Johann Hinrich Claussen

Gegenwindgedanken

Mit dem Fahrrad durch das Kirchenjahr

 

Impressum

© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur IDee
Umschlagfoto: © Corbis

ISBN (E-Book): 978 - 3 - 451 - 34658 - 3
ISBN (Buch): 978 - 3 - 451 - 61145 - 2

Inhaltsübersicht

ANFAHREN

I . FRÜHWINTER – ANFANG DEZEMBER – ADVENT

Das Rad der Zeit

Sanftmütigkeit

Weihnachtsrummel

Dämmerstunde

Wünschen

Schenken

II . RICHTIGER WINTER – 24 . DEZEMBER – WEIHNACHT

Nachtgespräche

Erwachsenes Weihnachten

Die Tage danach

Wegwerfen

III . IMMER NOCH WINTER – SYLVESTER – NEUES JAHR

Innovationen

Orientierung

Zeitmessen

IV. SPÄTWINTER ODER VORFRÜHLING – PASSIONS- UND FASTENZEIT

Anhalten

Auf das Fasten verzichten

Ohne Beichte

Radbuße

Verschämt

Behelmt

Coolness

Freiheitsempfinden

Opfer

Täter

Rache

V. ENDLICH FRÜHLING – KARWOCHE UND OSTERN

Überfluss

Gedichte vom Kreuz

Osterschmuck

Ganz still

Mit Rilke durch die Osternacht

Osterton

Kinder-Oster-Theologie

Gemeinsames Abendmahl

Ostermontagschristentum

VI . FAST SCHON VORSOMMER – IMMER NOCH OSTERZEIT UND DANN PFINGSTEN

Erscheinung

Fago

Singen

Beten

Geistwind

Polyglott

Nicht gleichgültig

VII . DER LIEBE LANGE SOMMER – TRINITATIS UND SEINE VIELEN SONNTAGE – GLÜCKSGEDANKEN

Glückstest

Alle Tage

Glücksrad

Glückstag

Rad-Roman

Rad-Film

Glöcklich

Telefonfreiheit

Im Reinen

Lehrer der Glückseligkeit

Naturerfahrung

Glück im Unglück

Glückskind

Radfahreraugen

Glücksfremd

Freudensucher

Mittelglück

Rad-Glück

VIII . IMMER NOCH SOMMER – FERIEN UND ANDERE REISEN

Helden

Lesereise

Ach, Afrika

Ratten

Freund

Baumeln

Auswendiglernen

Meer oder Berge

Onkels Reise

Reich und arm

Zurückkommen

Die Anderen

Klimasorgen

IX . DER GOLDEN-NASSE HERBST – DANKBARKEIT UND REFORMATION

Die fünfte Jahreszeit

Nichts Besonderes

Ach, Joseph

Wal-Freude

Eigentlich ganz zufrieden

Dank-Glück

Getrennte Ernte

Was eine Harke ist

Reformation feiern

Mein Luther

Mitleiden

Nach Jerusalem

Verzeihen

X . NOVEMBER – DEM DUNKEL ENTGEGEN

Jüdische Nachbarn

Ziemlich letzte Fragen

Brief

Trösten

Träumen

Richtigkeit

Frömmigkeit

AUSROLLEN

LITERATURHINWEISE

 

Für Brigitte Kehrl und Karin Plange

ANFAHREN

Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, dauert es nie besonders lange und schon kribbelt es im linken Bein, droht das rechte einzuschlafen, seufzt der Rücken, schweift der Blick aus dem Fenster, schaut den Wolken hinterher, verfolgt die Regentropfen, freut sich an Schneeflocken, sucht die Sonne. Und schon kann ich nichts mehr aufnehmen, komme auf keinen sinnvollen Gedanken, fällt mir kein treffendes Wort ein – schon gar nicht in dieser Dauersitzhaltung.

Glücklicherweise habe ich ein Fahrrad. Mit ihm bewältige ich fast alle meine Wege. Das ist immer schön, egal bei welchem Wetter. Ich bewege mich, die Beine bekommen wieder Blut und Nährstoffe, der Rücken richtet sich auf, die Lungen füllen sich mit frischer Luft, die Augen ruhen aus vom Kleingedruckten. Erfreut stelle ich fest, dass ich ja auch noch diesen Körper habe und dass es mir viel besser geht, wenn er sich wohl fühlt. Erstaunlich, dass er so wenig braucht, um in diesen Zustand gebracht zu werden. Normalerweise tut es schon ein kürzerer Arbeitsweg auf dem Fahrrad.

Nicht selten kommt es dann vor, dass – befördert durch die kreisartigen Beinbewegungen und die damit verbundene Aktivierung des gesamten Kreislaufs – auch mein Gehirn wieder in die Gänge kommt. Ein geordneter Denkvorgang wird damit allerdings nicht eingeleitet. Es ist eher so, dass Gelesenes und Erlebtes, selbst Geschriebenes und von anderen Gehörtes sich freundlich im Kreis dreht. Manches, das ich fast vergessen hatte, macht sich wieder bemerkbar, taucht unvermutet auf, verknüpft sich mit Anderem, Andersartigem und verbindet sich, wenn ich Glück habe, zu neuen Einfällen. Nie sind es ganze Sätze, die ich denke. Es sind nur Bruchstücke, biblische und literarische Splitter, meist nur einzelne Wörter, lose Haupt- und Nebenwörter, aus dem Zusammenhang gerissen, manchmal sogar Missverständnisse, wo ich mich verhört oder verlesen habe. Aber gerade sie werden mir zu Ohr- und Gehirnwürmern. Weil ich sie nicht gleich verstehe, weigern sie sich, von mir vorschnell in zerebrale Schubladen gesteckt zu werden. Also drehen sie sich in meinem Kopf weiter, während ich zur nächsten Verabredung radle. Sie haben sich in mir festgehakt, weil sie einen Widerhaken haben. Dieses Hakelige an ihnen reizt mich, lockt mich, verspricht mir eine Botschaft, die ich so noch nicht gehört habe.

Irgendwann kehre ich damit nach Hause, in meine Stube zurück. Ich hole dann das eine oder andere Buch wieder hervor, blättere in meiner Bibel nach, suche nach der Stelle, die sich in meinen Gedanken verhakt hat, versuche, den Zusammenhang zu verstehen, mir den ganzen Sinn zu erschließen, um schließlich etwas Eigenes daraus zu machen. Und ich setze mich auch wieder an meinen Schreibtisch und tue, was man dort tun sollte: Ich schreibe, Notizen, Predigten, Glossen für die Zeitungen vor Ort, theologische Artikel, Vorträge, lose Sätze. So ist dieses Buch entstanden, und so halten Sie jetzt ein theologisch-bicyklistisches Sammelsurium, eine Art Allwetterjahreslesebuch in den Händen. Für Fahrradfahrer und solche, die es werden wollen. Mit Fahrradgedanken und -gefühlen, mal fragmentarisch, mal fast fertig, mal pastoral, mal ganz profan. Schön wär’s, wenn sie in Ihrem eigenen Kopf, sei es im Sessel oder bei eigenen Radtouren, weiter gedreht würden.

I.

FRÜHWINTER – ANFANG

DEZEMBER – ADVENT

Das Rad der Zeit

Das Rad und die Zeit verbindet, dass sie keinen Anfang und kein Ende kennen, sondern sich im Kreise drehen. Man gibt dem Rad einen Impuls und schon rollt es dahin, bis ihm die Puste ausgeht. Der Zeit wurde vor fast einer Ewigkeit ein deutlich größerer Schubs gegeben und seither geht sie im Kreis. Natürlich ist das Rad in sich gegliedert. Es hat Speichen. Doch wenn es sich auch nur etwas schneller dreht, sieht man sie nicht mehr. Die Zeit geht langsamer und in unseren Breiten hat sie vier große Speichen, die man gut wahrnehmen kann: die Jahreszeiten. Doch keine von ihnen kann für sich den Anspruch erheben, die erste zu sein. Auf ein Mindestmaß an Orientierung aber bin ich angewiesen. Deshalb halte ich mich gern an die alte kirchliche Tradition, die jährliche Zeitrechnung in der kalten Jahreszeit beginnen zu lassen. Am ersten Advent, der zwar nicht mit dem Winteranfang zusammenfällt, aber doch nah dran ist, beginnt der Zyklus der kirchlichen Feste, der meinem Arbeiten als Pastor den Rhythmus vorgibt. Und da ich zugleich das ganze Jahr hindurch Rad fahre und nicht wie manche Schönwetterbicyklisten feierlich einen Saisonbeginn im Frühsommer begehe, ist es mir recht. So beginnt mein Berufsjahr im Winter, führt über Frühling und Sommer zu seinem Ende am Ewigkeitssonntag im Spätherbst, während mein Fahrradjahr als ewige Wiederkehr des Gleichen im Kreis geht.

Es tut einfach gut, zu jeder Jahreszeit Rad zu fahren. Denn diese Art der Fortbewegung ist keineswegs nur bei gutem Wetter, unter einer ungetrübt hellen Sonne eine Freude. So richtig spürt man sich erst, wenn es gegen Schlagregen, Hagel und scharfe Winde geht. Wenig ist so erhebend, wie über einer festen, trockenen Schneeschicht daherzurollen, dem eigenen dampfenden Atem hinterher. Es muss das Ergebnis einer erfolgreichen Massenmanipulation der Autoindustrie sein, dass so viele Menschen meinen, man dürfe nur im Frühjahr mit dem Fahrradfahren beginnen und müsse es mit Ablauf des Herbstes einstellen. So fahre ich das Jahr hindurch und beginne meine Gegenwindgedanken im Advent.

Sanftmütigkeit

Manchmal hat man einen Wurm im Ohr. Ein Fetzen Melodie ist das, eine abgerissene Textzeile, eingenistet irgendwo im Gehörgang. Er summt so vor sich hin, meldet sich in jedem stillen Moment, wie ein kleiner Schwindel. Manchmal ist das ärgerlich, weil es sich um ein eigentlich scheußliches Liedchen handelt. Manchmal aber ist es fein, solch einen inneren Überraschungsgast zu haben, eine schöne Melodie, ein paar gute Worte, die einen beschwingen, trösten, erheitern, ohne dass man es darauf angelegt hätte. So war es bei mir in der letztjährigen Adventszeit. In diesen Wochen ging mir dauernd diese eine Zeile durch den Kopf: »Sanftmütigkeit ist sein Gefährt.« Sie stammt aus dem altbekannten Lied »Macht hoch, die Tür, die Tor macht weit!«. Dort heißt es in der zweiten Strophe: »Er ist gerecht, ein Helfer wert; Sanftmütigkeit ist sein Gefährt.« Warum hatte sich gerade diese Textzeile in mir festgemacht? Vielleicht weil sie so barock verschmockt ist? Oder weil sie so bekannt und doch so rätselhaft ist? Denn was ist das eigentlich: Sanftmütigkeit? Und inwiefern kann sie ein Gefährt sein? Natürlich, sanftmütige Fortbewegungsmittel lösen sogleich freundliche Assoziationen bei mir aus, zum Beispiel Gedanken an mein treues Fahrrad. Aber das kann ja nicht gemeint sein.

Während ich diesen Vers mit mir durch den Advent trug, gesellte sich bald die Erinnerung an eine Skulptur dazu. In der Mittelalterabteilung des Berliner Bode-Museums hatte ich sie einmal gesehen. Riesige Kruzifixe hingen da von der Decke. Überwältigend: Romanische Christusse am Kreuz, enorm lang gestreckt, mit bedrohlich weit ausgebreiteten Armen, mit finster zerrissener Miene. Schmerzensmänner aus dem frühen, noch sehr dunklen Mittelalter, vielleicht drei Meter groß und grauenvoll, zum Fürchten und Erschrecken. Ich war unwillkürlich zurückgewichen und wäre fast über eine viel kleinere Figur gestolpert, die hinter mir auf dem Boden stand. Gerade rechtzeitig hatte ich sie noch bemerkt und mich umgedreht. Da stand ein kleiner Jesus aus Holz, das heißt: Er stand nicht, er saß auf einem kleinen Holzesel. Eine schlichte, fast derbe Skulptur, alt, lädiert und dadurch so bescheiden und freundlich. Ich weiß auch nicht warum, aber der Anblick von Eseln löst bei mir sofort Sympathie aus, besonders dieser Holzesel aus dem frühen Mittelalter, das dann vielleicht doch nicht so finster war. Sind Esel sanftmütig, fragte ich mich? Leider kenne ich keinen persönlich. Ich hatte immer gedacht, Esel seien vor allem störrisch. Aber nein, dieser Esel war die Sanftmütigkeit selbst. Und auf ihm saß ein Jesus, der ganz anders war als die riesigen Schmerzensmänner, die hier von der Decke hingen. Er war viel kleiner, reichte mir vielleicht gerade bis zur Brust. Sanft wirkte er, sehr sanft, sehr ungöttlich. Fast ein bisschen lächerlich schaute er aus. Dieser Holz-Jesus also saß auf einem Esel, und dieser Esel stand auf einem Brett, und dieses Brett hatte Räder untendran. Mit ihm vorneweg und den Priestern sowie dem Kirchenvolk hinterdrein gedachte man in feierlichen Umgängen des Einzuges Jesu nach Jerusalem. Wie passend, so ein Eselchen war doch das einzig angemessene Fortbewegungsmittel für diesen König, der anders sein wollte als alle anderen Könige, nämlich unmajestätisch, eben sanftmütig. So wurde mir diese Eselsskulptur zu einem regelrechten Augenwurm und verband sich mit dem Ohrenwurm: »Sanftmütigkeit ist sein Gefährt.«

Aber was ist Sanftmut? Zunächst schlicht das Gegenteil von Gewaltsamkeit. Sanft ist ein Mensch, der sich nicht vom Zorn hinreißen lässt, der behutsam mit anderen umgeht. Sanftmut ist dabei mehr als die Art eines einzelnen Verhaltens, sondern eine ganze Lebenshaltung. Sie ist eine Art von Vorsicht, die keinen Schaden an andere herankommen lassen will. Es ist ein verbreitetes, dummes Missverständnis, Sanftmut mit Feigheit gleichzusetzen, so als wäre der Sanfte mutlos, ärmlich, niedrig, unterwürfig. Schwach ist in Wahrheit der Unsanfte, der Zornmütige oder Jähzornige. Denn er kann sich selbst und seine bösen Gefühle nicht beherrschen. Der Sanftmütige besitzt eine innere Stärke: Er kann Rücksicht nehmen, verzeihen, Frieden stiften. Er kann das, weil er sich selbst zu beherrschen weiß. Und darum ist er der eigentlich Mutige. Äußerlich kommt die Sanftmut unscheinbar oder armselig daher. Deshalb bewundert man eher die Prächtigen und Mächtigen, die Stolzen und Kalten, deren Gefährt eine strahlende Herzlosigkeit ist, die von ihren hohen Thronen grußlos auf den weniger privilegierten Rest der Menschheit herabsehen. Man bewundert sie eher, aber beneiden sollte man sie nicht. Denn ihnen, den Hartmütigen, fehlt etwas Entscheidendes: Respekt für andere, Nachsicht, Freundlichkeit, Güte und Humor – all das, was nur aus einem sanftmütigen Herzen quellen kann.

Gegenwärtig ist viel von den sogenannten Werten die Rede, meist aber nur die Rede. Man beachtet nicht recht, dass Werte wertlos sind, wenn sie nicht das eigene, alltägliche Leben bestimmen. Wenn Werte aber Teil der eigenen Lebenshaltung werden, nennt man sie Tugenden – ein weiteres schönes altes Wort. Unter den christlichen Tugenden ist die Sanftmut für alle Beteiligten die wohl angenehmste. Der Apostel Paulus stellt sie in eine Reihe mit der Demut und der Geduld. Und wir könnten sie gut gebrauchen, weil uns so häufig das Gegenteil begegnet: verhärtete Herzen, die alles für sich haben, verwerten und ausnutzen wollen, Unversöhnlichkeit in der Familie, Neid und Häme in der Nachbarschaft, rücksichtslose Konkurrenz im Beruf. Da sind wir täglich gefordert, nicht Gleiches mit Gleichem zu beantworten, uns nicht gemein zu machen, sondern anders zu sein, nämlich uns nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern Böses mit Gutem zu überwinden. In der Familie: unsere Liebe frei zu verschenken, ohne nachzurechnen. In der Freundschaft und der Nachbarschaft: uns an den Erfolgen anderer mitzufreuen und ihre Traurigkeiten mitzudurchleiden. Im Beruf: nur den Vorteil zu suchen, der anderen nicht zum Nachteil wird. Also den anderen zu geben, was wir uns selbst von ihnen wünschten: nichts Hartes und Feiges, sondern etwas Sanftes und zugleich Mutiges. Die Lebensfrage von Martin Luther lautete: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Unsere Frage wäre wohl eher: Wie bekommen wir gnädige, also sanftmütige Menschen? Aber bevor wir diese Frage an andere richten, müssten wir uns selbst ihr stellen: Wie werden wir selbst sanftmütige Menschen?

Paulus hat die Sanftmut eine »Frucht des Geistes« genannt. Ihr Urbild hat sie in Jesus Christus. Der hat seine Botschaft so verkündet, dass Menschen sich frei zu ihr bekehren konnten, nämlich nicht mit Feuer und Schwert, sondern mit Demut, Geduld und Sanftmut. So war es am Anfang, die ganze Geschichte des Christentums über und so ist es auch heute noch: Der christliche Glaube überzeugt dann, wenn er dem Vorbild Jesu treu bleibt. Wenn er nicht mit staatlicher Macht und politischer Gewalt, mit klerikalem Gepränge und bürgerlichem Sozialdruck daherkommt, sondern wenn er sanftmütig ist. Deshalb ist es so wichtig, dass Christen auf Christus schauen und von seiner Sanftmütigkeit lernen: »Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.« Ruhe finden für unsere Seelen, das wäre schön: endlich Ruhe finden, sich lösen von Daseinskampf und Daseinskrampf, einfach werden, frei und rein, ins Reine kommen mit sich, den Nächsten und mit Gott, Frieden finden, Frieden stiften, Sanftmut lernen.

Weihnachtsrummel

Im Einzelhandel gilt im Dezember eine andere Zeitrechnung als in den Kirchen: Dort ist Advent, hier ist Vorweihnachtszeit. Wenn ich in diesen Tagen so durch die Innenstadt fahre, denke ich mir manchmal: Eigentlich müsstest Du bei all diesen Gewerbetreibenden eine Gebühr einziehen. Denn dass vor allem Einzelhandel und Konsumgüterindustrie vom Christfest profitieren, dürfte nicht im Sinne des Erfinders sein. Wäre es nicht angebracht, zumindest einen Teil davon einzuziehen, um ihn dann guten Zwecken zuzuführen? Wie wäre es also, wenn die Kirche eine »Weihnachtsgebühreneinzugszentrale« (WEZ) einrichtete? Aber das wäre wahrscheinlich mit einem allzu hohen Verwaltungsaufwand verbunden, zudem hat das Vorbild der öffentlich-rechtlichen GEZ kein Image, das man teilen möchte. Also lasse ich meinen losen Gedanken gleich wieder fahren.

Doch: Wem gehört Weihnachten? Ursprünglich natürlich allein der Kirche. Aber im 19. Jahrhundert – im Zuge der Verbürgerlichung des Christentums – löste sich dieses Fest von seinen theologischen Grundlagen und entfaltete ein Eigenleben. Seitdem haben die Kirchen keine Deutungshoheit mehr. Ist das nur beklagenswert? Dass die Menschen die christliche Botschaft in die eigenen Hände nehmen und in die eigenen vier Wände tragen, könnte auch ein Zeichen religiöser Demokratisierung sein. Der christliche Glaube lebt nicht nur in der Kirche, sondern vor allem im eigenen Leben, in der Familie. Wenn man nicht so daran gewöhnt wäre, müsste man darüber staunen, dass in der vermeintlich so gott- und glaubenslosen Gegenwart fast jeder deutsche Haushalt dieses christliche Fest feiert. Dass diese Breitenwirkung mit Niveauverlusten verbunden ist, sollte man wohl am besten gelassen hinnehmen.

Manchmal allerdings wird es mir mit der Kommerzialisierung zu viel. Dann beschleicht mich eine andere Idee. Wenn man schon keine WEZ gründen kann, wie wäre es dann mit einem »Weihnachtlichen Überwachungsverein« (WÜV), der die gröbsten Auswüchse – an unlustigen Weihnachtsparodien, hässlichen Nikolausmützen, Lichtsmog verursachenden Lichterketten und musikalischem Gruselkitsch aus dem Verkehr zöge?

Aber so weit reichen meine Kompetenzen nicht. Mir gehört Weihnachten eben nicht. Wem aber gehört Weihnachten? Jedem, der es bewusst feiert, der sich freut, anderen Freude schenkt und dieser gemeinsamen Freude auf ihren letzten Grund geht. Und das ist Jesus Christus, die Mensch gewordene Liebe Gottes.

Lästig am Weihnachtsrummel ist, dass er immer früher beginnt. Ein Vorteil ist, dass er so pünktlich aufhört. Man muss nur einmal am 25. oder 26. Dezember durch die Verkaufsstraßen fahren, um zu beobachten, wie die Weihnachtsverwerter die saisonale Abrüstung vollziehen. Für die Kirche aber fängt Weihnachten mit dem Heiligen Abend erst an – und dauert dann bis zu Maria Lichtmess, dem 2. Februar. So lange wird in der Kirche noch Weihnachten gefeiert. In dieser langen Zeit nach dem Heiligabend gehört Weihnachten den Christen wieder ganz allein.

Dämmerstunde

Der Advent ist eine Zeit der Dämmerung. Dunkelheit herrscht – fast noch, nicht mehr. Lichtes mischt sich in das Finstere. Doch es ist kein helles, scharfes Licht, das die Wände der Finsternis durchschnitte. Es sind schwache Lichtschwaden, die durch die Nacht treiben. Es ist ein nebelhaftes Leuchten, wie in die Nacht hineingewischt. Es ist nicht zu fassen. Man kann nicht sagen, ob es stärker wird oder schwächer. Die Welt bleibt diffus, und man selbst schwebt zwischen Tag und Nacht, Nacht und Tag. Ob es bald Morgen wird? Wo ist man eigentlich? Bin ich schon wach, oder träume ich noch? Ist es soweit, oder habe ich noch Zeit? Unschlüssig dreht man sich, wälzt sich, schreckt auf, sinkt zurück in wirre Träume, wischt sich den Schlaf aus den Augen, steht endlich auf, müde vom Liegen. Es dämmert, aber was? Was wird er bringen, der neue Tag – wieder nur nasse Kälte? Es ist gar nicht so leicht, sich in der Dämmerung auszurichten, aufzurichten, man kann ja nicht wissen, was hinter diesem Nebelvorhang aus Licht und Dunkel wartet, droht oder lockt.

Advent ist eine Zeit der Dämmerung. Im jahreszeitlichen Sinn, aber auch in einem tieferen, kirchenjahreszeitlichen Sinne: Advent ist die Weltjahreszeit der Dämmerung. Es ist dunkel, feucht, kalt. Die Nacht streckt sich weit in den Tag hinein. Auf irgendetwas ist sie ausgerichtet, etwas Großes und Helles. Aber man sieht dies noch nicht. Man sieht nur all diese Mühseligkeiten, Elendigkeiten, diese Fülle von Nöten und Katastrophen, von Ängsten und Sorgen. Es soll hell werden, aber noch ist die Welt unbehaglich und man selbst unbehaust. Was die Zukunft bringen soll, taucht nur langsam aus der Dunkelheit, nur in schwer zu deutenden Umrissen auf. Man fühlt sich wie der alte Rabbi, der jeden Morgen an das Fenster trat, kurz hinaus in den alltäglichen Schlamassel schaute, um seiner Frau dann Bescheid zu sagen: »Wie es scheint, ist der Messias auch heute nicht gekommen.«

Das also ist aus den großen Heilsverheißungen geworden: ein täglich auf’s Neue enttäuschter, resignierter Blick aus dem Fenster? Dabei waren die großen Propheten selbst Nachtmenschen, die fragend, zweifelnd in die Dämmerung schauten. Als Morgenwächter blieben sie Dämmerungsmenschen. Beim Propheten Jesaja findet sich dieser Wechselruf. Menschen rufen zu ihm: »Wächter, wie ist die Nacht bald hin?« Und er ruft zurück: »Wenn auch der Morgen kommt, so wird es doch Nacht bleiben.« Ist die Nacht bald hin, da Gott fehlt, schweigt, schläft? Wann kommt der Tag, der Frieden bringt und Nahrung, sicheres Wohnen und Gerechtigkeit? Wann endlich dämmert uns eine neue Welt?

»Wächter, wie ist die Nacht bald hin?« Auf diesen Ruf antwortet auch der Prophet Jeremia, noch so ein einsamer Rufer in der Dämmerung: »Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: ›Der Herr unsere Gerechtigkeit‹.« Ein neuer Morgen für Israel, sicher soll es wohnen im eigenen, nicht mehr verfluchten, sondern gelobten, geliebten Land, einem Land der Gerechtigkeit mit einem neuen König, der wird gerecht richten, der wird es richten. Was für eine Verheißung, doch was ist daraus geworden? Der alte Rabbi, würde er heute in Jerusalem wohnen und morgens aus dem Fenster schauen – was würde er sehen, was würde er sagen? Doch wohl, dass auch heute der Messias nicht gekommen ist.

Advent ist die Zeit der Morgendämmerung. Liedzeilen fallen mir ein: ›Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern‹, ›Es kommt der Heiden Heiland‹, ›… ein neuer König, der Gerechtigkeit bringt und Frieden‹, ›Jesus Christus herrscht als König‹, ›Er ist gekommen und wird wiederkommen‹, ›Dann werden wir sicher wohnen‹. Aber wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir nur Dämmerung. Tief sind wir in diese Dämmerung verstrickt. Die ersten Christen schrien: »Maranatha, Herr komm bald!« Komm bald, brich an du schönes Morgenlicht. Doch schon bald waren viele von ihnen enttäuscht.

Und doch leben wir in einer neuen Weltzeit, aber eben anders als gedacht, ganz anders.

Mitten im »Dritten Reich« schrieb Theodor Haecker, ein Unbeugsamer, ein Einzelgänger, väterlicher Freund von Sophie Scholl und ihrem Kreis, Lehrer der Weißen Rose, zum Advent: »In der Nacht war ein Licht, das wieder Nacht wurde. Einer wacht auf, die Augen und die Wangen von Tränen nass. Er weiß, dass er einen Traum gehabt hat, aber er weiß nicht mehr, was er geträumt hat. Und doch wird von dieser Nacht an sein Leben anders sein. Er hat ein Licht mitbekommen, das ihn eine ganz neue Dimension des Seins sehen lässt. Aber die Quelle dieses Lichtes liegt in völligem Dunkel.«

Wünschen

Die Welt

Jesus hat die Hoffnung auf einen neuen König erfüllt, indem er sie gebrochen und verwandelt hat. Die Gerechtigkeit, die er brachte, hat eine untergründige Kraft, die im Stillen, in der Verborgenheit des Gewissens wirkt. Diese Gerechtigkeit hat noch keine dingfeste Verwirklichung gefunden. Aber sie lebt weiter als der größte und schönste Wunsch.

Schenken

Welche Verführung, zu schenken – das ist eine überraschende Moralpredigt. Als rechter Protestant hält man es eher mit dem Gegenteil. Das Tun des Guten ist eher eine Pflicht, äußert sich in Verzicht, vollzieht sich in Selbstüberwindung. Gut ist eine Handlung erst dann, wenn sie wenigstens ein bisschen weh tut. Sonst gilt sie für viele Protestanten nicht. Doch das ist, wenn man auf Shen Te hört, grundfalsch. Denn es ist anstrengender und schmerzhafter, böse zu sein als zu treten und zu grapschen, zu kämpfen und zu streiten, zu feilschen und zu schachern, zu lästern und zu lügen, zu jagen und zu töten. Leicht wird das Leben erst, wenn man einander gut ist, höflich aufeinander achtet, freundlich übereinander spricht. Und am deutlichsten zeigt sich diese Leichtigkeit des Guten im Schenken. Daran muss man sich als Protestant wohl noch gewöhnen. Vielleicht hilft einem da ein evangelischer Weiser weiter. Albrecht Goes hat etwas Ähnliches wie Brecht zu sagen versucht, aber als guter Protestant zunächst das Schwere am Schenken herausgestellt: »Schenken ist schwer. Zur rechten Stunde schenken, im rechten Maß, im rechten Bedacht also und nicht weniger im rechten Unbedacht. In der rechten Kühnheit, aus dem Augenblick heraus, mit aller Unmittelbarkeit; so zu schenken, dass das Geschenk ein Gruß ist, ein Gruß – nicht mehr: keine Bindung. Eines scheint noch schwerer zu sein: sich beschenken zu lassen, bereit zu sein für das, was verheißen ist: die große Schenkung.« Schenken ist schwer, wahrscheinlich weil es so leicht ist. Die Leichtigkeit des Guten zu begreifen, ist eine besondere Herausforderung: freundlich sein, nichts erzwingen, sondern das Gute geschehen lassen, spontan, es einfach tun ohne Nebenabsichten, ohne dabei etwas für sich zu wollen, also nicht binden, sondern einfach nur grüßen. In diesem Sinne wäre das Schenken ein Inbegriff von Nächstenliebe.