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Für August Karl Maria Pfeil

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12.11.2007

»Do You Realize??« von meiner Lieblingsband, den Flaming Lips, kann ich immer hören. Heute muss ich es hören, denn es ist mein Abend. Ich habe Geburtstag. Ich werde 38.

Ich fühle mich unfassbar gebrechlich. Ich mache inzwischen dieselben ächzenden Geräusche, die mein Vater von sich gab, wenn er mühsam aus dem Auto aussteigen musste. Bloß mache ich diese Geräusche schon, wenn ich einfach nur rumsitze und die Wand angucke.

Lange geht das alles nicht mehr gut. Knockin’ On Heaven’s Door.

Und der Soundtrack zu dieser akuten Zerfallsfurcht ist diese wunderschöne, grell überstrahlte Popode an das Glück des Daseins:

Do You realize
That you have the most beautiful face?
Do you realize
We’re floating in space?
Do you realize
That happiness makes you cry?
Do you realize
That everyone you know some day will die?

Ich feiere meinen Geburtstag in meiner Kölner Stammkneipe, dem Elektra. Ich glaube, Menschen, die mit 38 noch von »Stammkneipen« sprechen, haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie solche, die noch immer über »Lieblingsbands« verfügen. Bei mir ist beides der Fall, ich gehöre womöglich ins Heim.

Ich feiere aus zwei Gründen auswärts. Erstens, weil ich das Elektra so gerne mag, und zweitens, weil ich keine Lust habe, meine Wohnung durch eine Party in einen Zustand zu überführen, der an ein gemeinsam von Mötley Crüe und vier weiblichen Porno-Ikonen bewohntes Hotelzimmer erinnert. Das kann man wahnsinnig »un-rock ’n’ rollig« finden, aber ich empfinde das stundenlange Schrubben von Böden und Zusammenfegen zerdepperter Platten durchaus nicht als »Rock ’n’ Roll«. Überhaupt verwende ich diese Bezeichnung nicht, denn »Rock ’n’ Roll« sind für mich vor allem immer noch Männer mit öligen Haartollen, die in flatternden Hosen auf Klavieren tanzen.

Ich stoße mit allen an, immer wieder, mit wechselnden Getränken, und wir versuchen unseren Blicken etwas Tiefes, Vielsagendes und Schweres zu verleihen – dieses »Gut, dass wir da sind«, dieses »Immerhin haben wir uns noch« und dieses »Mann, Mann, Mann, Jungejungejunge«.

Es sind tatsächlich alle gekommen: mein Freund F., der allen Ernstes noch mit 42 Take That als seine Lieblingsband bezeichnet, und mein Freund R., der F., wenn dieser nicht dabei ist, gerne als »Hirni« bezeichnet; auch meine wiedergefundene Jugendfreundin S. ist da und erzählt gerade irgendjemandem, was für Haare ich früher hatte, als ich noch Haare hatte. Dann natürlich meine gute Freundin, die Reggae-Fachfrau mit dem Faible für Feminismus und Zigaretten; der alte Autorenkamerad, mit dem ich einst zeitgleich als Rezensionenschreiber für die hiesige Tageszeitung anfing; der Thekenveteran, der vor Kurzem, mit über 50, seine erste Band gegründet hat; meine Exfreundin, die mir immer noch nicht so richtig erklären kann, warum sie nicht mehr meine Freundin, sondern nur noch meine Exfreundin ist; der Maler mit dem Neil Young-Fimmel, die Grafikdesignerin mit dem Tango-Fimmel; meine alten Band-Kollegen … Und allen schwappen die Getränke nur so aus Gläsern und Mündern, dass man meinen könnte, sie hätten Spaß.

Zwei junge Frauen, von denen ich nicht recht weiß, warum ich sie überhaupt eingeladen habe, kommen zu mir, um Anstoß an der Musik zu nehmen. »Dazu kann man ja gar nicht tanzen«, plärren sie. »Tanzen könnt ihr, wenn ich tot bin«, sage ich und wende mich ab. Und meinem besten Freund Stietenroth zu, der versucht, mit zwei meiner Bob Dylan-Freunde eine besoffene Konversation aufrechtzuerhalten, die aufgrund der Tatsache, dass meine Bob Dylan-Freunde über kaum etwas anderes als Bob Dylan zu sprechen in der Lage sind, knifflig zu werden droht. Leider kann ich ihn gerade nicht retten, weil die fantastische Auflegedame soeben den Ween-Song »What Deaner Was Talking About« spielt, eins der schönsten beknackten Stücke der Popgeschichte.

Ich greife in meine mit Konfetti gefüllte Jacketttasche und werfe eine Handvoll in die Runde; irgendwer hat zwei Leute mit einer Rolle Klopapier zu einer albernen Installation der Doofheit verpackt. Ich glaube, es wird Zeit, meinen Körper von innen mit einem weiteren Gin Tonic zu massieren.

Es läuft tatsächlich »Do you realize??«, aber ich habe mich gegen das Feiern meines Geburtstags entschieden. Ich entscheide mich fast jedes Jahr gegen das Feiern meines Geburtstags, weil mich pünktlich zum Novembereinbruch stets eine leichte Deprimiertheit einlullt, die ich nur ungern unter die Menschen trage. Dafür habe ich mich entschlossen, an diesem, meinem 38. Geburtstag ein popkulturelles Tagebuch zu beginnen. Was hiermit geschehen ist.

Meinen nächsten Geburtstag, den 39., plane ich übrigens groß zu feiern. Es ist mein Ansinnen, an diesem Tag die Band für Afrika wiederzuvereinen.

13.11.2007

Mein 16-jähriger Neffe war zu Besuch.

Da ich vor Jahren die Patenschaft über den holden Knaben übernommen habe, nehme ich die Besuche meines Neffen und die damit verbundenen Gespräche durchaus ernst. Gegenwärtig ist das nicht einfach, denn mein 16-jähriger Neffe lebt seine 16-Jährigkeit mit begeistert geöffneten Poren und dem ganzen frei wuchernden Irrsinn des heranreifenden Knaben aus. Der Junge ist gerade die Pubertät auf Stelzen; er trinkt mit großen Kellen aus dem Bottich der Adoleszenz. Dies sieht man beispielsweise deutlich an den Schwankungen seiner kulturellen Präferenzen: Glaubte ich zuletzt noch, er sei dem Hip-Hop erfolgreich von der Schippe gefallen und geradewegs in den Klammergriff des Indie-Rock geraten, predigt er nun unter seiner seltsam schief auf dem Kopf sitzenden Kappe hervor schon wieder von den Verheißungen der Rap-Kultur. Ach, er müsste eigentlich gar nichts erzählen, man sieht ihm den verkifften Hip-Hop-Jugendlichen schon aus zwanzig Metern Entfernung an. Es muss gesagt sein: Mein Neffe ist für den hippiesken Teil der Hip-Hop-Bewegung entflammt und sucht sein Heil eher in unangeschnallten Marihuana-Experimenten und illegalen Sprüharbeiten, statt für seine »bitches« diamantenbesetzte Luxus-Autos mit Champagner-Sprenkleranlage zu sammeln und nebenbei eine mittelständische Pornoproduktionsfirma zu unterhalten. Mein Neffe ist ein Old-School-Mann.

Gleichzeitig ist mein Neffe fasziniert von den Umtrieben des linksradikalen sogenannten »Schwarzen Blocks« und sagt unentwegt Sachen wie »Bullenstaat«. Es ist hier sicherlich wichtig festzuhalten, dass er den Spaßfaktor des Links-Radikalismus der tatsächlichen politischen Programmatik voranstellt. Gleiches gilt meiner Meinung nach im Übrigen für den gesamten »Schwarzen Block«, dem ich deshalb nur mit einem Gemisch aus Besserwisserei und Rührung begegnen kann.

Am verstörendsten war heute sicherlich aber jener Moment, als mein Neffe auf meine äußerst patenonkelige Frage, welchen Beruf er denn zu ergreifen gedenke, ohne viel nachzudenken antwortete: »Zuhälter.« Nachdem ich mich wieder gefasst hatte, versuchte ich ihm den Widerspruch zwischen den Aktivitäten des »Schwarzen Blocks« und einer Karriere im Zuhältergewerbe nahezubringen. Ihm war das recht schnurz, die Jugend lebt schließlich von der Widersprüchlichkeit wie der Metzger vom toten Tier.

Am Ende des Tages war ich nass geschwitzt, aber froh, zwar einen 16-jährigen Neffen, nicht aber einen 16-jährigen Sohn zu haben.

14.11.2007

Mir wird in einer ambulanten Operation ein größeres Muttermal unterhalb des Brustbeins entfernt. Zwei Dinge irritieren mich während der zwar relativ kurzen, aber doch eindringlichen Veranstaltung:

Zum einen läuft während des Eingriffs im Operationssaal eine von einer Flamenco-Gitarre angeführte Instrumental-Version von Kelly Clarksons Schmierballade »Breakaway«. Ich habe also, während man mir liebgewordenes Gewebe entschnippelt, Gelegenheit, über den Niedergang der Fahrstuhl- und Berieselungsmusik nachzudenken. Ob man früher wohl den Leuten zu den wohlfeilen Klängen von Burt Bacharach die Leiber zerschnitten hat, denke ich, während ich schon großzügig mit Jod übergossen werde – aber nein: Früher (früher heißt in meiner Zeitrechnung immer: vor den Achtzigern) haben Ärzte wohl lediglich zum Geräusch des eigenen Atems und vielleicht noch einiger fiepender Retro-OP-Geräte, die heute sicher zum Großteil bei fanatischen Sammlern »kultiger« Retro-OP-Möbel in deren plüschigen James Bond-Behausungen umherstehen, geschnetzelt. Wo der Rest dieser Geräte gelandet ist, kann man sich auch denken: in den Händen emsiger Trash-Filmer, welche die in kühlem Chrom erglänzenden Gerätschaften als Raumschiff-Requisiten für Science-Fiction-C-Movies benutzen.

Nein, es war früher einfach nicht verbreitet, zu Musik zu operieren, überhaupt wurde früher vieles ohne Musik gemacht, und das war auch richtig. Aber heute hat man eben die sedierende Kraft träge vor sich hin dümpelnder Musik erkannt, was zahlreichen hauptberuflichen Musikern ein solides Einkommen sichern dürfte.

»Was machen Sie denn so beruflich?«

»Ach, ich bin Musiker.«

»Oh, wie interessant. Habe ich denn schon mal etwas von Ihnen gehört?«

»Na ja, ich spiele gelegentlich in der Tour-Band von Max Mutzke, und ich produziere mit einigen Kollegen beruhigende Musik für OP-Säle.«

»Ah.«

Es ist allerdings wohl davon auszugehen, dass es sich bei den OP-CDs um keinen speziellen Sub-Markt der Ruhigstellungsmusik handelt, sondern dass es vielmehr dieselben Produktionen sind, die auch die Hotelaufzüge und Wellness-Wiesen dieser Welt mit funktionsakustischen Signalen bedudeln.

Wie es wohl gewesen wäre, wenn ich von einem hybrisbefeuerten Nobel-Arzt zu den Klängen des »Walkürenritts« operiert worden wäre? Letztlich wohl ganz unterhaltsam, zumindest für den Arzt. Hauptsache, ich werde nie zu Free-Jazz operiert oder zu hektischem Früh-Achtziger-Wave-Punk. Auch nicht zu der Musik irgendeines Helden. Ich möchte ganz ausdrücklich NICHT zur Musik Bob Dylans operiert werden! Wenn ich mir vorstelle, man entnähme mir etwa zu Bob Dylans lebensmüder Platte »Time Out Of Mind« ambulant irgendwelche Dinge, wird mir gleich ganz anders. Von daher ging die hohle Dudelmusik schon in Ordnung. Sollte ich irgendwann mal Kelly Clarkson interviewen, was eher unwahrscheinlich ist, muss ich ihr unbedingt erzählen, wie ich mal zu den Klängen einer Neo-Easy-Version ihres größten Hits dem Tod aus dem Schwitzkasten operiert wurde.

Noch etwas wusste mich zu irritieren: nämlich dass man, während mir die Betäubungsspritze gesetzt wurde, eigens eine OP-Schwester dazu abgestellt hatte, mir das Bein zu streicheln. Auch das hat man, so vermute ich, früher nicht gemacht. Doch obwohl ich nicht darum gebeten hatte, fand ich dies, anders als manch härterer Berührungsphobiker, ganz angenehm. Vielleicht hat sich die OP-Schwester aber auch einfach nur extrem zu mir hingezogen gefühlt, ich möchte das nicht ausschließen. Wahrscheinlich gründete sich ihr beherzter Vorstoß aber wohl darauf, dass ich mich, als der Arzt mit der Spritze an meine Pritsche trat, sogleich im blauen Papierbelag festkrallte.

15.11.2007

Ich würde nur zu gerne behaupten, es sei früher losgegangen. Es sieht einfach nicht gut aus, wenn man spät dran ist. Spät dran mit Bob Dylan. Aber ich muss bekennen, dass ich dem alten Griesgram erst in die Arme lief, kurz bevor mit dem Erscheinen der Scorsese-Doku die Dylan-Entdeckerei zum popkulturellen Massensport mutierte. Es war etwa im Sommer 2004, als meine Festung fiel.

Das Seltsame ist, dass es eigentlich viel früher hätte passieren müssen. Ich war immer schon ein großer Fan des ehrbaren Singer/Songwriter-Gewerbes, und bis heute beanspruche ich auf diesem Gebiet ein gewisses Expertentum, das bitte jederzeit herausgefordert werden darf. Ich mag diese vermeintlich einsamen Burschen mit Gitarren, die Weltweises zum Besten geben und eine gewisse Autorität und Verletzlichkeit spazieren führen. Und ich rede hier nicht von all den sich an ihren eigenen aufgeblähten Empfindsamkeiten berauschenden Bettkanten-Zupfern, die in den letzten Jahren so viel Zuspruch bei Frauenzeitschriften- und NEON-Lesern erhielten, auch nicht von all den hauptberuflichen Bartträgern, die in einsamen Berghütten sitzen und es schaffen, auf ihren 4-Spur-Aufnahmen so zu klingen wie hauptberufliche Bartträger in den Siebzigern in 24-Spur-Studios.

Mir lag stets vielmehr jener Typus besonders, der einen deutlichen Pop-Bezug aufwies, vor allem mochte ich die Generation der in den Achtzigern zu erstem Ruhm gelangten Vertreter: Leute wie Robert Forster und Grant McLennan von den Go-Betweens, Lloyd Cole, vor allem aber mein großer Held, der hierzulande nahezu unbekannte Robyn Hitchcock. Gentleman-Singer/Songwriter, keine zerzausten Bartträger, denen kanaldeckelgroße Amulette um den Hals baumeln. Alle Genannten führten immer wieder Dylan als größten Held oder wichtigsten Einfluss an, und alle coverten sie ihn unermüdlich. Es war aber ausgerechnet mein Idol Robyn Hitchcock, der Hofkapellmeister meines Heranwachsens, der am unermüdlichsten auf Dylan verwies und sogar mal ein ganzes Album mit Dylan-Songs veröffentlichte. Mich interessierten jedoch immer mehr die anderen beiden Einflüsse Hitchcocks, Syd Barrett und John Lennon, und ich hörte ihn quasi als einen Zeitgenossen, der die Ideen dieser beiden Musiker weiterführte.

Immer wieder aber ging es in Hitchcock-Interviews um Dylan. Dann mal los, dachte ich mir und versuchte es. In geringen Dosen war ein Zugang möglich – es waren eher poppige Songs, die mir gefielen: »Love Minus Zero/No Limit« funktionierte sofort (und ist bis heute einer meiner liebsten Dylan-Songs). Auch »Lay Lady Lay« in seinem dreisten Country-Pop-Wahn dockte an. Aber ansonsten war kein Rankommen an Dylan möglich. Mein »Blood On The Tracks«-Album verstaubte im Regal, und selbst »Blonde On Blonde« versagte immer wieder. Ich schiebe dieses Scheitern vor allem meiner 3-Teile-Theorie in die schnöseligen Schuhe, der zufolge ein guter Song mindestens drei Parts aufzuweisen hatte, die bitte schön möglichst clever miteinander zu verweben waren. Und Dylan? Der kam oft mit einem einzigen Teil aus, der dann gerne mal über acht Minuten geschleppt wurde, in denen eine scheinbar zusammenhaltlose Band mühevoll dem Vortrag des Sängers hinterherbuckelte. Nein, das war nicht meine Welt! Ich dachte gar nicht daran, mich weiter mit dem Mann zu beschäftigen. Ich setzte ihn auf die »Liste der Musiker, die sich mir in diesem Leben nicht mehr erschließen werden«. Eine Liste, auf der sich neben Dylan noch Neil Young, The Who, Led Zeppelin, David Bowie, Kraftwerk und The Clash fanden. Bis auf Dylan finden sie sich alle immer noch auf dieser Liste, und ich vermute, dass sich daran nicht sonderlich viel ändern wird. Es sei hier kurz darauf hingewiesen, dass die »Liste der Musiker, die sich mir in diesem Leben nicht mehr erschließen werden« nicht zu verwechseln ist mit der »Liste der Musiker, die ich für vollkommen untalentiert halte und die hoffentlich bald mal Besuch von der Musikpolizei bekommen, die bitte auch bei ihren Fans mal gründlich nach dem Rechten sehen soll, wenn sie schon unterwegs ist«. Auf dieser Liste befinden sich unter anderem Björk, Radiohead, Pink Floyd nach Syd Barrett und Depeche Mode. Aber zurück zu Dylan.

Ich überlege oft, wann meine heutige Begeisterung für den Mann ihren Anfang nahm. Eine Begeisterung, die zunächst Hysterie war, dann Liebe wurde und nun, nachdem ich glaube, Vernunft und Abstand in unsere Beziehung gebracht zu haben, eben Begeisterung ist. Ich glaube, der entscheidende Moment war, als mir ein Special der Musikzeitschrift MOJO in die Hände fiel, in dem zahlreiche Musiker unterschiedlichster Genres ihren liebsten Dylan-Song nannten und kommentierten. Mit dabei waren Norman Blake von den großartigen Teenage Fanclub (Lieblingssong: »Tombstone Blues«), Win Butler von Arcade Fire (»Fourth Time Around«), Richard Hell (»You’re A Big Girl Now«), Linton Kwesi Johnson (»With God On Our Side«), Frank Black (»Stuck Inside Of Mobile …«), Gang of Four-Mann Andy Gill (»Not Dark Yet«), Paul McCartney (»Mr Tambourine Man«), Brian Wilson (nun ja: »Blowin’ In The Wind«), Patti Smith, James Blunt, Jimmy Webb und viele andere. Ich las die Kommentare all dieser prominenten Fans, und jeder Kommentar war eine kleine Liebesgeschichte. Außer den Beatles konnte es niemandem gelingen, derart viele Menschen zu solch persönlichen und anrührenden Liebeserklärungen an so viele unterschiedliche Songs zu bewegen. Allerdings stand im Falle der Beatles nur eine gut siebenjährige Plattenkarriere zur Auswahl zur Verfügung. Dylan dagegen war ein langes Leben, das viele andere lange Leben mit seinem Soundtrack unterlegte. Ich ahnte, dass mir dieser mürrische Mann über jeden Moment meines eigenen Lebens – vergangene Jahre, die Gegenwart, aber auch die Zukunft – etwas erzählen konnte. Ich stieg dort ein, wo die meisten einstiegen: Ich besorgte mir »Bringing It All Back Home«, »Highway 61 Revisited« und »Blonde On Blonde«, die Platten, auf denen Dylan (damals Mitte 20) all meine Helden erfand. Ich las weiter, besorgte mir immer mehr Artikel, stöberte in Dylans Texten und versuchte durch endloses Stieren auf Fotos seines ausdruckslosen Gesichts etwas zu begreifen – ich war am Haken.

Noch immer sind es vor allem die drei genannten Alben, die mich faszinieren – als Denkmal einer künstlerischen Mythoswerdung. Es ist schon seltsam: Auf diesen drei Platten erfindet Dylan – neben der doofen Rockmusik – auch den modernen Singer/Songwriter, der allein von dem singt, wozu er Lust und Laune hat. Und wenn es Mitternachtsteppiche, Quecksilbermünder, Honkytonk-Lagunen, Neon-Irre, die Mauern emporklettern, oder Leopardenfell-Pillenschachtelhüte waren. Gleichzeitig passiert parallel zur Etablierung des sein künstlerisches Selbst veräußernden Musikers das genaue Gegenteil: Dylan schafft einen Mythos. Das ist der Unterschied zu all den anderen langweiligen Rock ’n’ Roll-Mythen: Brian Jones, Brian Wilson, Syd Barrett, Jim Morrison, Ian Curtis, Kurt Cobain, Bob Marley, selbst Elvis – sie alle wurden nicht aus eigenen Stücken zum Mythos; sie wurden es durch Tod, Wahnsinn, Vereinsamung. Dylan aber schuf Bob Dylan, das reichte und war mehr, als alle anderen zu leisten imstande waren. John Lennon vielleicht mal ausgenommen.

Aber es ist natürlich nicht nur der Mythos, das wäre dämlich, denn eigentlich sind Mythen ja Firlefanz und gehören Radiohead oder Björk an die Nasen gebunden, um ihnen das Produzieren weiterer Platten zu erschweren. Es sind natürlich vor allem die Songs, auch wenn diese Erkenntnis im Zusammenhang mit Dylan in etwa so originell ist, als würde man behaupten, das Beste am Auto sei, dass es fährt. Und was waren das für Songs, die ich auf diesen Platten fand: Auf »Bringing It All Back Home« begegnete ich »Love Minus Zero/No Limit« wieder, diesem kleinen ungemein anrührenden Folk-Pop-Stück, dessen kunstvoller Text die Worte virtuos purzeln lässt und einem das Hirn zerknetet: »The cloak and dagger dangles/Madams light the candles/In ceremonies of the horsemen/Even the pawn must hold a grudge/Statues made of matchsticks/Crumble into one another/My love winks, she does not bother/She knows too much to argue or to judge«. Ein so bizarres, sprachgewaltiges und dennoch anrührendes Liebeslied hatte bis dahin noch niemand geschrieben (Robyn Hitchcock seit 1980 jedoch mehrere Dutzend, aber jetzt erst wusste ich, woher Hitchcock diese geistige Freiheit hatte …). Ebenfalls auf »Bringing It All Back Home« waren das abgründige, virtuose Weltgemälde »It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)« und der cool dahingeschnodderte Abgesang »It’s All Over Now, Baby Blue«. Den letzten beiden Songs begegnet man auch in der D. A. Pennebaker-Doku »Don’t Look Back«, die Dylan auf seiner letzten akustischen Tour durch England zeigt. Vor allem »It’s All Over Now, Baby Blue« in der berühmten Hotelzimmer-Version, bei der Dylan den Liedermacher-Luftikus Donovan vor Neid verschrumpeln lässt, bleibt unvergessen. Der Film ist für mich das beste Werkzeug, um jemandem, der nichts mit Dylan anfangen kann, den Mann nahezubringen. Zwar liegt der Film zeitlich minimal vor »Bringing It All Back Home«, aber auch hier kann man schon genüsslich dem Kunstwerk Dylan dabei zuschauen, wie es sich selbst zelebriert.

Wir erleben den Künstler als jungen Beatnik-Dichter in hundscooler Lederjacke und mit all der charmanten Arroganz, die sich nur Unverstandene leisten können. In diesem Film erfindet er auch den »schwierigen Dylan«, den in Rätseln sprechenden, scheinbar reflexartig Haken schlagenden Sturkopf, der Interviewer, Fans (und die Kamera) im gleichen Maße bloßstellt und an der Nase herumführt. Und er singt dem Folk Lebwohl – mit den schönsten akustischen Songs seiner Karriere.

Doch weiter mit den Platten. Auf »Highway 61 Revisited« geht der Mittsechziger-Irrsinn des freirollenden Amphetamin-Dylan weiter: Dylan ist jetzt so elektrisch wie eine Märklin-Eisenbahn und zischt durch das zerdepperte amerikanische Lügenland. Nach dem furiosen »Like A Rolling Stone« – ein Song, den ich früher stets als öde empfand und der mich heute allein schon wegen Al Koopers Sirenengeorgel glücklich macht – kommt der entfesselt rumpelnde »Tombstone Blues«, der alles vorwegnimmt, was Velvet Underground ein Jahr später erst zu explorieren begannen (vom Lack- und Lederfetisch mal abgesehen). Wäre ich ein schnaufender Musikwissenschaftler, würde ich behaupten, der Song sei somit historisch die Geburtsstunde von Indie-Rock als Genre, bei dem sich in den Achtzigern ja vorrangig auf Velvet Underground bezogen wurde, aber das lasse ich mal, nachher spricht mich da noch jemand drauf an. »Tombstone Blues« ist im Gegensatz zu Lou Reed aber vor allem saulustig, überhaupt etabliert sich Dylan auf »Highway 61 Revisited« und noch mehr auf dem Folgealbum »Blonde On Blonde« als Speed-Komiker, der einen One-Liner nach dem anderen raushaut. Man könnte den »Tombstone Blues« komplett in Grund und Boden zitieren, am schönsten ist aber wohl jener Moment, in dem der Commander in Chief zu Johannes dem Täufer, eine Hantel fallen lassend, die unvergesslichen Worte sagt: »The sun’s not yellow it’s chicken«. Die Welt ist sinnlos geworden, aber Dylan versucht es mit Humor.

Ein paar Songs später folgt die böse, spukige »Ballad Of A Thin Man«, ein beklemmendes Stück Hohn, das wieder von Al Koopers Orgel durchgeistert wird. Das Album endet mit dem bildgewaltig dahertorkelnden »Just Like Tom Thumb’s Blues« und »Desolation Row« (das Blumfeld vor einigen Jahren als »Jenseits von Jedem« kopierten). Kein Freak-Folk, aber man hört einen Folk-Freak, der einen wahren Freak von einem Folksong auf die hoffnungslose Welt loslässt.

Und dann schließlich »Blonde On Blonde«, der Abschluss der fulminanten Mitt-Sechziger-Triologie, in der Dylan zu Dylan wird, zum Mythos. »Blonde On Blonde« zeigt den lallenden Speed-Prediger auf dem Zenit; bald schon muss er sich doof als »Judas« beschimpfen lassen und sich daraufhin aufs professionelle Hakenschlagen verlegen, für das er inzwischen ja mindestens so sehr geschätzt wird wie für seine Musik. »Blonde On Blonde« hat in jenem Sommer 2004 Brian Wilsons »Pet Sounds« als meine Lieblingsplatte der Sechziger abgelöst. Man könnte behaupten, die Platten (die beide 1966 erschienen) hätten ein grundlegend verschiedenes Verständnis von Musik. Das mag sogar stimmen. Tatsächlich liegt beiden Platten aber eine sehr ähnliche singuläre Vision zugrunde, ein ähnlich getriebenes, nach Schönheit suchendes Einzelgängertum.

Auf »Blonde On Blonde« ist Dylans Stimme nur noch ein bleiches Atmen, ein weißer Nikotinnebel. Anfangs musste ich noch über die ersten beiden Stücke, den bekifften Beerdigungsmarsch »Rainy Day Woman #12 & 35« und »Pledging My Time«, rüberkommen, um die Platte wirklich beginnen zu lassen, heute liebe ich auch diese beiden Songs. Der eigentliche Film aber fährt erst mit Song 3, dem unheimlichen New York-Loft-Film »Visions Of Johanna« ab. Ein Lied, über das Robyn Hitchcock einmal sagte, dass er wegen dieses Stücks überhaupt erst angefangen hätte, Songs zu schreiben. Dylan-Fans sollten dringend Hitchcock hören. Dies ist ein Rat, den ich voller Bedacht ausspreche.

»Visions Of Johanna« handelt von der Anwesenheit alles Falschen und der Abwesenheit alles Richtigen – eine gruselige Situation, und Dylans Bilder hierfür sind gehirnausbeulend: »The ghost of ’lectricity howls in the bones of her face«. Es folgt das perlende »One of Us Must Know (Sooner or Later)«, ein winterliches Anti-Liebeslied, bei dem Al Kooper mal wieder aufs Schönste Dylans Gesang umorgelt. Dann »I Want You«, wieder so ein Song, der auf so noch nie (und seither nie wieder) gehörte Weise Zuneigung, wenn nicht Besessenheit thematisiert. Angemerkt sei, dass Dylan im Text bizarrerweise einem kleinen Kind in einem chinesischen Anzug seine Flöte wegnimmt, was er selbst nicht ganz lieb findet – aber diese Information nur am Rande. Es folgt »Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again«, ein Song, der bei mir schon für wohlige Schauer sorgt, wenn ich nur die vier Anfangstakte höre. Ein Lied übers Festhängen, so finster wie komisch. Die vier genannten Songs in Folge könnte ich auf Endlosschleife hören. Sie platzen vor Spielfreude, Ideenreichtum, Weisheit und Humor.

Danach dann spielte Dylan einige amphetaminisierte Konzerte in GB, ließ sich allabendlich ausbuhen, als Heiland-Verräter bezichtigen und abermals von Pennebaker filmen. Das grandiose Material findet sich in der schon erwähnten Scorsese-Doku und sollte als mahnendes Beispiel für unsachgemäßen Drogenkonsum auf den Mond geschossen werden, um künftigen Lebensformen den ganzen Rauschgift-Schlamassel zu ersparen. Dylan tat auf dem Höhepunkt dieses Irrsinns das einzig Richtige und ließ sich vom Motorrad fallen, um der Maschinerie und sich selbst zu entkommen (ich behaupte das jetzt mal so). Er drückte sich um den Hippie-Sommer 1967 und kam als rauchfreier Familienvater und Moritatensänger zurück.

Da dieser Eintrag ohnehin schon ins Monumentale lappt, spule ich an dieser Stelle einunddreißig Jahre vor – ins Jahr 1997. Hier setzt meine zweitliebste Dylan-Phase ein – eine Phase, die bis heute anhält. Im Zeitraffer fliegen vorbei: Dylan, der Country-Crooner. Dylan, der mutwillige Mythenzerdepperer. Dylan, der 70er-Arena-Rocker mit Pilotenbrille. Dylan bei Sam Peckinpah, am Himmelstor klopfend. »Blood On The Tracks«, die (meines Erachtens arg überschätzte) Scheidungsplatte (Dylan: »Das ist keine Scheidungsplatte.« Ich: »Ok.«). Die Rolling Thunder Revue-Tour mit Dylan als weiß geschminktem Glam-Hippie. Dylan als Filmemacher. Die Zigeuner-Phase und »Desire« (auch überschätzt). Die Scheidung von seiner Frau Sara. Die fertige Phase. Die christliche Phase – der augenrollende Prediger. Dylans groteske Achtziger mit experimenteller Kleidung und lausigen Platten. Dylans Beteiligung bei »We Are The World« (bei dem ihm Stevie Wonder zeigen musste, wie er möglichst Dylan-mäßig zu singen hatte). Die Traveling Wilburys. Dylan & The Dead. Die jüdische Phase. Dylan und Daniel Lanois zum Ersten. Der Start der Neverending-Tour. Die Alben mit den Folk-Traditionals. Dylans seltsamer Auftritt vor Familie Clinton in Cowboy-Klamotten. Der Beinah-Tod. Stopp!!!

Der Beinah-Tod. »I’m walking through streets that are dead« lauten die ersten Zeilen auf »Time Out Of Mind«, Dylans Grammy-gekürtem Meisterwerk von 1997. Dylan singt sie mit seiner neuen heiseren Gespensterstimme, die seither mehr und mehr zu einem mal lustigen, mal Furcht einflößenden Katarrh geworden ist. Der zitierte erste Satz ist programmatisch für Dylans übergroßes Comeback-Album nach sieben Jahren Schreibblockade. Die Songs auf dieser Platte gehören zum Besten, was er je geschrieben hat. Es sind ironischerweise Lieder über den Tod und den Verlust der Liebe, die den Mann revitalisierten. Dylan schrieb sie angeblich während des langen Winters 1996, als er auf seiner Farm in Minnesota eingeschneit war. Als es ihn beinah erwischte (er hatte sich durch Pilzbefall eine Lungenerkrankung zugezogen), war das Album schon aufgenommen, aber es passt zu diesem Liederzyklus, dass sein Autor beinah ein Meet & Greet mit seinem Schöpfer gehabt hätte.

Aber die Platte ist nicht finster oder negativ. Sie ist ernst (was bei Dylan ja nie ausschließt, dass es teilweise auch brüllend komisch werden kann), sie ist wie ein schwerer, weiser Roman über die letzten Dinge. Robert Forster hat einmal klugerweise gesagt, jedes große Dylan-Album zeige Dylan in einer großen Charakterrolle. Sonst sei er auch gut, mit glaubhafter Rolle aber sei er fantastisch. Hier ist es die des alten, lebensmüden Schwerenöters. Drei Songs sind es vor allem, die mich berühren und bei winterlichen Autofahrten und an verkorksten Weihnachtsabenden immer wieder zum Einsatz kommen: »Standing In The Doorway« ist der herzzerreißende Gospel eines verlassenen alten Mannes, der jetzt nur noch den Tod vor sich hat: »You left me standing in the doorway crying/Blues wrapped around my head«. Noch verlorener ist »Tryin’ to Get to Heaven« (»before they close the door«, wie der Text weitergeht …). Ein Rückblick auf ein prall gefülltes Leben, reich an Erkenntnissen über die Instabilität der Dinge: »When you think that you lost everything/You find out you can always lose a little more«. Aber auch die Freuden werden genannt: »I been to Sugar Town/I shook the sugar down«. Kein Zweifel daran! Der dritte Übersong im Bunde ist die anrührende Elegie »Not Dark Yet«. Der damalige Mittfünfziger spürt, dass es noch nicht dunkel ist, aber »it’s getting there«. Alle drei Songs bestehen aus nichts als Strophen. Aber was für Songs dies sind. Lyrische Gebete, die von allem handeln, was wichtig ist. Das Beste aber: Seither ist Dylan in so guter Verfassung wie lange nicht mehr. Das Nachfolgealbum war fast überbordend lebensfroh, »Modern Times« von 2006 liegt irgendwo in der Mitte und nährt die Vermutung, dass Dylan als Einziger den Schlüssel zu einer verstaubten Truhe voll amerikanischer Musikmythen besitzt.

Bislang habe ich ihn erst zwei Mal live gesehen. Ich hatte womöglich Glück, denn beide Konzerte waren extrem gut. Das letzte Mal sah ich ihn vor ein paar Monaten in Düsseldorf, ein Abend, über den zu berichten ich mir nicht versagen konnte:

Da ist der eine, ein Jeanskombi-Träger mit Glatze, der sich seinem Gesprächspartner lautstark ins Ohr wundert, dass so selten über Dylans jüdische Wurzeln und ihre Spuren in dessen Werk diskutiert würde. Ein paar Meter weiter vorne vor der Bühne berichtet ein Jerry García-Ähnlichkeitswettbewerbsverlierer begeistert einigen umherstehenden Englischlehrern, dass er kürzlich im Internet Dylan-Wein bestellt habe. »Robbie« brüllt ein angetrunkener Selbstdrehertyp nach Robert Allen Zimmerman; zwei junge Hipster-Burschen in engen Hosen und mit Schnösel-Schals mustern ihn peinlich berührt. Alle sind sie bis über beide Ohren verstrickt in die Geheimwissenschaft Bob Dylan, die einen, wie jede ernst zu nehmende Lehre, den Verstand kosten kann. Allerdings muss man dem Jeanskombi-Träger und Jerry García und all den Englischlehrern Respekt dafür zollen, dass sie vermutlich auch in jenen Jahren treu auf Dylan-Konzerte gepilgert sind, als dieser komplett den Faden verloren hatte. Mittlerweile stehen auch junge Mädchen in Chucks zwischen all den alternden Haarproblematikern und finden es offenbar überhaupt nicht komisch, dass der kauzige alte Herr da oben auf der Bühne eine so sonderbare Stimme hat.

Punkt halb acht wird es dunkel in der Düsseldorfer Philipshalle, die Fanfare ertönt, und die legendäre Ansage kündigt den berühmtesten Rockstar der Welt an: »Please welcome the poet laureate of Rock ’n’ Roll (…) who donned makeup in the ’70s and disappeared into a haze of substance abuse, who emerged to find Jesus …« usw. Und dann steht er da und – man muss schon schlucken, dass man das noch mal erleben darf – spielt nach mehreren, angeblich gesundheitsbedingten Jahrgängen hinter der Orgel tatsächlich wieder Gitarre. Er sieht großartig aus, wie immer, seit er diesen louisianischen Barmusikerlook für sich entdeckt hat: unnahbar, dabei aber irgendwie lustig, fast schon chaplinesk. Auf jeden Fall so cool wie seit 1966 nicht mehr, als er das, was wir heute als Coolness kennen, eben erst überhaupt erfunden hatte. Er trägt einen schwarzen Anzug und einen hellen Hut, seine fünfköpfige Band helle Anzüge und dunkle Hüte. Zusammen sehen sie aus wie eine betagte Südstaatenkapelle mit exzentrischem Anführer – und klingen auch exakt so: Dylan und seine Band starten mit »Cat’s in the Well«, und da ist er direkt, dieser rumpelig-robuste Sound, mit dem er sich in den letzten Jahren als Live-Künstler gefangen hat. Tony Garniers Bass tänzelt, und Denny Freeman und Stu Kimball, die beiden tollen Gitarristen, sehen wieder mal aus, als hätten sie eben erst eine Leiche verschachert. Als Nächstes stolpern alle zusammen in eine schöne Version von »Don’t Think Twice, It’s All Right«, die sich – ähnlich wie später »Just Like a Woman« – so nah am Original bewegt, wie es bei Dylan eben möglich ist. Der versucht zwischendurch sogar so etwas wie ein Solo, wobei sich seine Gitarre als ebenso launisches Instrument erweist wie seine mal niedliche, mal grollende Unkenstimme. Bei den neueren Songs vom Album »Modern Times« klingt er tatsächlich genauso packend wie auf Platte – wie ein greiser Griesgram am Mississippi, aus dessen Garten Äpfel zu klauen sich die Kinder niemals trauen würden.

Bei den Klassikern singt er weiterhin diese gewöhnungsbedürftigen Zweitonmelodien, die am Ende immer etwas steif nach oben modulieren. Dylan, derzeit ohnehin in prächtiger Verfassung, erwischt einen sehr guten Abend: Höhepunkte sind wie immer das donnernde »It’s Alright, Ma (I’m Only Bleeding)«, das mitreißende »Highway 61« sowie zahlreiche Stücke des »Modern Times«-Albums. Längst hat Dylan wieder rüber ans Keyboard gewechselt, wo er sich inzwischen deutlich wohler zu fühlen scheint; erst hier wird er zum Teil der Band, der seine Musiker mit kleinen Halsdrehungen, hochgezogenen Augenbrauen oder einem kurzen Nicken dirigiert. Es gehört mittlerweile zu den Hauptattraktionen eines Dylan-Konzertes, ihm bei seinem Körpereinsatz an der Orgel zuzusehen: Es ist ein einziges Krümmen, Buckeln, Nach-oben-Schießen und Hakenschlagen. Dylan tanzt, wenn er Orgel spielt, und er tanzt sehr lässig. Ab und an meint man sogar, ihn lachen zu sehen, dabei zieht er nur nach jeder Gesangszeile die Mundwinkel so weit nach oben, wie es nur eben geht – ein Manierismus, den er sich bereits in den Sechzigern angewöhnt hat. Beim charmant dahingerotzten »Summer Days« lacht er dann wirklich vor lauter Spielfreude, und Multiinstrumentalist Donnie Herron lacht mit.

Den letzten Höhepunkt gibt es ganz am Ende nach der Zugabe: Wie jedes Mal versammeln sich Dylan und seine Band nebeneinander am Bühnenrand, das Saallicht geht an und ohrenbetäubender Jubel ertönt. Doch keiner verbeugt sich, sie stehen alle einfach nur da und gucken ins Publikum wie der Cast eines Scorsese-Films. Dylan, in der Mitte, lässt den Blick übers Rund gleiten und nickt leicht tatterig, während er diese leicht genervte Schnute zieht. Und nickt und nickt … So sagt ein Kauz »Danke schön«. Dann geht er. Auch die Dylan-Wissenschaftler schwanken müde nach Hause, sie haben ihr Forschungsobjekt wieder nicht ergründen können.

Ach ja, der Folk. Ich habe ihn vor lauter Begeisterung ganz vergessen. Aber obwohl ich Dylans frühe Folk-Phase hier ganz ausgespart habe, will ich eine These wagen. Vielleicht ist es auch einfach nur ein Allgemeinplatz, aber was soll’s: Dylan war immer dann am nächsten an den Menschen und ihren Bedürfnissen und Sehnsüchten dran (und somit in einem erweiterten Sinn »Folk«), wenn er in niemandes Interesse außer seinem eigenen sang. In der eigensinnigen Konzentration auf sein kauziges Selbst erzählt er exemplarisch vom Leben: von der Liebe, vom Krieg, vom Scheitern, vom Triumph, von der Ehe, von Kindern, von der Jugend, dem Alter, von Gott, vom Teufel und vom Tod. Das ist vermutlich volksnäher und für jedermann gewinnbringender als alles, was er als Dienstleistender des institutionalisierten Folk hätte tun können. Wenn Dylan von sich berichtet oder seine Ausgeburten den Leuten vorsetzt, kann man an seinen virtuosen Abbildungen wahrhaft Anteil nehmen, kann man sich emphatisch verhalten. In diesen Momenten öffnet sich die große Bibliothek namens Bob Dylan, die uns auf einmalige Art und Weise von der Welt und dem Leben erzählt.

16.11.2007

Flohmärkte sind Orte, die es eigentlich zu meiden gilt, ersteht man dort meistens doch nur Sachen, die der weiteren Wohnungsberümpelung dienen. Dinge wie: Neil Diamond-Platten aus den Jahren 1978–88, bollerige Retro-Aschenbecher, zu enge Lederjacken, unvollständige Südamerikapuzzles (mit fehlendem Französisch-Guayana), Anti-Rauch-Ratgeber oder Obstschalen, von denen im Grunde niemand wirklich sagen kann, ob sie nun sehr schön oder sehr hässlich sind (deshalb: einfach mal mitnehmen). In der vergangenen Woche aber wurde mir durch einen Flohmarktkauf nachhaltige Beglückung zuteil.

Meine popkulturell verwegenste Tat der letzten Woche bestand nämlich darin, mir auf dem überdachten Winterflohmarkt, in den sonntägliche Ödnis mich spülte, alte SPEX-Hefte aus den späten Achtzigern und frühen Neunzigern nachzukaufen. Vier Euro für sechs SPEX-Ausgaben aus den Jahren 1988 bis 1993 – besser kann Geld kaum ausgegeben werden. Ich will in Formulierungsfragen nicht knauserig sein und behaupte hier deswegen mal pathetisch, dass ich ohne die SPEX der Achtziger und frühen Neunziger nicht auf den richtigen Weg gekommen wäre. Hätte es damals die SPEX nicht gegeben, ich wäre womöglich Fun-Punker geworden. Ich wäre dann heute also ein alternder Fun-Punker, und besorgte Mütter meines Viertels, die meines fun-punkigen Outfits gewahr würden, müssten schützend ihre Kinder von mir wegzerren und »Linus! Zoe! Kommt da weg, das ist ein alter Fun-Punker!« kreischen.

Kritiker werden womöglich unter mürrischem Gesichtsrunzeln anmerken, dass wenn Musikschreiber jetzt schon olle Pop-Heftchen aus dem letzten Jahrhundert auf dem Flohmarkt erwerben, der Musikjournalismus wohl bitte schön endgültig nach Hause gehen und sich in die Hängematte legen kann. Das mag sein, ist mir aber egal. Der Kauf bescherte mir ungekannte Wonnen, und viele Artikel lesen sich heute noch extrem faszinierend, erhellend und hirnausbeulend. Zum Beispiel die vollkommen hysterische Coverstory der Ausgabe 09/1988 über die Goldenen Zitronen, geschrieben von Clara Drechsler. Der Artikel enthält unter anderem den großartigen, hier mal keck aus dem Zusammenhang gerissenen Satz »Nach den Ärzten darf von deutschem Boden nie mehr Humor ausgehen (…)«. Es geht in dem Artikel auch ausgiebig um Hippie-Feindlichkeit. Die Goldenen Zitronen hatten nämlich auf ihrem zwei Jahre zuvor erschienenen Album den Hippie-Folksong »Marihuana« gecovert, in der Hoffnung, ihr Punk-Publikum würde schockiert reagieren. Stattdessen aber grölten alle mit. Da fiel mir auch gleich wieder ein, wie ich im Erscheinungsjahr der besagten Spex-Story auf ein Goldene Zitronen-Konzert ging und dort als Hippie beschimpft wurde. Das lag wohl vor allem daran, dass ich zu jener Zeit mit psychedelisch gemusterten Hemden experimentierte, die ich jedoch mit einer Frisur zu kontrastieren wusste, die mich aussehen ließ wie einen Synthie-Popper, der die Treppe heruntergefallen war. Eine komische Zeit, diese Achtzigerjahre.

Auch toll ist es, Ralf Niemczyks 1987er R.E.M.-Artikel (ebenfalls eine Coverstory) wiederzulesen. Ich fand den Text damals, als das Heft erschien, so großartig, dass ich versuchte, R.E.M.-Fan zu werden, was aber an der Musik scheiterte. Stattdessen bin ich Niemczyk-Fan geworden. Der Artikel, ein sehr stimmungsvoller, fast filmischer Text, der sich auf einen Besuch bei der Band in Athens stützt und die Gruppe, ihr Umfeld und ihre Heimatstadt perfekt abbildet, beginnt mit dem Satz »Peter Buck muss zum Frisör«. Mittendrin zieht Niemczyk eine Parallele zwischen R.E.M. und BAP und folgert: »Peter Buck wäre dann jedenfalls Major Healey«. Vermutlich mein Lieblings-Musikartikel aus den Achtzigern.

Im Oktoberheft des Jahres 1988 wiederum findet sich eine Rezension Diedrich Diederichsens von »16 Lovers Lane«, dem damals neu erschienenen Album einer meiner großen Lieblingsbands, The Go-Betweens. Die Kritik – ein betrübter Verriss! – beginnt mit dem Satz »Normalerweise brauche ich circa ein Jahr, um eine Sache richtig zu verstehen, manchmal länger, selten kürzer, ganz selten war ich in der Lage, etwas frühzeitig oder als Erster zu erkennen oder gar eine Voraussage richtig zu treffen (so sagte ich z. B. Depeche Mode einen eintagsfliegenmäßigen, frühen Tod voraus, damals), doch bei den Go-Betweens wusste ich immer schon ein halbes bis ganzes Jahr vorher, was los war (…).« So viel Spaß macht heute kaum ein Rezensionseinstieg mehr. Zu Clara Drechsler und Diedrich Diederichsen ist übrigens zu sagen, dass ich mit großer Faszination beobachtet habe, dass Konzerte in den beiden damals wichtigen Kölner Clubs, dem Rose Club und dem Luxor, grundsätzlich nicht anfingen, bevor sich nicht zumindest einer der beiden in den Club begeben hatte. Wie oft ich in Anwesenheit der beiden den leider viel zu früh verstorbenen Nikki Sudden gesehen habe, kann ich kaum zählen. Ich kann so spät auf Konzerte kommen, wie ich will – die Band spielt in der Regel trotzdem schon.

Versonnen lächelnd lege ich die Hefte beiseite. All diese Texte sind doch deutlich lustiger und wahnsinniger, als man es dieser mit dem Stigma der Schlaumeierei behafteten Zeitschrift gemeinhin nachsagt. Ich vermute mal allenfalls halbanalytisch, dass der Spex irgendwann einfach der Humor ausgegangen ist. Das ist ja oft so bei Sachen, die lange währen (s. hierzu auch meine letzte Beziehung). Gleichzeitig hat sich wohl der sprichwörtliche Wind gedreht. Merke: Humorausgang bei gleichzeitiger Winddreherei bedingt in der Regel den Untergang – eine halbseidene Wahrheit, die ich gleich morgen mit dem Finger auf die beschlagene Windschutzscheibe meines Autos schreiben will.

Meine eigene Art zu schreiben hat die Spex übrigens nicht eben nachhaltig beeinflusst, auch wenn ich in der späten Kölner Phase des Blattes, kurze bevor die Zeitschrift unter vergleichsweise viel Getöse nach Berlin abwanderte, mal ein paar Artikel abgeliefert habe. Zu der Erkenntnis, dass das Lesen von Texten über Musik oft ebenso viel Freude bereiten kann wie die Musik selbst, hat sie jedoch massiv beigetragen.

Ich beende den Tag damit, mir die alten, wie aus längst geschlossenen Rotweinkellern heraushallenden Nikki Sudden-Platten anzuhören und in Gedenken an den Mann, der mir als einer der Ersten gezeigt hat, dass persönlicher Ausdruck über Technik geht, ein paar Gläser zu trinken.

17.11.2007

Als mein bester Freund Stietenroth und ich heute Morgen mal wieder ziellos und bar jeder Spannkraft durch unser Viertel streiften, drang plötzlich Lärm an unser Ohr. Ich sage Lärm und muss doch direkt präzisieren: Es war aus einem portablen Gerät lautstark müllender Para-Hip-Hop, der von uns beiden ohne langes Nachdenken als Musik des wandelnden Brennpunkts, besser verdienenden Sorgenkinds und Nachwuchs-Rappers Bushido identifiziert werden konnte. Irgendjemand, wir konnten ihn noch nicht sehen, kam da offenbar mit einem mobilen Musikabspielgerät die Straße entlanggelümmelt und hörte brüllend laut schlechten Außenseiter-Rap-Ersatz. Wir tauschten einen wissend-kulturpessimistischen Blick und dachten vermutlich gleichzeitig: »Na, da kommt dann wohl gleich so ein bemitleidenswerter, weil nur notdürftig integrierter, aufgrund seiner kulturellen Ungebrochenheit zudem noch von uns belächelter junger Osmanen-Nachfahre um die Ecke, vermutlich in Kleidung, deren Codierung wir nicht mehr zu erfassen in der Lage sind, rein altersbedingt alleine schon. Sein Haar wird teilblondiert sein und ansonsten so aussehen, als sei er gezwungen worden, unsere Kajagoogoo-Frisuren aus den Achtzigern aufzutragen.« Zumindest ich dachte dies.

Aber was staunten wir, als wir sahen, was das für ein Mensch war, der da mit einem, wie wir früher sagten, Gettoblaster um die Ecke bog. Es war ein eher bodenständig gekleideter Mann, irgendwo zwischen Mitte und Ende dreißig. Ein Typ, der – so schoss es, das sah ich, auch Stietenroth durch den Kopf – seinem Erscheinungsbild nach zu urteilen ohne Weiteres in unseren Kreisen hätte verkehren können. Da standen wir nun und guckten dümmer, als es Menschen unseres Typs guttut. Was hatten wir nicht schon alles erlebt: Liebgewonnene Musikgenres hatte man uns entrissen, alte Helden hatten sich zu schlimmen Schandtaten hinreißen lassen, Frauen, denen wir all unser Gold überschrieben und unsere besten Witze erzählt hatten, waren unserer überdrüssig geworden. Doch nichts vermochte unsere Welt je so sehr aus den Angeln zu heben wie dieser Mensch, bei dem Erscheinung und in rücksichtsloser Offenherzigkeit zur Schau gestellte Musik-Präferenz verstörend auseinanderklafften. Doch während ich noch mühevoll um Fassung rang und das soeben Erlebte in mein wankendes Gesellschaftsbild einzusortieren versuchte, hatte Stietenroth bereits die einzig mögliche Erklärung parat. »Klare Sache«, sagte er. »Der Typ hat eine Wette verloren.«

Ich glaube, mir ist schon länger nicht mehr so sehr klargemacht worden, dass sich seit meinem Ausstieg aus der Welt der Wetten die Zeiten offenbar massiv verändert haben. Besser: dass sich die Art des Wetteinsatzes geändert hat. Zu meiner aktiven Wettzeit pflegte man als höchsten Einsatz im Fall eines Wettverlusts das lange zermürbende Stehenlassen und spätere einwöchige Tragen eines Schnurrbartes anzubieten. »Wetten, dass es wohl stimmt, dass Angus Young kleiner als Kylie Minogue ist«, sagte beispielsweise einer, man hielt dagegen – und zack! – lief man mit Schnurrbart rum. Dass aber inzwischen das öffentliche lautstarke Hören erniedrigender Musik als Wetteinsatz benutzt wird, finde ich gut. Denn mit Bartträgerei ist heute niemand mehr zu quälen, da Gesichtsbehaarung längst dem Ruche des Uncoolen entrissen ist.

Kürzlich fragte mein Neffe, warum ich mir denn nicht auch mal so einen richtig schönen prallen Bart stehen ließe. Ich antwortete, dass ich Bärte nur dann schätzte, wenn sie der Zwangsläufigkeit eines langen Insel- oder Gefängnisaufenthalts geschuldet seien, ihnen also etwas Abgerungenes innewohne. Ansonsten fände ich Bärte doof, da ihnen oft ganz andere Sachen als Abgerungenes innewohne, zum Beispiel Sahnesoßenreste oder dem Kopf entrieselter Schorf oder Flusen eines über dem Kopf ausgezogenen Pullovers. Ein Bart, so sprach ich weiter, darf nicht Ergebnis einer modischen Überlegung sein, er müsse schon von Zwangsvernachlässigung in Edmond Dantès-haften Ausmaßen künden, so eine diffuse Toskana-Unrasiertheit gelte also nicht. Aber genau so eine Unrasiertheit trüge ich doch selbst im Gesicht spazieren, wand mein Neffe ein. Nein, das sei etwas ganz anderes, gab ich zur Antwort, und bis heute überlege ich angestrengt, worin dieser Unterschied denn nun genau besteht.