Aufs Land hinaus.

Die Turnachkinder im Sommer

Das frühe Morgenlicht schien in die kleine Stube, in der Hans schlief. Er träumte von einem Kampf im Schulhofe; aber wie es im Traume so geht, die Schulbuben verwandelten sich unversehens in wilde Krieger, die mit Schwertern aufeinander losgingen. Bum, bum –! wie das tönte, wenn sie auf die Schilder schlugen! ... Hans fuhr in die Höhe und öffnete die Augen. Es dröhnte immer noch fort, ein ganz gewaltiges Hämmern und Klopfen. Nein, das waren gar nicht Schilde, auf die man schlug – das waren die Kisten, die man drunten zuhämmerte, und die Bettladen, die man auseinanderklopfte! Heute war ja ausser Weihnacht der allerschönste Tag des Jahres! Heut zog man aufs Land in die liebe Seeweid hinaus!

Hans sprang aus dem Bett zum Fenster.

»Hurra, hurra!« schrie er in den Hof hinunter; der Hausknecht Ulrich mit dem Hammer in der Hand sah auf.

»Hurra, Hansel!« antwortete er. Und da ihm zu allem immer gleich ein Gesang einfiel, begann er mit seiner Basstimme das Wanderlied zu singen:

»Kamerad, ich nehm' den Stab zur Hand
Und sag' dir heut ade ...«

Nur hätte Ulrich eigentlich umgekehrt singen müssen; denn er blieb den Sommer über in der Stadt im Geschäft, wo er seine Arbeit hatte.

Als Hans angezogen war, sprang er die Treppe hinunter und auf eine Türe zu, an der er einen Augenblick horchte.

»Die schlafen natürlich noch wie die Ratten!« dachte er und legte die Hände als Trompete an den Mund:

»Tütütüh – tütütüh –!« blies er aus aalten Kräften, und um sicher zu sein, dass sein Morgenruf gut gewirkt habe, machte er die Türe auf.

Da lagen die beiden Schwestern, die fast neunjährige Marianne und das siebenjährige Lotti, unter ihren Decken am Boden. Die Bettstellen hatte Ulrich schon gestern abend herausgetragen, und die Kinder hatten bloss ihre Matratzen gehabt. Das war ein Vergnügen gewesen! Sie hatten lange mit dem kleinen Werner um die Bettstücke herumgetanzt und ihre Matratzen in diese und dann in jene Ecke gezogen, um zu sehen, wo es am schönsten zu schlafen sei, bis Sophie gekommen war und sie ein wenig gescholten hatte.

Jetzt sahen sie beide ganz verschlafen auf Hans.

»Ach du! warum weckst du einen auf mit deinem dummen Tütütüh!« sagte Marianne und legte ihren Kopf mit den blonden, wirren Zöpfen wieder aufs Kissen.

»Das ist gar nicht dumm«, erwiderte Hans. »Ihr solltet froh sein, dass ich euch wecke! Ihr denkt wohl gar nicht, was heute für ein Tag ist –?«

Aber Lotti hatte schon ihre Füsse draussen und zog eilig die Strümpfe an.

»Marianne, Marianne! in der Nacht hab' ich's ganz vergessen! wir ziehen ja heut in die Seeweid hinaus –! Geschwind, Marianne! wir müssen unsere Puppen zur Reise richten!«

»Euere Puppen könnt ihr noch lange richten«, sagte Hans. »Zuerst kommt etwas Wichtigeres: wir müssen den Abschiedsumzug halten; er wird sehr schön; ich hab' mir's gestern ausgedacht. In einer Viertelstunde solltet ihr im Hof sein.«

Die Schwestern klatschten in die Hände.

»Ja, ja, in einer Viertelstunde!«

»Den Werner lasst aber lieber noch schlafen«, meinte Hans; »er hält uns nur auf.«

Doch kaum hatte Hans die Türe zugemacht, als der kleine Werner in seinem Bettchen, das man ihm gelassen, sich aufstellte und über das hohe Gitter hinausrief: »Auch aufstehen, auch aufstehen!«

»Ach, Werner, schlaf du noch ein wenig!« sagten Marianne und Lotti zugleich; denn sie waren so eilig.

Aber Werner wollte nicht mehr schlafen. Er versuchte, mit seinen dicken Beinchen über das Gitter weg zu klettern; da musste Marianne doch hinzuspringen. Werner hätte fallen können. Und wie er sie nun um den Hals fasste, brachte sie ihn nicht mehr los; er war so ein herziger Bub und konnte so nett betteln. Weder Mama noch Sophie waren da, um zu helfen; so mussten denn Marianne und Lotti abwechselnd sich selbst anziehen und den kleinen Werner. Sie wuschen ihn auch, und er schrieb gehörig, gerade wie alle Morgen bei Sophie; also hatten sie es recht gemacht.

Nun waren die drei fertig und suchten Hans im Hofe. Hans stand unter dem Vordach, wo in einer Ecke Moos und Tannenreiser lagen. Man hatte das vor acht Tagen gebraucht, um die Stubentüre zu bekränzen, als Papa von der Reise zurückgekommen war. Hans hatte ein paar lange Stäbe vor sich und war eifrig daran, sie mit dem Grün und mit roten Papierstreifen zu verzieren.

»Endlich!« sagte er, als die Mädchen unter der Hoftür erschienen. »Bei euch hat eine Viertelstunde scheint's dreissig Minuten. Und den Werner bringt ihr auch mit –!«

Doch als der kleine Bub auf ihn zulief und bat: »Mir auch einen Stock geben – bitte, bitte!« da strich ihm der grosse Bruder über den Kopf und sagte freundlich: »Ja, ja, Werner bekommt einen Stock.«

Und nun kam noch der Schnauzel, der Hund, auf Hans zu und wedelte stark mit dem Schwanz, als wollte er sagen: »Mir auch, mir auch!«

Da lachten die Kinder, und Marianne steckte dem Schnauzel einen grünen Zweig in das Halsband.

»Wenn der wüsste, dass er dableiben muss, wär' er nicht so vergnügt«, sagte sie.

Es war ein wenig ärgerlich, dass nun mitten in die Zurüstung hinein Sophie zum Frühstück rief. Aber in der Stube ging's auch lustig zu, recht drunter und drüber. Fast alle Dinge waren schon eingepackt; Löffel fanden sich nur noch zwei, und Marianne und Lotti hatten zusammen ein Milchschüsselchen. Jedes trank immer einen Schluck; sie lachten und stiessen sich, so dass die Milch fast verschüttet wurde. Hans machte dem Werner grosse Brocken, dass es aufspritzte, und erzählte, das seien Meerschiffe, die im Sturm versinken. Mama und das Kindermädchen Sophie gingen nur hie und da eilig durchs Zimmer und trugen Wäsche und Körbe hinaus. Solche Unordnung im Hause dünkte die Kinder wunderschön.

Aber nun ging es wieder in den Hof, wo der Abschiedsumzug geordnet wurde. Jedes der Kinder erhielt einen grünen Stab und steckte sich in den Gürtel, oder wo es anging, kleine Tannzweige. Hans stellte sich voran; hinter ihm kam Marianne, dann Lotti und Werner; der Schnauzel machte den Beschluss.

Erst schritt man dreimal im Hof herum; Hans sprach das Gedicht, das er gemacht hatte und in das Marianne und Lotti bald auch einstimmten; nur der kleine Werner sagte alles verkehrt. Hansens Gedicht hiess:

Ade, ade, du altes Haus!
Nun geht es bald zum Tor hinaus.
Wir ziehn heut in die Seeweid ein;
Dort wird's im Sommer herrlich sein.
Wir kommen wieder mit dem Schnee;
Du altes Haus, ade, ade!

Dann ging es die Treppe hinauf und vor Papas Bureau. Sonst hatte es Papa nicht gern, wenn man so zu viert oder fünft kam; aber heute klopfte Hans frisch an und machte auf. Man musste doch dem Bureau Lebewohl sagen. Der Herr Oberauer und der Herr Frei sassen schon an ihrem Schreibpult und sahen erstaunt auf die grün geschmückte Schar. Papa kam aus der innern Stube:

»Was gibt's denn jetzt?«

Da machten alle vier Kinder eine tiefe Verbeugung; nur der Schnauzel konnte das nicht. Papa lachte, und die Herren lachten mit. »Papa, Papa,« riefen Marianne und Lotti, »wir können ein Gedicht! Hans hat es selbst gemacht!«

Sie sagten alle miteinander das Abschiedslied auf, und da Werner immer mithelfen wollte und man ihn korrigieren musste, entstand ein ganzer Tumult. Aber da nahm Papa die Türe in die Hand. »Schön, Hans, schön! doch jetzt macht, dass ihr weiterkommt!«

Vom Bureau ging's hinauf in die Küche. Balbine, die Geschirr in einen Korb packte, fand Hansens Gedicht auch sehr hübsch; aber die war froh, als die Kinder aus all den Tellern und Töpfen wieder draussen waren.

Aus dem hintern Schlafzimmer kam grade Sophie.

»Bitte, Sophie«, sagten die Kinder, »dürfen wir zum Schwesterlein hinein? Es muss doch auch wissen, dass man heute aufs Land zieht!«

»Was euch immer einfällt –! Meinetwegen! Aber leis und manierlich!« Sie liess die grüne Schar ins Zimmer ein. Das Schwesterlein lag in seinem Korbwagen. Es hiess eigentlich Hedwig; aber das galt erst für später. Es war gerade zehn Wochen alt und noch ganz winzig. Man konnte nicht mit ihm spielen; doch die Kinder liebten es sehr, und Marianne durfte es manchmal, wenn es im Kissen lag, auf den Schoss nehmen.

Jetzt sah das Schwesterlein mit grossen Augen auf die Geschwister, und als sie ihm, so leis sie konnten, ihr Abschiedslied aufsagten, da blinzelte es ein wenig.

»Es lacht, es lacht!« riefen die Kinder, und jedes behauptete: »Mich hat es angelacht, mich –!«

»Ja, ja, es hat euch alle angelacht«, sagte Sophie; »aber jetzt lasst mir mein Kleines in Ruhe!«

Droben im dritten Stockwerk waren schon die Läden zugemacht; im grossen Zimmer standen Sofa und Klavier mit grauen Tüchern verhängt; es war ganz dunkel. Werner fasste Mariannes Hand und drückte den Kopf an ihre Schürze.

»Wenn er sich da schon fürchtet, so kann man ihn nicht mit in die Holzkammer nehmen«, sagte Hans. »Werner, setz' dich unten auf die Treppe! Wir müssen nun hinauf und bis auf die Zinne.«

»Werner auch auf die Zinne!« rief der kleine Bub. Aber es war wirklich besser, dass er unten blieb. Dir oberste Treppe war steil wie eine Leiter und hatte schrecklich hohe Stufen.

Doch prächtig war's da droben. Man konnte über den Kornplatz wegsehen und über die ganze Stadt und ihr Lebewohl zurufen. Die Kinder jauchzten und schwenkten ihre grünen Stäbe. Die Frühlingssonne schien über die Dächer; an den hohen grauen Münstertürmen vorbei sah man den hellen See, und weit, weit draussen, wo die Pappeln standen, war die Seeweid!

Plötzlich deutete Marianne auf den Kornplatz hinunter, der am Flusse lag.

»Hans, Lotti!« rief sie, »das Schiff, das Schiff –!«

Und nun stürmten sie hintereinander alle Treppen hinunter und zur Haustüre hinaus über den Kornplatz. Hans und der Schnauzel waren die ersten.

Da fuhr das Schiff heran. Es war ein grosses, breites Fahrzeug mit ganz flachem Boden. Drei Schiffleute lenkten es mit langen Stachelstangen und hielten an, wo die steinernen Stufen zum Kornplatz hinaufführten. Die Männer banden das Schiff mit festen Stricken an die Pfähle und schritten dann über den Platz dem Turnachhause zu. Denn sie waren bestellt, um die Möbel, Betten, Kisten und Körbe zu holen und auf dem Schiffe in die Seeweid hinauszuführen.

Die Kinder liefen hinter den Männern drein und klatschten in die Hände. Im Hause ging es nun mit grossem Gepolter und Rufen treppab und treppauf. Die Kinder wollten auch helfen und trugen Stühle und leichtere Sachen auf das Schiff; denn es war prachtvoll da auf- und abzugehen wie auf einer Insel!

Aber Mama mahnte die Kinder, ihre eigenen Sachen zusammenzuholen und das, was zurückblieb, aufzuräumen. »Den Werner nehmt ihr auch dazu, Hans. Der kleine Bursche ist ganz betrübt.«

Werner stand im Korridor und sah zu, wie alle Leute an ihm vorbei die Treppe hinunter liefen. Hinaus durfte er leider nicht; es war zu gefährlich für ihn auf dem Schiff, das gar keine Seitenwände hatte. Nun war er sehr glücklich, als Hans ihn rief.

Die beiden trugen alles mögliche heraus, die Baukasten auch und einen ganzen Stoss Bücher.

»Und mein Pferd, Hans! Mein Pferd auch mit,« schrie Werner eifrig und zog seinen Braunen am Kopf daher.

Aber Balbine schlug die Hände zusammen, als sie das Zeug sah.

»Du liebe Güte, Buben, all den Kram! Ihr wollt euch wohl ein besonderes Schiff mieten?«

Mama kam auch heraus: »Nein, Hans, das tragt nur wieder weg. In der Seeweid draussen gibt es Spiel und Unterhaltung genug –! Den kleinen Baukasten für Werner, die Malschachtel und meinetwegen drei oder vier Bücher. Aber nicht den dicken Lederstrumpf; den kannst du ja auswendig! Und mein kleiner Wernermann – wozu denn das hölzerne Pferd, wo draussen die lebendigen Kaninchen sind Und die Hühner und Kühe und vielleicht ein Kälbchen –?«

»Vielleicht ein Kälbchen –!« rief Werner erwartungsvoll und führte seinen Braunen wieder in den Stall hinterm Ofen. Auch Hans gehorchte. Dann ging er zu den Mädchen hinüber, die unter ihren Puppen hantierten.

»Wenn ihr meint, dass ihr das alles mitnehmen dürft!« sagte er und steckte die Hände in die Hosentaschen.

Lotti drückte zärtlich ihre drei Kinder in die Arme, und Marianne lief zu Mama; aber da liess sich nicht viel machen.

»Jedes nimmt eine Puppe mit«, entschied Mama, »und Mariannes Wagen genügt; in dem können die beiden Kinder den Sommer über auch schlafen. Ihr wisst, dass wir in der Seeweid nicht so viel Platz haben.«

»Aber unsere Badepüppchen doch, Mama, unsere Badepüppchen?« riefen die beiden Mädchen, und Hans stimmte ein; denn sie hatten sich zusammen ausgedacht, draussen aus Schindeln eine kleine Badanstalt in den See zu bauen. Die fünf Porzellanpuppen, nicht viel länger als ein Finger, schon in roten und blauen Schwimmanzügen, die Marianne selbst gemacht hatte, durften noch in den Puppenwagen gelegt werden. Lotti besann sich lange vor ihren Kindern; endlich wählte sie das Julchen mit dem braunen Zopf, und Marianne nahm Ella, welche die Augen auf- und zumachte. Die Puppenkinder bekamen ihre Hüte und Kragen, damit sie sich auf der Reise nicht erkälteten, und wurden ermahnt, den zurückbleibenden Schwesterchen artig Adieu zu sagen.

Da fiel Sophie noch etwas ein: »Weisst du, Marianne, ihr könntet alle unsaubere Puppenwäsche zusammensuchen und in dieses kleine Tuch binden. Dann haltet ihr einmal am See eine ordentliche Wäsche.«

Marianne und Lotti fanden das sehr nett; sie durchmusterten ihr sämtliches Zeug und zogen das Puppenbettchen ab; es gab ein ganz tüchtiges Bündel, das Lotti dann zum Schiff trug.

Vom Münster läutete es jetzt elf Uhr, und gleich darauf kam der Bäckerbursche mit zwei riesengrossen flachen Brotkuchen auf runden Holzbrettern. Der eine war reichlich mit kleinen Speckwürfeln und Kümmel bestreut; auf dem andern lagen dicht geschichtet Apfelstücke mit Zucker und Zimmet darüber. Die beiden Kuchen dufteten herrlich durch die ganze Wohnung.

Und nun gab es das allerseltsamste Mittagessen vom ganzen Jahr. Kein Tischtuch, keine Bestecke, bloss ein paar Teller und ein Messer. Die Grossen setzten sich auch nicht einmal recht hin; die Kleinen aber taten es mit vielem Behagen. Zuerst bekam jedes Kind ein grosses Stück Speckkuchen. Lotti dachte, als sie das ihre mit beiden Händen hielt, sie hätte bis am Abend daran zu essen. Aber es ging sehr leicht und rasch; auch mit dem Apfelkuchen. Hans und Marianne meinten, sie könnten eigentlich ganz gut noch ein drittes Stück essen; doch sie wollten nicht darum bitten; denn Mama mochte nicht, dass man unmässig war.

»Wenn Mama uns jetzt nur das eine erlaubt!« sagten sie und berieten am Fenster.

»Das letzte Mal haben wir nicht mitdürfen,« sagte Marianne etwas kleinmütig.

»Da hat es geregnet, und der See hatte starke Wellen!« erklärte Hans.

»Und das vorletzte Mal –?« fragte Lotti.

»O, da hatte ich Halsweh, und ihr wart noch zu klein! Nein, diesmal dürfen wir sicher. Es wäre schrecklich, wenn wir nicht dürften!«

Und wirklich, Mama erlaubte es.

»Ja, Kinder, ihr dürft auf dem Schiff mitfahren. Werner natürlich nicht; der kommt mit mir und mit dem Schwesterlein in der Droschke nach. Versprecht mir nur, dass ihr vernünftig sein wollt und still sitzt. Hans, du weisst, du hast nicht zu helfen und keine Stange und kein Ruder anzurühren. Die Schiffleute werden schon allein fertig!«

Die Kinder versprachen alles Gute und liefen jubelnd zum Schiff hinunter, um sich jetzt schon die Plätze auszusuchen. Der Herr Nachbar stand eben unter der Türe seiner Apotheke.

»Herr Lorez, wir dürfen mitfahren!« Die Kinder sprangen auf ihn zu, um Lebewohl zu sagen.

»Nun denn, gut Glück, ihr Meerfahrer!« sagte Herr Lorez lachend und gab ihnen als Reisestärkung eine kleine Schachtel Malzbonbons mit.

Endlich kam am Nachmittag der grosse Augenblick der Abfahrt.

»Nun ist alles beisammen«, sagten die Männer und machten sich daran, die dicken Seile zu lösen. Marianne und Lotti setzten sich vorn auf einen Schemel, jede ihre Puppe im Arm. Sie waren so vergnügt, dass sie die Füsse gar nicht stillhalten konnten. Hans sass hinter ihnen auf einer Kommode. Auf der Ufermauer standen eine Reihe grosser und kleiner Buben.

»Ade, ade! wir möchten auch mit!« schrien sie, und Hans schwenkte grüssend seine Fahne zum Hause zurück, wo Mama mit Werner herauswinkte und Papa mit den Herren des Bureaus unterm Fenster stand. Von Ulrich und vom Schnauzel hatte man schon vorher Abschied genommen.

Das Schiff fing an sich zu bewegen. Klatschend schlug das Wasser an den Holzboden. Mit aller Kraft stiessen die Männer ihre Stachelstangen in den Grund; denn sie mussten das schwere Fahrzeug gegen die starke Strömung flussaufwärts bringen.

»Wenn es uns nur nicht an die Pfähle hinunter nimmt!« sagte einer. »Das Wasser ist gehörig gewachsen, seit in den Bergen der Schnee schmilzt.«

Hans sah gespannt zu. Wenn es etwas gäbe, dann, dachte er bei sich, müsste er doch am Ende helfen. Mama konnte noch hinuntersehen und würde ihm vielleicht zunicken.

Aber das Schiff fuhr nun ruhig dahin und der Brücke zu, unter deren dunkelm Bogen die Männer durchlenkten.

»Jetzt gehen die Leute und die Wagen über unsere Köpfe, und wir spüren es gar nicht!« lachte Lotti.

Da wurde es plötzlich frei und weit und sonnig. Der ganze See lag vor den Augen der Kinder. das Wasser wurde tiefer. Vorher hatte man durch die grünlich klaren Wellen alle Steine des Grundes und die seltsamen langen Wasserpflanzen gesehen, die sich flussabwärts schlängelten. Nun verschwand der Boden und man sah in eine bläuliche Tiefe. Die Schiffleute hatten ihre Stachelstangen mit den Rudern vertauscht, und es ging vorbei an den letzten Häusern der Stadt und zu den ersten Landhäusern, die mit ihren kleinen Buchten und den alten überhängenden Bäumen traulich im Sonnenschein da lagen.

»Aber unsere Seeweid ist doch am allerschönsten!« erklärte Marianne.

Auf einmal hörten die Kinder hinter sich ein gewaltiges Rauschen und Stampfen; Hans von seinem erhöhten Sitze aus konnte am besten zurücksehen.

»Es ist ein Dampfschiff!« rief er. »Es ist der Neptun! Der gibt die schönsten Wellen. Das ist der nette Steuermann mit dem roten Bart – Marianne, Lotti – winkt doch!«

Hans streckte sich, so hoch er konnte, und grüsste mit seiner Fahne, während die Mädchen ihre Taschentücher schwenkten.

Das Dampfschiff fuhr in stolzem Bogen nahe vorbei, und der Steuermann erkannte die Winkenden. Er blieb unbeweglich an seinem Steuerruder; denn das durfte er keinen Augenblick verlassen; aber er lachte mit dem ganzen Gesicht. Das sind ja die Turnachkinder! dachte er. Nun wird's wieder lebhaft in der Seeweid!

Das Schiff hob und senkte sich in den Wellen des Neptun; das Wasser spritzte über den Rand herein und den Kindern als lustiger, frischer Sprühregen ins Gesicht.

Jetzt tauchte aus dem Wasser ein hoher grauer Stein auf, die Thomassäule. Marianne sah sie zuerst.

»Die Thomassäule! Hans! Nun kommt gleich die Seeweid! Dort sind die Pappeln, und die Mauer von der obern Einfahrt erkenn' ich gut!«

»Wenn wir nur innerhalb vorbeifahren; dann kommen wir ganz nahe an die Thomassäule hin«, sagte Hans.

Und wirklich, die Männer lenkten nach links, obgleich der alte Steppinger dagegen war.

»Da können wir artig aufsitzen!« brummte er.

Das Wasser wurde ganz seicht; man sah auf dem bräunlichen Grunde die grossen runden Kiesel. Auf der Thomassäule stand eine grau und weisse Bachstelze und wippte lustig mit dem Schwänzchen, als wollte sie die Schiffsgesellschaft auslachen.

Ritsch – ritsch – machte es auf einmal und gab einen starken Stoss. Man war richtig aufgefahren. Die Männer sahen einander an und sagten sich Worte, die nicht sehr höflich klangen. Sie griffen eilig nach den Stachelstangen, um das schwere Schiff vom Fleck zu bringen.

Marianne und Lotti fassten sich etwas ängstlich an den Händen:

»Du, Hans! wenn wir nun gar nicht wegkämen, gar nicht in die Seeweid –?«

Aber Hans hörte nicht. Er sah immer auf Steppinger. Wenn Mama wüsste, wie gut Hans mit der Stachelstange umgehen konnte, hätte sie ihm gewiss nicht verboten zu helfen.

Ritsch – mit einem Ruck war das Schiff aufgesessen, mit einem Ruck kam es endlich wieder in Gang. Ohne weiteren Zwischenfall fuhr es nun ruhig der Seeweid zu; nur als man an dem kleinen Landungssteg unter der Gartenmauer anhielt, flog Hansens Mütze ins Wasser; er hatte es gar so eilig gehabt, aus dem Schiff zu springen. Steppinger fischte sie wieder auf.

»Mama, es war wundervoll!« schrie Hans. »Der Neptun kam ganz nah an und vorbei, und neben der Thomassäule sind wir aufgefahren ...«

Marianne und Lotti umarmten den kleinen Werner, der mit Mama am Stege stand und auch von seiner Fahrt erzählen wollte. Aber es war keine Zeit dazu. Es gab soviel Herrlichkeiten jetzt. Wohin wollte man zuerst rennen –? Nach allen Seiten zog es einen zugleich.

»Ich muss einmal schnell meine Kammer sehen!« rief Hans und flog die Treppen hinauf bis unters Dach in seine kleine Stube und dann in den Taubenschlag, von wo er ein glückliches Juhuh! hinausschrie, so dass die Tauben ihm entsetzt um den Kopf flatterten.

Unten aber bettelte Werner: »Zum Kälbchen, Marianne! das Kälbchen ansehen –«

Die Kinder liefen unter den blühenden Birnbäumen hinüber zum Stall. Doch als Werner das Kälbchen sah, das bei seiner braun und weiss gefleckten Mutter stand, fürchtete er sich.

»Ich will kein grosses Kälbchen! ich will ein kleines – eins zum auf den Arm nehmen –«

Die Kinder lachten; aber der Knecht Jakob führte den Werner zu einem Verschlag: »Da ist etwas zum auf den Arm nehmen!« und er zog ein junges graues Kaninchen heraus. Werner drückte es zärtlich an sich. Es war seidenweich.

»O, Jakob! mir auch eins, mir auch eins!« riefen Hans und die Mädchen, und jedes erhielt eines von den strampelnden Tieren auf den Schoss. Marianne wollte das ihre gar nicht mehr loslassen und band ihm, damit sie es morgen wieder kenne, ein blaues Bändchen um, das sie in der Tasche hatte.

»Das ist noch viel netter als die Puppen, Lotti! und Mama hat es gewusst. Drum hat sie uns nur die Ella und das Julchen mitnehmen lassen.«

Hans aber drängte, dass man wieder zum See hinunter komme, und lief voraus bis ans Ende des Obstgartens, der durch keine Mauer und kein Gitter vom See getrennt war. DA lag das weite blaue Wasser. Drüben am andern Ufer sah man die Dörfer mit den weissen Häusern und am obern Ende des Sees die fernen Schneeberge, die von der Abendsonne beleuchtet waren. Der See warf langsam kleine Wellen über das flache Kiesufer. Werner bückte sich, um den schimmernden Schaum zu streicheln, und fiel dabei ein wenig ins Wasser.

»So, Werner«, sagte Hans, »nun bist du getauft; nun bist zu auch ein Seebub. Letztes Jahr liess dich Mama noch nicht mit uns an den See; da warst du noch zu klein. Aber wir, wir sind ein paarmal getunkt worden! Weisst du noch, Marianne, wie du von der Badhaustreppe gefallen bist? Und das Lotti, das wollte die Enten füttern und sprang mit dem letzten Brotbrocken selbst hinein! Und damals im Schilfmeer, als wir gegen Onkel Alfred kämpften und alle drei ins Wasser plumpsten –!«

Die Kinder liefen hintereinander zum Schilfmeer. Es lag unten vor der Gartenmauer. Im Sommer, wenn der Schilf grün und hoch stand, war Onkel Alfred manchmal mit ihnen hineingerudert, dass es rauschte und krachte und man in grosse Gefahr kam, stecken zu bleiben. Das war immer prachtvoll gewesen. In Zeiten, wo der See niedrig war, stand der Schilf trocken, und man ging dann wie durch einen dichten Urwald. In der Ecke ragten noch ein paar Pfähle auf von einer Robinsonhütte, die Hans gebaut hatte.

»Dies Jahr bauen wir noch eine grössere, schönere, einen indianischen Wigwam«, sagte Hans. »Vielleicht gibt mir Onkel Alfred sein altes Rehfell als Dach, und dann kommt ein Feuerherd hin; da kochen wir das Abendessen –«

Die Kinder sahen einander an, und auf einmal fiel ihnen ein, dass die schrecklichen Hunger hatten.

»Ich auch hab' Hunger!« sagte Werner und rieb sich über seine kleine Schürze. Aber als sie ins Haus kamen und in die Küche schauten, war da kein Feuer und keine Balbine.

»Au, au!« machte Hans. »Heut gibt's scheint's trockenes Brot, wie beim Däumling und seinen sechs Brüdern.«

»Ja, Vom Däumling erzählen!« rief Werner sofort, der nichts lieber hörte als Märchen.

Doch heute brauchte man keine zu erzählen. Heute ging es von selbst zu wie im Märchen. Als die Kinder sich daran machten, Mama zu suchen, kam es in bedächtigen Tritten die Treppe herunter: voran Frau Völklein, die dicke alte Frau Völklein von droben.

»Grüss Gott, Kinderlein!« rief sie mit ihrer hohen, freundlichen Stimme. »Grüss Gott, Kinderlein! Da hab' ich etwas zu Abend gekocht, weil Mama und Balbine doch keine Zeit finden.«

Sie trug eine grosse Schüssel voll prächtiger braungerösteter Bratwürstchen, und hinter ihr folgte Grite, die Magd, mit einem dampfenden Kartoffelbrei.

»Nein, heute geht's euch aber fast zu gut!« sagte Mama, als alles am Tisch sass. »Vom Morgen bis zum Abend lauter Lust und Vergnügen! Wollt ihr dran denken, wenn dann die Tage etwa wieder Unangenehmes und Langweiliges bringen und wollt ihr immer recht zufrieden und artig bleiben?«

»Ja, Mama! Ja, Mama!« versprachen die Kinder.

Und als der schöne Tag nun zu Ende war und die Kinder in ihren Betten lagen, da meinte Marianne, als sie ihr tägliches Nachtgebet gesagt hatte, das sei eigentlich gar nicht genug.

»Mama, weisst du kein Gebet, das besonders für diesen Tag passt?« fragte sie Mama, die vor ihrem Bette stand.

»Sprich du zum lieben Gott nur, so wie du selber denkst, Kind«, sagte Mama.

Marianne setzte sich noch einmal auf und Lotti drüben auch. »Lieber Gott«, betete Marianne, »ich dank' dir vielmal für den schönen Tag und dass du uns den See und den Garten und den Schilf und alles gegeben hast. Ich bin so vergnügt! Und ich will auch recht brav sein und nicht streiten mit Hans und mit Lotti. Amen.«

Mama gab ihr den Gutenachtkuss und ging hinaus.

Aber Marianne hielt die Augen offen; sie konnte noch nicht einschlafen. Es war nicht ganz dunkel; sie sah deutlich die dicken hellen Blumen auf der Tapete.

»Lotti, schläfst du?« fragte sie.

»Nein, gar nicht!« gab Lotti zurück. »Ich muss immer an den Garten denken. Ich hab' eine solche Lust, zum Fenster hinauszuklettern und einmal schnell um die Tanne herumzuspringen. Vorher kann ich gewiss nicht einschlafen.«

Lotti huschte zum Bett hinaus und ans Fenster. Die Luft war lau und roch süss von Blüten. Der Mond stand hoch am Himmel, und rings um ihn schwammen schöne weisse Wolken. Die Bäume waren wie mit Silber übergossen.

»Marianne, komm! das ist schön –!«

Das Schlafzimmer lag zu ebener Erde, und im Nu waren die beiden Kinder draussen und sprangen in ihren langen weissen Nachthemden zur Tanne in der Mitte des Rasens.

»Ach, du liebe Güte – Gespenster!« rief eine Stimme. Es war Balbine, die noch ein wenig im Garten sass.

Nun trat auch Papa aus der Wohnstube: »Gespenster –? Wahrhaftig, da laufen sie! Ganz merkwürdige Gespenster! das eine mit den blonden Zöpfen gleicht auffallend unserer Marianne und das andere dem Lotti – '«

»Kinder, Kinder!« mahnte Mama. »Ihr wollt euch wohl erkälten! Marsch, zurück ins Bett!«

Papa lachte.

»Na, es soll ja eigentlich gesund sein, im feuchten Gras herumzuspazieren!«

Marianne und Lotti stiegen rasch wieder zu ihrem Fenster hinein und schlüpften unter die Decke. Sie schwatzten noch ein Weilchen; aber bald fielen ihnen die Augen zu, und sie schliefen fest und gut die ganze Nacht hindurch.

Pfahlbauergeschichten

Die Familie Turnach war nun schon drei Wochen in der Seeweid, und wie Mama vorausgesagt hatte: neben dem Schönen und Lustigen war hin und wieder auch etwas Unangenehmes und Langweiliges gekommen. Einmal hatte Marianne zwei Nächte hindurch Zahnweh gehabt; Hans hatte wegen Husten und Halsweh ein paar Tage im Zimmer bleiben müssen. Lotti war gesund gewesen; aber ihr waren die Strickstunden, zu denen sie sich etwa an Regentagen mit Marianne hinsetzen musste, immer eine grosse Betrübnis. Auch war es schrecklich, wenn man Aufgaben hatte und draussen die Sonne durch die Bäume schien und die Wellen plätscherten. Marianne und Lotti bekamen noch nicht viel auf; aber Hans, der schon zehn Jahre alt war, hatte allerlei zu schreiben und zu lernen. Manchmal wollte so ein Gedicht gar nicht in den Kopf hinein. Immer musste Hans wieder von vorn anfangen:

»Es ritt ein Herr, das war sein Recht;
Zu Fusse hiess er gehn den Knecht –
– – – – – – – – – den Knecht ...«

Vom Garten her hörte man Marianne und Lotti lachen; sie liefen über die niedrige Mauer und machten in der Ecke, wo der Efeu eine ganze Laube bildete, eine Puppenwohnung.

»Marianne, du hast deine Rechnung auch noch nicht gemacht!« rief Hans hinüber.

»Ich muss sie erst auf übermorgen machen!« sagte Marianne und wiegte sich behaglich in ihrem Efeubusch.

Hans seufzte und begann noch einmal, indem er sich beide Ohren zuhielt:

»Es ritt ein Herr, das war sein Recht;
Zu Fusse hiess er gehn den Knecht.
Er reitet über Stock und Stein,
Dass kaum der Knecht kam hintendrein ...«

Es kostete wirklich eine Anstrengung, tapfer bei dem langweiligen Gedicht zu bleiben, wo draussen alles so sonnig und lustig war ...

Aber heute, als Hans erwachte, gab es keine Plage und keine Aufgabe. Es war Sonntag, früher, schöner Sonntagmorgen. Hans stand schnell auf und machte sich fertig. Doch als er herunterkam, war er gar nicht der erste: Papa war schon am See und löste eben das kleine Ruderschiff los, das frisch weiss, blau und rot angestrichen am Landungssteg lag. Marianne und Lotti in ihren hellen Sonntagskleidern sassen auf der Schiffbank. Es war immer ein Hauptvergnügen, wenn Papa, der so selten Zeit hatte, die Kinder einmal ruderte.

Hans sprang hinter Papa ins Schiff und ergriff die Sitzruder, um sie einzuhängen.

»Ich kann eigentlich auch stehrudern«, sagte er.

»Nein, nein, Papa, lieber du! bei dir geht's so ruhig und schnell!« riefen die Mädchen. »Hans, der tut mit jedem Ruderschlag so einen Ruck –«

»Aber ich kann's doch wenigstens«, gab Hans zurück, »während Lotti noch nicht einmal sitzrudern kann. Bei der geht's immer im Kreis herum – so –«! Er tat mit dem Ruder ein paar ungeschickte Schläge.

»Das wäre nun hübsch, wenn ihr an dem prächtigen Sonntagmorgen mit einander streiten wolltet!« sagte Papa. »Wenn Lotti noch nicht gut rudert, so kann sie dafür singen. Fangt einmal an, ein schönes Lied!«

Lotti sah auf Marianne. »Wollen wir das traurige, weisst du, das und Ulrich gelehrt hat:«

»Zu Strassburg auf der Schanz
Da ging mein Trauern an ...«

»Nein, wart'«, sagte Marianne. »Zuerst: Lobt froh – das passt für den Sonntagmorgen.«

»Lobt froh den Herrn
Ihr jugendlichen Chöre ...«

begannen Lotti und Marianne mit hellen Stimmen. Hans und Papa sangen mit. Dann kam ein zweites und drittes Lied, schliesslich auch Lottis Lieblingslied.

Papa fuhr langsam hinaus auf den blauen, schimmernden See, dann gegen die Thomassäule und dem Ufer entlang; als er zurückkehrte, sah man Mama im Garten winken.

»Ei, was ist denn das für ein Sängerfest da draussen?« rief sie. »Der ganze Verein ist jetzt freundlich zum Frühstück eingeladen!«

Aber – »du liebe Güte!« würde Balbine gesagt haben, wie sah der Frühstückstisch aus –! Im Brotkorbe lagen, weil es Sonntag war, etwa ein Dutzend Butterhörnchen, und jedes – nein, es war zu arg! – jedes verunstaltet, verstümmelt; alle vierundzwanzig Spitzen waren abgebrochen und verschwunden! Die Familie war sprachlos. Wer konnte das getan haben! Man sah ringsum, dann unter den Tisch; man sah sich gegenseitig an. Endlich rief eines: »Wo ist denn Werner?«

Ja, wo war Werner? Mama hatte ihn bei Balbine geglaubt; aber Balbine, die nun auch herein kam und die Hände zusammenschlug ob dem Anblick, wusste nichts.

Nun lief alles hinaus: »Werner! Werner –« Und Mama wollte schon ängstlich werden, als um die Hausecke der kleine Mann erschien, aber ebenfalls in schlechtem Zustande. Seine Hände und seine weisse Schürze waren ganz schmutzig und schwarz von feuchter Erde. Er war etwas verlegen, als er die ganze Schar auf sich zukommen sah und hielt die kleine Faust über die Augen.

»Werner, mein Bub, komm einmal her!«

Mama zog ihn ins Zimmer.

»Was sind denn das für hässliche, schwarze Hände?«

»Ich – ich hab' müssen graben!« stotterte Werner, ohne Mama anzusehen.

»O Mama! dann weiss Werner nichts von den Hörnchen, dann ist er unschuldig!« rief Marianne, die den kleinen Bruder zärtlich liebte und ihn bei jeder Gelegenheit verteidigte.

Aber Werner sah gar nicht sehr unschuldig aus. Er versuchte, sich aus Mamas Händen loszumachen, und als die auf den Tisch nach dem Brotkorbe zeigte, drückte er die Augen zu.

»Nein, Werner, jetzt sag' lieber rasch und ehrlich heraus: Hast du alle unsere schönen Butterhörnchen zerbrochen?«

Nun sah der Kleine Mama an, und seine Augen füllten sich mit Tränen; aber er brachte kein Wort heraus.

»Stellt euch nicht so vor ihn hin«, sagte Mama zu Hans und Lotti, »gerade als ob es euch Spass machen würde, euer Brüderlein in Verlegenheit zu sehen. Komm, mein Bub, sag' es der Mama leise –«

Da drückte Werner sein Mäulchen an Mamas Ohr und flüsterte etwas hinein.

»O, o! Was für einen unartigen Buben haben wir doch, den man gar nicht allein im Zimmer lassen kann! Und wo sind denn die vielen, vielen Zipfel hingekommen? Hast du sie gar alle aufgegessen –?«

»Nein, nicht aufgegessen!«

»Aber was in aller Welt hast du mit ihnen angefangen?«

Werner hob den Kopf, als ob ihm der Mut wieder käme.

»Ich – ich hab' Pf – Pfahlbauten daraus gemacht.« Er sah stolz im Kreis herum, weil er das schwere Wort hatte sagen können.

»Pfahlbauten –? was sagt er da –?« fragte Papa sehr belustigt. »Das wird ja immer werkwürdiger. Komm her, du kleiner Prähistoriker, und erzähle uns, wie man Pfahlbauten macht aus den Zipfeln von Butterhörnchen!«

»Ich hab' es so gemacht wie – Hans und Marianne und Lotti.«

»Aha«, sagte Papa. »Also steckt ihr Grossen hinter der Geschichte. Wartet nur, ihr kommt nachher an die Reihe! Nun, mein Wernermann, willst du uns wenigstens mitteilen, wo du deine interessanten Pfahlbauten angelegt hast?«

Werner schüttelte den Kopf; er wurde nun wieder fast übermütig. Erst nach vielem Drängen gab er nach und lief den andern voraus in den Garten zu einer abgelegenen Ecke, wo ein paar dichte Fliederbüsche standen. Die kleine Schaufel, die Werner geschenkt bekommen hatte, lag da auf der Erde.

Hans fing an zu graben; die »Pfahlbauten« steckten nicht tief. Aber wie sah das schöne Brot aus! von der feuchten Erde ganz schwarz und ungeniessbar. Die Kinder wollten den Kleinen necken. Was das für ein Einfall war von dem Wernerlein!

Aber Mama fand, dass er doch ein wenig Strafe verdiene: »Du siehst nun, denke ich, doch ein, dass du etwas sehr Dummes gemacht hast und etwas Unrechtes dazu. Darfst du denn eigentlich vom Tisch wegnehmen, was die nicht gehört, und es verderben? – Nun geh nur zu Sophie, dass sie dir das Werktagskleidchen anzieht; in diesem Schmutz wollen wir dich nicht sehen. Und lass dir ein Stück Brot in der Küche geben. Was du von den Butterhörnchen übrig gelassen, das reicht kaum für uns; du bekommst natürlich nichts davon.«

Werner zog ein Mäulchen und weinte ein wenig; dann lief er zu Sophie.

»Nun möcht' ich aber doch wissen, Kinder«, begann Papa, »wie Werner auf die Pfahlbauten gekommen ist und was für wunderliches Zeug ihr ihm vorgemacht habt!«

Die Kinder sahen einander an und lachten.

»Ach, Papa, das war ganz anders. Das war etwas sehr Ernsthaftes, was wir taten, und Werner hat zugeschaut; Aber er hat es natürlich gar nicht verstanden!«

»Also heraus denn mit dieser sehr ernsthaften Sache! Ihr macht mich wirklich neugierig!«

Ja, das war eine lange Geschichte, und wenn man ganz von vorn anfangen wollte, waren es eigentlich zwei.

An einem Samstag nachmittag, zwei Wochen vor dem Ereignis mit den Butterhörnchen, kam Hans aus dem Hause mit einem grossen, weiten Einmachglas, das Mama ihm geschenkt hatte.

Marianne und Lotti richteten eben am See die Puppenbadeanstalt wieder her, die sie tags zuvor aus kleinen Pflöcken und Schindeln gebaut hatten, die aber von den Dampfschiffwellen zerstört worden war. Die Porzellanpüppchen warteten im Sand.

»Kommt!« sagte Hans. »Wir gehen ins Klaregg hinaus und sehen, ob wir dort etwas finden für unser Aquarium.«

»Ins Klaregg –! Gleich, Hans!« rief Lotti, packte schnell mit Marianne die Badepüppchen zusammen und holte die Hüte.

Die drei Kinder gingen zwischen den Weissdornhecken und Feldern hinaus zum Klaregg. Hans trug das Glas, Marianne eine Botanisierbüchse und Lotti ein altes Schmetterlingsnetz, mit dem man auch fischen konnte. Das Klaregg lag wie die Seeweid am Wasser. Es bildete eine kleine Halbinsel, die in den See hinausragte und von einem Bach durchflossen war. Ringsum standen Weiden und Erlenbüsche; dazwischen gab es kleine Wassertümpel und Teichlein, in denen allerlei lustiges Getier sein Wesen trieb: kleine Frösche und grosse stattliche mit grünem, gestreiftem Rücken und weissen Bauch. Die konnten schwimmen und tauchen, als ob sie es beim Schwimmlehrer gelernt hätten. Und ihre Kleinen, wie sahen die lächerlich aus! Dicke dunkle Köpfe und ein kleiner Schwanz dran; das war alles. Lotti konnte immer gar nicht glauben, dass aus diesen komischen schwarzen Fischlein Frösche würden mit richtigen vier Beinen. In einem anderen Wasserloche tauchten tief aus dem Grunde schwarze Molche auf in schlängelnder Bewegung. Auf der Unterseite waren die goldgelb. Auch seltsame Käfer oder Spinnen fuhren da auf dem Wasser herum wie Schlittschuhläufer. Und auf dem trockenen steinigen Land, wo weisser Klee und blaue Salbei wucherten und wo es so gut nach Thymian roch, huschten prächtige Eidechsen hin und her, bräunliche und smaragdgrüne. Wenn man eine in die Hand nahm, konnte man sehen, was für eine schöne Zeichnung die kleinen Schuppen bildeten und welche hübsche, goldglänzende Äuglein das kleine Tier hatte, das seine lange zweispitzige Zunge zeigte und blitzschnell wieder einzog.

Die Turnachkinder hatten eine grosse Liebe zu allen Tieren. Aber leider war Mama mit dieser Liebe nicht immer einverstanden.

»Wenn ihr die Tiere fangt und herumschleppt«, sagte sie, »tut ihr ihnen gar nichts Gutes. Am liebsten haben sie es, wenn ihr sie in Ruhe lasst.«

»O, Mama, wir tun ihnen nicht weh. Die Eidechsen tragen wir bloss in den Garten. Da können sie ja so gut leben wie im Klaregg. Das ist dann so hübsch, wenn wir sie immer wieder auf den Gartenwegen sehen! Und den Fröschen und Molchen tun wir Sumpfwasser in das Einmachglas und Schlammpflanzen und als Insel einen Stein; da können sie hinaufsitzen, wenn sie gern wollen im Trockenen sein. Bitte, Mama!«