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Inhalt

Vorwort

Intro

Wie alles anfing

Die Trompete

In der Big Band

Orthodoxie und Offenheit

Im Studio

Leben

Ich bin deutsch

Der Markt

Begegnungen

Praxis

Eine Vision

Was man hören sollte

Diskografie

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Es war die erste Juliwoche, Sommerferien in Berlin, an den Ufern der Havel lagen die Menschen in der Sonne, auf dem Wasser kreuzten die Segelboote, und dass wir beide, Till Brönner und ich, uns nicht anstecken ließen von dieser milden Stimmung, dass wir entspannt, aber nur selten träge, schläfrig, faul wurden auf dem Wasser, lag wohl daran, dass es einiges zu erzählen gab.

Wir trafen uns jeden Morgen, gegen zehn, am Bootshafen am Pichelssee, wir machten das Boot los und fuhren havelabwärts, Richtung Süden. In der Lieper Bucht, in der Klaren Lanke vor der Insel Schwanenwerder oder vor der Pfaueninsel gingen wir vor Anker, stellten das Tonbandgerät auf den Tisch, und dann redeten wir, redeten bis zur Mittagspause, wenn die Fleischpflanzerln von der Biometzgerei in Nikolassee ausgepackt wurden. Wenn wir Glück hatten, kam der schwimmende Kiosk vorbei, brachte ein kaltes Bier, ein Eis zum Nachtisch, und nach der Mittagspause sprachen wir weiter, und so ging es, ohne dass es uns langweilig wurde, mehr als eine Woche lang.

Dass es ein paar Dinge gäbe, die wir miteinander zu besprechen hätten, das hatte sich schon ein paar Wochen vorher abgezeichnet, an einem schönen Sonntagnachmittag, in einem Lokal in Berlin-Mitte, wo wir uns trafen, um mit Worten gewissermaßen ein bisschen zu improvisieren, ein paar Themen anzuspielen und zu sehen, ob wir einen gemeinsamen Rhythmus fänden, einen Sound, der uns beiden gefiel. Till Brönner war wach und konzentriert, ich hatte noch am frühen Abend einen Kater, weil ich bis in den frühen Morgen hinein meinen Geburtstag gefeiert hatte, er sprach von der Musik, die er liebt, ich kam ein bisschen langsamer in Schwung, wir nannten die Namen, die Stücke, wir priesen Duke Ellington, schwärmten von Billy Strayhorn. »Kennst du ›Lush Life?‹«, fragte er.

»Na klar, vielleicht Strayhorns schönste Komposition.«

»Und der Text, so sophisticated: I used to visit all those very gay places ...«

»... those come-what-may places ...«

»... where one relaxes on the axis of the wheel of life ...«

»... to get the feel of life ...«

»... from Jazz and cocktails ...«

Als ich nach Hause kam, machte ich ein Bier auf, und dann suchte ich unter meinen liebsten Jazzplatten die heraus, über die wir beide auch noch unbedingt sprechen mussten. Es waren viele, es waren eigentlich alle.

Es war drei, vier Wochen vorher gewesen, Helge Malchow, der Verleger, hatte angerufen, und eigentlich wollte er nur einen Tipp von mir: ob ich jemanden wüsste, einen guten Schreiber, der was vom Jazz verstünde. Er habe Till Brönner kennengelernt, sehr interessanter Musiker, man wolle ein Buch zusammen machen, und dafür brauche es jetzt jemanden, einen Schreiber, ein Gegenüber, einen, der die Fragen stelle.

Ja, sagte ich, klar kenne ich potenzielle Autoren. Ich nannte ein paar Namen, und als wir fast schon wieder auflegen wollten, sagte ich: »Wenn keiner von denen Zeit hat, können wir ja noch mal telefonieren. Vielleicht wäre auch ich der Autor, den du suchst.«

»Wieso du? Was verstehst denn du vom Jazz?«

»Weiß nicht, ob ich so furchtbar viel davon verstehe. Ein Liebhaber bin ich jedenfalls. Und was Trompeter angeht, da hör ich schon den Unterschied zwischen Miles Davis und Chet Baker.«

»Warum schreibst du aber nie über Jazz?«

»Eben deshalb, weil ich ein Liebhaber bin, kein Prediger. Ein Fan, der gern mit anderen Fans über seine Leidenschaften spricht. Und wenn ich keine anderen Fans finde, hab ich immer noch meine Plattensammlung.«

»Und Till Brönner?«

»Als ›Blue Eyed Soul‹ herauskam, lief die Platte den ganzen Herbst lang, immer spätabends, bevor ich schlafen ging. Als ›Rio‹ erschien, dachte ich: Na so was, noch ein brasilianisches Album, gibt es davon nicht genug? Und dann habe ich die Platte immer wieder gehört. Und eine immer brasilianischere Laune davon bekommen.«

Wir haben viele Bänder aufgenommen, zwölf oder dreizehn, und natürlich hat uns diese Wasserlandschaft, dieser Fluss, der hier, zwischen Schwanenwerder und der Glienicker Brücke, zwischen Pfaueninsel, Sacrow und dem Großen Wannsee, einem schmalen, langen See gleicht, natürlich hat diese Landschaft uns inspiriert. Was ist das, Deutschland, wie kommt man, wenn man deutsch ist, in der Welt zurecht, in der Welt des Jazz zumal? Das war so eine Frage, auf die wir immer wieder zurückgekommen sind, und vermutlich half es und hellte unser beider Stimmung auf, dass um uns herum das sogenannte preußische Arkadien in der Hochsommersonne schimmerte. Ich erzählte, gleich am ersten Tag, von dem Freund, der im Sommer davor nach Sacrow gezogen war, mich eingeladen hatte in sein Haus am Wasser. Und als wir eine Bootstour machten, fragte er: »Ist das nicht schöner als der Starnberger See?«

»Es ist sehr schön, es ist viel schöner, als ich dachte«, habe ich damals geantwortet, »aber am Starnberger See ist es noch viel schöner als hier.« Als Bayer durfte ich gar nichts anderes sagen.

Ich erzählte aber auch, dass ich, wenn ich übers Wasser schaute, zu den Ufern hin, nicht bloß die Boote und die Sonnenbader sah, ich hatte, gewissermaßen, den Mythos vor Augen, ein paar der schönsten Bilder, die dem deutschen Kino je gelungen sind, »Menschen am Sonntag«, der achtzig Jahre zuvor hier gedreht worden war, dieser wunderbare Film, der, draußen am Wannseeufer mit Laien gedreht, damals so viel frische Luft ins stickige deutsche Kino gebracht hatte. Und, natürlich, »Unter den Brücken«, der Liebesfilm um zwei Flussschiffer und das Mädchen, das beide lieben; im Sommer 1944 auf der Havel und an ihren Ufern gedreht, während Berlin schon in Trümmer fiel, dieser Film, den Goebbels hasste und verbot, weil sich seine Befehle hier gegen ihren Urheber richteten: Der Krieg und die Nazis kamen, wie befohlen, nicht vor. Aber es sah nicht aus wie Eskapismus. Es sah aus wie die Forderung nach einem Deutschland ohne Nazis, ohne Krieg.

Einmal blieb der schwimmende Kiosk eine Weile in unserer Nähe, wir bekamen Bier zum Lunch, und danach bestellten wir uns noch Kaffee, und der Mann auf dem Boot erzählte uns, dass das nur sein Ferienjob sei, eigentlich spiele er in Filmen mit, in den Babelsberger Studios, zuletzt sei er bei den »Inglourious Basterds« dabei gewesen.

»Heute Abend ist Premiere«, sagte ich, »kommen Sie auch?«

»Ach nee, so groß war meine Rolle nicht.«

Einmal kam der Freund aus Sacrow in seinem schnittigen Boot vorbei, lud uns zu sich nach Hause ein, und dann gab es natürlich ein kleines Wettrennen. Als wir fast angekommen waren, merkten wir, es war Abend, wir mussten schnell zurück. Und immer hatten wir das Gefühl, dass, weil wir uns so entspannt über das Wasser bewegten, auch unsere Gedanken und Gespräche beweglicher waren, als wenn wir irgendwo an Land gesessen und unsere Bänder vollgesprochen hätten.

Und wenn wir meinten, wir hätten unser Pensum geschafft, haben wir noch eine CD eingelegt oder den iPod angeschlossen und einander ein paar Lieblingsstücke vorgespielt. Ich brachte eine selbst gebrannte CD mit meinen brasilianischen Geheimtipps mit. Und Till holte seine Trompete aus dem Koffer und improvisierte dazu. Das war Ruhestörung. Aber niemand auf den Booten, die um uns herumlagen, beschwerte sich.

Es war viel auf den Bändern, was nicht in dieses Buch hineingekommen ist, es war manchmal einfach nicht möglich, die reinen Fangespräche zu vermeiden. Kennst du die Platte soundso? Da spielt der und der so ein unfassbares Solo. Nein, kenn ich nicht, aber ich hör ’s mir an, und morgen bring ich dir was von dem und dem mit, das glaubst du nicht, dass der so spielen kann.

Aber alles andere, was wir gesprochen haben über Jazz, wie es geht, was es soll und warum es so eine großartige Musik ist, alles andere kommt auf den folgenden Seiten – auch wenn die Gedanken nicht immer in Stein gemeißelte Wahrheiten sind und nicht jede Geschichte auf eine Pointe hinausläuft.

Wir fanden, das muss so sein, wir sind überzeugt, dass wir damit auf der Höhe unseres Gegenstands sind – auf der Höhe einer Musik, deren Akkorde sich auch nicht immer auflösen in Harmonie und deren Blue Notes nicht genau in unsere Tonleitern passen.

Abschließende Wahrheiten passen nicht zum Jazz, es geht nur darum, dass es swingt.

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Gibt es das überhaupt, dass jemand Jazz nicht mag?

Jeder liebt Jazz. Es gibt aber Menschen, die wissen schon, dass sie Jazz-Liebhaber sind. Und es gibt Menschen, die haben es noch gar nicht gemerkt.

Es sind Menschen, die hören das Wort Jazz, und dann denken oder sagen sie: Jazz mag ich nicht. Zu anstrengend, zu intellektuell, zu unfroh. Sie denken vielleicht daran, wie sie irgendwann, spätnachts, auf einem abgelegenen Fernsehsender, die Aufzeichnung eines Jazzfestivals gesehen haben, ältere Herren, die endlose und, für Laien jedenfalls, völlig unverständliche Soli spielen. Sie denken an Nerds und Stubenhocker, die sich Jazzfans nennen und alles ablehnen, was leicht klingt oder womöglich sogar heiter, fröhlich, verständlich. Sie denken an hässliche Lokale, in denen Menschen in hässlicher Kleidung sitzen, und die Musik, die dort gespielt wird, empfinden sie als besonders hässlich.

Und dann spielst du ihnen etwas vor, und sie fragen: Das ist Jazz?

Ich nenne es Jazz. Ich kenne kein besseres Wort dafür.

Wenn das Jazz ist, dann liebe ich Jazz ...

Man kann Jazz also gar nicht nicht lieben

Wenn du dein Fenster offen lässt, und drinnen ist der Verstärker hochgedreht, und Ella Fitzgerald singt Cole-Porter-Songs, dann kann es sein, dass die Nachbarn klingeln: nicht, weil die Musik zu laut wäre. Sondern weil sie diese Platte auch haben wollen. Wenn du »Kind of Blue« auflegst, das schönste aller Miles-Davis-Alben, oder Chet Baker, wie er Trompete spielt und singt; wenn du deiner Freundin oder deinem Freund ein Video zeigst – Sinatra singt, und dann kommen Dean Martin und Sammy Davis jr. dazu, singen mit, machen ein paar Scherze, singen weiter, und ihre Smokings stehen ihnen gut –, dann wird das jeder lieben, der nicht total unmusikalisch ist.

Aber Jazz, werden sie fragen: Ist das wirklich Jazz?

Wenn man Träume aufzeichnen könnte oder die romantischen Vorstellungen davon, wie eine regnerische Nacht klingt, ein einsamer Drink oder die Hoffnung auf ein Lächeln: Dann würde man eine Trompete und ein Saxofon hören, und im Hintergrund spielte ein Klavier.

Und trotzdem denken so viele, wenn sie das Wort Jazz hören: Jazz nervt!

Sie denken nicht an Jazz, sie denken an Lehrer in Cordhosen, an verschwörerisch grinsende Kiffer oder an altkluge Streber, sie denken an Menschen, denen man schon aus hundert Metern Entfernung ansieht, dass man deren Musikgeschmack nicht teilen mag. Sie denken, Jazz sei so kompliziert wie eine Matheklausur und so sinnlich wie eine Lesebrille. Sie denken, Jazz sei eine geschlossene Veranstaltung, und sie sind noch nicht mal traurig darüber, dass sie nicht eingeladen sind.

Man muss den Menschen also sagen, was Jazz wirklich ist

Man muss Jazz spielen, vom Jazz erzählen, die richtigen Platten auflegen und die Leute in die richtigen Konzerte schicken. Man kann gar nicht laut, deutlich und oft genug sagen, dass Jazz zwar manchmal hoch kompliziert und anspruchsvoll sein kann – je mehr einer versteht davon, desto mehr wird er hören. Und umgekehrt.

Vor allem ist Jazz aber ein Vergnügen.

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Als Jazzfan wird man ja nicht geboren

Es kann allerdings sehr früh anfangen. Meine Eltern waren nicht das, was man Jazzfans nennen würde. Sie hatten eine ganz bescheidene Schallplattensammlung, das meiste war Klassik. Sie waren einfach musikalische Menschen, sie haben Radio gehört, und vielleicht war es, ohne dass ich damals schon einen Plan gemacht hätte, das, warum ich Trompeter geworden bin: Wenn Louis Armstrong im Radio kam, hat mein Vater das Gerät sofort lauter eingestellt. Er liebte Louis Armstrong, und ich liebte ihn auch. Der erste Jazz, an den ich mich erinnern kann, war Louis Armstrong. Er war der erste Jazzmusiker, den ich beim Namen kannte. Der erste, den ich am Klang seiner Trompete und natürlich an seiner Stimme sofort erkannte.

Ein Glück, wenn einer musikalische Eltern hat

Der Musikgeschmack meiner Eltern hatte seine Wurzeln noch in den Fünfzigerjahren. Meine Mutter fand Gilbert Becaud schon sehr modern. Die Beatles, die mochte sie auch, aber was dann nach 1968 kam, Männer mit Gitarren und langen Haaren, das mochten sie beide nicht. Mein Vater hat gemäßigte Musik gehört. Im Radio, sonntagmorgens, kam eigentlich immer klassische Mu sik, etwas Jazziges zwischendurch. Im WDR gab es eine Sendung, die hieß »Swing und Balladen«, die hat mein Vater fast immer gehört. Und ich habe fast immer mitgehört.

Die erste Platte

Es gab eine Platte, die liebte mein Vater heiß und innig. Sie war von André Previn, den heute die meisten nur als den Exmann von Anne-Sophie Mutter kennen und die meisten anderen als klassischen Pianisten und Dirigenten. Aber Previn hat als Jazzmusiker angefangen, und mein Vater hatte eine Platte von ihm, da gefiel mir schon das Cover extrem gut. Ein Frauengesicht, eine Blondine, die so herausfordernd schaut, dass auch der Weichzeichner diese Provokation kaum mildern konnte. Und in großen Buchstaben steht da: »Soft and Swinging«. Es war mehr Easy Listening als Jazz, aber immer noch Jazz genug, Previns Piano, mal mit Trio, mal mit Orchester; die Platte ist verloren gegangen, aber das Cover habe ich noch genau vor Augen, und die Songs, glaube ich, waren einfach und heiter, »I Can’t Give You Anything But Love«, oder »On the sunny Side of the Street«.

Mein Vater hat diese Platte gehütet wie nichts anderes, und diese Wertschätzung habe ich dann von ihm gelernt. Diese Platte rief ein Gefühl hervor, ein starkes Gefühl – von heute aus betrachtet, ist es vielleicht gar nicht so interessant, dieses Gefühl zu beschreiben. Wichtiger war das: zu lernen, wie stark die Gefühle sind, die die Musik hervorrufen kann. Zu lernen, dass die Musik etwas mit einem macht. Darum geht es eigentlich immer.

Und der Look, das Versprechen, welches das Plattencover formuliert, gehört dazu

Es ist seltsam, weil mir einerseits so viele Posen zuwider sind. Aber andererseits: Das war schon sehr verführerisch für mich, wenn im Fernsehen eine Big Band kam. James Last, Horst Jankowski, ich bin mir nicht sicher, ob vielleicht meine Begeisterung fürs Aussehen schon vor meiner Begeisterung für die Musik da war. Ich liebte Uniformen, ich konnte mich in Italien, wo die Uniformen besonders elegant sind, kaum sattsehen daran, aber die beste Uniform, das fand ich schon als kleiner Junge, das waren die Smokings der Musiker in den Big Bands. So, fand ich, müssen Männer aussehen, solche Frisuren, solche Koteletten, schöne, breite Koteletten, und dazu Smoking tragen. Ein schwarzer Smoking, manchmal auch ein weißer, dazu das Gold der Instrumente: Ich glaube, ich war von diesem Anblick schon hingerissen, bevor ich anfing, genauer auf die Musik zu achten.

Die Musik der Big Bands, das war ja nicht gerade auf der Höhe der Zeit

Einmal, ich war elf oder zwölf, kam mitten in der Nacht, so kam es mir jedenfalls vor, ich schlief längst, mein Vater in mein Zimmer und zerrte mich richtig heraus aus dem Bett.

Du musst kommen, schnell, komm sofort, sagte er, und er setzte mich vor den Fernseher, wo die Sendung »Bio’s Bahnhof« lief. Ich sah, wie Alfred Biolek dastand und lachte, ich schaute hinein in den Schwarz-Weiß-Fernseher, den wir damals noch hatten, und sah diesen Typen im Kaftan, mit Backen, aufgeblasen wie ein Frosch, die Trompete war hochgebogen. Ich sah also, wie Dizzy Gillespie spielte, der unglaubliche Dizzy Gillespie spielte »A Night in Tunisia«, das war ein ganz unglaublicher Moment. Ich war natürlich nicht richtig wach, es war, als ob mir Dizzy Gillespie im Traum erschienen wäre.

Und dazu spielte die Big Band von Peter Herbolzheimer, »Peter Herbolzheimer Rhythm Combination & Brass«, deren große Zeit war noch gar nicht vorbei. Es war ihre große Zeit, niemand brachte in diese Sendung seine eigene Band, sein Orchester mit, die größten Stars spielten oder sangen mit Herbolzheimers Big Band. Ich weiß noch, wie Sammy Davis jr. in »Bio’s Bahnhof« aufgetreten ist, er sang erst »New York, New York«, dann plauderte er extrem entspannt mit Biolek, und dann sang er »The Lady is a Tramp«, war fertig, wurde vom Publikum angefeuert und sang noch eine Strophe. Und am Schluss setzte er sich ans Schlagzeug und spielte mit der Band, und alle hatten unglaublich gute Laune. Das, diese unglaubliche Stimmung, dieser Sound, den ich gar nicht als unzeitgemäß empfand, das war, was ich mir unter einer Big Band vorstellte.

Das Radio und das Fernsehen als Erzieher

Bevor ich anfing mit der Trompete, hatte ich schon begonnen, mir das Klavierspielen selber beizubringen. Meine Mutter hatte ein schönes Schimmel-Klavier mit in die Ehe gebracht, ein sensationell schönes Instrument aus den Fünfzigerjahren, auf dem habe ich mir das Klavierspielen selber beigebracht. Unterricht wollte ich nicht, klassische Klaviermusik interessierte mich nicht, ich war ein besessener Verehrer von Oscar Peterson.

Ein Kind, das Oscar Peterson sein will

Das Kind fängt natürlich an, auf dem Klavier herumzuhauen, weil das Klavier eben da ist. Und weil jeder da einen Ton herausbekommt. Du haust auf eine Taste, die bewegt einen kleinen Hammer, der auf eine Seite schlägt. Und wenn das Klavier nicht verstimmt ist, kommt da ein schöner, reiner Ton heraus. Das ist der wesentliche Unterschied zu den Blechblasinstrumenten. Aus denen kommt nur heraus, was du hineinbläst. Das ist das reine Glück, so ein Klavier, wenn dich niemand in die Klavierstunde prügelt.

Wie man sich selber das Klavierspielen beibringt

Zum Glück hat mich eben niemand in den Klavierunterricht gezwungen, ich lernte ja schon ein Instrument auf die orthodoxe Art – erst Blockflöte, dann Trompete. Das gab mir die Freiheit, auf dem Klavier zu tun, was ich wollte. Ich kann bis heute nicht richtig Klavier nach Noten spielen. Ich kann die Noten für die Melodie lesen, ich weiß, wie man mit der linken Hand Akkorde dazu greift, das ist es aber auch. Ich wollte Vergnügen haben auf dem Klavier, und mein Vergnügen sah so aus: Neben meinem Bett stand mein Radiorekorder, auf dem sollte ich mir zum Einschlafen irgendwelche Geschichten anhören. Ich nahm aber lieber die Jazz-Sendungen im Radio auf, und dann hatte ich »Night Train« von Oscar Peterson auf der Kassette, ein herrlich swingender Blues. Ich habe das Gerät aufs Klavier gestellt und kleine Passagen, immer nur ein paar Takte, so oft nachzuspielen versucht, bis es endlich ging. Bis ich es konnte.

Man muss die großen Meister kopieren, wenn man etwas lernen will

Ich verstehe bis heute nicht, dass meine Mutter nicht wahnsinnig geworden ist davon. Acht Takte, manchmal nur vier Takte, abgespielt auf dem Rekorder, dann nachzuspielen versucht, dann wieder das Band zurückgespult, hundert Mal vielleicht, nur nach Gehör. Und als ich die Passage dann einigermaßen konnte, war ich so stolz, dass ich sie in jedes Stück eingebaut habe, das ich sonst noch gespielt habe. Und so ist es weitergegangen: Ich hatte Lieblingstonarten, b zum Beispiel, dann habe ich zwei Wochen lang nur in b gespielt. Und die nächsten zwei Wochen in G, auch eine schöne Tonart. Und ich entdeckte, dass man auf so einem Schimmel-Klavier einen schönen Boogie-Woogie-Sound spielen kann, dass man Klänge so hinbekommt, dass du fast schon den Mississippi im Hintergrund rauschen hörst.

Und jeden Abend, von halb acht bis acht Uhr, saß ich wieder vor dem Radio, hörte die »Jazz Time« im Südwestfunk, nahm neue Stücke auf, ich habe an diesem Radio gehangen und war süchtig nach der Sendung; keiner durfte mich stören. Manche Aufnahmen habe ich heute noch, eine, vielleicht meine liebste, die ich heute natürlich auch als CD habe: der wunderbare Tenorsaxofonist Ben Webster mit Harry »Sweets« Edison, einem Swing-Trompeter, der nie so berühmt wurde wie Dizzy Gillespie, Miles Davis oder Chet Baker und der doch viele beeinflusst hat, links und rechts von ihm. »A Taste on the Place« heißt das Stück, das mit Websters warmem Tenorsaxofon beginnt. Und dann kommt Harry »Sweets« Edison und spielt sein Trompetensolo, das so einfach ist, so klar – ich kann es heute noch auswendig, ich spiele es oft meinen Studenten vor und fordere sie auf, es sich herauszuhören von der Platte, weil in dieser Einfachheit alles drin ist.

Eigentlich ein Big-Band-Musiker

Natürlich verehrt man als Trompeter die Star-Trompeter, die Frontmänner, die Typen aus der ersten Reihe, Louis Armstrong, Miles Davis, Dizzy Gillespie. Aber ich habe immer Herzklopfen bekommen, wenn so einer wie Harry »Sweets« Edison, der brav in der Big Band sitzt, nicht weiter auffällt und mit den anderen aus dem Bläsersatz zusammenspielt, wenn so einer dann aufsteht, sein Solo spielt, vielleicht nur acht Takte, aber acht Takte wie ein junger Gott. Und dann setzt er sich wieder hin und ordnet sich der Band unter.

Nach den Big Bands kam die Revolution

Ich war vielleicht zehn oder elf, ich spielte schon Trompete, in der Big Band der Schule, und nach der Probe hat mich manchmal Dietmar, der Bassist, in seinem Auto ein Stück mitgenommen, bis zur Bushaltestelle, zu der es ganz schön weit war. Dietmar hatte einen blauen Renault, einen Kastenwagen, damit er seinen Kontrabass transportieren konnte, er hatte lange Haare, hat Selbstgedrehte geraucht, er sah aus, als ob er direkt aus Woodstock käme, aber er stand auf Jazz.

Ich kam aus der Probe, er sagte: Steig ein! Er drehte den Zündschlüssel um, und die Musik ging los. Ich war müde von der Probe und zugleich in einer Art Glenn-Miller-Fieber, weil wir so etwas gerade geprobt hatten. Und mein erster Gedanke war: Das geht doch nicht, so kann man doch nicht spielen, das kann man doch nicht machen.

Ich höre das schon eine Weile, sagte Dietmar, ist echt coole Musik, nicht leicht zu spielen, aber wirklich cool. Charlie Parker.

Und dann sind wir erst mal nicht zur Bushaltestelle gefahren, sondern saßen im Auto auf dem Schulhof, eine Viertelstunde oder länger, und ich konnte es nicht fassen. Ungefähr vierzig Jahre nach der Erfindung des Bebop, so ums Jahr 1981, 1982 herum, hatte diese Musik immer noch genügend Kraft, mich erst mal sehr grundsätzlich zu verstören.

Das war doppelt so schnell wie der Swing, den ich kannte, es war doppelt so komplex, es ließ mich nicht mehr los. Es klang wahnsinnig, frech, es klang irgendwie unanständig. Es war mein erstes Mal, unvergesslich und so eindrucksvoll wie die erste sexuelle Erfahrung. Ich weiß heute noch, an welcher Stelle des Schulhofs das Auto stand, in dem ich, staunend und sprachlos, zum ersten Mal Charlie Parker hörte.

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