Gerhard Wimberger: Glauben ohne Christentum. Eine Vision 

ISBN: 978-3-8288-5705-6

© Tectum Verlag Marburg, 2013 

Umschlagabbildung: © zven0 - Fotolia.com, Foto des Autors: © Christian Schneider - www.photographics.at

(Veröffentlicht zuerst als Buch unter ISBN 978-3-8288-3044-8) 

 

 

Inhalt

I  Das Altern des Christentums 

Religion 

Christentum 

Bibel als Heilige Schrift 

Offenbarungsglaube 

Jesus Christus 

Die Evangelien 

Widersprüchliches 

Unglaubwürdiges 

Übernahme aus älteren Schriften 

Weitere Auffälligkeiten 

Kosmologische, philosophische und ethische Einwände 

Menschenbild des Christentums 

Wahrheitsanspruch 

Glaube und Vernunft 

Glaube und Wissen 

Traditionalismus 

Noch einmal: Glaube 

Mythen 

Gott – Glaubenskrise – Reformen? 

II Vom Christentum zu humanistischer Religiosität 

Atheismus 

Humanismus 

Ethisch-moralische Leitideen vor Christus 

Religion und Religiosität 

Spiritualität 

Eine agnostisch-atheistische Religiosität  auf dem Boden des Humanismus 

Literaturverzeichnis 

Konzile 

Lexika 

Weitere Internetquellen 

 

I  Das Altern des Christentums

Die Glaubenslosigkeit der Welt technischer Apparatur ist wie eine Anklage. (…) Auch der Glaubenslose wird nicht nur Arbeitstier, sondern bleibt Mensch. Eben darum ist ihm, ihm selber fühlbar, alles undurchsichtig geworden. Es bleibt ihm allein der blinde Wille zum Anderswerden der Zustände und seiner selbst. Die Bereitschaft wächst; denn der Mensch ist nicht fähig, nicht zu glauben. Noch bewahrt in der Welt der Glaubenslosigkeit mancher im guten Willen seine Möglichkeit; aber die Ansätze ersticken im Keim, wenn jeder ohne Tradition auf sich selbst gestellt ist. (…) Religion als der geschichtliche Grund menschlicher Existenz ist wie unsichtbar geworden; die Religion besteht zwar fort, verwaltet von Kirchen und Konfessionen, aber im Massendasein oft nur noch als Trost in der Not, als Gewohnheit geordneter Lebensführung, nur selten noch als wirksame Lebensenergie. (…) 

Diese Sätze sind 80 Jahre alt und stammen aus der Schrift Die geistige Situation der Zeit (1931) von Karl Jaspers. Geschrieben also vor den im 20. Jahrhundert zum zweiten Mal ausbrechenden vernichtenden Ereignissen in Deutschland, in Europa und in der Welt. Geschrieben in einer anderen Welt. War es damals eine andere Welt als jene, in der wir heute im 21. Jahrhundert leben? Ja, zweifellos im Politischen, im Gesellschaftlichen, im Technischen, im Ökonomischen, in der Lebenshaltung, in den existenziellen Ansprüchen. Und in den ideell-spirituellen Ansprüchen? – Nein. Die Undurchsichtigkeit der „geistigen Situation“ ist dort, wo Religionen Macht und Einfluss auf das Leben der Menschen haben, heute tendenziell nicht anders als damals, da Jaspers sie so prägnant beschrieb. Beklemmend, zu sehen, wie diese Undurchsichtigkeit im Laufe der Jahre noch wesentlich größer geworden ist: Rückzug ins fundamentalistische Religionsmuseum steht neben Ruf nach Renovierung des Museums – und dies auf dem Boden säkular-naturalistischen Denkens, das Religionen fernsteht. Die Spannungen zeigen sich immer deutlicher, sie führen zu Auseinandersetzungen auf verschiedensten Ebenen, zu Kontroversen, die sich – ein Zeichen menschlichen Vernünftiger-Werdens? – nicht in Religionskriegen, sondern in öffentlichen Diskussionen äußern. Mediale Diskussionen, in denen, wie bei Diskussionen erwartbar, kaum anderes „herauskommt“ als die eherne Bekundung des jeweils eigenen Standpunkts.

Eine Klarstellung sei vorangestellt. Es handelt sich hier um keine wissenschaftliche Untersuchung im Bereich der Theologie, Gesellschaftskunde, Philosophie oder Religionskritik. Ich bin kein Wissenschaftler. Aber als Musiker, der sich auch für andere Bereiche der Geisteskultur als nur die Musik interessiert, habe ich mich mit Entwicklungen in diesen Bereichen intensiv beschäftigt. Als Komponist dem Weiterdenken naturgemäß aufgeschlossen, hat diese Beschäftigung nicht nur das eigene Weltbild gefestigt, sondern vor allem die eigene Haltung in dieser Wirrnis religiöser und welt-anschauender Positionen gesichert. 

Diese Arbeit versucht, über ein (siehe oben) Anderswerden der Zustände nachzudenken, weil dazu die Bereitschaft wächst. Jaspers ist auch zuzustimmen, wenn er schreibt denn der Mensch ist nicht fähig, nicht zu glauben. Es ist heute geboten, das menschliche Glaubenwollen von uralten, dogmatisch fixierten Religionssystemen abzulösen und es als „Religiosität“ mit Bedacht hinüberzuführen in die „geistige Situation“ des 21. Jahrhunderts. Bevor sich der Blick in Räume eines neuen postreligiösen Welt- und Menschenbildes richtet, möchte ich in dieser Arbeit die Baufälligkeit des christlichen Glaubensgebäudes analysieren – des Christentums als der mächtigsten Religion unseres Planeten. Dies deshalb, weil nicht nur Gläubige, sondern auch manche Theologen das Mobiliar in manchen Räumen dieses Gebäudes nicht kennen oder dessen Zustand nicht zur Kenntnis nehmen wollen. 

Ich werde die Praxis in den meisten geisteswissenschaftlichen oder theologischen Abhandlungen weitgehend zu vermeiden suchen, der Darstellung den Schein eines „Es ist so“, also einer Pseudo-Objektivität zu geben. Da ich mich nicht von der wissenschaftlichen Seite dem Thema nähere, sondern als denkender und beobachtender Künstler, werde ich der Erklärung kritisierter Fakten weniger Gewicht geben als diese selbst durch dokumentarische Belege aufzeigen. Es ist davon auszugehen, dass hier weitgehend Unkenntnis herrscht. Erbeten ist von Vorurteil freies Denken. 

Die hier beobachteten Regionen reichen ins Metaphysisch-Transzendente, in Sphären, die sich objektiver Schau entziehen. Die Problematik beginnt mit der Diskrepanz zwischen der Undurchsichtigkeit und Unbeschreibbarkeit dieser „höheren“ Sphären auf der einen und der Macht, mit der man sie ausstattet und mit der sie sich selbst ausstatten, auf der anderen Seite. Im Grunde geht es um: Graben oder Brücke zwischen den Reichen der Physik und der Metaphysik, dem sinnlich Erfassbaren und dem Übersinnlichen. Es geht um die berühmten „letzten Dinge“. Dass man sie am „letzten“ Platz aller Dinge ansiedelt und nicht am ersten, lässt die Scheu erkennen, sie mit offenem Blick anzusehen.

Religion 

Was ist Religion? Die Philosophen und die Theologen zögern, diesen Begriff und seine reale Ausprägung durch eine Definition zu etikettieren. Inzwischen gibt es über hundert Definitionen. Auch hier zeigt sich: Je einfacher ein Begriff „verstanden“ zu werden scheint, desto schwieriger ist es, ihn zu definieren. Aus Definitionen aus zwei gängigen Lexika greife ich stichwortartig zentrale Charakterisierungen heraus:

(…) die lebendige Beziehung des menschlichen Selbstbewusstseins auf das Gottesbewusstsein (…) das unwillkürliche Gefühl seiner [des Menschen] Abhängigkeit von einer höheren Macht (…)1  – (…) das Ergriffenwerden von der Wirklichkeit des Heiligen, das überwiegend in Glaubensgemeinschaften, den geschichtlichen Religionen, seine Ausdrucksform findet. (…) Das religiöse Erleben hebt sich vom Erkennen einer Wahrheit, vom Anerkennen einer sittlichen Forderung und vom Erfassen eines ästhetischen Wertes mit gleicher Deutlichkeit ab.2   

Aus dem langen Artikel „Religion“ im Lexikon der Theologie und Kirche3 :

(…) Dass Religion schlechthin eine Beziehung des Menschen zu Gott hin sei, lässt sich nicht behaupten, falls man dem Selbstverständnis der Religionen gerecht werden will. Der Begriff wäre zu eng. Demgegenüber sind „das Absolute“, die „Transzendenz“, „das Unendliche“, „der letzte Grund“, „das Heilige“ in ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit eher geeignete Elemente eines allgemeinen Religionsbegriffs. (…) – [Die Religionskritik führt Religion] auf andere Faktoren zurück (Geborgenheitssehnsüchte, Geltungstriebe, Erklärungsbedürfnisse, Illusionsanfälligkeiten, Machtstrukturen usw.), die nach ihrer Überzeugung in den Religionsbegriff aufgenommen werden müssten, wenn er aus der Naivität des religiösen Selbstverständnisses befreit werden sollte. (…) HANS ZIRKER  

Aus systematischer Sicht wird man philosophischerseits Religion grundsätzlich als ein eigenständiges, nicht reduzierbares Paradigma umfassender Wirklichkeitsbetrachtung und -bewältigung ansehen dürfen (…). Besonderes Merkmal dieses Paradigmas ist, dass es die dem Menschen zugängliche Wirklichkeit als von einer anderen Wirklichkeit getragen und abhängig erfährt, die sich als bleibendes Geheimnis und Heiliges, d. h. als das Unfassbare und Unverfügbare schlechthin, kundtut. (…) HEINRICH M. SCHMIDINGER 

Schon aus den wenigen philosophischen und theologischen Definitionsbeispielen ist zu erkennen, dass „Religion“ nicht schlechthin eine Beziehung des Menschen zu Gott hin sei und der inhaltlichen Unbestimmtheit seiner vielen Komponenten wegen kaum umfassend zu bestimmen ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter „Religion“ ein System von ethischen4  Wertvorstellungen verstanden, das dem Einzelnen durch feste Gebote einen moralischen Rahmen bietet und als organisatorisch zusammengefasste Gemeinschaft der an dieses religiöse System Glaubenden die Gesellschaft und oft auch die Politik beeinflusst. Die ethischen Vorschriften fast aller Religionen fordern Achtung des Anderen und seiner Interessen, Vergebung, Barmherzigkeit und Frieden im Miteinander der Menschen.

Religion, so hoch sie als große geistige Errungenschaft des Menschen auch gewertet werden muss, ist ihrem Wesen nach angesiedelt zwischen Sicherheit, Zweifel, Unsicherheit, Hoffnung, Fanatismus, Hingabe und Ablehnung, Fühlen und Denken, letztlich zwischen Glauben und Wissen. Sie befindet sich damit in Räumen, in welchen mehr heiliger Nebel herrscht als klares Licht. Und die ewige Frage, die große QUAESTIO AETERNA beginnt dort, wo Religion überzeugt ist, das Licht zu bringen, wo Menschen glauben, von ihr das Licht zu erhalten.

Diese große Frage ist für alle, die sich nicht zu vorgefertigter religiöser Lebens- und Weltanschauung bekennen, eine offene, und sie forderte von Anfang an Denker zur Stellungnahme heraus. Aus der Fülle von Äußerungen über Religion von solchen nicht primär religiös gebundenen Persönlichkeiten seien quer durch die Zeiten einige besonders kennzeichnende wiedergegeben:

Horaz, Sermones 1, 9, 70: Ich habe keine Religion. (Original lat.: nulla mihi […] religio est.)  

Seneca: Der gemeine Mann betrachtet die Religion als richtig, der Weise als falsch und der Politiker als nützlich.5  

Arthur Schopenhauer bezeichnet Religion als Volksmetaphysik6 Religionen sind dem Volke nothwendig, und sind ihm eine unschätzbare Wohlthat. Wenn sie jedoch den Fortschritten der Menschheit in der Erkenntniß der Wahrheit sich entgegenstellen wollen, so müssen sie mit möglichster Schonung bei Seite geschoben werden.7   

Ludwig Feuerbach: Der Religion ist nur das Heilige wahr, der Philosophie nur das Wahre heilig.8  

Jacob Burckhardt: Die Religionen sind der Ausdruck des ewigen und unzerstörbaren metaphysischen Bedürfnisses der Menschennatur. (…) Die Weltreligionen sind es, welche die größten historischen Krisen herbeiführen. Sie wissen von Anfang an, dass sie Weltreligionen sind, und wollen es sein.9  

Sigmund Freud: (…) die Religion hat der menschlichen Kultur offenbar große Dienste geleistet, zur Bändigung der asozialen Triebe viel beigetragen, aber nicht genug. Sie hat durch viele Jahrtausende die menschliche Gesellschaft beherrscht; hatte Zeit zu zeigen, was sie leisten kann. (…) Es ist zweifelhaft, ob die Menschen zur Zeit der uneingeschränkten Herrschaft der religiösen Lehren im ganzen glücklicher waren als heute, sittlicher waren sie gewiß nicht.10   

Albert Einstein: Für mich ist die unverfälschte jüdische Religion wie alle anderen Religionen eine Inkarnation des primitiven Aberglaubens. Und das jüdische Volk, zu dem ich gern gehöre und mit dessen Mentalität ich tief verwachsen bin, hat für mich doch keine andersartige Qualität als alle anderen Völker.11   

Die Worte von Horaz und Seneca beziehen sich höchstwahrscheinlich auf die im damaligen Rom als „Staatsreligion“ auftretenden religiösen Anschauungen und Riten, die anderen Zitate auf die christliche und jüdische Religion. Diesen wenigen Beispielen könnte eine Fülle von Äußerungen ähnlicher Art hinzugefügt werden. Deutlich ist skeptische Distanz bis ablehnende Haltung gegenüber dem Phänomen Religion abzulesen. Ich will die Entstehung dieses Phänomens nun nicht aus theologischer oder evolutionstheoretischer Sicht untersuchen, sondern schlicht von der vermutbaren psychologischen Erlebnisform unserer Ururvorfahren her zu deuten versuchen. 

Wahrscheinlich ließ ganz einfach das panisch erlebte Erschrecken vor dem Aufzucken des zerstörenden Blitzes und dem markerschütternden Knall des Donners die Vorstellung von einer geheimnisvollen Macht, von einem Irgendetwas „droben“ oder „drunten“ entstehen. Diese unbegreifbare, aber in das Leben sicht- und hörbar eingreifende Macht wurde animalisiert oder personalisiert, wurde ein Wesen, und damit mit tierischen oder menschlichen Eigenschaften ausgestattet. Wir können nicht wissen, wie weit das Gehirn des Urmenschen schon die Fähigkeit zum Erahnen von Metaphysik oder Transzendenz besaß. 

Die weitere Entwicklung ist etwa in dieser Weise denkbar: Entstehung des Opferkultes, um die imaginäre Macht beziehungsweise das sie verkörpernde „Wesen“ zu besänftigen. Bewusstwerden des Todes – ein Mensch oder ein Tier liegt auf dem Boden, ohne Bewegung, ohne Atem. Kein Aufwachen mehr. Es entstehen gemeinsame Ansichten über die Deutung solcher allmählich bewusst werdenden Geheimnisse. In die Auffassungen treten allmählich immer mehr Wunschvorstellungen ein. Dann: Organisation und Gruppenbildung durch Stammesführer oder -älteste, Medizinmänner, Zauberer, später dann Priester. 

Im weiteren Verlauf der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung konnten sich Lehren von charismatischen „Religions“-Stiftern zu Religionen entwickeln, wenn religiöse, politische und soziologische Konstellationen dies förderten. Das Entstehen fast aller großen Religionen ist historisch datierbar, wenn es auch oft legendenhaft verschleiert dargestellt wird. Religionen sind nicht vom Himmel gefallen, sondern gehen von sterblichen Menschen aus, Menschen, die behaupteten, dass Gott sich ihnen offenbart habe, oder von Menschen, denen der Erzengel Gabriel ins Herz schrieb, was Allah den Menschen sagen wollte, oder von Menschen, aus denen andere Menschen Gottes Sohn machten.

Es entstanden „Heilige Bücher“, deren Texte als „Offenbarungen Gottes“ und damit als „Wort Gottes“ verehrt und angebetet werden, weil sie die Wahrheit lehren. Die Geschichte zeigt, dass es bei nahezu allen Religionen bald zu Dogmatisierung von Glaubensinhalten kam, zur Kodifizierung und damit Verabsolutierung der das Glaubensgut ordnenden Regeln. Das animalische Erbe im Menschen trug dazu bei, das Bedürfnis nach Territoriumsabgrenzung entstehen zu lassen. Den Bestand dieses heiligen Reiches eigener religions-ethischer Ideen und Maximen sicherten dann nicht zuletzt die zur Ausstattung des Menschen gehörenden Charakterzüge Machthunger und Herrschaftsanspruch. Die imaginäre geheimnisvolle Macht des „Irgendwas da droben“ wurde zur realen gesellschaftlichen und politischen Macht. Das Bewusstsein, im Besitz einer – oder auch: der – Wahrheit zu sein, verklärte sich zur Ideologie und erzeugte damit jene verhängnisvolle Polarisierung: Hie Gläubiger – dort Ungläubiger.

Zweifellos sind Religionen ein bedeutsames Ergebnis der kulturellen Evolution, ein Versuch, dem Menschen in seiner existenziellen und psychischen Ausgesetztheit Seelenhilfen und Wegzeichen zu geben. Jedoch: Im Laufe der Jahrtausende bildete sich jene Situation heraus, von deren tief gehender Problematik die hier festgehaltenen Zitate sprechen. Und nicht nur die warnenden Zurufe weiter blickender Denker sind es, die das wachsende Unbehagen mit der „geistigen Situation der Zeit“ aufzeigen, das Verlangen nach einer Abkehr von bisher als unantastbar geltenden religiösen Werten ist in weiten Kreisen vor allem der europäischen Gesellschaft unübersehbar.

Christentum

Nach der Erörterung allgemeiner Aspekte von Religion grenze ich das Feld ein und wende mich dem Christentum als der größten Weltreligion zu. Die hier schon angezeigte Neigung von Religionen zu Machtentfaltung zeigt sich beim Christentum in hohem Maße. In die Weltgeschichte haben sich unzählige Beispiele christlichen Machthungers, Geschehnisse bis hin zum Völkermord eingeschrieben. Früher auch politisch totaler Machtanspruch scheint zwar in demokratischen Staaten durch Gesetze und Konkordate in einigermaßen geordnete Bahnen gelenkt, der Einfluss des Christentums wie anderer Religionen auf die äußere und innere Lebensgestaltung der Menschen bleibt aber nach wie vor weitgehend erhalten. Und dass dieser Einfluss von der Wiege bis zur Bahre, vom Kindergarten bis zur Universität, vom Plenarsaal im Parlament bis ins private Schlafzimmer ein gewaltiger ist, erscheint heute wie je von bestürzender Offensichtlichkeit. 

Seit Jahrzehnten ließ mich die Frage nicht los, ob die auch heute noch bestehende Bedeutung des Christentums, die ihm weltumfassend zugemessen wird, mit seiner Glaubenssubstanz und der historischen Begründbarkeit seiner Entstehung in Einklang zu bringen ist. Das Studium seiner Entstehungsgeschichte lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Inhalte seines Glaubenssystems, und diese eingehende Beschäftigung mit der Bibel und den fundamentalen Dokumenten des christlichen Glaubens verwandelte meine schon lange bestehende Skepsis zur festen Überzeugung, dass diese alte Religion in der Zeit, in der wir heute leben, völlig unglaubhaft und zum geistigen Fossil geworden ist.

Nicht die Tatsache der um sich greifenden Säkularisierung soll quantitativ argumentierend hier ins Treffen geführt werden. Im Folgenden wird meine eigene kritische Einstellung an Beispielen zentraler Kritikpunkte an der christlichen Lehre aufgezeigt.

Bibel als Heilige Schrift

Die Bibel, die Heilige Schrift ist die schriftliche Grundlage des christlichen Glaubens. Die theologisch seit vielen Jahrhunderten und medial seit Jahrzehnten geführten Debatten über die Frage, ob das aus vielen Einzelteilen bestehende Werk im Ganzen oder nur in Abschnitten als Gottes Offenbarung, als Gottes Wort zu werten, als heilig anzusehen und zu verehren ist, müssen für die 1,181 Milliarden Katholiken seit 1965 als entschieden anzusehen sein: Das II. Vatikanische Konzil hat in der Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung DEI VERBUM12  dekretiert:

Das von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift enthalten ist und vorliegt, ist unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden; denn aufgrund apostolischen Glaubens gelten unserer heiligen Mutter, der Kirche, die Bücher des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Ganzheit mit allen ihren Teilen als heilig und kanonisch, weil sie, unter der Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben (…), Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche übergeben sind.. 

Also: Gott der Urheber des Neuen und des Alten Testaments. Waren die Urheber dieser Dogmatischen Konstitution, die hochwürdigen Herrn Kardinäle, im Jahre 1965 sich bewusst, dass sie damit auch die geradezu unzähligen zu Menschen- und Völkermord aufrufenden Verse im Alten Testament als Worte Gottes legitimieren? Als ich einmal einen gar nicht unbekannten Theologen auf die Formulierung „Gott zum Urheber“ aufmerksam machte, sagte er ziemlich fassungslos: „Steht das wirklich so drin?“ Im Übrigen: „Katechismus der katholischen Kirche“, Nr. 123: Die Christen verehren das Alte Testament als wahres Wort Gottes. 

Das starre Festhalten an der undifferenzierten Heiligung aller dieser unzählige Male übersetzt, bearbeitetet, wahrscheinlich nicht selten auch manipuliert oder gefälscht vorliegenden Worte dieser alten „Schrift“, geschrieben von vielen Autoren zu verschiedenen Zeiten, stellt für mich einen geradezu unsinnigen Kardinalfehler der christlichen Theologiepolitik dar. Die protestantische Kirche hat die katholische in der Bibelhörigkeit noch übertroffen. Aufgrund der Luther-Formulierung, allein die Schrift sei Königin13 , entstand ihr Glaubensprinzip Sola scriptura – allein die