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Antonia Rothe-Liermann - MISS EMERGENCY | Operation Glücksstern - Planet Girl

Buchinfo:

Hammerexamen – ich komme! Bewaffnet mit Glückskuli und tausend Karteikarten stürzt Lena sich kopfüber in den Prüfungsstress, um endlich die weltbeste Ärztin zu werden. Doch zwei gute Gründe halten sie vom Pauken ab: eine unwiderstehliche Liebeserklärung von Alex und die Blicke von Dr. Thalheim …

Die Krankenhausserie mit Herzklopfen-Garantie

Autorenvita:

Antonia Rothe-Liermann

© Thienemann Verlag GmbH

Antonia Rothe-Liermann, geboren 1978 in Halle/Saale, studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in Potsdam-Babelsberg. Danach arbeitete sie als Storyliner und Autorin für verschiedene Produktionen der Grundy UFA und teamworx. Seit 2007 schreibt sie als freie Autorin für Spielfilme und Serienproduktionen. Sie verfasste u. a. als Co-Autorin Drehbücher für die RTL-Erfolgsserie »Doctor’s Diary« (Chefautor: Bora Dagtekin).

Danke

an Dr. Maria, die sich entschieden hat – für Karriere
UND Liebe. Und sich ewig bindet, einfach so.

1

Das war eine richtig schöne Party, Mädels! Was mich besonders freut, weil es ja unsere letzte war.«

Ich hebe den Kaffeebecher mit aller Kraft, die ich nach einer durchtanzten Nacht noch in meinen Arm befehlen kann, und stoße etwa vier Zentimeter über der Tischplatte meine neue Dr.-Pille-McCoy-Tasse gegen die anderen beiden Becher, die mir ebenso müde entgegengeschoben werden. Einer, mit einer freundlichen Playmobil-Ärztin und einer, mit grinsender Tierarzt-Barbie.

Meine beiden gähnenden Freundinnen hinter den Bechern nicken. »Jawohl«, antwortet Jenny und zieht ein Konfettipünktchen aus ihren wilden Locken, die Tassen-Barbies Haarpracht in nichts nachstehen. »Von nun an bleiben wir Tag und Nacht vor unseren Büchern sitzen.«

»Und das«, gibt Isa zu bedenken, »hätten wir vielleicht gestern bereits tun sollen. Jetzt haben wir schon einen Tag verloren.«

Aber das sehe ich anders. EIN MAL wird man ja wohl feiern dürfen, wenn man drei Tertiale Klinik, gefühlte tausend Anamnesen und Diagnosen, Chefarztvisiten und Fallvorstellungen, Nervenkrieg und Anfängerpanik überstanden hat. Denn seit wir im letzten Sommer unser Praktisches Jahr am St.-Anna-Krankenhaus begonnen haben, träumen wir von diesem Tag.

Sehnsuchtsvolle Träume. Wenn das PJ abgeschlossen ist, trennt uns nur noch eine einzige Prüfung von unserem Ziel: dem Arztberuf.

Und Albträume. Diese Prüfung wird die schwerste unseres Lebens. Von heute an, da hat die fleißige Isa recht, dürfen wir keinen Tag mehr verlieren. Von heute an, das sieht selbst die sonst so vergnügungssüchtige Jenny ein, müssen wir lernen, lernen und lernen.

Noch etwas mehr als 100 Tage bis zum Hammerexamen. Knapp vier Monate Lernzeit bleiben uns, um einfach alles in unsere Köpfe zu brennen, was eine Ärztin zu wissen hat.

Drei Tage dauert der schriftliche Teil, 320 Aufgaben, von denen mindestens 60 Prozent richtig gelöst werden müssen. Und als wäre das nicht genug, folgt auf den schriftlichen der zweitägige mündlich-praktische Teil mit Prüfung am Patienten und Fragestunde. Jawohl, Mädels, von heute an herrscht hier eiserne Disziplin.

»Auf den verlorenen Tag und darauf, dass er uns durch die nächsten Monate trägt, in denen wir uns jeden Spaß versagen müssen.« Jenny gießt noch mal Kaffee nach, noch einmal plongen Medizin-Barbie, Dr. Pille und Playmo-Ärztin aneinander.

Ich glaube nicht, dass Jenny wirklich JEDEM Spaß entsagen wird, sie ist viel zu unruhig, um mehr als sechs Stunden stillzusitzen, und hat zu viel Angst, etwas zu verpassen, um sich 110 Tage lang zu Hause einzusperren.

Und du, Lena? Wirst du es schaffen? Dich nicht mehr ablenken zu lassen, an nichts anderes mehr zu denken?

Seit dem Kindergarten bin ich entschlossen, Ärztin zu werden. Bisher habe ich jeden Schritt auf dem Weg dorthin irgendwie gemeistert. Manche zaghaft, auf Zehenspitzen, tastend und ängstlich. Andere wie in Marschstiefeln, entschieden und gelegentlich etwas zu zackig. Ist mein Ärztinnengang inzwischen sicher genug, um mich ohne Stolpern durch die Prüfung zu tragen? Kann ich nun lange genug unter meinem übervollen Schreibtisch die Füße stillhalten?

Eins steht fest: Wenn man eine solche Herausforderung vor sich hat, kann man sich keine bessere Unterstützung denken als meine beiden Freundinnen. Jenny, die garantiert dafür sorgen wird, dass wir nicht zu hutzeligen Lerngreisinnen versauern. Und Isa, die ganz gewiss aufpasst, dass wir uns nicht ZU OFT ablenken lassen, und auch im Lernsumpf unser sicherer Steg sein wird.

»ZWEI verlorene Tage«, korrigiert Isa bekümmert und beschreibt mit schlapper Hand einen Kreis, der unsere ganze Küche umspannt. Ein unfassbares Chaos. Luftschlangen pappen an verklebten Gläsern, Chipsreste verwelken zwischen den Konfettipunkten auf dem Boden, alle Teller, die wir besitzen, türmen sich im Spülbecken. (Wie schön war die Woche, in der wir eine Spülmaschine besessen haben. Und wir haben sie nie benutzt.)

Okay. Zuerst müssen wir aufräumen. Schicksalsergeben beginne ich den Berg Geschenkpapier zusammenzufalten, der den halben Küchentisch bedeckt. Unglaublich, zu welchen Gaben sich unsere Gäste durch das bestandene PJ inspiriert fühlten. Chirurgen-Badeentchen, ein Seuchen-Quartett und Duschgel in Blutoptik (schön präsentiert im Infusionsbeutel). Aber die Doktoren-Kaffeebecher sind eindeutig das Beste – besonders nachdem Isa sie zum dritten Mal bis zum Rand gefüllt hat.

Irritiert ziehe ich einen Schlüsselbund unter dem Papier hervor, der von seinem Besitzer sicher händeringend gesucht wird.

»Na los«, auch Isa erhebt sich seufzend, »fangen wir an!«

Jenny pustet in ihren Kaffee und lächelt unschuldig. »Oder wir bitten die Herren … die gestern so großspurig getönt haben, uns von nun an jeden Wunsch von den Augen abzulesen, wenn wir nur eine Zehntelsekunde Zeit finden, den Blick aus den Büchern zu heben.«

Das stimmt. Die beiden festen Freunde meiner Mädels haben sich schier überschlagen vor Hilfs- und Unterstützungsangeboten. Ist es dreist, sie jetzt gleich beim Wort zu nehmen? Isas Freund Tom, der in München als Koordinator für Freiwillige Hilfsdienste arbeitet, ist ein wahres Organisationstalent. Und Jennys Freund Felix ein Sunnyboy, dem nichts die Laune trübt und der trotzdem ordentlich zupacken kann. Zu zweit hätten sie unser Chaos sicher schnell im Griff. Und wir könnten jetzt schon mal mit dem Lernen … (Na ja, Lena, wenn du ehrlich bist, sehnst du dich nicht nach deinem Schreibtisch, sondern nach deinem Bett.) Aber ich kann die Jungs schlecht um Hilfe bitten, schließlich ist keiner von beiden MEIN Freund.

Weil Lena ja spontan übergeschnappt ist. Spontan überfordert. Von ihren Männer- und Zukunftsmöglichkeiten. Wer hätte das jemals ahnen können?! Na, ich sicher nicht.

Drei Monate Liebessehnsucht. Drei Monate, in denen ich alles dafür gegeben hätte, einfach mit IHM zusammen sein zu dürfen. Tobias. Der Oberarzt der Inneren, der wortkarge Mann mit den warmen Augen, der immer weiß, was zu tun ist. Und dann, als er endlich zu mir zurückkam, war alles anders. Er kam höchstens eine Woche zu spät. Aber irgendwie hatte sich mein Herz beruhigt.

Plötzlich war das Ziel aller bisherigen Wunschträume keine Oase mehr, die man halbverdurstet mit letzter Kraft erreicht und in der man für immer bleiben will. Sondern eher ein Stern, der in der Ferne funkelt, bei dem man aber fürchten muss, dass er aus der Nähe besehen auch ein Stein sein könnte. Während es da noch einen anderen Planeten gibt – der ganz unbemerkt zur Heimat geworden ist.

In diesem Moment erkenne ich den Schlüssel in meiner Hand. Ein Wohnungsschlüssel. Zu einer kleinen, etwas unordentlichen Wohnung, in der über einer Riesencouch vier Leuchtbuchstaben aus einer alten Kino-Reklame hängen, die das Wort HIER bilden.

Alex. Der mein Freund war, der beste männliche Freund, den ich je hatte. Und dann auf einmal mehr. Der mich von meiner traurigen Sehnsucht erlöst hat. Der alles plötzlich ganz leicht – und so viel komplizierter gemacht hat.

Er ist also noch da, vielleicht schläft er auf der Couch in Jennys Zimmer.

Ich stehe unschlüssig im Flur, in der Hand den Schlüssel, als Alex aus dem Bad kommt. Seine Haare sind verstrubbelt und nass, er trägt ein T - Shirt von Felix und ist noch ziemlich verschlafen. Als er mich anlächelt und mir einen Guten Morgen wünscht, sieht er aus wie ein kleiner Junge.

Wie kann er sich so normal benehmen?! Er ist zu unserer Party gekommen, als wären wir nie mehr als Freunde gewesen; wir haben gelacht und gesungen und sogar miteinander getanzt. (Okay – das erst, nachdem er sowohl Jenny als auch Isa aufgefordert hatte … aber trotzdem.) Ich weiß nicht, was es ihn kostet, sich so locker zu geben. Aber wenn es ihm schwerfällt, in meiner Nähe zu sein, dann lässt er es sich nicht anmerken.

Und ich? Wie kann ich das annehmen? Hab ich es mir bequem gemacht in der Möglichkeit? Genieße ich es rücksichtslos, einen vertrauten Freund zu haben – obwohl ich doch weiß, dass seine Gefühle ganz andere sind? Jenny hatte ihn eingeladen, ich hätte mich nicht getraut. Aber wie froh war ich, als er kam – und so unbeschwert wirkte. Muss ich jetzt irgendwas dazu sagen? Dass es mir leidtut? Dass ich zwar beschlossen habe, im Moment überhaupt keinen Freund zu wollen, er aber trotzdem ein fabelhafter Freund WÄRE?

Meine Mädels haben die Zwei-Männer-Frage hin- und hergewendet. »Nichts ist schlimmer, als sich falsch zu entscheiden«, findet Isa. Jenny hingegen behauptet, ich könnte die Entscheidung nur deshalb nicht treffen, weil ich so lange auf Tobias gewartet habe – und mir nun nicht eingestehen will, dass ich ihn im Laufe der Zeit immer mehr vermärchenprinzt habe.

Inzwischen ist die Frage irgendwie kleiner geworden, nicht mehr eine Entscheidung, die ich lieber heute als morgen treffen muss.

Ich werde das nächste Vierteljahr sowieso nicht von meinen Büchern aufschauen können. Es wäre ja unsinnig, dabei einen Freund neben dem Schreibtisch sitzen zu haben. Vorausgesetzt man wüsste, WELCHEN. Vernunfts-Lena hat die Frage bis nach dem Examen vertagt. Entschlussunfähigkeits-Lena hofft auf unvorhergesehene Ereignisse, die ihr die Entscheidung abnehmen.

Ich sollte Alex das alles irgendwie mitteilen. Wenn ich es in zwei bis drei eindeutigen Sätzen formulieren könnte. Ich öffne den Mund … aber alles, was herauskommt, ist: »Kaffee?«

Da spricht eindeutig Feigheits-Lena.

Alex lächelt. »Es gibt fast nichts, was ich mir mehr wünschen würde als einen Kaffee.«

Ja ja, Botschaft angekommen. Alles klar, Lena – du MUSST irgendwas über die blöde Situation zwischen euch beiden sagen.

Doch Alex grinst. »Noch lieber wäre mir nur, wenn es zu dem Kaffee ein Erdbeerbrot geben würde.«

Okay. Nett, dass er es so auffängt. Oder er wollte mich von vornherein nur provozieren.

»Hab ich nicht«, sage ich bedauernd. »Ich hab nicht mal eine Ahnung, wie so was aussehen soll.«

»Ich weiß«, sagt Alex ruhig. »Ich nehm den Kaffee.«

Er ist sicher nicht wirklich so bekümmert darüber, dass es kein ERDBEERBROT gibt, also sollte das wohl doch eine Metapher sein. Aber so früh am Tag kann ich mit Gleichnissen nicht umgehen, also nicke ich einfach, schiebe ihn in die Küche und fülle ihm ein Halbliter-Glas voll Kaffee.

Jenny steht mit nachdenklicher Miene am Küchentisch und mustert unsere Geschenke. »Habt ihr nicht auch das Gefühl, dass noch irgendwas fehlt?«, fragt sie verschmitzt.

Isa und ich wechseln einen irritierten Blick. Sollten wir nicht eher das Gefühl haben, dass hier einiges ZU VIEL ist?

Jenny grinst, schaut auf die Uhr und hebt die Hand. »Achtung …«

Einen Moment steht sie starr wie eine Skulptur. Nichts passiert. Isa und ich kichern. Jenny aber schüttelt mit einer winzigen Bewegung unwirsch den Kopf und hebt den Zeigefinger noch einen Zentimeter höher. Und da, wie auf Kommando, klingelt es. Jenny lächelt zufrieden und geht öffnen.

Neugierig folgen wir ihr und werden Zeuge, wie ein Paketbote einen riesigen Karton die Treppe hinaufwuchtet. Jenny unterschreibt, verabschiedet den Boten, schiebt das Paket in den Flur … und bleibt in der offenen Tür stehen. Auf unsere verwunderten Blicke zuckt sie die Schultern. »Sollte mich doch sehr überraschen, wenn da nicht …«

In diesem Moment klingelt es erneut. »Na also«, sagt Jenny und drückt den Summer, woraufhin ein zweiter Zusteller die Treppe hinaufschnauft. Sein Päckchen ist fast genauso groß. »Tja«, meint Jenny cool, als sie die Tür schließt, »seit sie geschieden sind, sind sie noch berechenbarer.«

Offenbar hat sich das schlechte Gewissen der Jenny-Eltern nach der Trennung verdoppelt. Jedenfalls erhält Jenny das obligatorische Belohnungspaket, mit dem ihre Eltern Gespräche, gemeinsame Unternehmungen und sogar mündliches Lob ersetzen, diesmal in zweifacher Ausführung.

Im Mutter-Paket sind Klamotten. Wie immer. Luftige Sommersachen in feinsten Stoffen. Mittlerweile haben Isa und ich keine Hemmungen mehr, Jenny ein paar der Kleider abzunehmen. Sie empfindet die Geschenke meist auch ein bisschen als Kränkung und ist froh, wenn sie sie teilen kann.

Der Sommer strahlt bereits verlockend in unsere Wohnung; wir posieren vor Jennys großem Spiegel in den glitzernden Tops, hauchdünnen Trägerkleidchen und sinnlos-teuren Strandumhängen und träumen von Badeausflügen und Beachpartys. Ja klar, vorerst sind alle Sommer-Vergnügen für uns gesperrt. Aber irgendwann werden wir all diese flotte Couture ausführen. Spätestens, wenn wir unsere bestandenen Prüfungen feiern. Angesichts eines zartblauen Chiffon-Minirocks kann ich nur inständig hoffen, dass dann noch ein wenig Sommer für mich übrig ist.

Das Paket von Jennys Vater enthält Bücher. Einen riesigen Stapel, fast zehn Kilo schwer – die ganze Ausgabe Mündliche Prüfung kompakt von Band 1: Allgemeinmedizin bis Band 40: Umweltmedizin und Toxikologie. Oh, Mann, wenn das schon »kompakt« ist, dann steht uns wirklich eine harte Zeit bevor.

»Er hat sich immerhin Gedanken gemacht«, versuche ich den strengen Herrn Nobelmediziner zu loben.

»Pah«, winkt Jenny ab, »das sucht seine Sprechstundenhilfe aus.«

Ich hätte gern einen Beweis dafür gefunden, dass sie mit dieser Vermutung falschliegt. Dass wenigstens eins ihrer Elternteile zu einer persönlicheren, anteilnehmenden Geste imstande war. Leider finde ich in Band 1 – Allgemeinmedizin einen Zettel der Sprechstundenhilfe: Liebe Jenny, ich hoffe, das ist das Richtige für die Vorbereitung. Wenn nicht, tausch ich es um. Viel Erfolg beim Lernen, im Namen Deines Vaters, Schwester Mathilde.

»Nur weil dein Vater vergessen hat, einen Brief beizulegen …«, schwindle ich und knautsche den Sprachstundenhilfe-Zettel unauffällig in meine Hosentasche. Aber Jenny sieht mich lieb an.

»Glaub mir, Lena, hier muss niemand geschont werden. Ich kann wirklich prima damit umgehen. Und jetzt rück das Briefchen von Schwester Mathilde wieder raus; die vergisst das nämlich NIE.«

Betreten ziehe ich den Knautschbrief aus der Tasche. Vielleicht kann ICH ja nicht damit umgehen?!

Jenny nimmt mich in den Arm, als müsste tatsächlich ich über ihre herzlosen Eltern hinweggetröstet werden. »Ich hab doch euch!«, sagt sie, dann klopft sie zufrieden auf den Bücherstapel. »Und dank mir habt IHR die beste Vorbereitung der Welt. Nur für den Fall, dass jemand von euch in Toxikologie geprüft werden sollte.«

Tja, das ist es nämlich: Wir wissen noch gar nicht, in welchem Fach wir schließlich Rede und Antwort stehen müssen. Klar, in Innerer Medizin und Chirurgie werden wir alle geprüft, dazu in unserem Wahlfach – Jenny und ich also in der Gynäkologie. Das vierte Fach erfahren wir aber erst, wenn der gefürchtete gelbe Brief vom Landesprüfungsamt eintrudelt. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Phase VOR dem Brief, in der ich wahrscheinlich unorganisiert und angstgetrieben versuchen werde, mir Grundlagen in allen nur denkbaren Fächern von Epidemiologie bis Pathologie ins Hirn zu zwingen … oder der Moment, in dem ich den Brief öffne, erfahre, dass es ausgerechnet die verhasste (und vollkommen vernachlässigte) Rechtsmedizin ist und ich noch genau zwei Wochen Zeit habe – mein Hirn aber leider schon vollkommen mit Epidemiologie und Pathologie verstopft ist …

Isa erwischt es dabei doppelt hart. Weil sie im Wahltertial erneut Chirurgie belegt hat, statt mit uns auf die Gynäkologie weiterzuziehen, darf sie kein Teil unserer Prüfungsgruppe sein. Die PJler mit demselben Wahlfach werden gemeinsam geprüft; Isa aber muss nicht nur das geloste Fach allein lernen, sie wird auch das Examen mit einer Gruppe PJler durchstehen müssen, von denen sie bis zum gelben Brief nicht mal die Namen kennt.

Aber Isa ist diejenige, die davor am wenigsten Angst hat. Ihr Lernplan war schon vor dem ersten PJ-Tag fertig.

»Wir schaffen das«, sagt unsere Kleine zuversichtlich, als sie Band 40 zurück auf den Bücherstapel legt. »Und Toxikologie lerne ich in Woche neun.« Da haben wir’s. Sie hat sogar alle Unterfächer schon in ihren Arbeitsplan eingetaktet. Und den Plan im Kopf! Der sieht vor, dass sie von nun an jeden Tag acht Stunden am Schreibtisch verbringt. Und Freizeit ist gestrichen.

Tom, der eben eine Leiter in die Küche wuchtet, um die Deko-Spiralen von der Decke abzunehmen, gibt Isa einen Kuss. »Wenn du erst siehst, was für einen perfekten Arbeitsplatz ich dir eingerichtet habe!«, lächelt er. Und erklärt uns stolz, dass er für Isa in seiner Münchner Wohnung einen Extra-Schreibtisch aufgestellt hat. Damit sie zusammen sein können und seine Verlobte trotzdem keine Lerneinbußen erleidet. Hatte ich erwähnt, dass die beiden schon verlobt sind?! Sobald Isa ihr Examen bestanden hat, folgt die Hochzeit. Sie sind sich so sicher, man könnte neidisch werden.

Moment, Lena, DU nicht! Du hättest genau das haben können: einen Mann, der dir einen Schreibtisch einrichtet. Einen, bei dem sogar die ganze Medizinbibliothek vom Tisch aus erreichbar ist. ZWEI Männer! Denn Alex benutzt seinen Schreibtisch ohnehin nie und hätte ihn dir sicher sofort überlassen. Also ist es völlig unangemessen, Isa um ihren Zweitarbeitsplatz zu beneiden!

Jenny tut das gewiss nicht, im Gegenteil. »Eins steht fest, Schatz«, grinst sie zu Felix hinauf, der auf den Tisch gestiegen ist, um beim Abfriemeln der Regenbogen-Spiralen zu helfen. »Wenn DU mir einen Arbeitsplatz einrichtest, trenn ich mich.«

Felix beugt sich herunter, schlingt ihr zärtlich eine der Girlanden um den Hals und entgegnet: »Ich denke gar nicht daran. Ein Schreibtisch kommt mir nicht ins Haus.«

»Tausend Dank«, sagt Jenny und »nichts für Ungut« in Toms Richtung, bevor sie Felix hingebungsvoll abknutscht. Könnte das Geküsse mal aufhören?! Ich bin immerhin auch noch da! (Nein! Entscheide dich, dann kannst du auch knutschen, Lena. Sobald du weißt, WEN!)

»Mal ehrlich, Mädels«, sagt Jenny und schlingt die Enden ihrer Girlande um Isa und mich, »wir machen uns auch nicht verrückt, oder?! 110 Lerntage – da werden wir ja wohl alles hinkriegen.«

Klar. Es wirkt wie eine unfassbar lange Zeit. Aber wie schnell die letzten neun Monate vergangen sind, sollte mir eine Warnung sein: Immerhin kommt es mir oft genug vor, als sei ich erst letzte Woche in Berlin gelandet. Ich muss einen schönen, gesunden Mittelweg finden. Dass Jenny nicht bereit ist, die Wochenenden der Arbeit zu opfern, könnte mir ab und an zu einem entspannten Regenerations-Sonntag verhelfen. Aber ansonsten halte ich mich in punkto Disziplin wohl lieber an Isa und ihren 8-Stunden-pro-Tag-Codex. Schließlich möchte ich promovieren und brauche dafür eine Bomben-Punktzahl. Und überhaupt, was soll mich denn abhalten, außer dem inneren Schweinehund?! Männer ja ganz sicher nicht. Bestimmt ist es unfassbar klug, die Prüfungsphase ohne festen Freund zu absolvieren! Ich werde mein Leben von heute an nur noch mit Arbeit füllen! Keine Ablenkung durch Geküsse und Fremd-Schreibtisch-Einrichterei.

Jenny nimmt die Girlande ab und faltet sie zusammen. Und als sie sieht, wie Isa Anstalten macht, eine Handvoll silberner Sterne in einen Müllsack zu befördern, fällt sie ihr in den Arm. »Keine Übertreibungen, Süße! Die heben wir auf.« Sie nimmt ein Tütchen Zimt aus dem Gewürzregal, kippt den Inhalt in einen Eierbecher, füllt die Sterne in das Zimttütchen und legt es zurück ins Gewürzregal. »Na hört mal!«, sagt sie empört, als sie unsere irritierten Blicke bemerkt. »Das war doch nicht die letzte Party unseres Lebens!«

2

Noch 109 Tage …«, seufzt Isa am nächsten Morgen in ihren Playmo-Kaffeebecher. Jenny und ich nicken ergeben. Eine verdammt lange Zeit, die furchterregend schnell zusammenschrumpfen wird. »Womit fangt ihr an?«

Ich habe mir vorgenommen, heute erst mal eine Bestandsaufnahme zu machen. Ich werde ein Probeexamen absolvieren, um festzustellen, wie viel Wissen sich schon unmerklich im Laufe des PJs eingeschlichen hat oder sogar noch aus den Uni-Semestern übrig ist. Weil es schön ist, im Laufe der Lernzeit die eigenen Fortschritte zu sehen. Und weil ja die klitzekleine Chance besteht, dass ich längst alles kann. (Dann würde ich dieses Super-Ergebnis an den Countdown-Tagen 108 bis 107 verifizieren, von Tag 106 bis Tag 2 den Sommer genießen, am Vorprüfungstag einen letzten, gelassenen Blick auf das Inhaltsverzeichnis von Mündliche Prüfung kompakt werfen und dann so entspannt in die Prüfungsräume spazieren, dass man mir bereits am Eingang den Bestanden-Zettel überreicht, weil diese lässige Sommerschönheit einfach die Jahrgangsbeste sein MUSS!)

Isa beginnt mit Lesen; ihr Plan sieht vor, dass sie in den ersten zwei Wochen nur liest, liest und liest. 80 Seiten am Tag. »Ich lächele euch jetzt noch mal an …« Sie schickt ein Lächeln um den Frühstückstisch, das nur ein ganz klein wenig verkrampft wirkt. »Ab morgen werde ich schon beim Frühstück nur in meine Bücher schauen.«

»Dann schenk noch mal Kaffee nach, solange du noch aufzusehen wagst«, entgegnet Jenny ungerührt und wackelt mit der Barbie-Tasse.

Wie sieht denn ihr Arbeitsplan aus? »Ach wisst ihr«, Jenny grinst mit diesem verräterischen Glanz in den Augen, der sagt: Ich weiß, dass ihr nicht gutheißt, was ich tun will, ich bin aber fest entschlossen, mir kein schlechtes Gewissen machen zu lassen. »109 Tage … das ist so unrund«, erklärt sie. »Findet ihr nicht, dass 100 eine viel schönere Zahl ist? Irgendwie greifbarer?«

Alles klar, ich ahne, was kommt.

»100 Tage sind ja immer noch unerträglich lang«, fährt sie fort.

Jenny will sich neun Tage schenken. Die ersten neun Tage. Die Grundstein-Tage. Um mit Felix in den Urlaub zu fahren. Weil sie das Ende des PJs noch nicht angemessen gefeiert hat. Und weil sie sich für die harte Lernphase wirklich noch motivieren muss. Und das am besten mit Meerblick.

Isa wirft mir einen besorgten Blick zu, wagt aber nicht, Jenny zu bevormunden. Und ich muss gestehen, dass ich mir auch nichts Schöneres vorstellen könnte, als erst einmal Kraft zu tanken. Mit Meerblick. Wenn ich den Mut und einen Reisefreund hätte – und diese andere Persönlichkeit sein könnte, die dann wirklich am Strand entspannt, statt sich die kompletten Ferientage mit dem Eisregen des schlechten Gewissens zu verderben –, würde ich vielleicht dasselbe tun. (Nun ja, Lena, wenn sich bei deinem Probeexamen herausstellt, dass du wirklich schon alles weißt, kannst du ja immer noch in den Urlaub fahren. Und dann nicht für neun, sondern für 104 Tage!)

Von dieser Aussicht aufgeheitert, nehme ich tatsächlich ohne Murren am Schreibtisch Platz. Nur schnell 320 Fragen ankreuzen. (Frage 1: Welches Reiseziel wählen Sie für Ihren übermorgen beginnenden Kann-bereits-alles-darf-mich-sonnen-Urlaub? A) Ostsee, B) Barcelona, C) Provence, D) Mexiko, E) Thailand. Das geht ja gut los! Schon die erste Frage ist eine kaum zu lösende Herausforderung! Und man muss fürchten, dass Frage 2 noch schwieriger wird. Wer soll Sie begleiten? A) Ihre Freundinnen, B) niemand, C) Dr. Tobias Thalheim, D) Alex … verdammt. Wer das beantworten kann, bekommt die Approbation auf jeden Fall schon am Einlass!)

Konzentration, Lena. Die tatsächlichen Probeexamens-Fragen können doch nicht schwieriger sein als DAS! Zuversichtlich rufe ich die ersten echten Aufgaben auf. Ein Patient mit stabiler koronarer Herzerkrankung wird nach einer elektiven Ballonangioplastie … Ach nee, Lena. Eine Frage, bei der du das Medizinlexikon schon brauchst, um überhaupt den Inhalt zu verstehen, ist für den Einstieg denkbar ungeeignet.

Wie wäre das: Eine Frau kommt wegen eines Exanthems in Ihre Praxis. Sie sehen ca. 1 cm große, ovale, rötliche Herde am Stamm, die eine ringförmige Schuppung zeigen … Igitt. Auch nicht das Richtige. Kann ich nicht eine Eingangsfrage finden, die Lust darauf macht, noch 319 weitere Aufgaben zu lösen?

Vielleicht die hier: Bei dem 6-jährigen Kindergartenkind Fritz wird eine Hörstörung festgestellt. Es wird eine doppelseitige Schwerhörigkeit diagnostiziert. Welche Empfehlung ist bezüglich der bevorstehenden Einschulung des Jungen am besten zu geben? Ich muss mich zwischen A, B, C, D oder E entscheiden. Das ist machbar. Ich muss nur kurz all die Zusatzfragen loswerden, die in meinem Kopf dazu aufploppen. (Wie kommen die Eltern des Kindergartenkinds auf die Idee, ihren Sprössling Fritz zu nennen? A) Sie sind Fans des alten Preußenkönigs und/oder hoffen, dass es ihr Sohn einmal ebenso weit bringt, B) Schon sein Großvater hieß Fritz, da muss der Junge jetzt durch, C) Die Frage stammt noch aus dem Jahr 1952, als Jungs noch Fritz heißen konnten, ohne dass ablenkungswütige Prüfungsaufgaben-Hinterfrager sich daran festgebissen haben …)

Konzentration, Lena, das ist ganz einfach. B) Der kleine Fritz bekommt Hörgeräte und soll ganz normal in eine Grundschule gehen. Schnell im Lösungskatalog nachgesehen: Richtig! Dem geplanten Urlaub-bis-zur-Bestandenzettel-Übergabe steht fast nichts mehr im Weg.

Der Lösungskatalog ist eine gemeine Verführung. Kaum habe ich einen Blick darauf geworfen, bin ich versucht, meinen ersten Kreuzchen-Test ein klein wenig zu beeinflussen: 1A, 2C, 3D, 4B, 5A … Ohne dass ich es darauf anlege, frisst sich die Liste in meinem Kopf fest. Die ersten fünf Fragen? Kein Problem, ich könnte in Windeseile alles richtig ankreuzen.

Aufhören! Jetzt legst du den Lösungskatalog sofort zur Seite, sonst kannst du den ganzen Fragebogen wegschmeißen! Warum fällt es mir heute nur so schwer, mich zu konzentrieren? A) Weil Jenny im Flur unüberhörbar mit den Koffern rummst? B) Sind das nur obligatorische Startschwierigkeiten? C) Beschäftigt dich immer noch die Urlaubsbegleitungsfrage? Aber wieso?! Wenn das so weitergeht, wirst du gar keinen Urlaub machen – sondern in alle Ewigkeit vor dem ersten Testbogen sitzen bleiben und dir selbst nervige Zusatzfragen stellen!

Meine Zimmertür öffnet sich und Jenny strahlt herein. »In einer Woche bin ich wieder da«, flötet sie. »Spätestens an Tag 100. Und dann legen wir richtig los.«

ICH WILL AUCH! Wenn ich das jetzt sage, stopft Jenny mich in der nächsten Sekunde in ihren Schrankkoffer und eh ich »War nur theoretisch gemeint« sagen kann, liege ich mit ihr am Strand.

»Viel Spaß«, sage ich brav – entschlossen, mich bis zu ihrer Rückkehr an Tag 100 nicht vom Tisch weg-, dafür aber stracks auf Frage 320 zuzubewegen.

Und dann stehen wir doch auf der Straße und sehen zu, wie Jenny das Gepäck in ihr winziges Auto wuchtet. Dazu eine Luftmatratze, Kühltasche, Strandmatte, Sonnenschirm, Badmintonschläger, Taucherbrille und Sonnenhut. Bis Felix fragt, ob er vielleicht mit dem Motorrad hinter ihr herfahren soll. Jenny schnaubt. Den Beifahrersitz hat sie doch extra freigehalten! Wenn er seine Tasche nur vielleicht auf den Schoß nehmen könnte …? Felix grinst uns zu, klettert mit seiner kleinen Sporttasche auf den Vordersitz und dreht die Musik laut.

Jenny küsst uns zum Abschied, ruft: »Lernt nicht zu viel!«, und ehe wir sie dafür verhauen können, braust die Ente davon. Isa und ich wechseln einen Blick wie zwei unschuldig verurteilte Steinbruch-Sträflinge. Ich würde alles dafür geben, so unbeschwert wie Jenny und ebenfalls auf dem Weg an einen italienischen Strand zu sein.

An der Ecke biegt Jenny mit viel Schwung und ohne jede Rücksicht auf die Hauptstraße ab, wodurch die nachfolgenden Autos zur Vollbremsung gezwungen werden. Die Ente ist schon nicht mehr zu sehen; nur Jennys überlaute Reise-Musik und das Hupkonzert, das ihr folgt, schrillen noch über die Straße.

Als es wieder still ist, schlurfen wir armen Sträflinge nach oben und eine Minute später sitze ich schon wieder am Schreibtisch, grübele, zu welcher Therapie einem 19-jährigen Mann zu raten ist, der wegen rezidivierender Zystinsteinbildung einer Metaphylaxe der Nephrolithiasis bedarf, muss nun doch das Medizinlexikon bemühen und bereue meine Disziplin.

Ich tue mir unendlich leid. Die kommenden 108 Tage wachsen vor meinem inneren Auge zu einem Lebenslänglich. Für immer, immer und ewig werde ich hier sitzen. Bis meine Füße degeneriert sind. Weil mein Körper ja keine zweibeinige Fortbewegung mehr leisten muss. Atrophie – das nicht mehr benötigte Gewebe schwindet. Dafür tritt vielleicht eine Verstärkung des Lendenwirbelbereichs ein, wenn sich die Wirbelsäule den Anforderungen des hundertjährigen Sitzens anpasst. Das Skelett wandelt sich zum ergonomischen Winkel, Stehen und Laufen sind ja nicht mehr gefragt … Ich werde als Klappmesser-Lena aus dem Zimmer getragen werden, hach ja, die arme Irre saß hier jahrzehntelang fest. Ich hoffe nur, dass sie mich seitwärts drehen, wenn sie mich durch die Tür bugsieren, damit sich mein angewinkelter Oberkörper nicht im Türstock verkantet.

Schluss, Lena! Wenn du all deine Schreibtischzeit mit Gejammer verbringst, könntest du genauso gut mit Jenny am Strand sitzen und DORT rumzetern!

Nach dieser gestrengen Ermahnung schaffe ich es endlich. Ich nehme Anlauf und lasse mich Alice-im-Wunderland-mäßig in den Lerntunnel fallen. Schlage unten auf und folge einem verrückten Kaninchen im Arztkittel durch das Labyrinth der Prüfungsfragen, suche geschäftig die richtigen Antwortschlüssel, um die A-B-C-D-E-Türen zu öffnen, werde angesichts der Neurologiefragen vor Unwissenheit winzig klein und bei den Gynäkologie-Fragen vor Selbstbewusstsein riesengroß und stiefele immer tiefer in das Aufgaben-Labyrinth hinein.

Am Abend habe ich 68 Fragen gekreuzt, klettere erschöpft aus dem Tunnel ins sommerliche Abendlicht und erlaube mir endlich wieder einen Blick in den Lösungskatalog. Nun wird sich zeigen, welche Spuren die vergangenen Jahre in meinem Hirn hinterlassen haben. Ich habe ein gutes Gefühl. Ein sehr gutes.

Die erste Antwort ist richtig. Hurra! Bestanden! Ich nehme E) Thailand. Die zweite Antwort ist falsch. Macht nichts, Lena, EINEN Fehler darf man sich durchaus erlauben. Die dritte ist auch nicht richtig. Hmpf. Dann reicht es also doch nur für A) Ostsee. Wenn überhaupt. Aber ruhig Blut, Lena, 60 Prozent reichen, um zu bestehen. Das wären von den 68 genau 40,8 Fragen. 41 – wir wollen ja nicht kleinlich sein.

Bei der zehnten falschen Antwort wird mir mulmig, denn eigentlich geht es ja nicht nur darum, die Fragen an den Prüfungstagen theoretisch richtig zu beantworten. Sind 60 Prozent überhaupt genug, um darauf ein Ärzteleben aufzubauen? Besonders praxistauglich ist das ja nicht! (»Sie müssen entschuldigen, lieber Patient, bei Ihrer Diagnose muss ich passen. Bitte keine Vorwürfe, bei über 60 Prozent aller Krankheiten kenne ich mich bescheinigtermaßen aus!«) Fest steht: Mit 60 Prozent möchte Beststudentin Lena nicht aus der Prüfung gehen. Aber die erträumten 99,9 Prozent funkeln in unerreichbarer Ferne. Denn auch Aufgabe 24, 36 und 37 habe ich nicht richtig beantwortet.

Bei der 27. falschen Antwort verlässt mich endgültig der Mut. 27 von 68. 39,7 Prozent falsch … Du wirst es nicht schaffen, Lena. Wolltest du nicht irgendwann mal Bäckereifachverkäuferin werden? Warum hast du im vergangenen Jahr rein gar nichts getan, um dir diesen Notfallplan warmzuhalten?!

Dass auch noch die 28. Antwort falsch ist, wäre wirklich nicht mehr nötig gewesen. Ich bin vollends demotiviert.

Du kannst überhaupt nichts, Lena. Du wirst diejenige sein, die schon am Eingang des Prüfungsraums zurückgewunken wird. (»Sie brauchen gar nicht reinzukommen. Eine Unverschämtheit, dass Sie es einem vielbeschäftigten Echt-Arzt zumuten wollen, seine kostbare Zeit damit zuzubringen, Ihre Antworten anzuhören, von denen Sie doch selbst wissen, dass sie alle falsch sind. Herr Professor hat wirklich Besseres zu tun.« – »Ja, Entschuldigung, ich suche auch nur die Toilette. In der ich mich gerade ertränken wollte.« – »Ah, gut, damit tun Sie der Medizinwelt einen großen Gefallen. Nur schade für den Einzelhandel.«)

Eine halbe Stunde später schleiche ich wie erschlagen in die Küche; vielleicht finde ich ein Geschirrtuch, das ich mir schon mal um die Hüfte binden kann, um meine neue Berufskleidung zu testen. Dann werde ich versuchen, Isa ein Brötchen aus unserer gestrigen Kollektion zu verkaufen. Mal sehen, ob ich wenigstens das hinkriege. Verkäuferin ist ja auch nicht ohne …

Isa sitzt in der Küche; sieht nicht viel glücklicher aus als ich und krümelt grade das Vortags-Brötchen, an dem ich mein Verkaufstalent schulen wollte, geistesabwesend in ihren Tee. Ringsum auf dem Tisch sind Notizzettel verteilt, alle vollgeschrieben mit Isas ordentlicher, runder Schrift.

»Hach, Lena«, seufzt sie erschöpft in meine Richtung, hebt den Blick aber nicht vom Buch. »Ich hab das Kapitel Kardiologie noch nicht mal durch und weiß jetzt schon, dass ich nur die Herzrhythmusstörungen wirklich kann. Myokard-, Perikard- und Endokard-Erkrankungen muss ich quasi neu lernen.« Sie will Trost, möchte hören, dass heute erst Tag 1 und noch Zeit im Überfluss ist. Ich aber habe nur eins gehört: Sie hat fast das ganze Kapitel Kardiologie gelesen!

Erschöpft lasse ich mich neben Isa auf einen Stuhl fallen. »Erzähl mir was darüber«, bitte ich mit letzter Kraft. »Ich falle nämlich durch und werde Verkäuferin – falls sie in der Backwarenabteilung eine ungelernte Kraft nehmen.«

Isa lächelt müde. »Wenn du genommen wirst, schmuggel mich rein!« Ich verspreche es. »Nur warum sollen wir dann noch Kardiologie lernen?«, fragt sie.

Ich überlege. »Falls jemand vor unserer Theke mit einem Infarkt zusammenbricht, wäre es doch nett, wir könnten in der Backstube eine Erstversorgung durchführen …«

Isa nickt. »Wenn wir auf die Schnelle den Knet-Tisch desinfizieren … je schneller wir sind, desto mehr Herzmuskelgewebe lässt sich retten.«

»Wir müssen den Kunden bloß mit angehobenem Oberkörper lagern, Sauerstoff zuführen und einen venösen Zugang für die Medikamente legen«, ergänze ich. »Das werden wir ja wohl hinkriegen.«

»Nur leider haben wir kein EKG in der Backstube!« Isa beißt sich nachdenklich in den Finger, als stünden wir tatsächlich vor der immensen Herausforderung einer Infarktpatientin im Bäckereihinterzimmer. »Aber vielleicht können wir nach erfolgreicher Reanimation ein mögliches Kammerflimmern mit einem Draht aus dem Backstubenkühlschrank defibrillieren?« Ich muss grinsen, MacGyver lässt grüßen.

Wir tragen auch noch alle Medikamente zusammen, die dem Patienten verabreicht werden müssten.

»Aber jetzt muss die Gute wirklich in eine kardiologische Abteilung mit Herzkatheterlabor!«, schnauft Isa erschöpft. »Hier können wir nichts mehr für sie tun.«

Trotzdem – und nur für den Fall, dass in der angesteuerten Kardiologie im Gegenzug nur Bäckermeister arbeiten – repetieren wir noch die Wiedereröffnung des betroffenen Herzgefäßes. »Also, wenn wir auch sonst nichts können: Diese Frau wird weiterleben«, erklärt Isa entschieden. Ich nicke. »Und wer sagt, dass du nicht genug über Myokardinfarkte weißt?!«

»Selber.« Sie lächelt. Und dann beschließen wir, dass wir mit der Rettung der armen Frau für heute genug geleistet haben. Morgen lernen wir, was zu tun ist, falls in unserer Bäckerei mal jemand mit hypoglykämischem Schock oder einer Alkoholvergiftung umkippt – unsere Rumkugeln haben es sicher in sich.

Plötzlich ganz zufrieden lade ich Isa zum Belohnungs-Sushi-Essen ein. Auch wenn ich mit meinem heutigem Kenntnisstand keine Prüfung bestehen würde: Meinetwegen muss immerhin keine Bäckereikundin vor dem Kuchentresen ihr Leben aushauchen. Und das ist für einen ersten Lerntag doch vollkommen annehmbar.

Wir stoßen mit einem Schluck Sake an und fragen uns, wie weit Jenny wohl mit Felix, ihrer Ente und dem opulenten Strandequipment gekommen sein mag. Bestimmt ist sie schon in Italien, vielleicht nähert sie sich gerade Verona, vielleicht trinkt sie gerade in einem kleinen Café einen vierfachen Espresso, damit sie bis Rimini durchbrausen kann, ohne Felix ans Steuer lassen zu müssen. Wir können nur hoffen, dass keiner der Cafégäste dort zufällig gerade einen Infarkt erleidet. Und plötzlich finden wir es ganz in Ordnung, brav und entsagungsvoll zu Hause geblieben zu sein. Und ebenso okay, für heute Schluss zu machen. Ich habe für den ersten Tag genug gelernt. Über die Kardiologie ebenso wie über mich und meine Lernmethodik. Und es bleiben ja noch 108 Tage.

3

Ja, lasst die arme Steinbruch-Lena ruhig alle im Stich! Sie wird schon zurechtkommen, allein, nur in Gesellschaft tausender winzig bedruckter Seiten voller Formeln und hochkomplizierter Abbildungen …

»Es ist doch nur, weil er mir so fehlt«, verteidigt sich Isa leise. »Nur übers Wochenende …«

Ich habe doch gar nichts dagegen, dass sie zu Tom fährt. Nur dagegen, hier allein zurückzubleiben. Einzig in Gesellschaft meiner Bücher. An einem Sommer-Wochenende.

Vier Tage lief es so prima! Wir haben acht Stunden vorbildlich gelernt und in genau richtigem Maße Essens- oder kreative Aufheiterungspausen eingelegt – nicht zu wenige, aber nicht zu lang. Wir haben füreinander Kapitel zusammengefasst und uns abends so ausführlich gegenseitig gelobt, dass Isa voller Kraft in ihr Abend-Lesepensum und ich voller Zufriedenheit ins Bett gegangen bin. Und nun will auch sie mich verlassen. Für ein ganzes Wochenende!

Versuch es positiv zu sehen, Lena. Wenigstens hast du Mündliche Prüfung kompakt jetzt zweieinhalb Tage ganz für dich allein.

Kaum ist Isa gegangen, fallen mir zwei Dinge auf: die Stille in der Wohnung. Und der Lärm vor dem Fenster. Nicht, dass Isa laut liest, beim Lesen schnauft oder in 60-Dezibel-Laustärke die Seiten umblättert. Aber die Stille nach ihrer Abreise ist eindeutig menschenleer. Das leise Rattern des Kühlschranks ist bis in mein Zimmer zu hören.

Draußen herrscht dafür ein Trubel, der blanker Hohn sein könnte – nur organisiert, um mir zu demonstrieren, wie doof es ist, hier drin und allein zu sein. Autos, Menschen, Stadtgeräusche.

Ich habe das Fenster geöffnet, um einen Hauch Sommerluft um mich und ein wenig am Leben draußen teilzuhaben. Aber nun konzentriere ich mich nur noch auf die Klänge aus dem Café an der Ecke. Geschirrklappern. Leise Musik. MamakannicheinEis. Ich schließe das Fenster wieder – lieber ersticke ich hier drin. Ich passe meine Atmung dem Kühlschrankgeräusch an. Rrrrrrrrrrrrt – ein, rrrrrrrrrrrrt – aus. Und das soll nun mein Sommer sein.

Jetzt, da niemand anderer mehr in der Wohnung arbeitet, ist es plötzlich dreimal so schwer, diszipliniert bei der Sache zu bleiben. Als ob es nichts ausmacht, wenn man faulenzt, solange niemand es merkt.

Gerade lese ich zum vierten Mal den Anfang des Kardiologie-Kapitels AV-Knoten-Reentry-Tachykardie, Präexzitations-Syndrome, als das Telefon klingelt.

Danke, danke, Schicksal! Selbst wenn es nur eine Umfrage zum Thema Nutzungshäufigkeit der Personenaufzüge im öffentlichen Nahverkehr sein sollte, werde ich mir mit Freude die benötigte Stunde Zeit nehmen, um sorgfältig zu erklären, wie und wann ich in welcher U - Bahn-Station mit dem Fahrstuhl gefahren bin. Ich will doch nur mit jemandem reden! Und zwar NICHT über paroxysmal auftretende, supraventrikuläre Tachykardien!

Der Anruf ist tausendmal ablenkungsverführerischer als eine Fahrstuhlumfrage.

»Ich wollte nur hören, ob du dich langweilst. Oder später langweilen wirst. Oder so fleißig bist, dass du dich am Abend dringend belohnen musst.« Alex.

Ja. Ja. Und nein. Belohnung würde ich aber trotzdem nehmen.

»Vielleicht möchtest du ja heute Abend auf eine Party gehen?«

Hm. Ich hab eigentlich keine Party verdient. Aber als ich das sage, lacht Alex. »Wieso? Wenn du noch gar nicht wusstest, dass es eine Party gibt, die du dir als Lern-Belohnung erarbeiten willst, konntest du doch auch noch nicht motiviert arbeiten!«

Diese Logik kommt mir entgegen. Ich könnte jetzt den Gewinn ausschreiben: Party mit Alex – und den Preis dafür festlegen: das Kapitel Kardiologie. Fast bin ich versucht zuzusagen.

Aber Party mit Alex? Da schwingt doch noch etwas Unbehagliches mit …

»Keine Angst, wir sind nicht allein dort«, sagt er leiser, als könnte er meine Gedanken lesen. Mann, warum hat er nur immer dieses blöde gute Gespür?! Und, okay, wir sind nicht allein. Aber zu zweit. Und irgendwie kommt mir das nicht richtig vor.

Du wolltest arbeiten, Lena. Du hattest doch beschlossen, dein Leben von nun an nur noch mit Arbeit auszufüllen – weil die Liebe im letzten Tertial zu so einem riesigen Chaos geführt hat! Dringend nötig ist es auch, denn von AV-Knoten-Reentry-Tachykardie hast du noch nicht mal den ersten Satz verinnerlicht.

»Nein, danke«, sage ich also und erkläre, dass ich die herrliche Stille (Lüge) unbedingt nutzen will (LÜGE!), um das Kardiologie-Kapitel inklusive aller Unterthemen durchzuarbeiten (LÜÜÜGE!!!).

Alex hat Verständnis. Hat er ja immer. Leider. Glücklicherweise. »Wenn du es dir anders überlegst, ruf mich jederzeit an«, sagt er. Und kaum hat er aufgelegt, fühle ich mich irgendwie mies … zwinge mich zur Strafe aber wenigstens durch das AV-Knoten-Kapitel.

Am Abend wird es richtig schlimm. Der Gute-Laune-Lärm vor dem Fenster steigert sich ins Unerträgliche. Vergnügtes Geplauder, Lachen, Musik – wo waren die alle, als ich Zeit hatte?! In unserer Straße war doch nie was los! Das von uns stets verschmähte Eck-Café scheint urplötzlich der angesagteste Laden Berlins zu sein. Wir haben es nie betreten, weil schon durch das schmuddelige Schaufenster hinlänglich zu sehen war, wie klebrig die Wachstuchtischdecken und wie verdreckt die angeschlagenen Tassen sind. Nie haben wir einen Menschen in diesem Café sitzen sehen – es war so fad, dass es nicht mal Jennys Faszination für Abartigkeiten herausforderte. Aber heute Abend ist es brechend voll! Gaukelt mir das meine unterhaltungsentwöhnte Fantasie vor oder legt da tatsächlich ein DJ auf?!

Im Asialaden gegenüber wird Geburtstag gefeiert; die vergnügte vietnamesische Verwandtschaft des Inhabers vollführt eine Art Limbo-Dance um den Tresen herum. Selbst vor dem Spätshop scheint eine Party im Gange zu sein; es hört sich an, als bestehe die Menge, die vor dem Laden Bierflaschen aneinanderklingeln lässt, aus mindestens 20 Engländern, die Kreuzberg nicht gefunden haben und entschlossen sind, allen Berlin-Urlaubs-Spaß heute Abend in meiner Straße zu erleben.

Entweder ich gebe mich geschlagen und rufe Alex doch noch an … oder mir fällt ganz schnell ein, womit ich der Verführung die Stirn bieten kann, ohne dass ebenjene sich in tiefste Selbstmitleidsfalten legt, die mich für immer 80-jährig aussehen lassen und das Nachdenken sowieso unmöglich machen.

Ich greife zum Telefon und wähle Isas Handynummer. Ein bisschen jammern – und Beistand von einer Freundin bekommen, die die eiserne Disziplin, die ich mir wünsche, souverän an den Tag legt, selbst wenn sie A) bei ihrem geliebten Freund, B) in München UND C) im Lernpensum weit voraus ist – das brauche ich jetzt.

»Ach, Lena, ich lerne hier soo gut«, sprudelt Isa begeistert durchs Telefon. »Tom hat mir einen wundervollen Schreibtisch gebaut und Entspannungsbäder für mich gekauft und jetzt steht er gerade in der Küche und kocht mir einen Durchhalte-Espresso.«

Ich gönne ihr alles: den Schreibtisch im Badezimmer und das Entspannungsbad im Espresso. Aber ich muss ganz schnell wieder auflegen. Sonst versinke ich bis zum Hals im Selbstmitleids-Verspannungs-Bad.

Einen allerletzten Versuch starte ich noch: Kopfhörer. Im Bad. Aber es geht nicht. Ich WILL einfach nicht mehr. Und irgendwann muss man auf den inneren Schweinehund auch mal hören, sonst macht er einem das Leben zur Hölle.

Alex geht sofort ran, als ich ihn anrufe. »Ich bin in zehn Minuten bei dir«, verspricht er. Und klingelt nach acht Minuten. Ich bin so froh, ihn zu sehen, dass ich ihn zur Begrüßung umarme. Was ich nicht mehr getan habe, seit wir uns getrennt haben.

Fehler. Es fühlt sich sehr gut an. Ich lasse ganz schnell wieder los.

»Wenn du wirklich im Pensum zurückliegst, können wir auch einfach hierbleiben und ich koch dir Kaffee oder so was«, schlägt Alex vor. (Ich möchte mal wissen, wie er das immer macht! Das ist doch nicht fair!)

»Nein, danke«, sage ich. »Für heute ist der Kopf voll.« (Auch wenn ich nicht weiß, womit. Die AV-Knoten haben sich in meinem Hirn spontan in Wohlgefallen aufgelöst.) Dass ich auch einfach nicht gern mit ihm hier alleine sein will, sage ich nicht.

»Oder …«, lächelt er und zückt zwei glitzernde Karten, »wir gehen da hin!«

Die Glitzerkarten sind für den Wasserball, ein Fest in einem alten Schwimmbad. Ball heißt in dem Fall nur, dass getanzt wird; es geht keineswegs walzerförmlich zu. Hier feiert exzessiv und exklusiv, wer unter 30 ist, aber über 30 Titelseiten geschmückt hat. Auf die Gästeliste schafft es beinahe niemand sonst; undeutlich erinnert sich mein Hirn an Jennys enttäuschtes: »Für den Wasserball bekommt man ja sowieso keine Einladung, also kann ich genauso gut nach Italien fahren.« Und Alex hält mir die Karten hin, als sei »Oder wir bleiben hier und ich koch dir Kaffee« auf irgendeinem Planeten eine Alternative!

Hätte ich das gewusst – ich hätte Lernanlauf 17 bis 36 doch gar nicht erst versucht und wäre schon seit Stunden dort! Und das nennt er Party?! Das da unten vor dem Spätshop ist eine Party! Der Wasserball ist eine Sensation!

»Ich wollte es dir am Telefon nicht sagen«, verteidigt er sich, als ich ihm vorwerfe, dass er mit der Ziel-Information gewartet hat, bis ICH das Lernen aufstecke und IHN anrufe! »Damit die Versuchung nicht zu groß ist.«

Ach Mann, einfühlsam und rücksichtsvoll ist er auch noch, oder was?! Egal, auf Alex’ besondere Art und die damit einhergehende Verliebungsgefahr kann ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Binnen fünf Minuten habe ich den hellblauen Jennymutter-Belohnungspaket-Chiffonrock aus dem Schrank gezerrt und Jennys gesamtes nicht-verreistes Make-up zum Einsatz gebracht.

Mit Alex im Auto zu sitzen, ist seltsam. Ein bisschen wie Nach-Hause-Kommen – ich erinnere mich daran, wie wir gemeinsam durch den Frühling gebraust sind, in dem alten Radio unser Lied, wie ich am Steuer saß, um fahren zu lernen, und uns die Polizei gestellt hat. Aber gleichzeitig fühlt es sich an, wie wenn man nach Jahren einen ehemaligen Lieblingsladen betritt, in dem man mal einen Lippenstift geklaut hat. Es war immer schön hier, aber man kann es nicht mehr genießen, weil man einen Fehler gemacht hat, der einem jetzt irgendwie im Genick sitzt.

Obwohl Alex plaudert, als seien wir nie mehr als Freunde gewesen, merke ich, dass auch er unsere gemeinsame Vergangenheit nicht einfach verdrängt hat. Er hat nicht gefragt, ob ich fahren will; diese Reminiszenz an früher hat er sich offenbar versagt. Zum Glück sind wir da, ehe das Gefühl, ich müsste unsere Situation irgendwie kommentieren, wieder überhandnimmt …

Der Wasserball ist einfach herrlich. Das Jugendstilbad ist traumhaft geschmückt und in dem leeren Schwimmbecken spielt eine amerikanische Band, die ich nur aus dem Fernsehen kenne und die seit Jahren kein Konzert in Deutschland gegeben hat.

An Alex ist der Glamour ringsum vielleicht verschwendet und ihn interessieren weder die Titelgesichter noch das Schickimicki-Essen, das auf winzigen Schwimmbadkacheln serviert wird, aber die Band findet er klasse – und er lässt sich weder durch den Glitzer noch durch irgendwelche Starlets vom ungestümen Feiern abhalten. Alex ist definitiv der Typ, mit dem man sich bestens amüsieren kann. Er hat keine Hemmungen, in einer Spielpause die Band anzuquatschen, er macht für mich einen der besonders exaltierten Snobs beim Tanzen nach und er ist der Erste, der über die tanzende Menge hinweg crowdsurft, woraufhin es ihm zwei Damen in Cocktailkleidern nachtun, die ich bisher nur in absolut kontrollierter Pose sah.

Nach dem dritten chlorwasserblauen Drink mit Schwimmreifen-Deko sind wir vollkommen überdreht. Und dann kommt das langsame Lied, bei dem keiner von uns neue Getränke holen geht oder mit Scherzen über den Alkoholpegel anderer Anwesender ablenkt. Sondern bei dem wir uns in den Armen liegen und innig umschlungen über den blaugekachelten Bassinboden schweben.

Er hält mich fest und die ganze Albernheit ist verschwunden.

Mit Alex kommt mir alles so leicht vor. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als mich nach einem durchlernten Tag von ihm auffangen zu lassen. Oder nach einer Doppelschicht Krankenhaus. Und allen anderen Widrigkeiten des Arztseins. Alex wäre die perfekte Ergänzung für eine gestresste Ärztin, die beruflich äußerst wenig zu lachen hat und sich abends bestimmt nach warmer, unbekümmerter Ablenkung sehnt.