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1. Ab nach unten

Anton war sieben Jahre alt und einen Meter und einundzwanzigeinhalb Zentimeter groß. Für einen Jungen seines Alters und seiner Größe war er also mittelalt und mittelgroß. Mittelgroß waren auch Antons Mut und Antons Angst. (Ob Mut und Angst auch mittelalt sein konnten, wusste Anton nicht.) Anton wünschte sich, manchmal etwas mutiger als nur mittelmutig zu sein. Denn wenn man mutiger als mittelmutig wäre, würde man auch nicht mehr mittelängstlich sein. Sondern viel weniger. Und das hätte er gerade heute gut gebrauchen können.

Anton wohnte mit seiner Mama im vierten Stock der Margaretengasse Nummer 56. Er stieg gern die 84 Stufen hinauf in sein Zuhause, aber noch lieber sauste er sie in Höchstgeschwindigkeit wieder hinunter. Dabei ließ er seine rechte Hand über das knallrote Geländer rutschen, bis es quietschte, während seine Füße Richtung Erdgeschoss flitzten. Mit jedem Stockwerk weiter abwärts stieg Antons Geschwindigkeit. Kurz vor dem Erdgeschoss war er meist so schnell, dass seine Füße kaum noch die Stufen berührten. Anton fühlte sich dann fast so, als könnte er fliegen.

Mama verbot Anton mindestens einmal in der Woche, so schnell die Treppe hinunterzusausen, aber wirklich etwas dagegen unternehmen konnte sie nicht. Das wusste sie sogar. Deshalb seufzte sie auch immer, wenn sie Anton das Treppensausen vermiesen wollte. »Du brichst dir noch den Hals, Anton!« Seufz. »STOPP, die Kurve!« Seufz. »Achtung, ein Nachbar!« Doppel-Seufz.

Anton wusste, dass Mama nur Angst um ihn hatte. Schließlich war Mama eine Mama, und Mamas MUSSTEN Angst um ihre Kinder haben. Das war ein Naturgesetz und ließ sich ebenso wenig ändern wie eine radieschenförmige Nase oder bananenkrumme Beine.

Deshalb nahm Anton es Mama auch nicht wirklich übel, wenn sie mal wieder rumstänkerte. Ungefähr ein Stockwerk lang hielt er sich dann an Mamas Bitte, nicht so schnell zu rennen.

So konnte sie sich ein bisschen von ihrer Angst erholen.

Aber dann – dann konnte Anton einfach nicht anders, als wieder loszusausen. Im Gegensatz zu Mama hatte Anton nämlich keine Angst! Zumindest nicht davor, die Treppe hinunterzuflitzen …

Doch GENAU diese Treppe war jetzt Antons Problem. Vor ihm lagen 84 Stufen, die er nicht hinabgehen WOLLTE. Schon gar nicht schnell. Und erst recht wollte er DAS nicht, was NACH den 84 Stufen kommen würde: weitere 13 Stufen, die direkt in den Keller führten.

 

Anton stand nur im vierten Stock des Treppenhauses, weil ihm das eine hochgezogene Augenbraue befohlen hatte. Nämlich die von Mama. Vor ein paar Minuten hatte Anton noch auf dem Wohnzimmerfußboden im Murmelfinale gegen sich selbst gespielt (und haushoch geführt). Da hatte Mama die furchtbarsten Sätze des Tages ausgesprochen: »Holst du bitte deinen Koffer für die Klassenfahrt aus dem Keller? Morgen geht’s los, und es ist noch nichts gepackt. Willst du etwa ohne Gepäck fahren?«

Die Worte hallten jetzt noch in Antons Ohren wie ein Echo.

Koffer? Klassenfahrt? Keller? KATASTROPHE!

Er schluckte. Ja, er konnte sich gut vorstellen, ohne Gepäck auf Klassenfahrt zu gehen. Er fand die Idee sogar richtig toll und hatte auch versucht, Mama davon zu überzeugen: »Ich kann doch einfach drei Schichten Klamotten übereinander anziehen und jeden Tag eine Schicht ablegen. Dann brauche ich keinen Koffer. Du willst doch immer, dass ich mich warm anziehe! Spitzenidee, oder?«

Mama hatte Anton angesehen … drei, vier, fünf Sekunden lang. Das war so lange, wie Anton für einmal Zähneputzen brauchte – allerdings nur, wenn Mama nicht hinsah. Dann hatte nicht Mama, sondern ihre Augenbraue ihm geantwortet. Der kleine haarige Streifen über Mamas Auge hatte sich krumm wie eine Raupe mit Bauchweh gemacht und sein Köpfchen nach oben gestreckt. Das hieß so viel wie: DU! HOLST! JETZT! DEINEN! KOFFER! ENDE! DER! DURCHSAGE!

Anton hatte sich schlecht gelaunt zum Sieger des Murmelfinales erklärt, aber wie ein Gewinner fühlte er sich nicht gerade. Mit hängenden Schultern stand er wie angewurzelt auf der obersten Treppenstufe und schaute über das Geländer tief nach unten. Die Treppenstufen zwirbelten sich zu einem Strudel zusammen, der Anton fast ein wenig schwindelig machte. Diesmal war ER es, der seufzte. PUH! In den Keller zu gehen, war schlimmer als Zimmer aufräumen, Fingernägel schneiden und Hausaufgaben machen zusammen.

Aber Mama und die Augenbraue waren in der Überzahl. Dagegen konnte selbst Anton nichts machen.

Er musste runter in die Dunkelheit gehen.

2. Der Angsthase

Anton schlich wie in Zeitlupe die 84 Treppenstufen hinunter. Er fühlte sich, als müsste er über starken Kleister gehen. Jeder neue Schritt fiel ihm schwerer und schwerer.

Oben im vierten Stock war es hell und warm, und es roch gut. Meistens nach Essen. Irgendjemand im Haus kochte eigentlich immer, und die Essensdüfte flogen aus den Wohnungen durch das Treppenhaus nach oben bis vor Antons Wohnungstür. Mal war es Pizza, mal würzige Nudelsoße und manchmal auch Kuchen.

Auf dem Weg nach unten schnupperte Anton. Zwischen dem dritten und dem zweiten Stock flogen ihm Fischstäbchen in die Nase, und etwas weiter unten roch er Vanillepudding.

Im Keller würde es hingegen nach alten Pappkartons, Gummiboot und etwas anderem riechen, das Anton nicht benennen konnte. Vielleicht war das ja die Dunkelheit, die aus allen Ecken kroch. Hatte Dunkelheit einen Geruch?

Nach quälenden acht Minuten zweiundzwanzig hatte Anton alle Stufen geschafft. So lange dauerte sonst nur das Mittagessen im Schulhort, wenn es Spinat gab. Und da hatte Anton dann schon die halbe Ekel-Portion in den großen Topf der Zimmerpflanze gekippt.

Nun stand Anton starr wie ein Grabstein vor der Kellertür, hinter der die 13 Stufen zur Hölle auf ihn warteten. Durch die Ritzen spürte er einen kalten Luftzug.

Anton hatte Angst. Vor der Dunkelheit, der Kälte und dem, was so seltsam roch. Er fühlte sich furchtbar allein. Und in diesem Moment, als er es am wenigsten gebrauchen konnte, spürte Anton ein leichtes, weiches Kitzeln in seinem Nacken. Er kannte es nur zu gut. Es war so leicht und weich wie die Schnurrbarthaare … von einem ANGSTHASEN! Oh nein! Auf DESSEN Gesellschaft hätte Anton gut und gerne verzichten können. Gerade gestern war Anton dem Angsthasen noch im Schwimmbad begegnet, und dass er so schnell wiederauftauchen würde, damit hatte Anton nicht gerechnet.

Opa hatte ihm mal erklärt, dass man vor einem Angsthasen niemals davonlaufen konnte. Denn jeder wusste ja, wie flink Hasen waren – Angsthasen ganz besonders! Anstatt wegzulaufen, sollte man sich Angsthasen in den Weg stellen. Möglichst breitbeinig. So wie ein Cowboy, der gerade viereinhalb Wochen auf seinem Pferd gesessen hatte und nun abstieg.

Dann sollte man möglichst finster-fies gucken und den Angsthasen in Grund und Boden starren.

Auch Zunge rausstrecken wäre nicht verkehrt.

Anton fand, dass das leichter gesagt war als getan. Wie sollte man jemanden in der Dunkelheit in Grund und Boden starren? Er schloss kurz die Augen und zählte bis zehn, dann atmete er tief ein und hielt die Luft an. Im Keller wollte er nicht atmen und erst recht nichts riechen. Er riss die Kellertür auf, schlug auf den Lichtschalter und rannte los. Elf, zwölf, 13 Stufen, dann nach rechts, vorbei an dem alten Fahrrad, das niemandem gehörte, unter der winzigen Glühbirne hindurch bis zum Ende des Gangs, wo Antons und Mamas Kellerraum lag.

Sein Herz galoppierte. Mit zitternden Fingern versuchte er, den Kellerschlüssel in das Vorhängeschloss zu stecken. Rechts vorbei, links vorbei, abgerutscht. Erst beim vierten Versuch machte es KLACK!, dann sprang das Schloss auf.

Antons Luft wurde knapp.

Der Koffer, der Koffer, der verflixte Koffer … Er suchte hektisch nach dem dunkelblauen Koffer, den Opa ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Aber etwas Dunkelblaues in dieser Dunkelheit zu finden, war wirklich schwierig.

Das Licht der Glühbirne drang kaum bis in ihren Keller, und durch das winzige Fenster im Kellerraum fiel auch kaum Licht herein. Ob sich die Sonnenstrahlen auch nicht hier heruntertrauten? Anton konnte fast nichts sehen, und die Luft anhalten konnte er nun auch nicht mehr.

Hhhhhhhhhh! Er atmete tief durch den Mund ein. Ganz langsam konnte er Umrisse in der Dunkelheit erkennen. DA! Ach nee, nur die alte Kleiderpuppe ohne Kopf! DA! Ach nee, nur Antons alter Kinderwagen. Und DA? ENDLICH, der dunkelblaue Koffer!

Erleichtert zog Anton ihn aus dem Regal, wandte sich um und schloss schnell die Kellertür hinter sich. Er verriegelte das Schloss gleich beim ersten Versuch und hätte fast HURRA! gerufen, als es PITSCH! machte.

Grundsätzlich ist so ein PITSCH! nicht furchtbar schlimm. Nur wenn man Angst vor Dunkelheit hat und sich zum Beispiel in einem Keller aufhält, in dem es nur eine einzige Glühbirne gibt, und diese dann mit einem PITSCH! erlischt … tja, dann hat man ein Problem.

All das traf auf Anton zu. Er fühlte sich, als wäre er von einer Sekunde auf die andere von der Dunkelheit verschluckt worden. Sein Herz raste, seine Gedanken fuhren rückwärts Achterbahn, er schnappte nach Luft und vergaß dabei, durch den Mund zu atmen. Der seltsame, klebrige Kellergeruch stieg ihm in die Nase, was alles nur noch schlimmer machte.

Und deshalb hatte er jetzt auch ein Problem. Ein mächtiges.