Klaus Bednarz

Am Ende der Welt

Eine Reise durch Feuerland und Patagonien

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Zitate

Karten

Teil 1 – Patagonien

Das Land der Mapuche

Menschen der Erde

«Wir Indianer müssen uns wehren!»

Patagonische Fjorde

Schreie aus Stein

Schafe, Gauchos, Herrenhäuser

Schichtwechsel bei den Pinguinen

Punta Arenas

Der freie Teil Amerikas

Im Namen der Zivilisation

Teil 2 – Feuerland

Auf der Magellanstraße

Fluch und Segen des Goldes

Die Fischer von Porvenir

«Wollen Sie den Río Grande kaufen?»

Padre Juan und Häuptling Rubén

Die Herrin der Wälder

Ushuaia, die südlichste Stadt der Welt

Die letzte Yamana

Kap Hoorn

Danksagung

 

Für Nina und Gabi

 

Ich trage den Süden in mir wie ein Schicksal des Herzens …,

ich suche den Süden, wo die Zeit Ewigkeit ist.»

Argentinisches Lied

 

«Wie könnten wir der Natur die Zivilisation bringen und der Zivilisation die Natur.»

Francisco Coloane

Chilenischer Schriftsteller

Teil 1

Patagonien

Das Land der Mapuche

Es ist ein heißer Sommertag, Anfang Dezember. Etwa sechshundert Kilometer südlich von Santiago überqueren wir die Grenze – die Brücke über den Río Bío-Bío, unweit der kleinen Ortschaft Santa Barbara. Voran marschiert Maxim mit seiner schweren Kamera, gefolgt von Videotechniker Sergej und Frank, dem Toningenieur. Genau auf der Mitte der Brücke bleibt Maxim stehen, bedeutet Sergej mit einer knappen Handbewegung, wohin er das Stativ stellen soll, und fixiert die Kamera. Sie ist nach Osten gerichtet, stromaufwärts. Die gleißende Mittagssonne zaubert Myriaden wild tanzender Punkte auf die grünlichen Wellen, die sich im breit ausladenden Kiesbett des Flusses kräuseln – Lichtreflexe, aufblitzend und verlöschend wie Sternschnuppen. Am Horizont schimmern in feinem bläulichem Dunst die Kordilleren, aus denen wie geometrische Figuren die schneebedeckten, ebenmäßigen Vulkankegel des Callaqui und Copahue aufragen, dreitausend Meter hoch. Unter dem wolkenlosen Himmel zieht ein mächtiger Kondor seine Kreise. Und auf dem staubigen Weg am Ufer treibt ein Bauer mit kehligen, monotonen Rufen die vor seinen zweirädrigen Holzkarren gespannten Ochsen an.

Es dauert lange, bis sich Maxim von diesem Bild lösen kann und die Kamera wieder vom Stativ nimmt. Es wird die erste Einstellung unseres neuen Films sein. Jenseits des Flusses beginnt Indianerland, das Land der Mapuche. «La Frontera» wird es bis heute in Chile genannt, «Grenzland». Es ist das Tor nach Patagonien.

Patagonien geographisch einzugrenzen, das werden wir im Verlauf unserer Reise immer wieder erfahren, ist gar nicht so einfach. Jeder, mit dem wir darüber sprechen, scheint unter Patagonien etwas anderes zu verstehen. Für die einen gehört bereits alles Land südlich von Buenos Aires und Santiago de Chile dazu. Für andere beginnt Patagonien erst tausend Kilometer tiefer im Süden, dort, wo der Río Chubut den Kontinent durchquert und Richtung Atlantik fließt. Und jüngste Darstellungen sehen die Nordgrenze genau dazwischen – entlang der Flüsse Bío-Bío und Colorado.

Heftig umstritten ist auch die Frage, wo Patagonien endet. Manche Reiseführer zählen Feuerland und Kap Hoorn noch dazu, für andere ist die von Fernando de Magallanes entdeckte Meerenge, die Feuerland vom übrigen Festland trennt, die Grenze. Unbestritten sind nur die westlichen und östlichen Grenzen, die Küsten des Pazifik und des Atlantik. Und außerdem sind sich fast alle Gesprächspartner, mit denen wir auf unserer Reise dieses Thema erörtern werden, einig: Das wirkliche Patagonien ist da, wo sie leben.

Ähnlich kontrovers diskutiert wie die geographische Ausdehnung Patagoniens werden Herkunft und Bedeutung des Namens dieser Region am südlichen Ende der Welt. Als sich der portugiesische Generalkapitän Magellan am 20. September 1519 von Spanien aus auf den Weg machte, um einen westlichen Seeweg zu den Gewürzinseln im Indischen Ozean zu suchen, hatte er eine Weltkarte im Gepäck, auf der bereits ein Großteil Patagoniens skizziert war – unter der Bezeichnung res nullius, eine Sache, die niemandem gehört. Magellans Bordschreiber, der junge italienische Edelmann Antonio Pigafetta, hat in seinem Tagebuch minutiös alle Stationen der Weltreise festgehalten, auch die Entstehung des Namens «Patagonien».

Im März 1520, so Pigafetta, habe die Flotte Magellans an der Ostküste des südamerikanischen Kontinents einen «guten Hafen» gefunden und ihm den Namen San Julián gegeben. Da man eine günstigere Jahreszeit abwarten wollte – auf der südlichen Halbkugel beginnt im März der Herbst –, beschloss man, dort einige Zeit zu ankern. «Zwei Monate vergingen», hält Pigafetta fest, «ohne dass wir einen Einwohner des Landes zu sehen bekamen, und allmählich zweifelten wir nicht mehr daran, dass wir uns in einem unbewohnten Lande befanden … Eines Tages jedoch erblickten wir zu unserem Erstaunen an der Küste einen Mann von Riesengröße, der unbekleidet tanzte und sang und sich dabei Sand über den Kopf warf … Dieser Mann war so groß, dass ihm der Kopf des Größten von uns nur bis zur Taille reichte … Ein zweiter Riese war noch größer und schöner gewachsen, tanzte und sprang mit solcher Heftigkeit, dass seine Füße mehrere Zoll tiefe Eindrücke im Sand hinterließen … Unser Kapitän gab diesem Volk wegen seiner großen Füße den Namen Patagonier.»

Die Indianer, denen Magellan und seine Leute bei San Julián begegnet waren, gehörten zu einem Stamm, der von den späteren Kolonisatoren als Tehuelche bezeichnet wurde. Sie selbst nannten sich, jüngsten Forschungen zufolge, wahrscheinlich Chonque, was in ihrer Sprache schlicht «Menschen» bedeutet. In den Augen von Magellans Chronisten Pigafetta lebten sie «im Stande völliger Wildheit»; sie waren nicht sesshaft und ließen sich «wie die Zigeuner bald an diesem, bald an jenem Ort nieder», aßen mit Vorliebe rohes Fleisch, sogar «Mäuse, ohne ihnen vorher die Haut abzuziehen». Sie kleideten sich in das Fell eines wundersamen Tieres, das «den Kopf und die Ohren eines Maultieres, den Leib eines Kamels und die Beine eines Hirsches» hatte – gemeint sind die Guanakos. Die riesenhaften Menschen stellten, so Pigafetta weiter, Pfeilspitzen und Werkzeuge aus «schwarzem und weißem Feuerstein» her, bemalten Gesicht und Körper mit roter und gelber Farbe und liefen «so schnell wie ein Pferd im vollen Galopp».

An Größe und Mächtigkeit des Körperbaus überragten die Tehuelche zweifellos die meisten anderen Indianerstämme Südamerikas; pata heißt im Spanischen «Tatze, Fuß», und patagon soll so viel bedeuten wie «großfüßig». Doch ob der Name «Patagonien» tatsächlich auf die großen Füße der Männer dieses Stammes zurückgeht – die Frauen werden von Pigafetta als klein und gedrungen beschrieben –, war immer wieder umstritten. Eine andere Theorie besagt, dass das Wort aus der Sprache der Inka kommt und den Süden bezeichnet, mit den Patagoniern also die Menschen des Südens gemeint sind. Von einem Professor in Buenos Aires wiederum erhielt Bruce Chatwin den Hinweis, dass die Tehuelche-Indianer Hundemasken trugen und der Held eines 1512 in Spanien erschienenen Romans ein Ungeheuer mit Hundeohren namens Patagón ist; Magellan also könnte, falls er das Buch gelesen hat, die Riesen von San Julián nach dieser Figur benannt haben. Doch einen Beweis dafür, dass Magellan den Roman, «Primaleón von Griechenland», je zu Gesicht bekommen hat, gibt es bis heute nicht. Allerdings auch nicht für das Gegenteil.

Als sicher hingegen gilt, dass William Shakespeare den Reisebericht Pigafettas kannte und wusste, was mit den ersten Patagoniern geschah, deren Magellan ansichtig wurde. In der Absicht nämlich, «diese Riesengattung nach Spanien zu verpflanzen» und sie seinem Kaiser Karl V. als Trophäe vorzuführen, beschenkte er – wie Pigafetta akribisch notierte – die zwei Größten von ihnen mit einer «Menge von Messern, Spiegeln und Glasperlen». Und während die beiden den Tand des weißen Mannes noch bewundernd in ihren Händen wogen, ließ ihnen Magellan eiserne Fußfesseln anlegen, wobei er erklärte, es handele sich ebenfalls um eine Art Schmuck. «Als die Riesen innewurden, dass sie überlistet worden waren und die Fesseln nicht mehr abzustreifen vermochten», so Pigafetta, «gerieten sie in Wut, schnaubten, heulten und riefen den Setebos, ihren mächtigsten Gott, um Hilfe an.» Fast auf den Tag genau neunzig Jahre nach dieser Begebenheit wird in London zum ersten Mal William Shakespeares «Der Sturm» aufgeführt. Der Gegenspieler des weisen und mächtigen Zauberers Prospero, der Hauptfigur des Schauspiels, ist der blutrünstige Inselbewohner Caliban, eine Missgeburt aus Mensch und Tier. Als Caliban am Ende erkennt, dass er sich dem edlen Prospero unterwerfen muss, ruft er verzweifelt seinen höchsten Gott an – «O Setebos!». Caliban – ein Patagonier?

 

Die Idee, eine Drehreise an das südliche «Ende der Welt», el fin del mundo, wie Patagonien und Feuerland in der Sprache der spanischen Eroberer heißen, zu unternehmen, entstand in Sibirien. Im äußersten Nordosten, an der Beringstraße, auf der Halbinsel Tschukotka. Sie wird, in der Sprache der russischen Eroberer, ebenfalls «Ende der Welt» genannt, konjez mira. Dort haben wir vor drei Jahren mit Maxim, meinem russischen Kameramann, nach den Spuren der Vorfahren der nordamerikanischen Indianer gesucht, die einst aus dem Baikalgebiet über Tschukotka und die Beringstraße nach Alaska gezogen waren. Von hier, vermuten Forscher, sind manche von ihnen weitergewandert, und ihre Nachfahren erreichten schließlich den äußersten Süden des amerikanischen Kontinents, Patagonien und Feuerland. Was ist aus den Ureinwohnern am südlichen Ende der Welt geworden, was von ihrer Kultur geblieben? Und was verbindet die Bewohner Feuerlands, Patagoniens und Sibiriens bis auf den heutigen Tag? Das sind nur einige der Fragen, denen wir mit Maxim aus St. Petersburg sowie Frank und Sergej aus Köln in den nächsten Monaten nachgehen wollen.

Für die erste Etappe unserer Reise ist Manuel, ein Mapuche-Indianer, der wichtigste Helfer. Wir haben ihn in Temuco kennen gelernt, der etwa hundertfünfzig Kilometer südlich des Bío-Bío gelegenen Hauptstadt der Region La Araucanía; so wird das Mapuche-Gebiet heute offiziell genannt – wahrscheinlich nach dem Baum Araukarie, dem Wahrzeichen der Region. Eine andere Version besagt, dass der Name aus der Inka-Sprache stammt und «tapferes Volk» bedeutet. Gegründet 1881 von der chilenischen Armee als Festung gegen die aufrührerischen Mapuche, entwickelte sich Temuco bald zur größten Stadt im Süden Chiles und zählt inzwischen gut zweihundertvierzigtausend Einwohner. Während hier nach wie vor mehrheitlich Weiße leben, darunter auch zahlreiche Nachkommen deutscher Kolonisten, sind viele Dörfer im Umland noch immer fast ausschließlich von Mapuche bewohnt.

Manuel ist etwa fünfunddreißig Jahre alt, untersetzt, von kräftiger Statur. Sein pechschwarzes, glattes Haar ist zum Bubikopf geschnitten, die dunklen Augen über den hohen Wangenknochen blicken freundlich, den breiten Mund scheint ein ständiges Lächeln zu umspielen. Trotz der sommerlichen Hitze trägt er über dem karierten Baumwollhemd eine abgetragene schwarze Kordjacke, dazu verwaschene Jeans. Doch das sanfte Äußere täuscht. Manuel gilt als einer der engagiertesten Streiter für die Rechte seines Volkes. Wegen seiner politischen Aktivitäten und nach wiederholten Auseinandersetzungen mit den chilenischen Behörden wurde er der Universität verwiesen. Er wird uns auf unserer Reise in die Mapuche-Dörfer begleiten.

Die Mapuche waren das einzige südamerikanische Volk, das die Spanier nicht unter ihre Herrschaft zwingen konnten – ähnlich den Tschuktschen, die sich als einziges Volk in Sibirien auch nie dem russischen Zaren unterwarfen. Und wie die Tschuktschen erkämpften sich die Mapuche zeitweilig sogar eine gewisse Autonomie gegenüber den weißen Kolonisatoren: Die Spanier mussten den Bío-Bío offiziell als Grenzfluss anerkennen. Das war im Jahre 1641. Doch die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Indianern waren damit keineswegs beendet. Sie zogen sich über Jahrhunderte. Erst der Armee des von Spanien unabhängig gewordenen Staates Chile gelang es 1883, die Mapuche endgültig zu besiegen.

Mit rund einer halben Million Menschen sind die Mapuche heute das größte Ureinwohnervolk in Chile. Bevor die spanischen Eroberer kamen, gehörten ihnen ungefähr dreißig Millionen Hektar Land, das entspricht etwa der Fläche Italiens. Nicht einmal dreihunderttausend Hektar, ein Gebiet kaum größer als Luxemburg, sind ihnen davon geblieben. Fast jeder zweite Mapuche hat seine Heimat inzwischen verlassen, ist abgewandert in die großen Städte, vor allem nach Santiago.

 

Die Straße, die von Temuco Richtung Nordosten führt, ist frisch geteert und in tadellosem Zustand. Wenige Kilometer hinter der Stadtgrenze lenkt Manuel unseren Blick auf einen weitläufigen Gebäudekomplex aus roten Ziegelsteinen, der sich aus der grünen Wiesenlandschaft erhebt. Nein, dies sei keine Estancia, wie die großen Viehfarmen in Südamerika genannt werden, auch kein Krankenhaus und keine Schule, sondern ein neu errichtetes Gefängnis. «Damit man noch mehr Mapuche einsperren kann.» Etwa neunzig seiner Brüder – so reden sich die Mapuche untereinander an – seien zurzeit als politische Gefangene in Haft. Den meisten werde illegale Landbesetzung vorgeworfen oder Zerstörung von Eigentum der Holzkonzerne und reicher Großgrundbesitzer. Manche seien auch wegen Brandstiftung verurteilt. Aber mit Ausnahme einiger erwiesener Fälle von Brandstiftung, die es leider tatsächlich gegeben habe, handele es sich bei den meisten Urteilen um «politische Willkürakte». Mit ihnen solle der Kampf der Mapuche um ihre Rechte kriminalisiert werden. Wie zum Beweis zeigt Manuel auf die riesigen Getreidefelder, die sich jetzt zu beiden Seiten der Straße fast bis zum Horizont erstrecken. «All dies war einmal Mapuche-Land.» Doch nach der Unterwerfung La Araucanías durch die chilenische Armee 1883 seien annähernd 90 Prozent der Flächen vom Staat enteignet worden. Sie gingen in den Besitz von Chilenen, Deutschen, Schweizern und anderen ausländischen Kolonisten über. Die Mehrheit der Mapuche, erzählt Manuel weiter, wurde auf so genannte reducciones verteilt, eine Art von Reservaten, verstreut über das ganze Mapuche-Gebiet. Während jede weiße Siedlerfamilie mehrere Dutzend Hektar Land zugesprochen bekam, erhielten die Mapuche in ihren reducciones gerade mal sechs Hektar. Und selbst die wurden ihnen nach und nach durch gewaltsamen Landraub, juristische Manipulationen und skrupelloses Ausnutzen von Unwissenheit oder naiver Gutgläubigkeit abgenommen.

Unter der Regierung des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, sagt Manuel und betont dabei nachdrücklich das Wort «sozialistisch», habe es erstmals nach fast einem Jahrhundert wieder Hoffnung für die Mapuche gegeben. Durch eine Agrarreform seien der indianischen Urbevölkerung nahezu siebenhunderttausend Hektar Land zurückgegeben worden, die formaljuristisch illegale Besetzung von weiteren fünfundsiebzigtausend Hektar durch Mapuche-Familien wurde weitgehend toleriert. Doch nach dem Putsch des Generals Pinochet im September 1973 und der darauf folgenden Militärdiktatur wurde die Agrarreform rückgängig gemacht. Mehr als 80 Prozent der unter Allende enteigneten Landgüter fielen wieder den Großgrundbesitzern zu.

Auch die demokratischen Regierungen nach dem Sturz Pinochets haben, wie Manuel meint, «nicht viel Gutes» in der Landfrage unternommen. Gerade einmal sechzigtausend Hektar hätten die Mapuche seitdem erhalten. «Viele unserer Familien haben heute nicht einmal einen Hektar Land. Wie soll man davon leben?» Und dann macht uns Manuel mit einer weit ausholenden Handbewegung auf ein Charakteristikum der Region aufmerksam: Die Felder der Großgrundbesitzer sind fast immer mit Stacheldraht umzäunt. Das Gemeindeland der Mapuche, das allen gehört, nicht. Nur selten sehen wir ein Stück Land ohne Zaun.

Die Straße führt durch eine sanft gewellte Hügellandschaft. Eingezäunte Getreidefelder wechseln sich ab mit eingezäunten Weideflächen, dazwischen kleine Waldstücke, ebenfalls von Stacheldraht umgeben. Gelegentlich fällt der Blick auf weite kahle Flächen, abgeholzt von internationalen Papier- und Zellulosekonzernen, denen während der Militärdiktatur riesige Waldgebiete zur Nutzung übertragen wurden. Heute, meint Manuel, gehören ihnen beinahe 90 Prozent der einstigen Mapuche-Wälder. In manchen Regionen ist die Araukarie, der heilige Baum der Mapuche, so gut wie verschwunden. Stattdessen pflanzen die großen Holzfirmen bevorzugt Eukalyptusbäume und Monokulturen schnell wachsender Nadelhölzer an, die mehr Feuchtigkeit verbrauchen, als sie dem Wasserkreislauf wieder zuführen. All dies habe ein stetiges Absinken des Grundwasserspiegels zur Folge und einen dramatischen Anstieg der Erosion. Wenn uns auch Manuels Behauptung, fast die Hälfte des Mapuche-Landes sei bereits von Erosion betroffen, ein wenig übertrieben scheint – die Verkarstung großer Flächen und die tiefen, vom abrinnenden Wasser gezogenen Furchen an den Hügeln und abschüssigen Stellen der Felder sind unübersehbar.

Die Straße durch die Indianerdörfer ist kaum befahren. Hin und wieder überholen uns kleine Lieferwagen oder Pkws, meist japanische Modelle. Auf der Gegenfahrbahn rasen zuweilen hoch beladene Holzlaster mit Anhängern vorbei, die mächtige Baumstämme aus den wenigen noch verbliebenen Waldstücken der Region abtransportieren. Zweirädrige Ochsenkarren zockeln gemächlich am Straßenrand. Sie befördern Säcke, Brennholz, Geräte zur Feldarbeit oder freundlich winkende Dorfbewohner.

Unser erster Stopp ist der Marktflecken Galvarino. Kurz vor Erreichen des Ortes klärt uns Manuel wie beiläufig und doch voller Stolz über die Herkunft des Namens auf. Er gehörte einem jener legendären Mapuche-Häuptlinge, die im 16. Jahrhundert gegen die spanischen Konquistadoren kämpften und ihnen immer wieder verheerende Niederlagen beibrachten. Nachdem Galvarino bei einer Schlacht in Gefangenschaft geraten war, schlugen ihm die Spanier die Hände ab und schickten ihn als Warnung zurück zu den Seinen. Doch ihre Rechnung ging nicht auf. Statt seine Krieger von weiteren Kämpfen abzuhalten, ließ sich Galvarino Waffen an die Armstümpfe binden und führte seine Männer in die nächste Schlacht. Wie sie ausging, weiß Manuel nicht. Aber die Erinnerung an die Grausamkeiten der spanischen Invasoren lebe bis heute unter den Mapuche fort – an den Raub von Männern, Frauen und Kindern, die man zu Sklaven machte, das Wegtreiben des Viehs, das Anzünden von Dörfern und Feldern. Und auch die Foltermethoden der Konquistadoren sind unvergessen: Frauen schnitten sie die Brüste, Arme und andere Körperteile ab, Männer brachten sie qualvoll durch Pfählen um, Kinder warfen sie lebendig ins Feuer. Bei den Mapuche hingegen, so Manuel, war das Foltern von Gefangenen nicht üblich; man tötete sie durch einen Keulenschlag auf den Kopf.

Galvarino ist ein lang gezogenes Straßendorf, das fast ausschließlich aus kleinen einstöckigen Holzhäusern besteht, rot, ocker, gelb oder grau gestrichen. Im schummerigen Dorfladen, in den Licht nur durch die geöffnete Tür fällt, werden vorwiegend landwirtschaftliche Produkte aus der Umgebung angeboten: Kartoffeln, Erbsen, Graupen, Weizenmehl, Mohrrüben, Obst. Dazu alles, was man im Haushalt braucht: Töpfe, Pfannen, Werkzeuge, Nägel, Streichhölzer, Knöpfe, Garn, Stricknadeln, Wolle, ein paar Hygieneartikel. Aber auch Schaufeln, Sägen, Spaten und Äxte. Im Supermarkt an einer der Straßenecken, in dem sich Jugendliche drängen und aus dem laute Tangomusik dröhnt, finden sich neben frischem, allerdings nicht allzu appetitlich wirkendem Fleisch sowie Milch und Molkereiprodukten vor allem amerikanische Getränkedosen und japanische Elektronikartikel. Nicht weit vom Supermarkt schiebt ein älterer Mann mit einer einst weißen Kochmütze einen offenbar selbst konstruierten kleinen Grill auf einem Fahrrad die Dorfstraße entlang. Seine fettigen, scharf gewürzten Würstchen und die lauthals angepriesenen Lammkoteletts stoßen aber nur auf geringes Interesse.

Einige ältere Frauen, die die Dorfstraße bevölkern, zeigen sich in der traditionellen Tracht der Mapuche – mit dem klassischen silbernen Brustschmuck und bunten Tüchern um den Kopf, die häufig von einer Kette aus Silbermünzen zusammengehalten werden. Viele der jungen Mädchen tragen hautenge Jeans und Tops, die den Bauchnabel frei lassen; dazu Armani-Sonnenbrillen aus chinesischer Produktion. Vor dem Dorfladen und dem Supermarkt stehen die Menschen in kleinen Gruppen beieinander oder haben sich an den Straßenrand gesetzt. Ein Mann mittleren Alters kommt mit einer Flasche in der Hand torkelnd aus der Tür des Supermarkts, in dem auch Alkohol verkauft wird, und fällt der Länge nach auf den Rücken. Einige Umstehende helfen ihm ruhig und ohne Anzeichen von Verwunderung auf die Beine und lehnen ihn an einen Baum. Auf Pick-ups und Ochsenkarren werden ganze Großfamilien in die umliegenden Dörfer transportiert. Sie haben nicht das Geld für den Bus, der ohnehin nur einmal am Tag verkehrt, erklärt uns Manuel. Armut und Arbeitslosigkeit, das ist unübersehbar, herrschen in Galvarino und den anderen Mapuche-Dörfern. Man lebt auf der Straße, hat nichts zu tun und wartet auf den nächsten Tag, der vielleicht Besseres bringt.

Wenn wir die Menschen fragen, ob wir sie filmen dürfen, lächeln uns die meisten aufmunternd zu. Andere, allerdings wenige, wenden sich ab, manche reiben Daumen und Zeigefinger, fordern etwas Geld. Und eine der alten Frauen in der Tracht der Mapuche besteht darauf, von Frank, unserem Toningenieur, geküsst zu werden. Er ist blond, blauäugig und der Größte in unserem Team.

Menschen der Erde

Einige Tage später, Manuel hat Wort gehalten. Er nimmt uns mit zu einem Ngillatun-Fest, der wichtigsten religiösen Zeremonie der Mapuche. Sie wird stets unter freiem Himmel begangen und aus den verschiedensten Anlässen: am 22. Juni, dem – wie bei den Jakuten in Sibirien – Neujahrsfest, im Fall von Naturkatastrophen, bei politischen Ereignissen und vor Entscheidungen, die das gesamte Volk der Mapuche angehen oder Belange ihrer Region. Aber auch, wenn nur das Bedürfnis besteht, sich wieder einmal mit den Verwandten, Nachbarn und Freunden aus den umliegenden Dörfern zu treffen und die neuesten Dinge zu besprechen.

Wir sind mit unserem Kleinbus von der gut ausgebauten Teerstraße abgebogen und fast zwei Stunden einem kleinen Sandweg gefolgt, der in Schlangenlinien durch die hügelige Mapuche-Landschaft führt. Vorbei an Getreide- und Kartoffelfeldern, vereinzelten Waldstücken, abgeholzten und vom Regen ausgewaschenen Rodungsflächen und kleinen, nicht eingezäunten Wiesen, auf denen Kinder ein paar Kühe hüten. Bisweilen taucht eine einzelne Hütte aus Spanplatten oder Wellblech auf, vor der Hunde toben. Schließlich mündet der Weg in ein weites, von flachen Hügeln umgebenes Tal, an dessen Hängen Schafe und einige Rinder grasen. In der Mitte des Tales, auf einer lang gestreckten, nur spärlich bewachsenen Wiese, ist eine bunte Ansammlung von Menschen zu erkennen, die sich um ein hoch aufragendes, mit Fahnen geschmücktes Gebüsch gruppieren. Am Rand der Wiese sind etwa ein Dutzend Ochsenkarren abgestellt, die ausgespannten Tiere weiden in unmittelbarer Nähe.

Als wir in einiger Entfernung aus dem Bus steigen und über einen morastigen Weg zur Mitte des Festplatzes stapfen, kommt uns ein auffallend gekleidetes Paar entgegen. Eine ältere Frau in der traditionellen Tracht der Mapuche mit einer Trommel in der Hand und ein Mann mittleren Alters, der in einen grauschwarzen Poncho gehüllt ist. Seinen Kopf ziert ein bunt besticktes Band, an dessen Stirnseite grüne Lorbeerblätter stecken. Die beiden lächeln uns an, strecken uns ihre Hände entgegen und umarmen uns. Sie freuen sich, sagen sie, dass wir ihre Gäste sind.

Von Manuel erfahren wir, dass die Frau eine Machi ist, eine Schamanin, Heilerin, Seherin, eine Vermittlerin zwischen den Menschen und dem Kosmos, die höchste religiöse Autorität jeder Mapuche-Gemeinde. Der Mann mit dem Kopfschmuck ist der Lonko, der Dorfälteste, der gewählte weltliche Führer der Gemeinschaft, dessen Wort Gesetz ist und dessen Ansehen dem des Häuptlings in anderen Indianerkulturen entspricht. In manchen Fällen wird das Amt des Lonko auch vererbt, allerdings nur, so Manuel, wenn der Erbe des Amtes würdig ist. Der Lonko und die Machi sind die zentralen Figuren jeder Ngillatun-Zeremonie. Auch der, die nun vor unseren Augen beginnt.

In der Stille, die über dem Festplatz liegt und die nur gelegentlich vom Brüllen eines Ochsen unterbrochen wird, erklingen zunächst leise, dann immer lauter werdende, rhythmische Schläge der Trommel. Mit ihnen gibt die Machi das Zeichen, in Reihen zu fünf oder sechs Personen vor dem Gebüsch mit den Fahnen Aufstellung zu nehmen. Bei näherem Hinsehen entpuppt es sich als der Rewe, der fast mannshohe Kultpfahl der Machi, umhüllt von langen dünnen Stämmen des Canelo-Baumes, zwischen die frische Lorbeerzweige gesteckt sind. Er ist das Zentrum der Zeremonie, eine Art Altar. Aus dem Grün der Zweige und Blätter ragt die Mapuche-Flagge. In der Mitte trägt sie einen gelben Kreis mit den rituellen Zeichen für Sonne, Mond und Gestirne. Die weiße Fahne links daneben symbolisiert den Tag und die Helligkeit, die schwarze an der anderen Seite des Rewe die Nacht, aber auch den Regen. Das erklärt uns Manuel, der mit uns das Fest beobachtet.

Nachdem sich zu den dumpfen Schlägen der Trommel der etwas schrille, monotone Klang der Trutruca gesellt hat, eines schneckenförmigen Blasinstruments, an dessen Ende ein Rinderhorn als Schalltrichter steckt, setzt sich die Menge mit rhythmisch schleppenden Tanzschritten in Bewegung. Runde um Runde umkreist sie den Rewe, angeführt von der Machi und dirigiert vom Lonko, der immer wieder mit anfeuernden Rufen Trommel und Trutruca übertönt. In der ersten Reihe neben der Machi tanzen andere ältere Frauen in traditioneller Tracht, dahinter bunt durcheinander Männer und Frauen jeden Alters, Jungen und Mädchen, Kinder an der Hand ihrer Mütter oder auf den Schultern der Väter. Manche der jüngeren Frauen haben ebenfalls die Tracht ihrer Vorfahren angelegt, die übrigen tragen städtische Kleidung. Einige der Männer sind in bestickte Ponchos gehüllt, andere haben bunte Decken um den Körper geschlungen. Die meisten jedoch sind in Alltagskleidung erschienen, der anzusehen ist, dass sie schon lange in Gebrauch ist.

Von Zeit zu Zeit stimmt die Machi eine kurze Liedphrase in Mapudungun an; einige der älteren Tanzenden fallen in den Gesang ein, die meisten der Jüngeren bleiben stumm: Ihnen ist die Sprache ihres Volkes nicht mehr vertraut. Die Stimmung ist ernst, niemanden sehen wir lachen. Mit dem Rundtanz, der entgegen dem Uhrzeigersinn läuft, sollen, wie Manuel uns erzählt, die bösen Geister vom Ort der Zeremonie vertrieben und fern gehalten werden. Diese nämlich seien immer in der Nähe, wenn die Mapuche die wohlgesinnten höheren Mächte anrufen. Stets beginnt und endet der Tanz im Osten, denn auch die Himmelsrichtungen haben – wie bei vielen Urvölkern in Sibirien und anderswo – mystische Bedeutung. Im Osten und Süden sind die positiven, helfenden Kräfte angesiedelt, im Norden und Westen die schlechten, die Unglück, Tod, Zerstörung bringen.

Während des Rundtanzes hat feiner Nieselregen eingesetzt, doch niemand lässt sich davon beirren. Auf einen Zuruf des Lonko beenden die Teilnehmer schließlich den Tanz und bilden vor dem Rewe einen nach Osten offenen Halbkreis, in dessen Zentrum die Machi und der Lonko stehen. Sie haben Zweige oder Blätter in die Hand genommen und berühren damit, sich Richtung Osten verbeugend, die Erde. Auf diese Weise soll der Kontakt mit den Kräften der Natur hergestellt werden, die man mit leise gemurmelten Gebeten um gute Ernte, Gesundheit und Schutz vor Schicksalsschlägen bittet. Zugleich ist es eine Geste, die demonstrieren soll, dass man sich der Natur unterwirft, sich verpflichtet, ihre Gesetze zu achten. Und dann folgt eine Zeremonie, wie wir sie ähnlich schon bei den Burjaten am Baikalsee gesehen haben: Kleine Teller und Schüsseln mit Getreidekörnern werden gereicht und mit Wasser aus einem Krug, der von Hand zu Hand geht, aufgefüllt. Das Wasser und die Körner werden zu Brei vermischt. Ein Teil davon wird in den Mund gesteckt und gegessen, ein anderer bedachtsam auf die Erde geworfen. Man ist bereit, sagt diese Geste, das Wertvollste, das man besitzt, die Nahrung, mit den Naturgeistern und Göttern zu teilen.

Den Abschluss des religiösen Rituals bildet der traditionelle Vogeltanz der Mapuche-Indianer. Während sich die übrige Festversammlung mit Ausnahme der Machi und einiger ihrer Freundinnen, die sich jetzt etwas abseits halten, in einer langen geraden Reihe quer über den Platz ins feuchte Gras gesetzt haben, krempeln fünf Männer, unter ihnen der Lonko, ihre Hosenbeine hoch und ziehen die Schuhe aus. Zwei der Männer entblößen auch den Oberkörper. Am Kopf haben sie einen Federschmuck befestigt, auf ihren Schultern liegt eine Decke, die sie mit weit ausgestreckten Händen an den Zipfeln auseinander halten. Wie Vögel hüpfend, umkreisen sie den Rewe. Wiederholt neigen sie den Oberkörper fast waagerecht nach vorne, breiten die Arme noch weiter aus und verfallen in rasend schnellen Lauf. Dabei ahmen sie mit flatternder Decke den Flügelschlag der Vögel nach oder gehen symbolisch zum Sturzflug über, indem sie die ausgebreiteten Arme still halten und nur den Oberkörper tief nach links oder rechts beugen. Den gleichen Vogeltanz haben wir bei den Tlingit-Indianern in Alaska gefilmt.

Mit dem Vogeltanz ist das Ngillatun-Fest keineswegs vorbei. Meist dauert es zwei oder drei Tage, manchmal lediglich einen. Das Fest, dessen Augenzeugen wir werden, soll – wie wir vom Lonko erfahren – noch heute Abend enden. Erst unlängst nämlich habe man ein «richtig großes Fest» gefeiert, am 11. Oktober. Er wird von den Mapuche als «Letzter Tag der Freiheit» begangen. Am 12. Oktober 1492 war Christoph Kolumbus zum ersten Mal in Amerika gelandet.

Zunächst aber tritt eine Art Pause ein. Am Rande des Festplatzes, neben den Ochsenkarren, sind Holzfeuer entzündet, über denen Eimer und riesige Kessel hängen. Graupen- und Kartoffelsuppe werden gekocht und Stücke fetten Schweinefleisches. Mit Furcht erregend großen Messern zerkleinern Frauen Gurken, Tomaten, Mohrrüben und Salatblätter. In einem hohen runden Ofen, dessen eiserne Wände glühen, wird helles Fladenbrot gebacken. Über mehreren Feuern siedet Wasser für die Zubereitung von Matetee, dem typischen Getränk vieler südamerikanischer Völker, auch der Mapuche.

Die Machi und ihre Freundinnen halten derweil ein Schwätzchen, das von Zeit zu Zeit von einem Lied oder Sprechgesang unterbrochen wird, zu dem die Trommel den Takt schlägt. Die Trommeln der Mapuche, hatten uns Ethnologen gesagt, würden Ähnlichkeiten mit denen der Schamanen in Sibirien aufweisen. Und in der Tat: Sowohl in Form und Größe als auch in der Art der Bemalung sieht das Instrument, das die Machi in den Händen hält, den Trommeln sibirischer Schamanen verblüffend ähnlich. Wie in Sibirien gilt bei den Mapuche die Trommel als das wichtigste dingliche Attribut der Heiler und Seher, ja geradezu als ein Teil ihrer selbst. Mit ihr versetzen sie sich in Trance und Ekstase, werden die feindlichen Geister vertrieben und die guten Kräfte herbeigeholt. Und wie die Schamanen in Sibirien werden auch die Machi im Süden Chiles mit ihren Trommeln begraben.

Der Silberschmuck der Mapuche-Frauen, den sie wie einen fein ziselierten Panzer vor der Brust tragen, hat nicht nur dekorative Funktion, sondern mystische Bedeutung. Der kalte, weißliche Glanz des Silbers, so heißt es, erinnert die Mapuche an das Licht des Mondes, der in ihrer Vorstellung ein positives Gestirn ist – das feuchtigkeitsspendende Gegenstück zur versengenden Sonne. Es sichert Wachstum und Fruchtbarkeit auf der Erde. Bei den meisten Frauen auf dem Ngillatun-Fest besteht der Brustschmuck aus zwei Platten, die durch mehrere Ketten verbunden sind. Die obere zeigt spiegelbildlich zwei Vögel gleicher Gestalt und Größe. Sie verkörpern die Himmelssphäre, während die untere Platte die Erde, die Fruchtbarkeit, symbolisiert. Angesichts der zunehmenden Verarmung allerdings, erklärt uns der Lonko, müssen sich immer mehr Mapuche-Frauen von ihrem traditionellen Schmuck trennen. Manche tragen nur noch billige Imitate. Aber die sind für uns nicht zu erkennen.

Für die männlichen Teilnehmer ist der Höhepunkt des Festes der Beginn des Palín, einer Art Hockeyspiel, das die Mapuche schon pflegten, bevor Kolumbus Amerika entdeckte. Es diente nicht allein dem Vergnügen; mit seiner Hilfe entschieden die Mapuche-Gemeinden auch auf unblutige Weise ihre internen Konflikte. In den Jahrhunderten der Auseinandersetzungen mit den spanischen Eroberern war es ein Ritual, das den Krieg, den Kampf versinnbildlichte.

Das Palín-Spiel, das an diesem Nachmittag beginnt und in der Mitte des Festplatzes ausgetragen wird, wirkt keineswegs verbissen, sondern heiter und fröhlich. Gelegentlich läuft ein Kind über das Spielfeld, trabt ein Reiter gelassen die Außenlinie entlang und gibt seiner Mannschaft Ratschläge. Die Machi und ihre Freundinnen haben sich an einer der beiden Torlinien versammelt und feuern mit heftigen Schlägen auf der Schamanentrommel, spitzen Schreien und kurzen Liedern, die wohl Schlacht- oder Spottgesänge sind, die Spieler ihrer Mannschaft an. Wird ein Treffer erzielt, feiert ihn die Machi zusätzlich mit ein paar Tanzschritten. Der Ball aus Leder ist so winzig, dass er häufig im Gras des Festplatzes verschwindet. Dann suchen alle gemeinsam, Spieler und Zuschauer. Auf unsere Frage, wie lange das Spiel dauert, antwortet der Lonko ungerührt: «Bis das Essen fertig ist.»

Nach etwa einer Stunde schiebt ein alter Mann eine Schubkarre an den Rand des Hockeyfeldes. Schlagartig hört das Spiel auf. Die Schubkarre ist voll beladen mit frischem Fladenbrot – das Festmahl kann beginnen. Wieder setzen sich alle Männer und Frauen, Junge und Alte, in einer langen geraden Reihe quer über den Festplatz auf die Erde. Die Eimer mit Suppe und die Kessel mit den großen fetten Stücken Schweinefleisch werden herangeschleppt, aus Blechkannen wird Teewasser ausgeschenkt, in Becher, auf deren Grund die Mateblätter liegen. Mit Trinkrohren aus Silber, Holz oder Plastik wird der Tee in kleinen Schlucken aus den Bechern gesaugt. Man sitzt noch lange beieinander.

 

Nun, nachdem der religiöse Teil der Ngillatun-Zeremonie und das Hockeyspiel vorbei sind, hat auch der Lonko, der Dorfälteste, ein wenig Muße. Felix, wie er sich nach chilenischer und Mapuche-Art mit Vornamen vorstellt, ist etwa fünfundvierzig Jahre alt, von drahtigem Körperbau, mit klaren, regelmäßigen Gesichtszügen und freundlich blickenden, schmalen Augen. Der breite Mund gibt beim Lachen zwei strahlend weiße Zahnreihen frei. Seine Ausdrucksweise wirkt auf uns Europäer zuweilen etwas blumig, aber geduldig geht er auf alle Nachfragen ein. Er wisse, dass die Weißen ein wenig anders denken und reden als die Menschen der Erde – genau dies nämlich, so erklärt er, bedeutet der Name «Mapuche». Er setzt sich aus den Wörtern mapu («Erde») und che («Menschen») zusammen. Schon dieser Name, meint Felix, sagt das Wichtigste über sein Volk: «Ohne Land keine Mapuche.»

«Welche Rolle», fragen wir, «spielt ein Fest wie das Ngillatun, spielt die traditionelle Kultur für die Mapuche heute?»

Felix wiegt ein wenig den Kopf, scheint angestrengt nachzudenken und beginnt dann zu sprechen: «Die Mapuche-Kultur ist wirklich eine Wissenschaft für sich und sehr kompliziert. Aber für uns ist sie außerordentlich wichtig. Es stimmt zwar, dass vieles nicht mehr so ist wie früher. Und doch gibt es uns nach wie vor. Das Mapuche-Volk lebt noch! Unsere Urahnen haben uns ein Erbe hinterlassen: das Land und die Kultur. Die Erde und die Kultur geben uns Kraft. Wir sind stolz darauf, Mapuche zu sein. Die Kultur ist für uns wie eine Religion. So wie es auf der Welt andere Religionen gibt, die ihre Kirchen haben und Kathedralen, bedeutet Religion für uns, in der freien Natur zu leben und mit Gott in Verbindung zu treten. Wir sind Menschen der Erde und lieben die Erde und die Natur. Ich denke, ein Gott hat sie uns gegeben.»

«Aber wie passt dieser christliche Glaube an einen einzigen Gott mit dem Weltbild der Mapuche zusammen, in dem es viele Götter gibt?»

«Für mich ist das kein Problem. Bei uns ist es eben so. Ich bin zu meinem Glauben durch meine Eltern gekommen. Als ich ein kleiner Junge war, habe ich mit meinem Herzen und mit meinen eigenen Augen erlebt, wie meine Vorfahren um Wasser beteten – es war Trockenzeit. Gott hat sie erhört, sagten meine Eltern, und es fing tatsächlich an zu regnen. Deswegen bin ich gläubig, glaube an den einen Gott, der alles geschaffen hat. Ich nehme aber auch mit Stolz und Freude an den alten Zeremonien teil, bei denen noch andere Mächte angerufen werden. Besonders wenn ich manchmal traurig oder wütend bin. Diese Zeremonien geben mir Kraft.»

Der Monotheismus, der Glaube an nur einen, allmächtigen Gott, so erfahren wir später von Ethnologen in Temuco, ist unter den heutigen Mapuche, besonders den gebildeten, durchaus keine Seltenheit. Mit den spanischen Eroberern waren auch Missionare ins Land gekommen, vor allem Jesuiten und Franziskaner. Allerdings ist der christliche Glaube den «Menschen der Erde» lange Zeit fremd geblieben. Sie lebten zum Entsetzen der frommen Mönche weiterhin in Polygamie und gingen, wie Charles Darwin noch 1834 beobachtete, «nicht gern zum Gottesdienst». Dennoch war das Wirken der katholischen Kirche auf Dauer nicht ohne Einfluss. Und für viele Mapuche ist es – wie für den Lonko Felix – kein Widerspruch, morgens eine katholische Messe zu besuchen und im Anschluss daran am Ngillatun-Fest teilzunehmen und die Götter der Mapuche anzurufen.

Immer wieder betont Felix im Gespräch die Bedeutung der Erde, die den Mapuche «heilig» ist. «Der Mensch muss mit der Natur in Einklang leben, das ist unser oberstes Gebot.» Und er erinnert an einige Regeln, die für seine Vorfahren im Umgang mit der Natur selbstverständlich waren und die Maxim und ich auch bei unseren Reisen zu den sibirischen Urvölkern kennen gelernt haben. Bäume etwa durften bei den Mapuche nur gefällt werden, wenn es unbedingt notwendig war. Für jeden Baum, den man verwenden wollte, musste schon im Vorjahr ein neuer gepflanzt werden. Blumen durfte man erst pflücken, wenn sie ganz aufgeblüht waren. Das Abreißen von Zweigen und Blättern war grundsätzlich nicht erlaubt, fürchtete man doch, den Pflanzen Schmerzen zuzufügen. Ähnliche Gesetze galten bei den Burjaten am Baikalsee sowie bei den Jakuten und Ewenken im Norden Sibiriens. Sie baten einen Baum, bevor sie ihn fällen mussten, weil sie Feuerholz brauchten, ein Boot oder eine Hütte bauen wollten, um Verzeihung und warfen keinen Stein in einen See oder Fluss, um diese nicht zu verletzen. Auch für die Mapuche ist die Natur ein lebendiges Wesen. Umso schmerzhafter, so Felix, dass das Land der Mapuche immer stärker zerstört wird, besonders der Wald. «Dieser Wald ist nicht mehr natürlich, und deswegen leiden wir. Der Baum, der heute nach dem Abholzen gepflanzt wird, bringt uns Schaden, verunreinigt unser Wasser. Das Wasser versteckt sich.»

«Glauben Sie denn», frage ich, «dass Ihre Tradition, die Kultur der Mapuche, eine Chance hat, in Zukunft zu überleben?»

Felix’ Antwort kommt zögernd. «Ich denke schon. Allmählich scheinen die Chilenen, die Weißen, uns zu entdecken. Sie machen langsam die Türen auf, erkennen, dass wir einen Platz in der Gesellschaft haben müssen. Wenn sie uns früher die Türen geöffnet hätten, wären wir anders geworden, würden nicht so tief am Boden sein wie heute. Ja, wir werden diskriminiert. Aber es gibt auch Hoffnung. Ich habe gehört, wie unser Präsident Lagos neulich erklärt hat, dass alle Mapuche jetzt die Chance bekommen sollen, zur Schule zu gehen und etwas zu lernen, die Kinder ebenso wie die Erwachsenen. Ich sage dazu: Gott sei Dank. Denn früher hatten wir diese Chance nicht.»

Auf die Frage, ob denn die so genannte Zivilisation den Mapuche mehr Positives oder mehr Negatives gebracht hat, weicht Felix zunächst ins Grundsätzliche aus: «Wichtig ist, einen Glauben zu haben, eine Religion. Ob man Mapuche ist oder nicht – alle Menschen sind gleich. Auch wenn der andere ein besseres Auto fährt oder mit dem Flugzeug reist. Aber viele Mapuche schämen sich, und das sollte nicht sein. Zum Beispiel du, Bruder Klaus, sprichst deine Sprache, und wir haben unsere Sprache. Trotzdem können wir uns unterhalten, können miteinander reden. Als ob es darauf ankommt, welcher Zivilisation wir angehören.»

«Aber die Weißen haben Ihnen Ihr Land weggenommen, haben Ihr Volk dezimiert, haben Krankheiten, Alkohol und all die anderen Probleme gebracht – ist das nicht ein großer Schaden für Ihr Volk?», insistiere ich.

Jetzt kommt die Antwort des Lonko ohne Zögern: «Das stimmt. Und deswegen haben wir gelitten. Die Weißen haben viel Unglück über uns gebracht. Und wir beten zu Gott, dass er uns Kraft gibt. Es ist wahr, früher kannten wir keinen Alkohol. Alles war natürlich, alle Nahrung, die Graupen hier, die Erbsen ernteten wir selbst und holten sie nicht aus der Dose. Das Mehl wurde mit den eigenen Händen von der Mutter oder der Schwester gemacht, nichts war kontaminiert. Und nun leiden wir, weil wir kein Land mehr haben. Man hat uns hierher getrieben. Aber wovon sollen wir leben? Und was wird aus unseren Kindern und Enkeln? Schmerzlich ist es für uns. Ja, wir leiden.»

Während der Militärdiktatur Pinochets war das Ngillatun-Fest der Mapuche übrigens verboten. Wie das Ysyach, das Neujahrs- und Sonnenfest der Jakuten in Sibirien, zu Zeiten der Sowjetherrschaft, galt es den autoritären Machthabern als Ausdruck nationalistischer Unbotmäßigkeit. Damit stand es im Widerspruch zu der Parole, die Pinochet ausgegeben hatte: «Es gibt keine Indianer. Wir sind alle Chilenen!»