Die Drei Fragezeichen
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Das versunkene Schiff

erzählt von André Marx

Kosmos

Umschlagillustration von Silvia Christoph, Berlin

Umschlaggestaltung von eStudio Calamar, Girona, auf der Grundlage

der Gestaltung von Aiga Rasch (9. Juli 1941 – 24. Dezember 2009)

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© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Mit freundlicher Genehmigung der Universität Michigan

Based on characters by Robert Arthur

ISBN 978-3-440-14914-0

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Liebe Freunde und Krimi-Fans,

wer Vorworte langweilig und überflüssig findet, darf dieses gern überspringen und sofort zum ersten Kapitel vorblättern.

Allen anderen möchte ich kurz etwas über die Geschichte dieses Buches erzählen. Die drei ??? Das versunkene Schiff entstand im Winter 1994/95. Es war das erste Manuskript, das ich für »Die drei ???« schrieb und mit dem ich mich als Autor für die Reihe bewarb. Das Manuskript stieß auf Interesse, doch es dauerte über ein Jahr, bis sich eine Veröffentlichung abzeichnete. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits ein weiteres Manuskript geschrieben: Die drei ??? Poltergeist. Da mir diese Geschichte besser gefiel, zog ich Das versunkene Schiff zurück und es verschwand für fast zwanzig Jahre in der Schublade. Erst für die nun vorliegende zweite Top-Secret-Edition holte ich es wieder hervor und überarbeitete es.

Die Welt, in der die drei ??? hier ermitteln, ist daher die Welt der Neunzigerjahre. Es gab zu der Zeit zwar schon Handys, aber kaum jemand hatte eines. Dass drei Jugendliche eigene Mobiltelefone besitzen könnten, war kaum vorstellbar. Auch das Internet stand den meisten Leuten noch nicht zur Verfügung, weshalb man auf der Suche nach Informationen in die Bibliothek oder in ein Zeitungsarchiv gehen musste.

Wer tiefgründig forscht, wird feststellen, dass es das Schiffsunglück der Brother Jonathan, von dem im zweiten Kapitel berichtet wird, wirklich gegeben hat. Ebenso den Goldschatz, der 1996 geborgen wurde. Dieser Teil der Geschichte floss erst bei der Überarbeitung in das Manuskript ein. In der Urfassung war die Herkunft des Goldschatzes nicht näher erläutert worden. Doch die historischen Fakten rund um die Brother Jonathan passten so gut in die Geschichte, dass ich nicht widerstehen konnte. Dies erklärt, wie ein Ereignis von 1996 in einem Buch erwähnt werden kann, das bereits 1995 geschrieben wurde.

Das vorliegende Buch ist also nicht zu hundert Prozent mit dem ursprünglichen Manuskript identisch. Es ist eine leicht veränderte (und, wie ich finde, verbesserte) Variante, bei der ich mich bemüht habe, dem Geist und der Stimmung der Urfassung so treu wie möglich zu bleiben.

Und nun wünsche ich euch viel Spaß mit dem neuen/alten Abenteuer von Justus, Peter und Bob!

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Verregnete Ferien

Dicke Regentropfen klatschten gegen die Scheibe und ließen die Welt draußen verschwimmen. Auf der Hauptstraße von Sandfield standen riesige Pfützen. Niemand war unterwegs.

»Wenn es weiter so regnet, werden das sehr traurige Ferien«, murmelte Peter, das Kinn in die rechte Hand gestützt und zum wolkenverhangenen Himmel blickend. Es goss wie aus Eimern. Im »Brother Jonathan«, dem kleinen Café, in dem die drei ??? saßen, war es zwar warm, doch allein der Anblick des Wetters ließ Peter frösteln.

»Ach was«, widersprach Justus. »Wir lassen uns von dem Regen doch nicht unseren Urlaub vermiesen. Wir können lesen, Schach spielen, uns mit mathematischen Rätseln beschäftigen …«

»Wir können uns auch zu Tode langweilen«, meinte Peter.

»So schlimm wird es schon nicht werden«, sagte Bob. »Ich denke, in dieser netten, kleinen Stadt gibt es genügend Dinge, die man auch bei Regenwetter unternehmen kann. Zum Beispiel ins Museum gehen oder …«

»Verschone mich«, bat Peter.

»Oder wir machen einen Ausflug in den Redwood National Park zu den Mammutbäumen.«

»Bei Regen. Super Idee, Bob.«

Die drei Jungen waren von Ford Follows, einem alten Journalistenkollegen und Freund von Bobs Vater, eingeladen worden, einen Teil ihrer Ferien in Sandfield zu verbringen, einem beschaulichen Ort an der Küste im Norden von Kalifornien. Sandfield war mit seiner malerischen Bucht, dem breiten Sandstrand und den alten viktorianischen Häusern ein beliebtes Touristenziel. Mr Follows vermietete zwei kleine Bungalows, was ihm als Nebenverdienst zu seinem Job bei der Tageszeitung »Times-Standard« diente. Ein Gast war abgesprungen und Mr Follows hatte den Bungalow den drei Jungen umsonst angeboten. Begeistert von der Idee, eine Woche lang faul am Strand zu liegen, zu schwimmen und zu angeln, hatten die drei Detektive ihre Koffer gepackt und waren mit Peters Auto nach Sandfield gefahren. Lediglich Justus hatte anfangs über den Sinn eines Urlaubs an der Küste nachgegrübelt, denn Sonne, Strand und Meer hatten sie schließlich auch zu Hause in Rocky Beach. Doch das Argument von Peter und Bob, auf diese Weise Tante Mathilda und ihrer niemals endenden Herumscheucherei auf dem Schrottplatz entkommen zu können, hatte ihn überzeugt.

Aber aus Sonne, Strand und Meer war bislang nichts geworden. Seit gestern waren sie hier, und es hatte noch nicht eine Sekunde lang aufgehört zu regnen. Auch der Wetterbericht ließ nichts Gutes erwarten.

»Draußen rührt sich gar nichts«, murmelte Peter missmutig. »Nichts. Null. Kein Mensch auf der Straße.«

»Sandfield lebt vom Tourismus«, antwortete Justus sachlich, ohne Peters schlechter Laune Beachtung zu schenken. »Da es schon seit Tagen regnet, stehen die Hotels und Ferienhäuser leer.«

»Sogar der Souvenirladen gegenüber hat zu«, bemerkte Peter. Inzwischen lag sein Kinn auf der Tischplatte. »Und das Restaurant auch. Dabei ist Mittag.« Er sah sich im Café um. Es war in einem behaglichen Fischerhüttenstil eingerichtet. Das Holz der Möbel war dunkel und rissig. Unter der Decke hing ein Fischernetz, an den Wänden gerahmte Kupferstiche und Schwarz-Weiß-Fotos von Schiffen und Booten. Außerdem gab es ein großes Bücherregal an der Wand. Doch die feine Staubschicht ließ vermuten, dass ihm schon lange keine Beachtung mehr geschenkt worden war. Außer ihnen saß noch ein älterer Herr an einem Tisch am Fenster, las Zeitung und trank Kaffee.

Die Bedienung, ein Mädchen mit vollen, dunklen Locken, das nur wenig älter war als sie selbst, wischte schon zum zehnten Mal über die längst saubere Theke. Sie hatte einige Male zu ihnen rübergeschielt. Nun kam sie zu ihnen. »Darf’s bei euch noch was sein?«

»Nein, danke«, sagte Peter gelangweilt. »Aber du könntest uns eine Frage beantworten. Was macht man in Sandfield, wenn es den ganzen Tag regnet?«

»Also, viel gibt’s hier nicht. Die meisten Besucher genießen einfach die Ruhe und die Natur. Sitzen am Strand und gucken aufs Meer. Und die, die hier leben … na ja, die arbeiten halt. So wie ich. Ich bin übrigens Amanda. Amanda Ellis. Das Café gehört meinem Onkel. In den Ferien kann ich hier arbeiten und mir was dazuverdienen.«

»Ich bin Peter, und das sind Bob und Justus«, stellte Peter sie vor.

Amanda nickte. »Wo wohnt ihr denn in Sandfield?«

»Am Südende der Bucht, gleich bei den Dünen«, antwortete Justus. »Das Häuschen gehört Mr Follows.«

Amanda nickte wissend. »Den kenne ich gut. So wie die meisten hier.« Sie wirkte verlegen, als wäre es ihr peinlich, dass ihre Heimatstadt so klein war. »Viele Leute haben noch ein kleines Strandhaus, das sie vermieten. Oder ein Gästezimmer. Oder ihnen gehört ein Restaurant oder ein Kiosk. Aber dieses Jahr bleiben die Touristen weg, die fahren lieber in den Süden. Santa Barbara, Santa Monica und so, da scheint fast immer die Sonne. Das geht jetzt schon seit Wochen so.«

»Das tut uns leid, Amanda«, sagte Bob.

»Für meinen Onkel ist es besonders schlimm«, antwortete Amanda. »Dem gehören nämlich gleich zwei Hotels und einige Häuser hier in Sandfield. Er lebt ausschließlich vom Tourismus und ist schon ganz verzweifelt.«

Ein schnaubendes Geräusch drang zu ihnen. Die vier wandten sich um. Der Mann, der allein am Fenster saß, hatte gelacht.

»Wollten Sie etwas sagen, Mr Friedman?«, fragte Amanda herausfordernd.

Mr Friedman schien kurz mit sich zu ringen, dann siegte sein Mitteilungsbedürfnis. »Wenn irgendjemand nicht unter der schlechten Saison zu leiden hat, dann ja wohl dein Onkel.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Amanda. »Wenn seine Häuser leer stehen, verliert er eine Menge Geld.«

»Um eine Menge Geld zu verlieren, muss man aber erst mal eine Menge Geld haben«, gab Mr Friedman zurück. »Aber wie du meinst. Dann leidet dein Onkel eben.«

Als Amanda sich wieder den drei ??? zuwandte, kostete ihr Lächeln sie sichtlich Mühe. »Ich hoffe jedenfalls, dass ihr euch trotz des Wetters in Sandfield nicht langweilt. Ihr könnt gerne jederzeit vorbeikommen.«

»Es hat gerade aufgehört zu regnen«, bemerkte Justus.

»Dann nichts wie los, bevor wir hier noch festwachsen«, sagte Peter. »Ich will an den Strand. Und wenn wir nur einmal auf und ab laufen. Wenn ich noch länger irgendwo rumsitze, flippe ich aus. Nichts für ungut, Amanda.«

»Schon okay.«

Sie beglichen die Rechnung und verließen das »Brother Jonathan«.

Nachdem sie die Hauptstraße überquert hatten, folgten sie einem schmalen Fußweg Richtung Strand. Sie erreichten das obere Ende einer verwitterten Holztreppe, die hinunter zum Meer führte. In der Ferne rollten die Wellen an schwarzen Felsen und kleinen Inselchen vorbei auf den nassen Strand. Am Fuß der Treppe stand ein altes Holzhaus. Auf den ersten Blick wirkte es verlassen, denn es war leicht windschief und die Farbe blätterte ab. Peter und Bob vermuteten, es sei vielleicht ein vor Jahrzehnten verlassenes Strandcafé. Doch Justus wies auf ein Schild, das vor dem Haus an einem verrotteten Pfeiler angebracht war:

BOOTSVERLEIH JO HILTON

BOOTE, KAJAKS, SURFBRETTER, TAUCHAUSRÜSTUNG

»Himmel!«, sagte Peter. »Ich dachte, das wäre eine Ruine. Aber es ist wahrhaftig ein Bootsverleih! Hey, es gibt auch Tauchausrüstung zu leihen. Wie wäre es mit ein paar Unterwasserexkursionen? Da merken wir wenigstens nicht, dass es regnet.«

Justus war wenig begeistert, Bob zuckte leidenschaftslos die Schultern, aber Peter war von der Aussicht, sich irgendwie körperlich betätigen zu können, so angetan, dass er kurzerhand die Initiative ergriff. »Kommt schon, wir gehen mal runter und fragen!«

Sie stiegen die Holztreppe hinunter, die unter ihrem Gewicht wenig vertrauenserweckend knarrte. Hinter dem Haus lagen einige Ruderboote, an die Rückwand gelehnt standen Kajaks aus Kunststoff. Weiter unten am Strand lagen nahe der Brandungslinie noch mehr Boote. Daneben standen außerdem an Holzpfeilern festgekettete Surfbretter.

Die Hütte selbst hatte ein paar kleine Fenster, doch Sand und salzige Luft hatten die Scheiben fast blind werden lassen. Die ausgestellten Taucherbrillen und Flossen waren nur noch zu erahnen.

Die Tür quietschte vernehmlich, als die drei Detektive eintraten. Die Hütte bestand im Wesentlichen aus einem einzigen großen Verkaufsraum, an den sich hinter einem türlosen Durchgang ein kleines Büro anschloss. An den Wänden standen windschiefe Regale, die bis unter die Decke reichten und vollgestopft waren mit allem, was man im und auf dem Wasser benötigte: Brillen, Schnorchel, Schwimmwesten, Neoprenanzüge in allen Formen und Größen, wasserfeste Schuhe, Flossen, Surfbrettwachs, Angelruten, Ruder. Trotz des baufälligen Zustands der Hütte waren die Waren alle neu und erstklassig, wie Peter mit fachkundigem Blick feststellte.

In dem kleinen Büro nebenan rumpelte es, und jemand schob sich auf einem alten Schreibtischstuhl, aus dem bereits die Polsterung hervorquoll, in den Durchgang.

Die junge und sportlich aussehende Frau trug ein ausgewaschenes schwarzes Kapuzenshirt und hatte ihr dunkles Haar nachlässig zusammengebunden. »Hallo. Was kann ich für euch tun?«

»Wir sind gerade zufällig auf Ihren Laden gestoßen und fragen uns, ob wir uns heute oder in den nächsten Tagen Taucherausrüstungen leihen könnten.«

Sie sah sie überrascht an. »Ihr seid in dieser Saison die ersten Besucher, die nach Taucherausrüstung fragen. Wollt ihr euch tatsächlich bei diesem Wetter raus aufs Meer wagen?« Wie um ihre Worte zu unterstreichen, rüttelte just in diesem Moment eine heftige Böe an der Hütte und der Regen hämmerte mit Gewalt gegen die Scheiben.

»Er will«, sagte Justus und zeigte auf Peter. »Wir lassen uns höchstens überreden.«

»Na schön. Habt ihr denn einen Tauchschein?«

Peter nickte.

»Wann und wo seid ihr schon einmal …«

In diesem Moment flog die Tür auf. Ein vollkommen durchnässter, abenteuerlich aussehender Mann kam hereingestolpert und brachte einen Schwall Regen mit. Er trug einen schwarzen, tropfenden Regenmantel und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, das unter einem ungepflegten Vollbart kaum zu erkennen war. Wild starrte er die Frau aus tiefliegenden Augen an. Die drei Detektive ignorierte er.

»Schnell, Jo! Ich brauche eine Taucherausrüstung! Und ein Boot! Das Schiff meines Großonkels ist wieder aufgetaucht. Und mit ihm der Schatz!«

Die Legende von Geoffrey Young

»Beruhige dich erst mal!« Jo erhob sich von ihrem Stuhl und trat aus dem Büro heraus auf den Mann zu. »Willst du dich nicht setzen, und ich bediene meine Kunden und dann …«

»Meine Güte, Jo, hörst du mir nicht zu?«, unterbrach der Mann sie ungeduldig. »Du glaubst nicht, was passiert ist. Ich war gerade auf dem Weg nach Hause und bin durch die Dünen gegangen. Und wen sehe ich? Eric Ellis, wie er gerade …« Der Mann stockte, drehte den Kopf und sah Justus, Peter und Bob an. Anscheinend wurde er sich der Tatsache erst jetzt richtig bewusst, dass Jo Hilton wirklich Kundschaft hatte. Justus fragte sich, wie alt der Mann sein mochte. Der Bart, das struppige Haar und sein restliches wüstes Aussehen machten eine Schätzung schwer. Nur ein paar einzelne graue Haare durchzogen den dunklen Vollbart.

»Am besten gehen wir raus«, sagte er abrupt und setzte an, Jo zur Tür zu ziehen.

Doch die blieb stehen. »Himmel, Steve, geht’s dir noch gut? Du kommst hier hereingeplatzt und überfällst mich …« Sie winkte ab. »Gedulde dich einfach einen Moment. Ich werde meine Kunden zu Ende bedienen.« Sie wandte sich wieder den drei ??? zu. »Also, Jungs, wann soll es denn losgehen? Noch heute, oder wollt ihr einen Termin für die nächsten Tage machen? Dann könnten wir alles Weitere später besprechen.«

Doch Justus hatte den Tauchgang schon längst vergessen. Er wandte sich an den Mann namens Steve: »Verzeihen Sie, Sir, dass ich mich einmische. Sie sprachen von einem Schatz, der wieder aufgetaucht sei. Können Sie uns Näheres darüber erzählen?«

Bob und Peter warfen einander verstohlene Blicke zu. Insgeheim bewunderten sie Justus. Den Mut, diese Frage so direkt zu stellen, hätten sie selbst nie gehabt. Denn ihr Gegenüber schaute so wild drein, dass man es mit der Angst zu tun bekommen konnte.

Sekundenlang starrte er Justus halb finster, halb ungläubig an. »Das geht dich ja wohl einen feuchten Seetang an, Junge!«

»Da haben Sie sicher recht, es geht mich nichts an«, pflichtete Justus ihm bei. »Doch meine Kollegen und ich haben ein gewisses professionelles Interesse an Dingen, die verschwinden und wieder auftauchen. Und das könnte Ihnen zum Vorteil gereichen. Darf ich Ihnen unsere Karte geben?« Justus holte aus der Innentasche seiner Regenjacke eine Visitenkarte hervor und reichte sie dem Mann, der sie sprachlos vor Verblüffung entgegennahm.

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»Was soll ich mit diesem Kinderkram?«

»Mir kam der Gedanke, dass Sie die Hilfe von Detektiven benötigen könnten«, fuhr Justus sachlich fort. »Zum Beispiel, wenn Sie etwas Verlorenes finden wollen. Darin sind wir im Laufe der Zeit Experten geworden. Aber ich weiß natürlich nicht, ob ich Ihre Situation richtig einschätze. Daher würde ich mir Ihre Geschichte gern erst mal anhören.«

»Du quatschst mir zu viel, Junge!«

Da schaltete sich die Ladeninhaberin ein: »Immer langsam, Steve. Die drei sind meine Kunden und das hier ist mein Laden, klar? Benimm dich anständig oder du fliegst raus.« Als sie sah, dass Steve eher noch wütender zu werden drohte, legte sie ihm beruhigend eine Hand auf die nasse Schulter. »Es sind nur jugendliche Touristen, die ein paar Tage in Sandfield verbringen. Erzähl ihnen doch die Geschichte deines Großonkels. Schaden können sie dir ja nicht, oder?«

Er sah die drei abschätzig an, dann lachte er rau. »Nein, das können sie nicht, drei so windelweiche Burschen. Also schön. Ich erzähle euch die Geschichte. Aber das habt ihr Jo zu verdanken, nur dass ihr’s wisst.«

Die drei Detektive nickten schweigend. Besser, sie überließen ihm das Reden.

»Ich mach uns derweil einen Tee«, sagte Jo und ging ins Büro, wo sie anfing, an einer kleinen Spüle, neben der ein Wasserkocher stand, zu hantieren.

»Mein Name ist Steve Young«, begann der Mann. »Ich wohne da oben an der Steilküste. Meine Familie lebt in Sandfield, seit die Stadt gegründet wurde. Mein Großonkel Geoffrey war ein Enkel der Gründungsväter. Er wurde in der Nacht des Großen Erdbebens von San Francisco geboren. Und er ist bis heute eine Legende. Ein ruhmreicher Abenteurer, ein großes Vorbild für alle Bewohner von Sandfield, ach, was sage ich – für ganz Nordkalifornien! Er hat dreimal hintereinander das große Klippenklettern am Todesfelsen gewonnen, und einmal hat er sogar einen Hai, der ihn beim Schwimmen angriff, mit bloßen Händen erlegt!«

Jo, die nebenan den Tee aufgoss, räusperte sich vernehmlich. »Außerdem war er ein Spieler, ein Großmaul und ein Krimineller.«

»Kriminell!«, höhnte Steve. »Er hat Alkohol verkauft, obwohl das zu der Zeit verboten war. Na und? Er hat der Menschheit damit einen Dienst erwiesen! In Sandfield wird er bis heute dafür verehrt! Das ist doch nicht kriminell!«

»Die Behörden sahen das anders.«

»Das stimmt allerdings. Die haben ihn in den Tod getrieben, den Helden von Sandfield.« Zornig blickte Steve Young die drei Detektive an, als wären sie für den Tod seines Großonkels verantwortlich. Dabei hatten sie die Geschichte nicht einmal richtig verstanden.

Justus räusperte sich vorsichtig. »Und der … äh … Schatz?«

»Na, der ist mit ihm untergegangen!«

»Steve«, sagte Jo und kam mit fünf Tassen auf einem Tablett voller Teeflecken wieder zu ihnen. »Du musst die Geschichte schon in der richtigen Reihenfolge erzählen, damit die Jungen sie verstehen.«

Steve seufzte ungeduldig. »Die Polizei war hinter meinem Großonkel her. Wegen des illegalen Alkoholausschanks, den er betrieb. Sie wollten ihn festnehmen. Aber er bekam einen Tipp und hatte gerade noch Zeit, sein Geld zu verstauen und mit seinem Schiff, der Eureka, in See zu stechen. Er wollte sich absetzen. Aber es war stürmisch in jener Nacht, und die Gewässer vor der Küste von Sandfield sind tückisch. Das Schiff lief auf einen der vielen Felsen und sank. Geoffrey Young konnte sich an Land retten, aber er war stundenlang im Wasser gewesen, da ihn die Ebbe immer wieder rausgezogen hatte. Durch die lange Zeit im eisigen Wasser bekam er eine Lungenentzündung, an der er wenig später starb. Auf dem Sterbebett sprach er von einem Schatz, der an Bord seines Schiffes gewesen sein soll. Der Schatz der Brother Jonathan.«

Jo unterbrach Steve Young. »Angeblich hat er das gesagt. Aber eine Menge Leute glauben, dass er in Wirklichkeit von etwas ganz anderem sprach. Dass er, schon halb im Sterben, über das Unglück der Brother Jonathan redete, das ganz ähnlich verlaufen war. Und bei dem es wirklich einen Schatz gegeben hatte.«

»Brother Jonathan?«, wiederholte Peter. »So heißt doch das Café, in dem wir vorhin saßen.«

Jo nickte. »Benannt nach einem berühmten Raddampfer, der 1865 vor der Küste von Crescent City sank, gar nicht weit von hier.«

»Ich erinnere mich«, sagte Bob.

»Du erinnerst dich an 1865?« Peter grinste. »Bob, dafür hast du dich sehr gut gehalten, alle Achtung!«

»Ich erinnere mich, vor gar nicht langer Zeit etwas über das Unglück gelesen zu haben. Ist das Wrack nicht erst vor Kurzem gefunden worden?«

»Vor drei Jahren«, sagte Jo. »Und erst vor ein paar Monaten wurde der Goldschatz geborgen.«

»Goldschatz?«, horchte Peter auf.

»An Bord der Brother Jonathan befand sich eine beträchtliche Menge an Gold«, erklärte Bob. »Das waren zum einen Goldlieferungen, die weiter nach Norden verschifft werden sollten, und … was war es noch?« Bob wandte sich fragend an Jo.

»Ausgleichszahlungen der Regierung an die Indianer. Und ein bisschen privates Gold von den Passagieren war auch noch dabei. Obwohl sofort nach dem Unglück nach dem Wrack gesucht wurde, wurde es über hundert Jahre lang nicht gefunden. Erst jetzt konnte der Schatz geborgen werden. Bis dahin hatte halb Sandfield geglaubt, dass Geoffrey Young zu Lebzeiten heimlich nach dem Schatz getaucht war und ihn gefunden hatte. Und dass das Gold ein weiteres Mal versunken war, diesmal mit Geoffreys Schiff, der Eureka

»Aber wenn der Schatz vor ein paar Monaten geborgen worden ist, kann das doch nicht stimmen«, meinte Justus.

»Eben«, bestätigte Jo und sah zu Steve Young. »Es kann nicht stimmen.«

»Es wurde nicht alles geborgen«, widersprach Steve Young energisch. »Der weit größere Teil blieb verschollen. Was daran liegt, dass mein Großonkel ihn bereits gefunden hatte.«

Jo runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, Steve. Was wirklich in der Nacht, in der dein Großonkel verunglückte, passiert ist, kann doch niemand mehr wissen. Das Problem an einem legendären Menschen ist, dass sich schnell Legenden entwickeln.«

»Ist das Wrack der Eureka jemals gefunden worden?«, erkundigte sich Justus.

»Nein«, sagte Jo.

»Ja!«, widersprach Steve Young. »Davon rede ich doch die ganze Zeit, hört mir denn hier keiner zu? Es ist gefunden worden, und der Schatz ebenfalls! Und deshalb brauche ich jetzt sofort eine Taucherausrüstung!«

»Aber Steve, wie kommst du darauf, dass …«

»Ich habe Eric Ellis belauscht, als ich vorhin durch die Dünen nach Hause ging.«

»Der Mann, dem hier einige Bungalows und Hotels gehören?« Peter hatte sich den Namen von Amandas Onkel gemerkt.