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Das Buch

Nach dem Verlust seiner Eltern wird das bevorstehende Weihnachtsfest für den zehnjährigen Paolo aus Rom zu einer großen Herausforderung. Er soll es bei seinen skurrilen Tanten in einer verschneiten Bergwelt verbringen. Und dann sogar ganz bei ihnen leben. Das diesjährige Weihnachten kann nichts werden, da ist sich Paolo völlig sicher, vor allem, nachdem ihn nicht nur seine neuen Mitmenschen befremden, sondern ihn auch noch der seit jeher vertraute Weihnachtswolf im Stich lässt, von dem er – anstatt vom Weihnachtsmann – die Geschenke erwartet. Dass ihn seine Tanten und seine Mitschüler deshalb belächeln, macht ihn fast rasend – bis ein echter Wolf auftaucht, der alle eines Besseren belehrt und dem Jungen das schönste Weihnachtsfest seines Lebens schenkt.

Die Autorin

Helga Glaesener, 1955 geboren, hat Mathematik studiert, ist Mutter von fünf Kindern und lebt mit ihrer Familie in Aurich, Ostfriesland. Seit ihrem ersten Bestseller Die Safranhändlerin hat sie bei List zahlreiche spannende historische Romane veröffentlicht.

In unserem Hause sind von Helga Glaesener bereits erschienen:

Du süße sanfte Mörderin • Der falsche Schwur • Im Kreis des Mael Duin • Der indische Baum • Die Rechenkünstlerin • Die Safranhändlerin • Safran für Venedig • Der schwarze Skarabäus • Der singende Stein • Der Stein des Luzifer • Wer Asche hütet

Helga Glaesener

Der Weihnachtswolf

Eine Weihnachtsgeschichte
für Kinder und Erwachsene

List Taschenbuch

 

Für Sina und Fabian,

Tilmann und Thorge,

Lukas, Mattis und Mia,

und natürlich Michael und Kevin

Der Weihnachtswolf

Du willst eine Weihnachtsgeschichte hören? Ich könnte dir eine erzählen. Sie beginnt allerdings traurig, mit dem Tod meiner Eltern, und das ist ein schlechter Anfang für jede Geschichte. Aber wenn sie nicht gestorben wären, wäre ich niemals ins Riesengebirge gezogen, ich hätte Anna und ihre Brüder nicht kennen gelernt, der heilige Petrus hätte nicht versucht, mich zu verprügeln, und natürlich wäre auch der Weihnachtswolf …

Aber vielleicht sollte ich mit dem Anfang beginnen.

Vor dem Tod meiner Eltern lebte ich in Rom. Wir besaßen dort eine Omnibuslinie und eine Villa, in deren Garten eine Schaukel und ein Brunnen mit einem gehörnten, zottelbärtigen Mann aus Mamor standen, und ich war ein glückliches Kind. Ich verbrachte den Sommer mit meiner Mutter in den Bergen, wo wir lange Wanderungen machten, und wenn wir zurückkamen, besuchten wir die Museen und den Fischmarkt. Dann kamen meine Eltern bei einem Schiffsunglück ums Leben, und als die Beerdigung vorüber war, erklärte mir mein römischer Onkel, dass ich am besten bei den deutschen Schwestern meiner Mutter aufgehoben sei. Er telegrafierte, und vier Tage später fuhr ich in einer fauchenden Lok in den Bahnhof von Hermsdorf ein.

Genau genommen war es gar kein Bahnhof. Nur ein gepflasterter Laufsteg und ein Platz voll Stapelholz. Hinter den Holzhaufen erhoben sich verschneite Berghänge, an denen Blockhäuser mit Schindeldächern klebten. Es graupelte, und als ich aus der Bahn stieg, erschien mir der Himmel wie ein gepolsterter Sargdeckel, der sich über das Land legen wollte. Das war es, was ich dachte, als ich zum ersten Mal den schweren, grauen Himmel des Riesengebirges sah. Ein Sargdeckel.

Die Frau, die mich begleitet hatte, tätschelte meinen Kopf und übergab mich an zwei Damen, die auf dem Bahnsteig warteten. Eine von ihnen zog mich an ihren Mantel aus rotem Fuchsfell und vergoss Tränen in mein Haar. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie ein Bahnbeamter meine beiden Koffer aus dem Abteil reichte. So begann mein neues Leben.

Bevor nun Mitleid aufkommt: Mich erwartete kein trauriges Waisenlos. Vor dem Bahnhof stand ein Opel 4, und ein Chauffeur, der etwas Lustiges vor sich hin pfiff, fuhr uns zu einem Haus mit Türmchen und einem roten Ziegeldach, das wie ein kleines Schloss aussah. Die Tanten brachten mich in ein Zimmer. Es hatte grüne Vorhänge, und an den Wänden standen ein glänzendes Messingbett, zwei weiße Kommoden und ein ebenfalls weißes Tischchen, auf dem eine Armee Zinnsoldaten paradierte.

»Du armes Herzchen«, sagte die Tante, die in mein Haar geweint hatte, und tupfte sich mit einem Taschentuch die Augenwinkel.

»Reiß dich zusammen, Rosi«, sagte die andere Tante. »Der Junge braucht ein Bad, und dann muss er schlafen. Er hat eine lange Reise hinter sich.«

»Schau«, sagte Tante Rosi und zog mich zu den Soldaten. Sie nahm einen Artilleristen, der sein Schwert erhoben hatte, und sagte: »Bumm, bumm.«

Ich nickte und wunderte mich, wieso sie dachte, dass man mit einem Schwert schießen kann.

»Ich bin deine Tante Rosi.«

Ich nickte wieder. Tante Rosi trug einen Turban und eine Brille mit silbernen Ranken und roch wie das Rüschenkissen meiner Mutter, auf dem ich einmal eine Flasche Parfüm umgestoßen hatte.

»Nimm doch, er gehört dir«, sagte sie und wollte mir den Zinnsoldaten in die Hand drücken. Aber in meiner Faust lag bereits der hölzerne Wolf, den meine Mutter mir im Andenkenladen am Kapitol gekauft hatte. Ich hatte ihn mitgenommen, weil jedes andere Spielzeug zu sperrig gewesen wäre. Eigentlich war es gar kein Wolf, sondern eine Wölfin mit langen Zitzen, und ursprünglich hatten zwei kleine Jungenpuppen dazugehört, die von ihr gesäugt worden waren. Die Jungen hatte ich in der Eile aber nicht gefunden.

»Ich sagte doch, er ist müde«, meinte die andere Tante. Sie hatte ein Doppelkinn und einen dicken, schweren Busen und hieß Malwine. Das erklärte sie mir in einem Ton, als wäre sie es leid, sich ständig wiederholen zu müssen, und ich bekam ein wenig Angst vor ihr. Die Tanten führten mich in ein Badezimmer, in dem ein Zuber mit dampfendem Wasser stand. Ich sollte mich waschen, auch hinter den Ohren, und als ich mit Baden fertig und in mein Nachthemd gestiegen war, brachten sie mich zu Bett.

»Gut, dass bald Weihnachten ist«, sagte Tante Malwine, als sie die Bettdecke feststeckte. Sie blickte auf mich herab wie ein Arzt, dem der Zustand seines Patienten missfällt. Dann gingen sie hinaus.

Es dämmerte.

Ich lag in plustrigen, weißen Kissen. Draußen schneite es, und der Kastanienbaum vor dem Fenster reckte die Äste, als wolle er die Flocken damit fangen. Es roch nach Mottenpulver. Und in meiner Faust lag der Wolf.

Am nächsten Tag wurde ich durch das Rascheln der Vorhänge und den Duft heißer Schokolade geweckt. Ich hielt die Augen geschlossen, weil ich mich nicht erinnern konnte, wo ich war. Mir fehlte das Schütteln der Eisenbahn, und dann fiel mir ein, dass erstens meine Eltern tot waren, dass ich zweitens deshalb ins Riesengebirge umgezogen war und dass ich drittens zwei Tanten hatte, von denen eine in mein Haar weinte und die andere mich nicht leiden konnte. Unter diesen Umständen sah ich keinen Grund, die Augen zu öffnen. Aber der Wolf war unter meinen Rücken gerutscht und drückte, und ihn mit geschlossenen Augen hervorzukramen kam mir albern vor.

Nicht die Tanten – ein Mädchen stand vor dem Tisch mit den Zinnsoldaten. Es hatte zwei flammend rote Zöpfe, die so stramm gebunden waren, dass sie wie Drähte abstanden, und eine riesige weiße Schürzenschleife auf dem Rücken. Was sie am Tischchen tat, konnte ich nicht erkennen, bis auf einmal die halbe Armee, wie von einer Sturmbö erfasst, über die Tischkante gefegt wurde.

»So«, sagte das Mädchen. Es drehte sich um und verschränkte die Arme über der beschürzten Brust. Als sie sich bewegte, konnte ich sehen, dass sie ein Tablett mit einer dampfenden Tasse auf dem Tischchen abgestellt hatte. »Trinken kannste ja wohl selbst.«

Ich nickte.

Sie hatte froschgrüne Augen, eine spitze, dünne Nase, ein draufgängerisches Kinn und so viele Sommersprossen, als wären sie ihr bei einem Sturm aufs Gesicht geblasen worden.

»Essen gibt’s in einer Stunde im Salon. Alles klar?« Sie konnte nicht viel älter sein als ich, höchstens zwölf oder dreizehn. Ich starrte sie an oder vielmehr, ich starrte ihre flammenden Zöpfe an und war verzaubert von der Entschlossenheit, mit der sie die Soldaten vom Tisch gewischt hatte.

Sie wandte sich zum Gehen, aber bevor sie endgültig verschwinden konnte, rief ich schnell: »Danke für die Schokolade.«

Die Tür fiel ins Schloss, und ich sank in die Kissen zurück. Besonders nett war das Mädchen nicht gewesen. Trotzdem fand ich, dass mir zum ersten Mal, seit ich Rom verlassen hatte, etwas Gutes passiert war.

»Anna, das Milchkännchen ist nicht ganz sauber«, sagte Tante Malwine und wies auf die winzige Silberkanne, die zwischen weichen Semmeln und duftender Marmelade auf dem blütenweißen Tischtuch stand. So erfuhr ich, dass das Mädchen Anna hieß.

Anna stand in ihrer gestärkten Schürze, auf der inzwischen ein brauner Fleck prangte, neben dem Tisch und rümpfte die Nase. Ich dachte schon, sie würde das Kännchen vom Tisch fegen wie die Zinnsoldaten. Stattdessen nahm sie es und trug es stumm durch die schmale Tür, aus der sie mit den Semmeln und dem Kaffee gekommen war.

»Gewiss, gnädige Frau!«, rief Tante Malwine hinter ihr her und klagte: »Das Kind hat keine Manieren.«

»Aber auch keine Windpocken und keine Läuse«, erwiderte Tante Rosi fröhlich.

»Sie hat keine Manieren, und deshalb wird sie im Leben nicht zurechtkommen«, beharrte Tante Malwine. »Schlimmer: Sie will keine Manieren haben, weil sie störrisch ist. Ich fürchte, wir mühen uns umsonst.«

»Nicht doch. Anna macht ihre Sache so gut, wie sie es begreift. Im Herzen ist sie ein liebes Ding«, sagte Tante Rosi, und ich glaube, von diesem Moment an gewann ich sie lieb.

Die Tanten redeten noch hin und her, und ich erfuhr, dass Anna mehrere Brüder hatte, die ebenfalls keine Manieren besaßen, was kein Wunder war, da ihr Vater zu den Revolutionären ging. Ich wusste nicht, was Revolutionäre waren.

»Was ist ein Revolutionär?«

Tante Rosi fuhr zusammen. »Er hat gesprochen«, meinte sie so verwundert, als wär’s mit einem Hündchen geschehen.

»Natürlich hat er gesprochen. Wenn er stumm wäre, hätte man es uns gesagt.«

»Hast du den ulkigen Akzent gehört?«, fragte Tante Rosi.

»Er ist nicht ulkig, und wir müssen ihm das abgewöhnen. Paolo wohnt jetzt unter Deutschen, und da muss er sich wie seinesgleichen benehmen.«

»Jedenfalls hat Lotte ihm die deutsche Sprache beigebracht.«

»Zumindest das«, erklärte Tante Malwine frostig.

Lotte war meine Mutter, die Schwester von Rosi und Malwine. Es mag ja sein, dass alle Kinder ihre Mütter schön finden, aber meine Mutter war tatsächlich schön gewesen. Sie hatte rabenschwarzes, glänzendes Haar gehabt und raschelnde Kleider aus Seide. Abends hatte sie mich manchmal zu sich ins Bett geholt und mir gruselige Geschichten erzählt, und sonntags war sie mit mir auf die Piazza Navona bummeln gegangen.

Tante Rosi zog ein Taschentuch und tupfte die Augen. »Das Kerlchen sieht traurig aus.«

»Das bildest du dir ein«, widersprach Tante Malwine. »Aber er braucht Spielkameraden. Es ist nicht gut für ihn, wenn er grübelt. Das Leben muss weitergehen.«

Seltsam. Die beiden unterhielten sich über mich, als wäre ich gar nicht im Zimmer.

Die Tür öffnete sich, und Anna brachte das Milchkännchen zurück. Sie hatte den Fleck nicht entfernt, sondern nur verwischt, und das sah auch nicht besser aus, aber die Tanten waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft, um es zu bemerken.

»Die lebenden Bilder«, sagte Tante Malwine. »Sie werden übermorgen mit den Proben beginnen. Ich glaube, das wäre das Richtige für ihn.«