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Martin Suter

Die Zeit, die Zeit

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2012

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Wilhelm Sasnal, ›Girl Smoking (Peaches)‹,

2001 (Ausschnitt)

Öl auf Leinwand 33 x 33 cm

Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

und Sadie Coles HQ, London

Copyright © Wilhelm Sasnal

 

 

Für Toni

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24261 4 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60189 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Etwas war anders, aber er wusste nicht, was.

Peter Taler stand am Fenster und hielt die Bierflasche mit zwei Fingern am Hals, damit seine Hand ihren Inhalt nicht wärmte. Als hätte er seinem Feierabendbier jemals genügend Zeit gelassen, warm zu werden.

Ein grauer Nissan fuhr vor und parkte auf einem der vier Parkplätze vor dem Haus. Zwischen Talers Citroën und dem Lancia der neuen Mieter, deren Namen er noch nicht kannte. Keller stieg aus, nahm sein Jackett vom Rücksitz, zog es an, ergriff seine Mappe, verriegelte den Wagen mit der Fernbedienung seines Autoschlüssels und ging zum Briefkasten. Er hob die Klappe, versicherte sich, dass seine Frau ihn schon geleert hatte, und ging auf die Haustür zu.

Taler trank einen Schluck. Von allen Getränken, die er kannte, war ihm eiskaltes Bier das liebste. Die Art, wie es sich im Mund anfühlte und wie es die Kehle hinunterlief, der Geschmack, den es zurückließ, die Behutsamkeit, mit der es seine Wirkung entfaltete – alles konkurrenzlos wunderbar. Nur den Geruch mochte er nicht. Deshalb trank er es aus der Flasche. Je enger das Gefäß, fand er, desto diskreter die Geruchsentfaltung.

Der letzte der vier Parkplätze, von denen jeder ein Schild mit der Autonummer des legitimen Benutzers trug, war [6] noch frei. Er gehörte Frau Feldter, deren Parkplatzbelegung so unberechenbar war wie ihr Arbeitsrhythmus. Manchmal war der Platz tagelang frei, manchmal wochenlang besetzt, manchmal stand ihr türkisblauer Fiat 500 den ganzen Tag über dort und manchmal, ganz bürgerlich, nur in der Nacht. Frau Feldter war Flugbegleiterin. Sie befand sich jetzt irgendwo in der Luft oder an einer ihrer Destinationen. Ihr Wagen stand wohl auf dem Personalparkplatz des Flughafens. Alles ging seinen gewohnten Gang.

Und doch war etwas anders.

Auf dem Weg in die Küche trank er die Flasche aus, stellte sie in die Tüte für Altglas, holte eine neue aus dem Kühlschrank und postierte sich wieder am Fenster.

Etwas war anders.

Er kannte diesen Ausschnitt der Welt sehr genau. Wenn er sich ganz nahe ans Fenster stellte, sah er links etwa hundertzwanzig Meter bis zu einer Kurve, aus der der Gustav-Rautner-Weg hervorkam. Rechts reichte der Blick nur etwa halb so weit bis dorthin, wo dieser in einer zweiten Kurve wieder verschwand.

Die gegenüberliegende Seite der schmalen Teerstraße war gesäumt von immer wieder renovierten und umgebauten Einfamilienhäusern aus den fünfziger Jahren mit kleinen Gärten, von denen die meisten zu pflegeleichten Sitzplätzen umfunktioniert worden waren, mit mehr Betonplatten als Rasen.

Auf seiner Seite der Straße standen in zwei Reihen dreistöckige Wohnblocks, wie sie in den sechziger Jahren modern gewesen waren: die Seitenfassaden mit Waschbetonplatten verkleidet, die Fronten aus beigem Verputz. Die [7] Häuser waren leicht versetzt, damit wenigstens ein paar der Wohnungen in der zweiten Reihe einen unverbauten Blick auf den Gustav-Rautner-Weg genießen konnten. In der ersten Reihe, Nummer vierzig, zweiter Stock, wohnte Peter Taler.

Die meiste Zeit, in der er zu Hause war, verbrachte er wie jetzt an diesem Fenster mit dem breiten Holzsims voller Wasserflecken der Vormieter, die dieses, wie vom Architekten vorgesehen, als Blumenfenster benutzt hatten.

Peter Taler schloss die Augen und rief das Bild ab, das er sich von dieser Aussicht eingeprägt hatte: Gleich nach der linken Kurve die Nummer dreiunddreißig, frischgetüncht in gebrochenem Weiß mit einem Fertigbauwintergarten und sechs Sonnenkollektoren auf dem Giebeldach. Die Bewohner waren ein kinderloses Paar in mittleren Jahren.

Beim Nachbarhaus, Gustav-Rautner-Weg fünfunddreißig, war das ursprüngliche Aussehen des Hauses kaum mehr zu erkennen. Sein Dachboden war ausgebaut und mit großen Fenstern versehen. Mit einem gerüstartigen Vorbau hatte man zwei Balkons angefügt, fast die Hälfte des Gartens war einer Garage geopfert worden, die andere platzte aus allen Nähten: Ein gemauerter Grill mit Rauchabzug, ein Granittisch mit sechs Rattanstühlen, eine Hollywoodschaukel und ein oberirdischer Pool machten sich den Platz streitig. Im Sommer verbrachte die lärmige vierköpfige Familie die schönen Wochenenden und Abende im Freien. Und ab November verwandelte sie Haus und Garten in ein festlich blinkendes Lichtermeer.

Daneben die kinderfreundliche Siebenunddreißig mit Rutschbahn, Schaukel und Klettergestell. Alles verlassen [8] und verwittert wie die Graffiti, die die Kinder auf die Fassade hatten sprayen dürfen, als sie dem Spielplatz entwachsen waren. Jetzt waren sie ausgeflogen. Taler hatte sie nie gesehen, als sie noch dort wohnten, aber er vermutete, dass es sich um die beiden jüngeren Leute handelte, die manchmal zu Besuch kamen: ganz selten eine Frau mit einem kleinen Hund. Etwas häufiger ein Mann auf einem schweren, lauten Motorrad.

Das nächste Haus stand gegenüber von Talers Wohnung, die Nummer neununddreißig. Es war das einzige, das sich noch im Originalzustand befand: Gelb mit grünen Fensterläden, der niedrige Zaun aus dunkelbraun gebeizten Staketen, in der gemischten Hecke blühten im März die Forsythien, auf dem Rasen, der mehr einer Wiese glich, standen zwei Apfelbäume und neben dem kleinen Sitzplatz mit dem rot gestrichenen Eisentisch und den Klappstühlen ein japanischer Zwergahorn. An der Grenze zum Nachbargarten lag ein kleines Gemüsebeet, im Schutz des Dachvorsprungs duckte sich ein windschiefes Tomatentreibhaus aus grüner Folie. Das Wohnzimmerfenster war von einem leeren Holzspalier eingefasst.

Der Bewohner des Hauses daneben hatte einen großen Teil des Rasens durch Betonplatten ersetzt und diesen Sitzplatz mit Gartenmöbeln und Hollywoodschaukeln vollgestellt. Auch hier gab es eine Outdoor-Küche mit Grill und einen oberirdischen Pool, in welchem der Vater manchmal betont übermütig mit den beiden Kindern tollte. Seinem Nachbarn ein Haus weiter hatte er ein Stück Garten abgekauft und eine Garage draufgebaut. Taler konnte sie von seinem Standort aus nicht sehen, nur ihr fernbedientes Tor, [9] wenn es sich öffnete oder schloss. Der Besitzer konnte es betätigen, noch bevor sein Wagen in der Kurve auftauchte. Er fuhr einen roten Kombi mit dem Schriftzug des Fachgeschäfts für Unterhaltungselektronik, das ihm gehörte oder für das er arbeitete, Taler wusste es nicht genau.

Die ganze kleinbürgerliche Idylle hob sich wie eine Kulisse vor ein paar hohen Bäumen ab, den Resten eines kleinen Parks, der zu einer alten Fabrikantenvilla gehörte.

Peter öffnete die Augen und verglich das äußere Bild mit dem verinnerlichten. Was war anders?

Ein türkisfarbener Cinquecento fuhr schnell und in einem eleganten Bogen in die Parklücke. Frau Feldter öffnete die Tür noch beinahe im Fahren und stand Sekunden nach dem Verstummen des Motors neben dem Wagen.

Sie ging zur Beifahrertür und nahm die Uniformjacke und einen Rollkoffer vom Sitz. Eine große dünne Frau Ende dreißig mit einem Schritt, der es gewohnt war, Schwankungen zu ignorieren. Auf dem Weg zur Haustür – Peter Taler konnte durch das schlecht isolierte Fenster das Rattern des Rollköfferchens auf dem Waschbeton hören – warf sie einen kurzen Blick zu seinem Wohnzimmerfenster herauf. Taler trat unwillkürlich einen Schritt zurück, obwohl er sicher sein konnte, dass er durch die Tüllgardine nicht zu sehen war, wenn kein Licht brannte.

Er trank die Flasche leer und warf noch einmal einen Blick aus dem Fenster.

War wirklich etwas anders?

In der Küche öffnete er die dritte Flasche des Abends. Die, die er beim Kochen zu trinken pflegte.

Er hackte Zwiebeln und ein bisschen Knoblauch, [10] dünstete beides in einer kleinen Eisenpfanne in Olivenöl glasig, öffnete eine Dose geschälte Tomaten, goss die Flüssigkeit in den Abguss und die Tomaten zischend über die Zwiebeln. Er rührte mit einer Holzkelle um, deckte die Pfanne zu und schaltete die Herdplatte herunter auf vier.

Danach drehte er den Warmwasserhahn auf, wartete, bis es heiß kam, und füllte den großen Spaghettitopf.

Laura hatte es »abgestandenes Boilerwasser« genannt. Für ihn war es »ökologisches Heißwasser«. Es verkürze die Heizdauer der Herdplatte um die Zeit, die das Wasser sonst bräuchte, um die Boilertemperatur von sechzig Grad zu erreichen. Laura hatte dem entgegengehalten, dass dafür der Boiler die gleiche Menge Wasser wieder aufheizen müsse, und das koste unter dem Strich gleich viel Energie. Die Spaghettiwassertheorie blieb eine der vielen ungeklärten Fragen ihres gemeinsamen Lebens.

Peter Taler setzte den Topf auf den Herd, salzte das Wasser, legte den Deckel drauf, ging zurück ans Blumenfenster und starrte hinaus.

Alles kam ihm vor wie an jenem schrecklichen siebzehnten Mai vor etwas über einem Jahr, als Laura unten Sturm läutete und er nicht gleich geöffnet hatte. Auch damals war etwas anders gewesen, und er konnte nicht sagen, was.

Schon im ersten Polizeiprotokoll, das er unterschreiben musste, stand: »Zeuge bejaht Frage, ob er etwas beobachtet habe oder ob ihm auf der Straße etwas aufgefallen sei. Sagt aus, etwas sei anders gewesen, aber er könne nicht sagen, was.« Bei dieser Aussage war Taler geblieben. Bis heute konnte er nicht sagen, was es gewesen war. Aber eines [11] Tages würde er es herausfinden. Und dann würde er dieses Schwein kriegen.

Doch so angestrengt er auch versuchte, das Bild jenes Abends zu rekonstruieren, die Zeit ließ es erodieren. Und mit dem Bild verblasste auch das Gefühl, das, was anders gewesen war, läge ihm auf der Zunge wie ein kurz entfallenes Wort. Da nützte es auch nichts, dass er die Wohnung unverändert gelassen hatte. Und dass er – im Wissen, dass Geruch, Geschmack und Musik Erinnerungen zurückbringen können – immer wieder Spaghetti Pomodoro kochte und Back to Black von Amy Winehouse spielte. Wie an jenem Abend.

Ein unregelmäßiges Geräusch drang in sein Bewusstsein. Er eilte in die Küche. Das Spaghettiwasser kochte über und verzischte auf der Herdplatte. Er schob den Topf beiseite und schaltete die Platte aus. Er würde sie später wieder anschalten und die Spaghetti kochen. Er wusch einen Zweig Basilikum kurz unter dem Wasserhahn, legte ihn in die Pfanne zur Tomatensauce, deckte sie wieder zu und ging zurück ins Wohnzimmer.

In ein paar Fenstern waren Lichter angegangen. Die Dämmerung begann, das Grün der Hecken zu trüben. Die dreifarbige Katze sprang auf den Zaun, verharrte einen Augenblick auf einem seiner Pfähle und setzte mit einem großen Satz über das Beet ins Gras.

Die Straßenlaterne hatte sich eingeschaltet, ihr kaltes weißes Leuchten begann sich gegen das schwindende Tageslicht durchzusetzen.

Wieder ging er in die Küche. Er nahm den Deckel von der kleinen Pfanne, um den Duft von Tomaten und [12] Basilikum freizulassen, und schaltete die Herdplatte für das Spaghettiwasser wieder an.

Dann deckte er den Tisch für zwei Personen, entkorkte eine Flasche Antinori, schenkte beide Gläser voll, nahm eines und begab sich wieder auf seinen Posten.

Im Garten auf der anderen Straßenseite stand jetzt der alte Mann, der dort wohnte, mit dem Gartenschlauch neben einem der Apfelbäume und goss ihn mit weichem Strahl. Er hielt den Kopf gesenkt, als benötige die Arbeit seine volle Konzentration.

Auch das nichts Besonderes, er arbeitete oft im Garten. Mähte, schnitt, hackte, stach um, rechte, goss und pflanzte. Und verbrannte trotz behördlichem Verbot im Herbst seine Gartenabfälle.

Er hieß Knupp und war ein Sonderling. Er pflegte keinen Kontakt mit der Nachbarschaft. Er grüßte nicht und erwiderte auch keine Grüße. Er führte keine Gespräche über den Gartenzaun, würdigte niemanden eines Blickes, verscheuchte sogar die Katzen.

Nein, das stimmte nicht ganz. Er verscheuchte eine ganz bestimmte Katze, die dreifarbige. Die anderen duldete er. Taler hatte ihn sogar schon dabei beobachtet, wie er die Geduldeten fütterte. Wie er ein Tellerchen auf das Fenstersims stellte, auf dem – aus der Kürze der Mahlzeit zu schließen – ein paar wenige Essensreste lagen.

Das Wasser kochte wieder. Taler riss die Packung auf, schüttete die Spaghetti ins Wasser und rührte ein paarmal um, damit sie nicht aneinanderklebten. Er stellte den Timer auf acht Minuten und ging damit zurück zum Fenster.

Knupp war verschwunden.

[13] Beim Läuten des Timers schreckte er zusammen. Er ging zurück in die Küche, goss die Spaghetti ins Sieb und viel Olivenöl in den leeren Topf. Dann kippte er die Pasta zurück, goss noch mehr Olivenöl darüber, wendete sie ein paar Mal mit der Spaghettizange, schöpfte eine Portion in den Teller, tat Tomatensauce und geriebenen Parmesan dazu und setzte sich damit an den Esstisch im Wohnzimmer.

Der Duft des Essens, der Geschmack des Weines, das Dämmerlicht im Zimmer, der leere Teller, der auf Laura wartete – alles wie damals. Und – zum ersten Mal seither – auch das unbestimmte Gefühl, dass da draußen etwas nicht stimmte.

Er stand auf und ging ans Fenster. Noch nie war er der Lösung so nahe gewesen.

Aber so sehr er sich sammelte, so angestrengt er sich versenkte in das Bild des abendlichen Quartiersträßchens: Die Erleuchtung blieb aus. Doch etwas sagte ihm, dass das, was anders war, mit dem gelben Einfamilienhaus gegenüber zu tun haben musste.

In den Zimmern brannte kein Licht. Aber die Straßenlaterne erhellte die Fassade.

Ein Vorhang wurde beiseitegeschoben. Im rechtwinkligen Dreieck, das dieser freigab, war das Gesicht des alten Mannes zu erkennen, eingerahmt von seinem unnatürlich schwarzen Haar und dem eigenartig getrimmten Bart. Es war zu einem der Apfelbäume gewandt.

Taler stand so reglos am Fenster wie Knupp.

Der Vorhang fiel zurück, das Gesicht war verschwunden.

[14] 2

Das »Guten-Morgen-Peter« von Sandra Dovic am Empfang klang seit zehn Tagen wieder ganz normal. Sie schien am ersten Jahrestag von Lauras Tod beschlossen zu haben, auf den mitfühlenden Unterton zu verzichten und im Umgang mit Taler wieder zur Tagesordnung überzugehen.

»Guten Morgen«, antwortete er und ging an ihr vorbei zum Lift.

Ein guter Morgen war es nicht. Peter war bis weit nach Mitternacht aufgeblieben. Immer wieder hatte er sich ans Fenster gestellt, den vom sparsamen Licht der Straßenlampe kaum erhellten Garten jenseits der Straße studiert und versucht, herauszufinden, was dort anders war. Er hatte den alten Knupp die Läden des Wohnzimmerfensters schließen sehen.

Er hatte beobachtet, wie Stunden später die Lichtstreifen erloschen und kurz darauf im ersten Stock das Fenster geöffnet wurde. Knupps Umrisse waren zu erahnen.

Als Knupp verschwunden war, war die Flasche Antinori leer. Lauras volles Glas stand noch auf dem Tisch, aber er rührte es nicht an.

Er steckte eine Marlboro Gold an und legte sie in den Aschenbecher. Er selbst hatte nie geraucht. Aber Laura. [15] Auch der Duft ihrer Marlboro Gold brachte sie ihm etwas näher.

Er öffnete eine neue Flasche, obwohl er wusste, wie das endete: Er würde Rotz und Wasser heulen und irgendwann im Morgengrauen in zerknitterten Kleidern auf dem Sofa erwachen, mit trockener Zunge und pochendem Schädel.

In seinem Büro stand ein zweiter Schreibtisch. Er war leer. Sein Bürokollege hatte die Firma kurz vor Lauras Tod verlassen, und sein Nachfolger war in einem anderen Raum untergebracht worden. Taler wusste nicht, ob aus Rücksicht auf ihn und seinen Schmerz oder aus Scheu vor der Aura des Todes, die ihn umgab.

Es gab Tage, da hätte er lieber Gesellschaft gehabt, aber an einem Morgen wie diesem war er froh, unbehelligt zu bleiben. Er riss das Fenster auf, hängte sein Jackett in den Schrank, startete den Computer, holte sich einen doppelten Espresso vom Kaffeeautomaten und trank ihn stehend in kleinen Schlucken.

Über Nacht war aus dem zaghaften Frühsommer wieder ein resoluter Spätwinter geworden. Kalter Regen trommelte auf das verzinkte Dampfabzugsrohr des Personalrestaurants und auf die Müllcontainer im trostlosen Innenhof.

Unter dem Vordach des Hintereingangs standen zwei Mitarbeiter und rauchten. Peter Taler hatte nach Lauras Tod mit dem Gedanken gespielt, mit dem Rauchen anzufangen. Aber dass sie rauchte und er nicht, war in ihrer Beziehung eine so unumstößliche Tatsache gewesen, dass es ihm wie ein Verrat vorgekommen wäre, jetzt, wo sie nicht mehr da war, damit anzufangen.

Es fiel ihm schon schwer genug, es nicht als Verrat zu [16] empfinden, dass er – vorläufig – weiterlebte. Die einzige akzeptable Begründung dafür war, dass er Lauras Mörder finden musste. Danach war Schluss. Für ihn selbst und für diesen.

Taler schloss das Fenster, setzte sich vor den Bildschirm und nahm den Stoß Belege aus dem Eingangskorb.

Seit acht Jahren arbeitete er bei Feldau & Co., einem mittelgroßen, alteingesessenen Bauunternehmen, in der Finanzabteilung. Das klang besser, als es war. Er kümmerte sich hauptsächlich um die Kreditorenbuchhaltung und verbrachte viel Zeit mit dem Erfassen von Belegen. Wenn er damit nicht ausgelastet war, setzte man ihn in der Debitorenbuchhaltung ein. Und in der Zeit vor den Abschlüssen holte ihn Gerber für Spezialeinsätze in der Bilanzbuchhaltung.

Gerber war sein direkter Vorgesetzter, Prokurist und zweiter Mann der Finanzabteilung. Eine Position, die ursprünglich für Taler vorgesehen gewesen war, die man ihm allerdings nach Lauras Tod »nicht mehr zumuten wollte«. Wie sich Perlucci, der Finanz-, und Weingartner, der Personalchef, feinfühlig ausgedrückt hatten. Taler blieb, wo er war, und behielt seinen etwas schäbigen Titel »Sachbearbeiter«. Es war ihm egal gewesen.

Kurz vor zehn betrat Kübler das Büro, wie immer ohne anzuklopfen. Er brachte einen neuen Packen Belege, die er unten im Postbüro geöffnet und mit dem Eingangsstempel versehen hatte.

Kübler war zuständig für Post, Archiv, Material und gute Laune. Er versuchte, Feldau & Co. mit Sprüchen und Witzen zum Lachen zu bringen, was ihm bei Taler nicht [17] gelang. Schon als Laura noch lebte, hatte er ihm nie den Gefallen getan, sich von ihm zum Lachen bringen zu lassen. Und danach hatte er Kübler einmal ausdrücklich gebeten, ihn »mit seinem Scheißhumor in Frieden zu lassen«. Der führte dies zwar auf Talers Schicksalsschlag zurück, aber er trug es ihm dennoch nach. Er brachte und holte die Belege kommentarlos und machte den Mund nur auf, wenn es absolut nicht zu vermeiden war.

Aber diesmal sagte er: »Scheißwetter.«

Peter wandte den Blick vom Bildschirm und sah Kübler an. Er war klein, korpulent und rotblond, trug eine offene Lederjacke und ein grünes T-Shirt mit dem Firmenemblem von Feldau & Co. Er hatte die Belege in den Eingangskorb gelegt und sah aus, als warte er auf eine Antwort.

Taler zuckte mit den Schultern. Das Wetter war ihm egal.

Aber Kübler gab nicht auf. »Gestern beinahe Frühling – und jetzt das.«

Nun nickte Peter Taler. »Stimmt«, murmelte er, »und jetzt das.«

»Also dann«, sagte Kübler und ging.

Etwas war anders. Auch hier.

Die vier Parkplätze waren noch leer. Der Regen hatte die Vertiefung im Asphalt gefüllt, und die große Pfütze zwang ihn, wie an jedem Regentag, zum Aussteigen über den Beifahrersitz zu klettern.

Die Tragetasche aus Papier war nass geworden. Er musste sie auf dem Arm bis zur Haustür tragen und lächerliche Verrenkungen machen, um den Hausschlüssel aus der [18] Hosentasche zu fischen. Er glitt ihm aus der Hand, und als er ihn aufhob und sich wieder aufrichtete, fiel sein Blick auf Knupps Haus.

Der alte Mann stand reglos zwischen den beiden Apfelbäumen. Er trug eine feldgraue Militärpelerine und stützte sich auf einen Spaten. Sobald er bemerkte, dass Taler ihn gesehen hatte, wandte er sich ab.

Als Peter kurz darauf aus dem Fenster sah, steckte der Spaten am Rand des Gemüsebeets. Knupp war verschwunden.

Er brachte die Einkäufe in die Küche: Bier, Tomaten, Spaghetti, Basilikum, Parmesan, Olivenöl, Salat, Rotwein. Er hatte vor, wieder das gleiche Essen wie am Vortag zu kochen. Vielleicht half es ihm heute, herauszufinden, was anders war.

Frau Gelphart war da gewesen. Das Spülbecken glänzte, der Geschirrlappen hing gefaltet über dem Wasserhahn, im Mülleimer steckte ein frischer Plastiksack, das Geschirr von gestern war gespült und eingeräumt. Und es roch nach dem Putzmittel, das sie immer benutzte, weil sie seinen Geruch mochte.

Frau Gelphart wohnte im Nachbarhaus der zweiten Reihe seit 1972, dem Jahr, in dem ihr Mann die Hauswartsstelle für die Siedlung angetreten hatte. Laura hatte sie als Putzfrau eingestellt, und er hatte sie behalten. Wie alles, was ihn an Laura erinnerte.

Frau Gelphart kam zweimal die Woche und bestand zusätzlich auf einem Frühjahrsputz, bei dem man ihr helfen musste, die schweren Möbel zu verschieben. Seit Laura nicht mehr da war, bemutterte sie ihn. Wusch seine Wäsche, [19] stellte Blumen in eine Vase, brachte ihm ihr übriggebliebenes Pot-au-feu, von dem sie wohl absichtlich zu viel kochte, und ermunterte ihn, doch mal wieder auszugehen.

Von ihr kannte er die Geschichten seiner Nachbarn. Zum Beispiel, dass Knupp zweiundachtzig war, pensionierter Lehrer, Witwer seit über zwanzig Jahren und nach dem Tod seiner Frau immer eigenbrötlerischer.

Taler legte Back to Black von Amy Winehouse auf, holte sein erstes Feierabendbier aus dem Kühlschrank und stellte sich ans Fenster.

Das Gefühl, dass etwas anders war, war noch immer da. Es war nicht der Spaten am Rand des Gemüsebeets. Auch nicht der eintönige Regen.

An Lauras letztem Tag hatte es nicht geregnet. Es war ein frühlingshafter Tag gewesen. Er hatte gekocht, obwohl sie an der Reihe gewesen wäre. Sie hatte angerufen und gesagt, dass sie sich verspäten werde. Und er hatte gesagt: »Macht doch nichts, dann koche eben ich. Spaghetti. Okay?«

Sie war überrascht gewesen, denn so konziliant war er sonst nicht.

Er bereitete die Tomatensauce zu, deckte den Tisch, entkorkte den Wein, brachte das Wasser zum Kochen und drehte die Herdplatte wieder aus, damit er es, sobald sie kam, in einer Minute wieder am Siedepunkt hatte. Dann stellte er sich ans Fenster und wartete.

Laura ließ sich Zeit. Spätestens um sieben wollte sie eigentlich zu Hause sein. Peter stand am Fenster und sah zu, wie die Dämmerung hereinfiel und nach und nach schon Lichter angingen. Während dieser Zeit musste ihm [20] das aufgefallen sein, woran er sich jetzt nicht erinnern konnte.

Um Viertel vor acht wählte er ihre Handynummer. Sie antwortete nicht.

Danach begann er sich Sorgen zu machen. Um Viertel nach acht hatte er bereits drei Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen.

Er war gerade in die Küche gegangen, um nach der Tomatensauce zu sehen, als es klingelte. So so, dachte er – erleichtert, aber sofort auch gereizt –, dazu noch den Schlüssel vergessen. Jetzt war er es, der sich Zeit ließ. Er schaltete die Platte unter dem Wasser ein, als es bereits wieder klingelte. Diesmal Sturm.

»Ja, ja, ich musste auch warten!«, schimpfte er vor sich hin, ging gemächlich zum Türöffner und drückte. Das Klingeln hatte aufgehört.

Taler öffnete die Wohnungstür einen Spaltbreit und ging zurück in die Küche. Dort wollte er von ihr angetroffen werden.

Wieder ließ sie sich Zeit.

Gerade als er ein zweites Mal auf den Türöffner drücken wollte, klingelte es wieder. Er drückte, aber es klingelte nochmals.

»Was ist denn?«, rief er gereizt ins Mikrofon.

»Herr Taler?« Es war die aufgeregte Stimme des inzwischen weggezogenen Herrn Zeier.

»Ja?«

»Kommen Sie herunter. Ihre Frau, wir brauchen einen Krankenwagen!«

Er erinnerte sich nicht daran, den Krankenwagen [21] gerufen zu haben. Nur noch daran, dass er Laura in den Armen hielt und ihren Namen sagte, immer wieder, »Laura, Laura«. Und an das Blut überall.

Peter Taler trank die Flasche leer, holte sich die zweite und starrte aus dem Fenster.

Kein Mensch, kein Tier, keine Bewegung. Der Regen hatte aufgehört, Amy Winehouse sang Love Is a Losing Game.

Warum, fragte er sich, habe ich nie ein Foto gemacht? Dann könnte ich jetzt die Bilder vergleichen. Wie bei »Finde die sieben Unterschiede«.

Er ging in die Küche und begann zu kochen. Als er zurück zum Fenster kam, legte die Straßenlaterne schon ihre Glanzlichter auf den nassen Asphalt und die geparkten Autos.

[22] 3

Lauras kleine Digitalkamera war dort, wo sie immer gewesen war: Im Rollkorpus, der unter ihrem Zeichentisch stand. Er stammte aus der Zeit, als sie Illulaura gründete. So nannte sie die GmbH, mit der sie sich als Illustratorin selbständig machen wollte. Peter war als gleichberechtigter Partner eingestiegen, hatte die Administration übernommen und die Hälfte beigesteuert zu den zwanzigtausend Franken Gründungskapital. Diese waren rasch für Büroausstattung, Elektronik, Material und laufende Ausgaben draufgegangen, und bald musste Laura einsehen, dass sie gegen die etablierten Grafiker, die zu Dumpingpreisen ihre Beschäftigungslücken stopften, keine Chance hatte. Die Illulaura stellte ihre Tätigkeit ein. Vorläufig, wie Laura immer betonte. Löschen komme nicht in Frage, schon wegen des Namens. Bis heute hatte sich Taler daran gehalten.

Laura nahm eine feste Anstellung als wissenschaftliche Illustratorin in einem Lehrmittelverlag an. Immerhin durfte sie einen Teil ihrer Arbeit zu Hause machen. Deswegen war eines der drei Zimmer der Wohnung ihr Atelier geblieben, das Illulaura-Zimmer. Dort hatte sie ab und zu geschlafen, wenn sie Streit hatten.

In diesem Raum stand auch ihr Computer mit einem [23] großen Flachbildschirm. Nach ihrem Tod hatte die Polizei vergeblich die Festplatte nach Indizien durchsucht, die auf ein Motiv hindeuteten. Seither stand er kaum benutzt an seinem Platz. Taler besaß keinen eigenen, er verbrachte im Büro schon zu viel Zeit vor dem Bildschirm.

Taler nahm die Batterie aus der Kamera und steckte sie ins Ladegerät. Ein rotes Licht ging an. Bis es grün war, hatte er Zeit, ein paar Einkäufe für das Wochenende zu machen. Es war Samstag.

Ein kühler Morgen. Der Himmel war von einem hellen Grau, das sich im Laufe des Tages in ein blasses Blau verwandeln dürfte. Es war trocken bis auf die Pfützen des gestrigen Regens. Peter Taler überquerte die Straße und betrat das Trottoir, das an den Gärten der Einfamilienhäuser entlangführte.

Knupp, in einem grauen Overall, harkte im Gemüsebeet. Er sah kurz auf, und Taler nickte ihm zu, obwohl er wusste, dass der Alte ihn ignorieren würde. Beim Vorbeigehen roch er die frischen feuchten Erdschollen.

Etwa zehn Minuten ging er durch das noch stille Wohnviertel, bis er »Juanitos« erreichte. Ein Spanier der zweiten Generation hatte den dahinsiechenden Quartierladen vor ein paar Jahren übernommen und daraus mit einem klugen Sortiment einen florierenden Minisupermarkt gemacht. Bei Juanitos gab es alles, was man in der Stadt zu kaufen vergessen hatte oder was einem zu Hause ausgegangen war. Und wer keine Lust hatte zu kochen, konnte sich dort mit täglich frisch gemachten Tapas eindecken.

Mit einer schweren Einkaufstüte in jeder Hand machte sich Taler auf den Weg nach Hause.

[24] In Knupps frisch geharktem Gemüsebeet stöberten zwei Amseln nach Würmern. Er blieb kurz stehen und betrachtete den Garten. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sein Eindruck, etwas habe sich verändert, mit diesem Grundstück zu tun hatte.

Bei den Briefkästen stellte er seine Einkaufstaschen ab und sah in seinen Schlitz. Nichts. Als er die Taschen wieder aufhob, warf er einen Blick zu Knupps Haus. Er sah gerade noch, wie der alte Mann vom Fenster in den Schatten des Zimmers zurücktrat.

Die Batterie war geladen. Er setzte sie ins Gehäuse ein, baute Stativ und Kamera an der Stelle auf, wo er immer stand, und machte ein paar Referenzfotos. Für das nächste Mal, wenn er das Gefühl hatte, etwas sei anders.

Danach setzte er sich mit der Zeitung in einen der Wohnzimmersessel und versuchte zu lesen.

In einem Stadtkreis ganz in der Nähe war eine junge Frau erschossen worden. Sie lag im Vorgarten des Hauses ihrer Eltern. Keine Zeugen, keine Verdächtigen, kein Motiv.

Die Meldung war kurz, wohl weil die Zeitung erst knapp vor Redaktionsschluss davon erfahren hatte. Aber für den folgenden Hinweis war genug Zeit geblieben:

»Der Fall erinnert an den Fall Laura W. vor etwas über einem Jahr. Die junge Frau war vor ihrer Haustür erschossen worden, während sie darauf wartete, dass ihr Mann die Haustür öffnete (sie hatte den Schlüssel vergessen). Die Polizei tappt bis heute im Dunkeln.«

Sie wussten nicht, wie viel Zeit er sich gelassen hatte, um auf den Türöffner zu drücken. Niemand wusste es, auch [25] der Polizei hatte er nichts davon erzählt. Nur, dass sie Sturm geläutet hatte. Aber nicht, wie lange.

Er ließ die Zeitung auf den Teppich fallen und stand abrupt auf, um die Bilder zu vertreiben: Laura mit ihrem Mörder im Rücken, wie sie Sturm läutet, um ihr Leben zu retten. Er selbst oben in der Wohnung, wie er zur Strafe für ihr Zuspätkommen und ihr Schlüsselvergessen aufreizend langsam zur Tür geht.

Und der Mörder. Wie er auf Laura zielt und sie von hinten ins Herz trifft.

Die Ballistiker konnten nicht einmal genau bestimmen, woher der Schuss kam. Alles, was sie wussten, war, dass es sich beim Projektil um das Kaliber .22 lfB Subsonic handelte. Munition, die hauptsächlich beim Sportschießen verwendet wird. Subsonic bedeutete, dass der Schuss aus einer schallgedämpften Waffe abgegeben worden war.

Je länger sich keine Hinweise finden ließen, desto hartnäckiger setzte sich die Vermutung durch, dass Laura tatsächlich nur zum Sport abgeknallt worden war.

Das Einzige, was darauf hindeutete, dass sie den Schützen gekannt oder zumindest gesehen haben musste, war ihr Sturmläuten. Obwohl: Dass Laura Sturm läutete, war auch früher schon vorgekommen.

Sie war nach der Arbeit noch mit Barbara ins Troca gegangen. Barbara war eine Arbeitskollegin, die sie schon aus ihrer Ausbildungszeit kannte. Die beiden Frauen hatten Prosecco getrunken, ziemlich viel in anderthalb Stunden, die Gerichtsmedizin wies einen Blutalkoholwert von eins Komma zwei nach.

Um Viertel vor acht nahmen die beiden Frauen den Bus. [26] Barbara stieg nach drei Stationen aus, Laura fuhr weiter. Es gab Zeugen, die sie allein im Bus gesehen hatten. Sie habe dagesessen und vor sich hingelächelt und manchmal sogar ein bisschen aufgelacht.

Auch der Busfahrer konnte sich an sie erinnern. Sie habe beinahe die Station verpasst und, als er schon anfahren wollte, »Stopp!« gerufen. Er habe noch einmal angehalten und die Tür geöffnet, und sie habe sich herzlich bedankt. Sie sei der einzige Fahrgast gewesen, der an der Station Kalkstraße ausgestiegen sei.

Die letzte Zeugin, die Laura lebend gesehen hatte, war Frau Kaab, die Bewohnerin vom Gustav-Rautner-Weg 33, dem Haus mit den Sonnenkollektoren. Sie hatte den Müll zum Container gebracht und mit Laura ein paar Worte gewechselt. Sie habe lachend zu ihr gesagt: »Eigentlich Männerarbeit.« Und Laura habe geantwortet: »Wir wechseln uns ab. Einmal bring ich ihn raus und das andere Mal er nicht.«

Wenig später wurde Laura Wegmann von Herrn Zeier vor dem Hauseingang tot aufgefunden. Alle Nachbarn wurden befragt. Niemand hatte etwas gehört. Niemand hatte etwas gesehen.

Peter Taler öffnete die Schublade der kleinen Kommode neben der Garderobe in der Diele und wühlte in den Fresszetteln, Briefumschlägen, Notizen, Fahrkarten und Geschäftskärtchen, die sie fast bis zum Rand füllten. Es dauerte eine Weile, bis er fand, was er gesucht hatte: eine Visitenkarte mit dem Emblem der Polizei und dem Namen Giovanni Marti, Detektivwachtmeister.

Marti war der Beamte gewesen, mit dem er damals am [27] meisten zu tun gehabt hatte. Ein freundlicher, ruhiger Mann Ende fünfzig, den sein Beruf, wie er Taler einmal gestand, »leider empfindlich statt abgestumpft gemacht hat«. Er war der Einzige, mit dem Taler noch Kontakt hatte. Er hatte ihm versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten. Peter dürfe ihn auch immer ungeniert anrufen.

Er wählte die Handynummer, die auf die Karte gekritzelt war.

»Ich habe Ihren Anruf erwartet«, sagte Marti. »Ich hätte mich auch gemeldet, sobald wir mehr wissen.«

»Irgendetwas können Sie bestimmt schon sagen.«

»Der Fall weist Ähnlichkeiten auf: Niemand hat etwas gehört, niemand hat etwas gesehen, niemand kann sich ein Motiv vorstellen. Aber wir sind noch ganz am Anfang.«

»Und die Waffe?«

»Auch zu früh. – Aber sicher nicht dieselbe. Anderes Kaliber, zweiunddreißig.«

Taler schwieg.

Wie zur Ermutigung fügte der Wachtmeister hinzu: »Zweiunddreißig wird aber auch als Sportmunition eingesetzt.«

»Dieses Schwein!«, stieß Taler hervor.

»Wie gesagt: Wenn ich mehr weiß, melde ich mich.«

Sie legten auf. Taler ging zu seinem Posten am Fenster.

Der Lancia der neuen Mieter stand auf seinem Parkplatz. Die Frau hob das Baby, dessen Weinen jetzt manchmal durch die Nacht drang, aus der Babyschale. Der Mann war damit beschäftigt, Einkaufstaschen aus dem Kofferraum zu holen. Er hatte rotes Haar, das so weit hinten ansetzte, dass es aussah wie ein verrutschtes Babykäppchen.

[28] Hinter der Familie, auf der anderen Straßenseite, trat Knupp aus dem Garten. Er trug eine braune, schlabberige Kordhose, einen grünen Pullover und ein ausgebeultes Tweedjackett. Er hatte eine abgewetzte, ehemals rote Einkaufstasche in der Hand. Taler wusste, dass sich darin eine zusammengerollte gemusterte Nylontasche befand. Knupp benutzte sie meistens zusätzlich auf dem Rückweg von seinen Einkäufen.

Der Alte trat aufs Trottoir und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Juanitos mied er. Vielleicht war er ihm zu teuer, oder vielleicht wollte er keinen Nachbarn begegnen und mit ihnen ein Wort wechseln müssen.

Peter sah der hinkenden Gestalt nach, bis sie in der Kurve verschwunden war.

Der Gustav-Rautner-Weg lag wieder still da. Wie das Spiegelbild auf einem glatten See, kurz vor dem Steinwurf.

Es gab nicht viele Orte, wo sich der Mörder hätte verstecken können. Knupps Hecke, die verzinkten Müllcontainer, die geparkten Autos, die drei immergrünen Büsche am Rand des Plattenwegs, der von den Briefkästen zum Hauseingang führte. Die Polizei ging davon aus, dass der Täter motorisiert war und Laura im Auto verfolgt oder erwartet hatte.

Ein Rauhhaardackel überquerte die Straße und ging auf Knupps Gartenzaun zu. Er gehörte zu einer Wohnung der Mehrfamilienhäuser in der zweiten Reihe, Peter Taler kannte sogar seinen Namen: Joggi.

Der Hund schnupperte am Zaun, hob das Bein, beschnupperte seine eigene Markierung, hob das Bein nochmals und ging befriedigt weiter.

[29] Und plötzlich war es wieder da, das Gefühl, dass etwas anders war.

Das Stativ mit Lauras Kamera stand noch am selben Ort. Peter machte ein paar Fotos, nahm die Speicherkarte heraus, startete ihren Computer und schob die Karte in das Lesegerät. Das Fotoprogramm importierte die Bilder.

Das erste zeigte ihn selbst. Er saß lächelnd und unrasiert im Bett, auf den Knien ein Frühstückstablett mit Croissants, Orangensaft, Kaffee, einem kleinen Geschenkpaket und einer Brioche, in deren Mitte eine brennende Kerze steckte.

Das Bild war am vierten Mai aufgenommen, seinem einundvierzigsten Geburtstag. Laura hatte ihn mit einem Frühstück im Bett überrascht. Im Päckchen war ein Moleskin-Notizbuch gewesen, in das er, so stand es in der Widmung, nur Erfreuliches hineinschreiben durfte. Es fanden sich drei Einträge darin, der letzte vom siebzehnten Mai, ihrem Todestag: »Das Hoch Isidor hat den Frühling gebracht.« Er hatte das Geschenk und vor allem die damit verbundene Auflage etwas dämlich gefunden und den Eintrag nur ihr zuliebe notiert.

Es gab noch mehr Fotos von diesem Geburtstagsmorgen, auch eines, das er aufgenommen hatte. Laura, nur mit einem Slip bekleidet. Das Geburtstagsfrühstück war nämlich noch richtig schön geworden. Sie waren beide zu spät zur Arbeit erschienen.

Danach kamen die Fotos von der Fensteraussicht. Es waren neun, mehr als er gedacht hatte. Er markierte sie und druckte sie auf Lauras Farblaserdrucker aus. Ebenfalls aus dem Inventar der Illulaura GmbH.

[30] Taler legte die Bilder nebeneinander auf den Esstisch. Der erste Unterschied, der ihm ins Auge fiel: Auf dem Parkplatz vor dem Haus stand – Rohrbachs silbergrauer Polo!

Die Familie Rohrbach war vor drei Monaten ausgezogen.

Er ging zurück zum Bildschirm und prüfte die Bildinformation. Das Foto war am sechzehnten Mai des vergangenen Jahres aufgenommen worden. Am Tag vor Lauras Tod.

Wenn Laura fotografierte, hatte sie es immer mit einem gewissen gestalterischen Willen getan, eine déformation professionelle, wie sie es nannte. Aber an diesem Bild war nichts von künstlerischem Ehrgeiz zu entdecken. Es war so banal wie die, die Peter geschossen hatte. Als hätte auch sie nur etwas dokumentieren wollen.

Er brauchte nicht lange, um herauszufinden, was es war. Neben dem Sitzplatz mit den rot gestrichenen Gartenmöbeln, dort, wo der japanische Zwergahorn gestanden hatte, war jetzt ein Loch. Auf den Steinplatten lag etwas Aushub auf einem Haufen und daneben, als Kleinholz mit noch grünen Ästen, das hübsche Bäumchen.

Weshalb wollte Laura wohl das Ende des Zwergahorns festhalten? Und weshalb hatte sie ihm nichts davon gesagt?

Die Perspektiven seiner Fotos stimmten nicht mit Lauras überein. Er verschob und verstellte Stativ und Kamera, bis er fand, der Blickwinkel sei derselbe. Er benötigte viele Versuche, bis die Fotos tatsächlich so genau übereinstimmten, dass er sie auf transparentem Papier ausdrucken und auf Lauras Leuchtkasten übereinanderlegen konnte.

Die Container standen ein wenig anders, die Autos auch, [31] die Gartenmöbel stimmten nicht überein, gewisse Fenster waren offen und andere zu, das Licht war verschieden, und auf Lauras Foto war ganz am rechten Bildrand die Hälfte eines Mopeds zu sehen, das aus dem Bild fuhr.

Und der japanische Zwergahorn war wieder da.

Taler knipste seine Nachttischlampe an und setzte sich auf. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen und was ihn so abrupt aus dem Schlaf gerissen hatte.

Der Wecker zeigte kurz nach vier. Keine gute Zeit, um wieder Schlaf zu finden.

Er öffnete die Nachttischschublade und nahm die Pistole heraus.

Seit Lauras Tod hatte er sich zum Einschlafen mit immer der gleichen Phantasie von seinem Schmerz abgelenkt: Er stellte sich vor, wie er seine Pist 75, die persönliche Waffe, die er als Sanitätssoldat gefasst hatte, hervorzog, sie auf Lauras Mörder richtete und ohne Zögern das Magazin leerschoss. Neun Schuss.

Aber diesmal funktionierte es nicht.

Waren es die Tapas von Juanitos, aus denen sein Abendessen bestanden hatte und die immer mit etwas viel Knoblauch und Öl zubereitet waren? Oder hatte das Kind geweint, dessen Fenster zwei Etagen unter seinem lag?

Er trank einen Schluck aus der Mineralwasserflasche, die neben seinem Bett stand.

Nein, es war kein Geräusch und auch nicht die schwere Mahlzeit, die ihn geweckt hatten. Es war ein Gedanke gewesen. Und er hatte mit den fast deckungsgleichen Fotos zu tun. Aber was?

[32] Peter stand auf und ging in Lauras Arbeitszimmer. Es lag im gespenstischen Licht des Leuchtkastens, den er vergessen hatte abzuschalten.

Er erschrak. Vor zwei Jahren war er auch mitten in der Nacht erwacht und hatte den Platz neben sich leer gefunden. Laura war, wie immer, im Verzug gewesen mit einem ihrer seltenen Privataufträge und hatte Nachtschichten eingelegt. Er wollte nachschauen und hatte ihr Arbeitszimmer so vorgefunden wie jetzt: leer, der Leuchtkasten die einzige Lichtquelle. Er hatte den Kasten ausgeschaltet, und als er die Tür hatte schließen wollen, hörte er plötzlich ihre erschrockene Stimme rufen: »Was, was, was?!« Sie hatte sich auf den Boden gelegt und war eingeschlafen.