weiteren Raum voller vergessener Bücher, bevor ich über eine Treppe in den Keller stieg.

Dort ging ich noch ein Stück, zog meine Handschuhe aus und ließ die Finger über die Lampe mit dem Berührungssensor gleiten, die Mo mir geschenkt hatte, als ich vor ungefähr vier Jahren hier eingezogen war. Sanftes, weißes Licht erhellte den Kellerraum und gab den Blick frei auf einen winzigen Kühlschrank, mehrere alte Koffer voller Kleidung, einen weiteren Koffer, der mit den verschiedensten Waffen gefüllt war, und ein Metallregal voller Bücher, Fotos und anderer Erinnerungsstücke. In einer Ecke stand ein Klappbett, von dem eine blaue Wolldecke so herunterhing, wie ich sie heute Morgen zur Seite geworfen hatte.

Trautes Heim, Glück allein.

Ich löste den schwarzen Ledergürtel mit der Schwertscheide von meiner Hüfte und stellte die Klinge neben das Bett. Dann schlüpfte ich aus meinem Mantel und warf ihn auf die Decke, bevor ich mein Handy herauszog und Mo eine SMS schrieb.

Habe sie. Bin jetzt zu Hause.

Kaum eine Minute später piepte mein Handy, als hätte er auf mich gewartet. Ich schnaubte. Wahrscheinlich hatte Mo einfach nur sicherstellen wollen, dass ich auch bekam, was er haben wollte. Eventuell hatte er das Handy sogar über diese dämliche App geortet, die er auf meinem Telefon installiert hatte, damit er sicher sein konnte, dass ich es wieder in die Bibliothek zurückschaffte.

Gut. Sehen uns morgen. *Nach* der Schule!

Ich verdrehte die Augen. Aus irgendeinem Grund war Mo davon überzeugt, dass der Schulbesuch irgendwie mein nächtliches Leben voller Diebstahl und Plünderung ausgleichen konnte. Das wäre schön.

Ich hängte mein Handy ans Ladekabel. Dann zog ich die schwarze Samtschatulle aus der Manteltasche, öffnete den Deckel und zog die Kette heraus.

»Heul dir die Augen aus, Robin Hood«, murmelte ich. »Lila Merriweather hat wieder zugeschlagen.«

Ich bewunderte einen Moment lang das feurige Glitzern der Rubine, bevor ich die Kette vor ein gerahmtes Foto hielt, das auf dem kleinen Tisch neben meinem Bett stand. Eine Frau mit denselben schwarzen Haaren und dunkelblauen Augen wie ich sah mich daraus an. Meine Mom, Serena.

»Es ist gelaufen wie geplant. Du hättest ihre Gesichter sehen sollen. Diese Wachen konnten einfach nicht glauben, dass ich ihnen entkommen bin.«

Ich hielt inne, als wollte ich ihr Zeit für eine Antwort geben, doch meine Mom schwieg. Sie war gestorben, als ich gerade dreizehn Jahre alt gewesen war, doch ich sprach trotzdem noch hin und wieder mit ihrem Bild. Sicher, ich wusste, dass das dämlich war, aber ich fühlte mich dann immer ein bisschen besser. Als würde sie auf mich aufpassen, wo auch immer sie sich befand. Als wäre sie nicht ganz verschwunden.

Als wäre sie nicht brutal ermordet worden.

Ich drapierte die Kette so über dem Rahmen, dass es aussah, als würde meine Mom die Rubinkette tragen, dann wanderte ich durch den Kellerraum und räumte meine Sachen auf. Die Dinge in den Manteltaschen ließ ich drin, auch wenn ich den Schokoriegel hervorholte, um ihn zu essen. Außerdem schnappte ich mir mehrere Münzen aus einem Glas und schob sie in die Manteltasche, bevor ich das Kleidungsstück und die Handschuhe zusammenfaltete und beides in einen leeren Koffer legte.

Wie ich auch waren die Kleidungsstücke nicht so unbedeutend, wie es auf den ersten Blick schien. Die Handschuhe bestanden aus Eisengeflecht – unzählige, miteinander verwobene Ringe aus dünnem, nachgiebigem Metall. Der Mantel war noch einzigartiger. Seine verschiedenen Teile waren aus Spinnenseide gewoben, die dann vernäht worden waren, sodass ein widerstandsfähiger, leichter und sehr starker Stoff entstand. Am besten war, dass Spinnenseide jede Art von Flecken abwies – ob nun Staub, Fett, Blut oder Schlamm –, sodass ich den Mantel nie waschen musste.

Und dann war da noch das Schwert. Mein wertvollster Besitz. Auch diese Klinge bestand aus einem besonderen Metall – Bluteisen. Doch statt das zu erwartende rostige Rot aufzuweisen, zeigte sich das Schwert in einem matten Schwarz mit einem leichten Grauschimmer. Es wirkte eher wie ascheüberzogenes Holz als wie Metall. Schwarze Klingen, so nannten die meisten Leute solche Schwerter. Wegen der Farbe – und der schrecklichen Dinge, die sie anrichten konnten, besonders bei Magiern und Monstern.

Bluteisen war selten, und die meisten Waffen aus dem Metall waren mit einem Familienwappen gekennzeichnet. Die Symbole waren fast wie Brandmale, die jede Klinge leicht identifizierbar machten – und damit schwerer zu stehlen und auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. In den Knauf meines Schwertes war ein fünfzackiger Stern eingraviert, während sich eine Spur aus kleineren Sternen über die Klinge selbst erstreckte.

Die Klinge, der Mantel und die Handschuhe bedeuteten mir von all meinen Besitztümern am meisten. Allerdings nicht wegen ihrer magischen Eigenschaften oder ihres finanziellen Wertes. Ich liebte diese Dinge, weil sie meiner Mom gehört hatten.

Das waren die drei Gegenstände, die sie am häufigsten verwendet hatte. Früher waren wir von Stadt zu Stadt gezogen, während meine Mom erst am einen, dann am anderen Ende des Landes Aufträge angenommen hatte. Meistens hatte sie als Bodyguard gearbeitet; hatte die Reichen vor anderen Reichen beschützt, die sie tot sehen wollten. Nebenbei hatte mir Mom alles beigebracht, was sie über Kämpfen, Stehlen, Schlösser knacken und andere fürs Überleben wichtige Fähigkeiten gewusst hatte. Als Kind hatte ich genauso werden wollen wie sie.

Und ein Teil von mir wollte das immer noch.

Ich ließ die Finger über den Stoff des Mantels gleiten. Die Spinnenseide fühlte sich so kühl und glatt an wie eine Wand aus Regentropfen. Die Bewegung ließ einen Ring an meiner Hand aufblitzen – oder vielmehr den kleinen Saphir in Form eines fünfzackigen Sterns, der in das dünne, silberne Band eingelassen war.

Noch etwas, das meiner Mom gehört hatte. Eines der wenigen Dinge, die ich noch von ihr besaß. Fast alles andere war verschwunden – entweder zerstört, von Plünderern gestohlen oder versetzt, um Essen, Kleidung und andere Notwendigkeiten zu bezahlen.

Ich musterte den Ring noch einen Moment, starrte in die dunkelblaue Tiefe des glänzenden Saphirs, bevor ich die Hand wieder senkte und den Rest meiner Aufgaben erledigte.

Es kostete mich eine halbe Stunde, genug Wasser aus der Damentoilette im Erdgeschoss in den Keller zu schleppen, um ein kaltes Bad in der alten Metallwanne zu nehmen. Der Keller war nicht gerade der wärmste Ort in der Bibliothek, und bis ich endlich aus der Wanne kletterte und meinen Pyjama anzog, klapperten mir vor Kälte die Zähne.

In den meisten Nächten wäre ich jetzt noch mal nach oben gegangen, hätte mir einen Actionfilm aus der Mediensektion geschnappt und ihn auf dem Fernseher im Kinderbereich angesehen. Die Braut des Prinzen, Stirb langsam, der erste Fluch-der-Karibik-Film, die gesamte James-Bond-Serie, die ursprüngliche (und beste) Star-Wars-Trilogie. Sie alle hatte ich Dutzende Male gesehen, und ich konnte jedes Wort mitsprechen. Albern, ich weiß. Die kostenlosen Filme machten es besonders angenehm, in der Bibliothek zu wohnen.

Doch es war schon spät, und ich war müde, also kroch ich ins Bett. Ich wollte das Licht ausschalten, doch dann warf ich noch einmal einen Blick auf das Foto meiner Mom. Ihr Lächeln schien sogar heller zu leuchten als die Rubine, die über dem Rahmen hingen.

»Gute Nacht, Mom«, flüsterte ich.

Wieder einmal wartete ich, doch es kam keine Antwort. Und sie würde auch nie wieder kommen.

Mit einem Seufzen berührte ich den Fuß der Lampe, damit der Keller in Dunkelheit versank. Dann rollte ich mich auf meiner Pritsche zusammen, zog mir die Decke bis ans Kinn und versuchte einzuschlafen und nicht darüber nachzudenken, wie sehr ich meine Mom vermisste.

Unglücklicherweise – Rubine hin oder her, Diebestour hin oder her, Magierin oder nicht – musste ich am nächsten Morgen aufstehen, um mich in die Schule zu schleppen.

Ich ging auf eine der normalen Tölpel-Highschools, wo niemand wusste, wer ich war oder welche illegalen Aufträge ich nachts übernahm. Ich bezweifelte sogar, dass irgendwer abgesehen von den Lehrern meine Existenz überhaupt bemerkte. Sie zumindest mussten meine Aufgaben korrigieren und damit dem Namen auch ein Gesicht zuordnen. Aber die anderen Schüler ignorierten mich, und ich erwies ihnen dieselbe Höflichkeit. Ich brauchte sie nicht. Ich brauchte keine Freunde.

Selbst wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, mich mit ein paar Leuten anzufreunden – ich hätte sie schlecht in meinen illegalen Unterschlupf in der Bibliothek mitnehmen können, um abzuhängen, Filme auf einem Fernseher zu schauen, der nicht einmal mir gehörte, und über süße Kerle zu reden. Das wäre der beste Weg, um wieder bei einer Pflegefamilie zu landen – oder noch schlimmer, wegen Hausfriedensbruch, Einbruch, Diebstahl und all der anderen schlimmen Dinge, die ich getan hatte, ins Jugendgefängnis zu wandern.

Also ging ich in den Unterricht, aß mein Mittagessen allein in der Schulbibliothek und wartete darauf, dass der Tag verging, damit ich mich wichtigeren Dingen zuwenden konnte – wie die Kette zu Mo zu bringen, um endlich mein Geld einzustreichen.

Schließlich ertönte um drei Uhr nachmittags der letzte Gong. Eine Minute nach drei war ich bereits aus der Schule raus. Da ich keine Lust hatte zu laufen, sprang ich in eine der kleinen Straßenbahnen, die rund um die Uhr durch die Stadt fuhren. Cloudburst Falls war nicht nur »der magischste Ort in Amerika«, sondern die Stadt war auch eine totale Touristenfalle. So eine Art Südstaatenversion von Las Vegas, aber mit echter Magie und Mafiatypen, die ihre magischen Fähigkeiten mit brutaler Effizienz und tödlichen Konsequenzen einsetzten. Die Leute kamen aus dem ganzen Land, sogar aus der ganzen Welt, um billige Andenken und noch billigere T-Shirts zu kaufen, fettes Essen in sich hineinzustopfen – wie frittierte Karamellbonbons – und ihr Geld in den Themenläden, Restaurants und Kasinos zu verprassen, die den Midway säumten.

Überwiegend allerdings genossen es die Touristen, über die Gehwege zu schlendern, ihr widerliches Softeis zu lecken und alles mit großen Augen anzustarren, obwohl sie genau dasselbe auch zu Hause hätten sehen können, wenn sie nur genauer hingeschaut hätten. Talentierte Magier gab es überall. Und dasselbe galt für Monster.

Doch der Legende zufolge war der Cloudburst Mountain besonders magisch, da man dort so viel Bluteisen gefunden und gewonnen hatte. Einige Leute behaupteten sogar, der Berg selbst würde Macht ausstrahlen wie ein riesiger Magnet. Deswegen hatten sich so viele Magier und Monster für ein Heim in, auf oder um den Berg herum entschieden. Auf jeden Fall hatte die Stadtverwaltung der Tölpel beschlossen, die magische Verbindung besonders hervorzuheben. Na ja, sie und die Familien. Die Familien bekamen einen Anteil an allem in dieser Stadt, darunter auch das ganze Geld, das die Touristen dort verprassten.

Ich ließ mich in der Straßenbahn auf einen Gangplatz fallen. Die Frau, die am Fenster saß, schaute mich nicht einmal an. Stattdessen hob sie ihre Kamera und schoss ein Foto von einem Verkaufswagen in Form einer winzigen Metallburg, als hätte sie noch nie einen Kerl in einem schwarzen Umhang mit dem dazu passenden Musketier-Hut gesehen, der einen Spieß voller Hotdog-Würstchen hielt und sie röstete, indem er Flammen aus seinen Fingerspitzen schießen ließ. Ich verdrehte die Augen. Touristen-Tölpel waren die Schlimmsten. Ich dachte darüber nach, der Frau den Geldbeutel zu stehlen, einfach aus Prinzip, doch dann entschied ich mich dagegen. Die zwanzig Dollar, die sich wahrscheinlich darin befanden, waren die Mühe nicht wert.

Eine halbe Stunde später stoppte die Bahn auf einem der vielen Plätze, die sich neben dem Midway erstreckten, der touristischen Hauptstraße in der Innenstadt. Während die Touristen noch damit beschäftigt waren, ihre Taschen, Kameras und Getränkebecher einzusammeln, lief ich bereits durch den Gang, um die Straßenbahn zu verlassen.

Die Straße führte an einer Seite des Platzes vorbei, während die anderen drei Seiten von Geschäften und Restaurants gesäumt wurden. Diverse Wege zwischen den Häusern führten zurück zum Midway oder auf andere Plätze. In der Mitte des Platzes lag ein kleiner Park mit Laubbäumen, die in der Maihitze ein wenig Schatten spendeten. Mitten auf der Grünfläche erhob sich ein Springbrunnen aus grauem Stein in der Form von Cloudburst Mountain, komplett mit einem Wasserfall auf jeder Seite.

Neben dem Brunnen stand ein bronzenes Schild, das von der Geschichte der Stadt berichtete und davon, wie zwei Familien – die Sinclairs und die Draconis – angefangen hatten, Besucher auf den Berg zu führen, um die Wasserfälle und die Monster zu bewundern. Einige dieser ersten Touristen hatten geschworen, ein Schluck des Wassers zusammen mit dem Einatmen des Wassernebels könne so gut wie jedes Gebrechen heilen, von einer Glatze bis zu Bauchschmerzen. Und die Aussicht war so spektakulär und die Monster so unheimlich, dass sich die Nachricht verbreitete und immer mehr Leute in die Gegend drängten. Das Resultat war, dass Cloudburst Falls inzwischen mehr oder minder das ganze Jahr von Touristen überrannt wurde, auch wenn die Sommermonate immer noch am schlimmsten waren.

Ich schnaubte. Das Schild erzählte nicht die wahre Geschichte der Stadt. Es verschwieg, dass sowohl die Sinclair- als auch die Draconi-Familie ursprünglich arme Bergbauern gewesen waren, die zu Zeiten der Prohibition Schwarzgebrannten geschmuggelt hatten. Das war, bevor sie verstanden hatten, dass sie mehr Geld damit verdienen konnten, Touristen in die Stadt zu locken und ihnen die Aussicht vom Berg und die Monster zu zeigen. Gerüchten zufolge hatte ein Sinclair das erste Geschäft in der Stadt eröffnet: einen Laden, der am Fuße des Berges Karamellbonbons und andere Süßigkeiten an die Touristen verkaufte. Ein Draconi hatte gekontert, indem er einen Eisstand aufgestellt hatte. Und so weiter und so fort, bis die Stadt zu dem geworden war, was sie heute war, während die Sinclairs und die Draconis immer noch um die absolute Macht kämpften. Mich erinnerte das Ganze eher an die Hatfields und McCoys oder die Capulets und Montagues als an ein wahr gewordenes Märchen. Aber die städtischen Beamten hatten diesen Teil der Geschichte genauso geschönt wie alles andere.

Ich umrundete gerade den Springbrunnen, als eine Gruppe Mädchen lachend und schwatzend in meinen Weg trat. Ich verdrehte die Augen und stoppte abrupt, konnte jedoch nicht mehr verhindern, die Schulter eines Mädchens am Rand der Gruppe anzurempeln. Sie wirkte, als wäre sie ungefähr in meinem Alter.

»Pass doch auf, wo du hingehst«, knurrte sie.

»Warum passt du nicht auf, wo du hingehst?«, blaffte ich zurück.

Das Mädchen hielt an, dann drehte sie sich zu mir um. Sie war schön, mit langem, goldenem Haar, perfekter Haut wie aus Porzellan und dunkelblauen Augen, in denen Entrüstung blitzte. Sie war die Einzige aus der Gruppe, die kein Sommerkleid trug, auch wenn ihre kurze weiße Hose und das bauchfreie rote Oberteil zum Teuersten gehörten, was man mit Geld kaufen konnte.

Dasselbe galt für die Schwarze Klinge an ihrer Hüfte.

Schusswaffen waren in Cloudburst Falls schon lange verboten, aus dem einfachen Grund, dass große, vierschrötige, unheimlich aussehende Wachen mit Pistolen die Touri-Tölpel nervös machten. Also hielten die Sinclairs, Draconis und die anderen Familien Recht und Ordnung mit Schwertern, Dolchen und anderen scharfen, spitzen Waffen aufrecht. Die Verantwortlichen für den Tourismus unterstützten diese Idee von Herzen, weil sie behaupteten, die Schwerter trügen zur magischen Atmosphäre der Stadt bei. Was auch immer.

Außerdem half eine Pistole nicht viel gegen jemanden, der ein Talent für Geschwindigkeit besaß und Kugeln ausweichen konnte, als wären sie so groß und langsam wie Strandbälle. Es kostete mehr Magie und um einiges mehr Geschick, längere Zeit der Klinge eines Schwertes auszuweichen – besonders wenn die Person, die sie schwang, wirklich wusste, was sie tat.

Dieses Mädchen sah aus, als wüsste sie genau, was sie mit ihrem Schwert anfangen sollte. Tatsächlich hatte sie das Gewicht bereits auf die Ballen verlagert, bereit, sofort anzugreifen, während sie mich so eingehend musterte wie ich sie.

Sie betrachtete meinen alten schwarzen Rucksack, die graue Cargohose, meine Turnschuhe und das verblasste, blaue T-Shirt, das mindestens ein Dutzend Male zu oft gewaschen und getragen worden war. Erst dann richtete sie den Blick auf mein Handgelenk. Ich wusste, wonach sie suchte. Nach einem Wappen, das ihr verriet, ob ich zu einer Familie gehörte, und wenn ja, zu welcher.

Wie das Wappen, das sie trug.

Eine goldene Manschette lag um ihr rechtes Handgelenk, und in das glänzende Metall war ein fauchender Drache eingestanzt. Blondes Haar, schwarze Klinge, goldenes Armband. Fantastisch. Von allen Mädchen auf dem Platz – von allen Mädchen in der Stadt – musste ich ausgerechnet sie anrempeln.

Ich mochte nicht viel von den Familien halten, aber ich erkannte das Drachenwappen und auch das Mädchen, das vor mir stand – Deah Draconi, die Tochter von Victor Draconi, Oberhaupt der Draconi-Familie und mächtigster Mann der Stadt.

»Was hast du gesagt?«, verlangte Deah zu wissen.

Ihre Begleiterinnen trugen alle ebenfalls Armbänder mit dem Draconi-Drachenwappen. Sie verteilten sich, um einen Halbkreis hinter Deah zu bilden. Anscheinend wollten sie ihr nicht in die Quere kommen, falls sie sich entschied, mich mit ihrem Schwert in zwei Hälften zu teilen. Darin war sie außerordentlich gut, wenn ich den Gerüchten glauben wollte.

Ich wünschte mir nichts mehr, als Deah Draconi genau wissen zu lassen, was ich von ihr und besonders von ihrem schrecklichen Vater hielt, doch ich zwang mich, meine Wut herunterzuschlucken.

»Gar nichts.«

»So?«, feixte sie. »Das hatte ich mir schon gedacht.«

Sie starrte mich an, und in ihren blauen Augen brannte eine klare Herausforderung. Da sie sich für das Alpha-Weibchen hier hielt, wollte sie, dass ich die Augen senkte und den Blick abwandte. Stattdessen schob ich das Kinn vor und hielt ihren Blick. Erst blitzte Überraschung in ihren Augen auf, dann Wachsamkeit. Sie erkannte eine Feindin, wenn sie eine sah. Sie ließ die Hand zu ihrem Schwert sinken, schloss die Finger um den Griff und verbarg damit die aufwendigen Verzierungen auf dem Knauf vor meinen Augen. Dann musterte sie mich erneut.

Ein Teil von mir wünschte sich, sie würde ihre Waffe ziehen. Denn ich war nicht nur eine gute Diebin, und alles in mir verzehrte sich danach, ihr zu zeigen, dass ich genauso zäh war wie sie. Auch wenn es quasi Selbstmord darstellte, einen Streit mit einer Draconi zu provozieren.

Wieder grinste sie abfällig. »Kommt«, meinte Deah zu ihrem Gefolge. »Dieser Niemand ist es nicht wert, mir die Kleidung schmutzig zu machen.«

Damit rammte sie die Schulter gegen meine, sodass ich zur Seite stolperte, bevor sie an mir vorbeirauschte. Die anderen Mädchen kicherten, doch Deah sah nicht einmal zurück.

Natürlich nicht. Ich gehörte zu keiner Familie, also war ich ein Niemand. Genau wie sie gesagt hatte.

Ich stand einfach nur da. Meine Wangen brannten, mein Körper war angespannt und meine Hände zu Fäusten geballt. Ein Teil von mir wollte hinter ihr herrennen, ihre Schulter packen, sie herumwirbeln und ihr die Faust ins Gesicht rammen … für das, was sie mit mir gemacht hatte, und für das, was ihre Familie meiner angetan hatte 

Das fröhliche Lachen eines kleinen Jungen, der Münzen in den Springbrunnen warf, riss mich aus meiner Wut. Ich schüttelte den Kopf, um diese verräterischen Gedanken zu vertreiben. Mich von meinen Gefühlen überwältigen zu lassen, besonders wenn es um die Draconi-Familie ging, bedeutete den sicheren Tod, und dafür war ich viel zu vernünftig.

Zumindest redete ich mir das ein. Selbst während ich Deah Draconis Rücken böse hinterherstarrte, bis sie und ihre Freunde den Platz verlassen hatten.

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3

Ich zügelte meine Wut und ging auf einen Laden zu, der das gesamte hintere Ende des Platzes einnahm. Ein leuchtend blaues Neonschild über der Tür schrie in drei Meter hohen Buchstaben Razzle Dazzle in die Welt, umgeben von einem Feuerwerk aus Sternen. Als zusätzlicher Gimmick blinkten die weißen Sterne sogar noch heller als die blauen Buchstaben. Mo war nicht gerade subtil in seiner Werbung – und seiner Gier.

Ich schob die Schwingtüren auf, was ein Mobile aus Lochness-Knochen zum Klappern brachte, und betrat den Laden. Trotz seines großspurigen Namens und des Neonschildes war das Razzle Dazzle das, was die meisten Touri-Tölpel – und so gut wie jeder andere – als Pfandleihe bezeichnet hätte. Und das war noch nett ausgedrückt. Ramschladen kam der Wahrheit eigentlich näher.

Im Laden erstreckten sich Glasvitrinen von Wand zu Wand und von hinten bis nach vorne. Darin lag alles, was man sich vorstellen konnte – von Schmuck über Digitalkameras bis hin zu Musikinstrumenten. Ganz zu schweigen von den Metallregalen voller Bücher in den Ecken, den zusammengerollten Postern in verschiedenen Eimern oder den gefälschten oder auch echten Kunstdrucken und Gemälden, die die Wände dekorierten, zusammen mit ausgestopften Köpfen von Baumtrollen und anderen Monstern.

All das und mehr konnte man im Razzle Dazzle finden. Hier verpfändeten Touristen und andere Verzweifelte alles, was sie eben besaßen, um genug Bargeld in die Finger zu bekommen, um noch ein paar Kasino-Chips kaufen oder noch eine Nacht ihr Hotel zahlen zu können. Immer in der Hoffnung, am nächsten Tag endlich reich zu werden. Mo zahlte für alles, was er für gut verkäuflich hielt, daher die seltsame Mischung aus Gegenständen. Trotzdem, ich mochte das gemütliche Durcheinander im Laden. Mo hatte hier ein paar echte Kostbarkeiten versteckt, außerdem wusste man nie, was man von einem Tag auf den anderen in den Vitrinen entdecken konnte.

Doch das gute Zeug – die echten, hochwertigen Waffen und Schmuckstücke – befanden sich im hinteren Teil des Ladens, untergebracht in Vitrinen, die sehr viel stabiler waren, als sie aussahen. Sie waren mit Schlössern gesichert, die man nur knackte oder aufbrach, wenn man bereit war, eine vergiftete Nadel in der Hand zu riskieren. Mo schickte mich nur zu gerne aus, um Sachen zu stehlen, doch er mochte es gar nicht, selbst abgezockt zu werden.

Ich wanderte den Mittelgang entlang ans hintere Ende des Ladens. Dort saß ein großer, muskulöser Mann mit dunkel glänzender Haut auf einem Stuhl hinter einer langen Theke, die mit glänzenden Ringen bestückt war. Der Mann hatte schwarzes Haar, durch das sich silberne Strähnen zogen. Er stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke und las gerade eine Zeitschrift mit Einrichtungstipps. Mo suchte ständig nach Wegen, seine Handelswaren für Kunden attraktiver zu machen. Er hatte allein dieses Jahr schon dreimal die Farbe der Wände geändert. Ich fragte mich, wie lange das Hellblau wohl halten würde.