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Selbstportrait von Daniil Charms 1930er Jahre

Willkommen

Ihr Freunde, seid willkommen hier!

Vertreibt mit uns die Langeweile.

Ihr Freunde, auf,

im schnellen Lauf!

Ihr Freunde, seid willkommen hier!

Ihr Freunde, eilt zu uns, denn wir

vertreiben eure Langeweile!

Ihr Freunde, lauft zu uns in Eile

und, Freunde, seid willkommen hier!

Daniil Charms

Inhalt

1. Zaubertricks. Frühe Gedichte 9

2. Sieben Zehntel eines Kopfs. Gemischte Gedichte 27

3. Freundeskreis der Kammermusik. An oder über Freunde 53

4. Eine Million. Kindergedichte 67

5. Leningrader Massen. Reklamegedichte 91

6. Unser schönes neues Land. Agitprop-Gedichte 99

7. Märschen. Kurz- und Kürzestgedichte 113

8. Den Mond bewohnen. Naturgedichte 129

9. Einen Teepott fraß mein Schatz. Verliebte Gedichte 149

10. Der wollüstige Holzfäller. Erotische Gedichte 175

11. Ein schrecklicher Tod. Balladen und Moritaten 191

12. Ein θysiker, der sich das Bein verrenkte. Philosophische Gedichte 221

13. Gott das bin ich. Gebete und Meditationen 243

14. Krepier. Von Greisen und Weltuntergängen 263

15. Der erbärmlichste Mensch auf Erden. Verzweifelte Gedichte 273

Nachwort des Herausgebers 286

Text- und Bildnachweis, Dank 303

Verzeichnis aller Gedichte dieses Bandes mit russischen Originaltiteln 304

1.
Zaubertricks.
Frühe Gedichte

An einem Sommertag im Juli

bei einer Hitze zum Ersticken

laufen zwei Brüder durch die Schwüle

und eine dicke Sau erblicken.

»Siehst du die Sau dort auf der Wiese

spazierengehen?«, bemerkt der eine.

»Von ihrer Dicke her ist diese

ganz unser Vater, wie ich meine.«

Der andre sagt: »Was soll das Theater?

Du kommst auf seltsame Ideen!

So eine Sau wie unsern Vater

hab ich zeit meines Lebens noch nicht

gesehen.«

<1922>

Traditionell gilt dieses Gedicht als das erste handschriftlich überlieferte Werk des jungen Charms. Erst seit Kurzem steht jedoch fest, dass es in Wirklichkeit aus der Feder des humoristischen Dichters Alexej Iwanow-Klassik (1841–1894) stammt und vom siebzehnjährigen Charms fehlerhaft abgeschrieben ist (offenbar aus dem Gedächtnis). Dadurch kommen einige rhythmische Holprigkeiten zustande, insbesondere die missratene letzte Zeile. Oder bedient sich Charms bereits hier der für ihn später so typischen Persiflage-Technik?



schicken den Tataren Pluderhose schwenkende

und Knicks und Polka Walzer Pauk

sind schon bald die Gockel Kickapoo verschenkende

und ricki-ticki-ricki-ticki Finger in den Bauch

<Anfang 1923>

Dieses sehr frühe, möglicherweise sogar tatsächlich erste Charms-Gedicht ist von seiner Klassenkameradin Natalia Segschda mündlich überliefert.

Kupferlied …

Pfote, schlag den Topf voll Kupfer,

von der Wand zwei Tropfen tupfen,

hupfen hupfen

und entschlupfen.

Horden roter Kakerlaken

laufen fort und schlagen Haken –

fort von hier,

vom Glas Bier.

Und du blinzelst in die Ferne,

lächelst an die weiten Sterne,

eckelst an der nächsten Ecke,

streifst mit schiefem Blick die Decke.

Aufgenäht entzündet sich die Backe,

und das bleiche Licht verglüht …

Feuerfarbne Kakerlake

rotes Kupferlied.

Daniel

<1924>

Das erste handschriftlich überlieferte Originalgedicht von Charms. Es arbeitet mit futuristisch anmutenden Rhythmen und Neologismen. Daniel: In lateinischen Lettern schreibt Charms seinen Vornamen immer nur als »Daniel«.

Epigramm an den Vater

meine Gedichte Papa mussten

dir vorgekommen sein wie Husten

deine Gedichte sind ganz sicher

gehobener doch icher kicher

<1925>

Auch im Russischen endet das Gedicht mit der ulkig wirkenden zaum’-Floskel »šišel vyšel«.



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Von Dannil Charms erfundene Elemente des Alphabets . 1920er Jahre

Klitsch
gew. (Esther)

also spricht klein Michael

sein Mundwerk ist lose

– hichila kichila

ich trag eine Hose –

undu machs ihm

finz fanz funz

b m paxim

funz fanz finz

I-a I-a Y-a

N N N

ich putzte hia

N N N

dripp schripp bobu

dschin dschen baba

pitsch patsch – wunderbar –

gips schon Mama!

hia hastu hichila!

finz fanz funz

stex ein kichila!

funz fanz finz

SCHLUSS

<1925>

Wie im vorigen Gedicht finden sich hier mehrere zaum’-Elemente (»šišilja kišilja« etc.) und auch erotisch konnotierte Versatzstücke aus der Kindersprache. Die Widmung ist auch im Original auf Deutsch. Esther Russakowa (1909?–1943?) ist die erste Ehefrau von Charms. Die Formel »Schluss« am Ende des Gedichts wird vom Autor oft verwendet und kann als sein »Markenzeichen« gelten.

Ein Vorfall an der Eisenbahn

einmal winkte kurz die Oma

da servierte gleich die Lok

für die Kinderchen und sprach

trinkt den Brei und diese Truhe

morgens gingen Kinder weg

setzten sich auf einen Zaun

und sie sprachen da der Rappe

arbeite ich werde nicht

auch die Mascha ist ganz anders

wie Sie wollen kann es sein

lecken wir das feine Santkorn

das der Himmel auszudrücken

und ihr steigt am Bahnhov aus

sei gegrüßt Georgien

doch wie sollen wir nun fort

und vorbei an diesem Großen

nicht dem Gitter ach ihr Kinder

wuchs die Paleandra hoch

und die Wagen überfliegend

hat den Falschen abgeputzt

der die Quappe voller Schrecken

eingezäumt von sieben Büffeln

nahm das Geld aus seiner Tasche

Geld das gräulich im Gesicht

also ist es weiter schmorten

alle Suppen sprach die Tante

alles Zeisig sprach der Leichnam

selbst der Leib sich niedersenkte

zwitscherte so liebenswürdig

doch dafür ein wenig öde

so als ob es rückwärtsgeht

Kinder waren in der Messe

auf die Schultern überziehend

lief das Mäuschen in die Schürze

und zerriss der Schultern zwei

an der Schwelle wiederholte

die Georgjerin gestreckt

unterm Berge wühlten Finger

des Georgiers im Dreck

<1926>

Veröffentlicht im »Almanach des Allrussischen Dichterverbands«, 1926. Einer der beiden zu Lebzeiten publizierten »Erwachsenentexte« von Charms. Das Nonsens-Gedicht verwendet stellenweise eigenwillige Orthografie (siehe Nachwort).



Kerze mach das Dunkel hell

Weihrauch ums Gesicht gestemmt

alle Bläschen werden grell

auf des Flüchtlings Leinenhemd

<1926>



als Honigkuchen rennt das Pferd

während der Weg den Wald nicht quert

drum kann es nicht als Knospe kreisen

das unheilvolle Fass zerreißen

<1926–27?>



leise fiel die Fichte um

in die grenzenlose Wiese

überm Berge schrie ein Fass

ohne Schmerzen und Bewegung

rannte Peter auf den Schienen

der wie ein Schakal erschienen

<1927>



das Gesicht des Rachitikers ist nicht

fremd mir

hinter den Ohren seltsam scheut’s

des verdatterten Mundes Scherbe

niederkniend vor einem Kreuz

der Augapfel allmählich schwellend

ab wendet sich das Gesicht

wird langsam gezeugt

<1927>



die Lippen brannten Stunde täglich

das Oiter streunte auf der Brust

er wich zur Seite blies beständig

und auf dem salzgen Ufer dort

schon ist er weg als taube Fische

im Netz erwachten erst der Kopf

dann Zunge Schulter Hand und

<unleserlich>

<1927>

Zaubertricks

bei uns hier ist auf hölzerner Stange

im Frack ein Kuckuck aufgestellt

welcher ein Tuch mit roter Wange

in seiner Schuppenhand hält

uns packt der Oma leise Wehmut

wir schaun nach vorn mit offnem Mund

auf diesen goldgewirkten Schemel

und kriegen alle Angst zur Stund

von Angst getrieben tut Herr Lehnert

die Taschenuhr woanders hin

es sitzt ganz in verkürzten Sehnen

die Tattergreisin Frau Gmelin

Maria durch das θenster blickend

freut sich bewegt das Raubtierbein

badet im kalten Schweiß und wickelt

sich selber in Chinchillapelzchen ein

die Stirn wie ein Gebet erhaben

kommt aus dem Schrank ein Kürassierer

er war ein Gärtner schon als Knabe

sein Freund ist der Rasierer

er hat vergessen seine Zahl

er hat ein Huhn ins Maul geklemmt

Herr Lehnert sinkt immer mehr zu Tal

die Leber jagt von Hemd zu Hemd

doch Frau Gmelin ist streng fürwahr

will jedem ihren Nacken zeigen

aus dem sogleich ein Hörnerpaar

und hundertvierzehn Flaschen steigen

Maria sitzt und pfeift gewandt

im Schlips als Vogel durch die Hand

verschämt in Felle eingehüllt

und mit der Brust den Liebsten stillt

der Kuckuck neigt sich auf der Stange

und grinst wie eine kleine Schlange

und stellt sich auf die Beine munter

Maria hält das für ein Wunder

Verwunderung durchzuckt Marien

und wie ein Teller muss sie fliehen

<1927>

Charms baut in den schlichten vierhebigen Jambus immer wieder rhythmische Fallen ein, die den Lesefluss gewaltsam unterbrechen. Zur Verwendung des kirchenslawischen f-Buchstabens θ (»fita«) in den Gedichten von Charms siehe das Nachwort. Das Gedicht arbeitet außerdem mit für Charms eher untypischen assonanten Reimen.

2.
Sieben Zehntel eines Kopfs.
Gemischte Gedichte

bin das Genie vom Flammenwort

der Herr über Gedankenfreiheit

der Fürst der Schönheit ohne Sinn

der Gott der Höh die längst dahin

der Herr über Gedankenfreiheit

der hellen Freuden Wunderhort

und rede ich zum Volke dort

erstarrt das Volk gleich einem Vogel

und wie um einen Pfahl herum

so steht das Volk um mich ganz stumm

das Volk erstarrt gleich einem Vogel

ich fege es wie Staub hinfort

<1935>



woher komm ich?
warum steh ich hier?
was seh ich?
wo bin ich denn?

gut dann will ich mit zehn Fingern alle Gegenstände zähln

(zählt mit den Fingern)

Hocker Beistelltischchen Tonne

Kachelofen Kuckuck Wanne

Ball Besen Kleidertruhe

Hemd Eisenschmiede Flöhe

Tür am Scharnier

Quasten am Tuch insgesamt vier

Holzstock am Besen drangemacht

Knöpfe am Dach insgesamt acht

<1929>

In der letzten Strophe arbeitet Charms mit dissonanten Reimen, wie »bocˇka« / »pecˇka« (in der Übersetzung »Tonne« / »Wanne«, »Truhe« / »Flöhe«).



grüß dich Tisch

seit wie vielen Jahren stützest du meine

Lampe und Bücher

auch manch eine farbige Frikadelle

ich ging unter dir hindurch mit stolz

erhobenem Haupt

aufsammelnd die Pelzchen gedanklicher

Käfer

was hat dich oh Rasender angestoßen

all das zu Boden zu schleudern

was ein Mensch deinem Sachverstand

anvertraute

bleib stehn du hölzerner Schuft

<1931>



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Autograf von Daniil Charms
>>Notensehe<<
1930er Jahre



Noten sehe

sehe Nacht

sehe Lilie gelacht

Herz & Co Kuss

oder nicht

Hokus Pokus

oder doch

<1933>

Die Übertragung dieses Nonsens-Gedichts bemüht sich nicht nur um eine ungefähre Wiedergabe der Bedeutungen, sondern auch um größtmögliche klangliche Nähe zum Original. »sehe Lilie gelacht«: im Russischen: »vižu liliju durak« (wörtlich: »<ich> sehe <die> Lilie Dummkopf«). Der artistisch gefärbte Kontext legt jedoch nahe, das Wort »durak« (»Dummkopf«) mehr im Sinne von »Narr« oder »Clown« aufzufassen, was hier mit »gelacht« angedeutet wird. »Herz & Co Kuss«: auf Russisch: »serd[c]e kokus« (wörtlich: »das Herz ist ein caucus«, vom Englischen »caucus«, Gemeinschaft).



Krüger, fällt dem Poeten ins Wort:

Genug! Mich plagt Ihr stumm Geschwätze.

Und auch das Volk, Ihr Publikum,

vernimmt die sinnentleerten Sätze,

lebt aber doch verkehrt herum.

Ist dies zu loben? Nein, zu schmähen!

Denn es gereicht uns nicht zum Heil.

Dem Volk die Köpfe zu verdrehen!

Welch Schande! … Lies den zweiten Teil.

Der Poet, zerschmettert die Taschenuhr am Boden:

Zeitgerät, zur Hölle fahr!

Du, Minutenlauf halt ein!

Was ich noch vor Kurzem war,

will ich weiter werden sein.

War ein Handschuh nach Belieben,

war ein Ochse, war ein Ball,

wurde hin und her getrieben

durch die Luft, zum Platzen prall.

Zeitgerät, zur Hölle fahr!

Du, Minutenlauf halt ein!

Was ich noch vor Kurzem war,

will ich weiter werden sein.

War ein Handschuh nach Belieben,

war ein Ochse, war ein Ball,

wurde hin und her getrieben

durch die Luft, zum Platzen prall.

<1937–1938>

Charms greift die Puschkin’sche Klassik auf (hier mit pathetischen, quasi patriotischen Ausrufen), lässt den Sinn jedoch immer wieder ins Absurde abgleiten: »lebt aber doch verkehrt herum« (»stremitsja žit’ naoborot«) oder: »will ich weiter werden sein« (»Tem i dal’še budu byt’«).



so ein Mensch ist aus drei Teilen gemacht

drei Teilen gemacht

drei Teilen gemacht

he ullalah

drümm drümm tu tu

drei Teile und schon ein Mensch

ein Bart ein Aug fünfzehnmal die Hand

fünfzehnmal die Hand

fünfzehnmal die Hand

he ullalah

drümm drümm tu tu

und eine Rippe dazu

von wegen die Hand gleich fünfzehnmal

gleich fünfzehnmal

gleich fünfzehnmal

he ullalah

drümm drümm tu tu

fünfzehnmal aber nicht die Hand

<1930>