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Stefan Ineichen, geboren 1958 in Luzern, lebt als Ökologe und Schriftsteller in Zürich. Seit 1997 Dozent an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Buchveröffentlichungen u. a. «Die wilden Tiere in der Stadt. Zur Naturgeschichte der Stadt», Herausgeber der «Sagen und Legenden der Schweiz» von Meinrad Lienert. Im Limmat Verlag sind lieferbar: «Endstation Eismeer. Schweiz – Titanic – Amerika», «Zürich 1933–1945. 152 Schauplätze» sowie «Himmel und Erde. 101 Sagengeschichten aus der Schweiz und von ennet den Grenzen».

Stefan Ineichen

Cap Arcona 1927–1945. Märchenschiff und Massengrab

Limmat Verlag

Zürich

Cap Arcona und Graf Zeppelin
Schön, schnell und deutsch

Als die Cap Arcona der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaft 1927 zum ersten Mal den Atlantik überquerte, wurde sie in Rio de Janeiro von einer brasilianischen Militärkapelle begrüßt und in Buenos Aires vom argentinischen Staatspräsidenten besichtigt. Entstanden in der kurzen Zeitspanne zwischen Nachkriegsmisere und Weltwirtschaftskrise, als auch in Deutschland die zwanziger Jahre golden angehaucht waren, galt das Hamburger Märchenschiff als Symbol eines Landes, das seinen Platz in der globalen Staatenwelt wiederzugewinnen schien, und wurde zum völkerverbindenden Repräsentanten deutscher Industrie und Weltoffenheit – ähnlich dem Luftschiff Graf Zeppelin, dem die Cap Arcona auf der Südamerikaroute immer wieder begegnete.

Reich wie ein Argentinier
Bubikopf und Seidenstrümpfe

Die «Königin des Südatlantik» wurde schnell zum Lieblingsschiff superreicher südamerikanischer Familien, die den europäischen Sommer in Paris zu verbringen pflegten. Während die Passagiere der I. Klasse sich in den vornehm ausgestatteten Gesellschaftsräumen, die den gesamten Aufbau im Mittelteil des Schiffes einnahmen, vergnügten, auf dem Sportdeck tagsüber Tennis spielten und nachts bei tropischen Sommerfesten Tango tanzten, brachte der 206 Meter lange Schnelldampfer im Schiffsbauch Saisonarbeiter aus Südeuropa auf die Plantagen südamerikanischer Großgrundbesitzer.

Krise
Himmlers Freunde

Nach dem Einbruch der Passagier- und Handelsschifffahrt in der Folge des Börsen- und Bankencrashs vom Oktober 1929 und den dramatischen politischen Umwälzungen in Deutschland, Brasilien und Argentinien während der frühen dreißiger Jahre gelang es der Cap Arcona, auch unter der Hakenkreuzflagge wieder an die Erfolge ihrer frühen Jahre anzuknüpfen – nicht zuletzt dank Vergnügungsreisen, die begüterte Touristen über Silvester nach Madeira und Nordafrika führten oder den Kurs über den Südatlantik als Kreuzfahrt anboten. Im Anschluss an die Neuordnung der Schifffahrt in nationalsozialistischen Deutschland gelangte die Hamburg-Süd zunehmend unter den Einfluss der Nährmittelfirma Dr. August Oetker, deren Leiter Mitglied des exklusiven «Freundeskreises Reichsführer SS» war.

Der Schiffsbuchhändler
Flucht und Vergnügen

Im Frühjahr 1939 führte der aus einer Verlegerfamilie stammende Hanns Klasing während dreier Südamerikafahrten die bordeigene Buchhandlung, zu deren Kundschaft Vergnügungsreisende wie Gustaf Gründgens oder Hans Leip zählten. In den Monaten vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs dominierten unter den Fahrgästen zeitweise jüdische Flüchtlinge. Einige von ihnen mussten, vermeintlich der Verfolgung entkommen, nach der Überquerung des Meeres die Rückreise antreten, da ihre korrekt erlangten Visa aufgrund veränderter politischer Konstellationen in den Zielländern nicht mehr anerkannt wurden.

Titanic in Gotenhafen
U-Boot-Soldaten und Marinehelferinnen

Nach Kriegsausbruch fuhr die Cap Arcona durch den Nordostseekanal nach Gdynia, das nach der Eroberung Polens durch die Wehrmacht in Gotenhafen umbenannt wurde. Im bedeutendsten deutschen Kriegshafen der Ostsee diente der Dreischornsteindampfer der Kriegsmarine als Wohnschiff. In den Gesellschaftsräumen des ehemaligen Luxusdampfers fanden Truppenbetreuungsabende und Ausbildungseinheiten für Soldaten statt, ab 1943 auch für Marinehelferinnen. Während der Dreharbeiten des Spielfilms Titanic auf der Cap Arcona traf im Sommer 1942 die Welt der Kinoprominenz auf die Helden der – noch – erfolgreichen U-Boot-Waffe. Im Oktober des folgenden Jahrs versammelten sich anlässlich einer Rüstungstagung Funktionäre und Industrieführer um Rüstungsminister Speer und Großadmiral Dönitz auf der Cap Arcona.

Westwärts
Johannes Gerdts und Heinrich Bertram

Anfang Februar 1945 führte Kapitän Johannes Gerdts auf einer ersten Evakuierungsfahrt über zehntausend Personen von Gotenhafen nach Neustadt in Holstein. Nach dem Besuch eines Inspektions-Ingenieurs auf dem reparaturbedürftigen Schiff erschoss sich Gerdts in seiner Kabine. Am 1. März übernahm der erfahrene Kapitän Heinrich Bertram das Kommando und brachte nach der Instandstellung der Cap Arcona in einer zweiten Evakuierungsfahrt rund neuntausend Verwundete und zweitausend Flüchtlinge von der Halbinsel Hela nach Kopenhagen. Am 14. April wurde die wiederum überholungsbedürftige Cap Arcona erneut in die Neustädter Bucht verlegt.

Ende
«Alles Wasser! Alles Feuer! Alles kaputt!»

Als vor der Übergabe der Stadt an die Westalliierten im April 1945 das Hamburger Konzentrationslager Neuengamme geräumt wurde, wurden – gegen den Willen des Kapitäns – Tausende von Häftlingen in die Cap Arcona gepfercht, die fahruntüchtig vor Neustadt auf Reede lag. Am 3. Mai, wenige Stunden bevor britische Truppen Neustadt erreichten, setzten Raketenbomben der Royal Air Force das vermeintliche Truppentransportschiff in Brand. Rund 4500 der Häftlinge kamen im brennenden Schiff und in der kalten Ostsee ums Leben – verbrannt, ertrunken oder erschossen von englischen und deutschen Maschinengewehrsalven. Das Schiff sank und wurde 1950 verschrottet.

Quellen und Anmerkungen

Cap Arcona und Graf Zeppelin

Schön, schnell und deutsch

«Cap Arcona ist immer noch das schönste, wenn auch nicht das größte Schiff auf allen Meeren. Kein Wunder, dass es bei den Südamerikanern bald sozusagen zum guten Ton gehörte, mit ihm zu fahren», schreibt Ernst Rolin, seit der Jungfernfahrt der Cap Arcona im November 1927 Kapitän des Flaggschiffs der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaft, in seinen 1934 veröffentlichten Lebenserinnerungen.

«Es war wohl auf der siebenten Ausreise des beliebten Dampfers», fährt Rolin fort, «dass wir einen scharfen Nordwest mit uns hatten, als wir eben in die Nordsee hinausgekommen waren. Die meisten Passagiere schliefen oder gingen früh in die Koje.

Eine Stunde vor Mitternacht leuchtete es plötzlich in der Höhe auf. Der Wachthabende dachte einen Augenblick an einen Meteor. Mit einem Mal formten sich aus den Lichtzeichen Morsebuchstaben: ‹Hier Graf Zeppelin.› Da klingelte auch schon die Funkstation: ‹Wir haben Verbindung mit dem Luftschiff!› Der Scheinwerfer war klar und leuchtete hinauf. Da zog er hin, der schlanke, silberne Leib. Rote und grüne Lichter an den Seiten. Wieder gab er Morsezeichen: ‹Gute Fahrt, Cap Arcona! Gruß dem Commodore!› Das war Eckeners Gruß, den ich ein Jahr vorher nach Buenos Aires gebracht hatte. Dann verschwand der riesige Vogel im Dunst der Nacht.»

Der Schnelldampfer Cap Arcona, dessen Scheinwerfer im Herbst 1928 im Nachthimmel über der Nordsee den silbernen Leib des Luftschiffs abtastete, war auf dem Weg von Hamburg nach Brasilien und Buenos Aires, während sich der eben erst in Dienst genommene Graf Zeppelin auf einer anderthalbtägigen Testfahrt befand, die von Friedrichshafen am Bodensee über ganz Deutschland bis an die Nordsee führte. Es war kein Zufall, dass Kommandant Hugo Eckener im Jahr zuvor mit Ernst Rolin, der als ranghöchster Kapitän der Hamburg-Süd den Titel Commodore trug, den Südatlantik überquert hatte: Eckener, einst ein enger Mitarbeiter von Ferdinand Graf von Zeppelin und nach dessen Tod im Jahr 1917 Kopf und treibende Kraft des Zeppelin-Konzerns, bereitete die Einrichtung eines transatlantischen Liniendienstes vor.

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«Hamburg. Cap Arcona vor der Ausreise bei Nacht». Im Vordergrund die U-Bahnlinie zwischen den Stationen Baumwall und Landungsbrücken.

Wenige Jahre später, 1931, nahm Graf Zeppelin den regelmäßigen Passagierverkehr nach Südamerika auf, von Friedrichshafen – später auch von Frankfurt – meist nonstop nach Pernambuco und weiter nach Rio de Janeiro. «Wir wischen uns die schweißnasse Stirn», berichtet der Korrespondent des Berliner Tageblatts Heinrich E. Jacob 1932 nach seiner Ankunft in Pernambuco. «Ja, ist das denn alles Wirklichkeit? Wir waren am Sonntag in Friedrichshafen, noch schmecken unsere Augen den Schnee. In der Nacht zum Montag fuhren wir ab – wir können doch nicht am Mittwochnachmittag, achtundsechzig Stunden später, plötzlich in Brasilien sein? Aber wir sind es – und wundern uns sehr. Und da wir jetzt herausklettern dürfen und diese Hochsommerwiese streicheln, klettert Eckener als Erster heraus. Ach, wie diese Wiese duftet. – Bom dia!»

Eckener und seine Mitarbeiter betrieben eine effiziente Medien- und Öffentlichkeitsarbeit und luden immer wieder renommierte Journalisten und Schriftsteller ein, die über die Luftschifffahrten der weltweit führenden Firma berichteten. Hermann Hesse unternahm schon vor dem Ersten Weltkrieg eine Spazierfahrt in der Luft. Arthur Koestler «schwirrt» in den frühen dreißiger Jahren im «silbernen Pfeil» in wenigen hundert Metern Höhe über Länder und Meere «hinweg» – «der große Globus drehte sich da unten wie der kleine in der Schule, wenn ihn der Finger des Lehrers in Rotation versetzt. Wälder, Flüsse, Wogen, Städte tauchten auf und versanken, kreisend und fliehend, über den Rand des Horizonts. Begeisterte Menschen und flüchtende Tiere, heulende Sirenen von Dampfern und Fabriken folgten als gleichmäßiges Echo, wo unser Schatten über die Erde zog.»

Während der Fahrt über den Atlantik lehnten sich die Passagiere des Luftschiffs über die schräg nach unten geneigten Fenster des Aufenthalts- und Speiseraums der Gondel, die, aus der Ferne kaum sichtbar, weit vorne am Bauch des gut 236 Meter langen Fahrzeugs angebracht war, und betrachteten das Meer, das in der Mondnacht – in den Worten Jacobs – «wie getriebenes Silber» unter ihnen lag, in der Frühsonne gleißte «wie schwarzer Stahl», sich später in «siebenerlei verschiedenem Grün» zeigte und bei hohem Seegang bekrönte «mit zornigem Schaum. Zwei Dampfer taumeln bergauf, bergab.»

Die Dampfer, die die Passagiere zwischen Europa und Südamerika aus den Fenstern des Graf Zeppelin beobachteten, verfolgten oft eine ähnliche Route wie das Luftschiff: eine möglichst direkte Linie von der Iberischen Halbinsel an den Kanarischen und den Kapverdischen Inseln vorbei nach Pernambuco, wo der südamerikanische Kontinent am weitesten ostwärts in den Atlantik ragt. Schnelldampfer wie die Cap Arcona schlugen einen Kurs weiter südlich ein, um die brasilianische Küste auf der Höhe von Rio zu erreichen. Während Graf Zeppelin bis 1936, als auch die Hindenburg einzelne Fahrten auf der Südamerikalinie übernahm, das einzige Fahrzeug auf dem Luftweg blieb, tummelten sich auf dem Wasserweg viele Schiffe zahlreicher Reedereien verschiedener Herkunft. Auch auf dem Südatlantik dominierten britische Schifffahrtsunternehmen, in einigem Abstand gefolgt von französischen und deutschen Linien, unter denen wiederum die Hamburg-Süd als ganz auf die Südamerikaroute spezialisierte Reederei den größten Marktanteil hatte.

Vielleicht haben die Luftschiffpassagiere bei ihrem Flug über den Globus die winzige Cap Arcona auf der weiten Wasserfläche entdeckt, nachdem ihr Blick der viele Kilometer langen Spur des Kielwassers in der Breite des Dampfers gefolgt war, die die 206 Meter lange «Königin des Südatlantik» bei ruhiger See wie eine Schleppe nach sich zog. Aus geringerer Distanz waren auch die weiß schäumenden Bugwellen auszumachen, die sich wie bei allen Schiffen beidseitig in einem Winkel von knapp 20° abspreizten und in der Entfernung meist schnell verloren, und bei guter Sicht bald auch ein weiß gestrichener Streifen, der die Oberkante des schwarzen Schiffsrumpfs der Cap Arcona begrenzte, im Mittelteil überragt von einem Deckaufbau, der drei Schornsteine trug. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass nur aus den vorderen beiden Rauchwolken entwichen – der hinterste Schornstein war wie bei der Titanic und andern Überseedampfern eine Attrappe. Die Schornsteine der Cap Arcona waren im untern Teil weiß und im obersten Drittel rot bemalt: Weiße Schornsteine mit roten Topps waren schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg zum Merkmal der Hamburg-Süd-Dampfer geworden. Hinter den «Zigaretten-Schornsteinen» schloss sich auf dem Oberdeck ein Sportplatz in der Größe eines Tennisfeldes an. Wenn sich das Luftschiff dem Dampfer näherte, versammelten sich die Passagiere auf dem Sportdeck, kletterten auf die Abschrankung des Tennisplatzes, winkten und schwenkten ihre Hüte. Die Begegnung mit einem Zeppelin auf dem offenen Meer bedeutete für die Fahrgäste des Schnelldampfers während der neuntägigen Überfahrt zwischen Lissabon und Rio eine willkommene Abwechslung. «Begegnungen mit Seeschiffen waren für beide Seiten stets erfreulich», stellt Hans von Schiller, langjähriger Kommandant des Graf Zeppelin, fest. «Die Dampfer, die tagelang nur See und Wolken kannten, wandten sich oft mit der Bitte um Besuch an den Zeppelin, wenn er in der Nähe war. Das geschah in rauher Seemannsart oft in einem Neckton. So sandte uns die Cap Arcona, eines der schönsten Schiffe auf dem Südatlantik, einmal den Funkspruch: ‹Tausend schöne Augen warten auf den Anblick Ihres schönen Schiffes.› Ein andermal aber, als sie wegen der schlechten Konjunktur in Südamerika nur wenige Passagiere an Bord hatte, wir aber ausverkauft waren, telegraphierte sie: ‹Sammeln für Luftschiffabwehrgeschütz!› Wir antworteten: ‹Nicht schießen, gute Leute stop anbieten Friedenspfeife, da bei uns sowieso Nichtraucher.›»

Auch andere Schiffe der Hamburg-Süd lockten den Graf Zeppelin in ihre Nähe: «Eines Sonntagmorgens begegnete wir zwischen Bahia und Rio dem nach Süden fahrenden Dampfer Monte Rosa», erinnert sich Hans von Schiller. «Von ihm erhielten wir folgenden Funkspruch: ‹K. an K. (Kapitän an Kapitän): Anbiete Ihnen Flasche Sekt auf Flaggenknopf hinteren Mastes. Bitte Anweisung über Manöver.› Unsere Antwort lautete: ‹Einverstanden, vorausgesetzt, dass gute Marke stop jedoch nicht hinterer Mast, sondern achtern, neben Flaggenstock bereithalten stop Kurs gegen Wind, laufe von achtern auf.›»

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Cap Arcona an der Überseebrücke im Hamburger Hafen, rechts unten im Bild Areal der Deutschen Werft. Der Hamburg-Süd-Dampfer wurde 1927 in der benachbarten Werft Blohm & Voss gebaut.

Die deutschen Urlauber, die 1936 auf der Monte Rosa – eigentlich ein Motorschiff und kein Dampfer – unterwegs waren, freuten sich: «Bei hellem Sonnenschein eine Begegnung mit einem unserer Luftschiffe, das war das Höchste, was wir an außerordentlichen Überraschungen auf dieser Reise wohl erwarten durften», hält einer der Teilnehmer der Kreuzfahrt nach Afrika und Brasilien fest. Die Passagiere des 152 Meter langen Zweischornsteinschiffs erfuhren vom bevorstehenden Ereignis, noch bevor die Sektflasche neben dem Flaggenstock am Heck bereitgehalten wurde: «Wie elektrisiert stürzte alles an Bord auf Deck, möglichst zu den höchsten Stellen, die uns zu betreten gestattet sind, um ja den besten Blickpunkt für ein solches Ereignis zu erwischen. Manche erkletterten die Aufbauten des Schiffes, oder sie setzten sich auf die mit Segeltuchdecken überzogenen Rettungsboote. Die photografischen Apparate werden gerichtet, mit den Ferngläsern wird backbord achtern der Horizont eifrig abgesucht. Der Zeppelin ist schon in Sicht. Als kleiner, dunkler Punkt kann man ihn wahrnehmen, der schneller und schneller sich vergrößert und sicheren Kurs auf unser Passagierschiff nimmt. Nun werden auch die Konturen des Luftschiffs deutlich. Wohl kaum noch tausend Meter trennen uns noch von dem gewaltigen Luftschiff. Man meint unwillkürlich, dass es seine Fahrtgeschwindigkeit schon wesentlich verlangsamt hat. Überall treten jetzt die Apparate in Tätigkeit, unzählige Aufnahmen werden gemacht, und, ohne dass man es sonderlich merkt, steht das Luftschiff über unserer Monte Rosa. Die Begeisterung kennt keine Grenzen. Rufen und Winken vom Dampfer zum Luftschiff und von diesem, wo an allen Fenstern die Passagiere sichtbar werden, zu unserem Schiff herab.

Inzwischen ist der Zeppelin schätzungsweise auf eine Höhe von 30 Metern über unser Schiff hinuntergekommen. Drei von den fünf Motoren sind abgestoppt, um in gleicher Geschwindigkeit über uns bleiben zu können und das Manöver des Hochholens der Schaumweinflasche sicher durchzuführen.

Unten auf dem Deck ertönt die Schiffsmusik, spielt die Nationalhymne, in die die Passagiere begeistert einstimmen. Vom Fenster der Führergondel ist eine Leine herabgelassen, die schon nach kurzen Versuchen von den beiden Matrosen am Mast ergriffen wird, um den Flaschengruß der Monte Rosa zum Luftschiff zu senden. Umflattert von einem Wimpel sieht man plötzlich den Flaschengruß hochgehoben und Kurs auf die Führergondel nehmen, wo er bald darauf durch ein Fenster glücklich eingezogen wird. Nochmals ein Winken von der Führergondel als Dank an unseren Kapitän, dann setzen alle Motoren in voller Kraft wieder ein und mit einem dreimaligen Sirenengruß unseres Schiffes nimmt nun der Graf Zeppelin Abschied von uns. Nun erst zeigt sich die gewaltige Geschwindigkeit. Ungehemmt zieht er im Äther davon, seinem Ziele entgegen. Alle bleiben noch wie gebannt stehen und sehen ihm nach, bis er schnell in Richtung Rio de Janeiro am Horizont verschwunden ist.»

Das Schiffsorchester intoniert die Nationalhymne beim Zusammentreffen mit Graf Zeppelin, der vom deutschen Urlauber als «unser Luftschiff» bezeichnet wird: Zeppeline waren nicht bloß einzigartige Verkehrsmittel, die in einer bisher unerreichten Geschwindigkeit fünfundzwanzig Passagiere von Europa nach Südamerika bringen konnten, sondern verkörperten – besonders in den späten zwanziger Jahren – Deutschlands Nationalstolz.

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Cap Arcona, Luftbild. Auf dem Oberdeck achtern der Tennisplatz, darunter befindet sich der Speisesaal I. Klasse. Auf dem Salondeck schließen sich im Aufbau mittschiffs die weiteren Gesellschaftsräume an:Halle, Festsaal und zuvorderst Rauchsalon.

Durch den Ersten Weltkrieg war Deutschland in eine desolate Lage geraten. Im Versailler Vertrag wurde im Januar 1919 die Kriegsschuld Deutschlands und seiner Verbündeten festgeschrieben und damit die Verpflichtung, als Urheber für Verluste und Schäden aufzukommen, die die Kriegsgegner erlitten hatten. Die Reparationszahlungen trugen dazu bei, dass das durch die Aufnahme von Kriegsanleihen ohnehin hochverschuldete Deutschland wirtschaftlich nicht vom Fleck kam und in die Spirale der Hyperinflation geriet, die etwa das Porto für einen Inlandbrief von Ende Juni 1923 bis Mitte November des gleichen Jahres von hundert Mark auf zehn Milliarden Mark anwachsen ließ. Deutschland hatte durch die internationalen Verträge in der Folge des Ersten Weltkriegs nicht nur seine Kolonien, sondern auch mehr als einen Achtel des nationalen Gebiets verloren, darunter Westpreußen und Posen an Polen und Elsass-Lothringen an Frankreich. Damit gingen auch drei Viertel der förderträchtigen Eisenerz- und ein Viertel der Steinkohlelager verloren. Im Westen des Landes waren im Moselgebiet und über den Rhein hinaus bis weit über die Mitte der zwanziger Jahre alliierte Besatzungstruppen stationiert, zudem waren französische Truppen mit belgischer und italienischer Unterstützung 1923 ins Ruhrgebiet einmarschiert, nachdem Deutschland mit Kohle- und Holzlieferungen im Rahmen der Reparationszahlungen in Rückstand geraten war. Deutschland galt in den Nachkriegsjahren als nicht in die Völkergemeinschaft integrierbarer Schurkenstaat, durfte weder 1920 noch 1924 an den Olympischen Spielen teilnehmen und wurde erst 1926 in den Völkerbund aufgenommen.

Weite Teile der deutschen Bevölkerung empfanden die Behandlung ihres Landes als ungerecht. Viele Deutsche verstanden sich weit eher als Mitglied einer auf sich gestellten Volksgemeinschaft denn als Teil einer weltumspannenden Völkergemeinschaft. Sie sahen sich als Opfer der Geschichte, lehnten die Verantwortung für die Katastrophe des Weltkriegs ab und waren der Meinung, dass das tapfere, unbesiegbare deutsche Heer seine Niederlage einer hinterrücks erfolgten Attacke durch Sozialisten und Juden zu verdanken hätte. Auch nach Kriegsende verharrten die Kriegsgegner – besonders Deutschland und Frankreich, das sich ebenfalls lange unversöhnlich zeigte – in politischen Schützengräben.

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Deutsche Wunderwaffen des Ersten Weltkriegs, kommentiert auf der Rückseite der Ansichtskarte: «Der unbeschränkte U-Bootkrieg. Unsere U-Boote und Zeppeline sichten die englische Küste.»

Ressentiments gegen Frankreich blitzen auch in der Reporterfahrt ins neue Südamerika wiederholt auf, die der Reisejournalist Albert Köhler nach der Jungfernfahrt der Cap Arcona veröffentlichte: «In der Bucht wird gestoppt, der Hafen ist zur Einfahrt zu miserabel. Frankreich hat nur Geld für sein Heer, nicht für seine Häfen. Die Schifffahrt mag verrecken, wenn nur der Säbel klirrt», kommentiert Köhler die Annäherung an Boulogne-sur-Mer, den ersten Hafen, den die Cap Arcona auf ihrer Fahrt nach Südamerika anlief. Zwei kleine französische Dampfer näherten sich dem großen deutschen Schiff, um Passagiere und Fracht vom und zum Festland zu bringen. «Ein paar Jungen verwinden es nicht, mit höllischer Freude oben vom Promenadendeck herab in die Schornsteine der Franzosen zu spucken. Ich weise sie zurecht, aber sie behaupten: ‹Bei uns an der Mosel haben sie uns auch bespuckt!› – Lange liegen wir vor Boulogne. Das scheint mir fast die Absicht der Hafenbehörde, damit die Cap Arcona die Rekordfahrt in 15 Tagen bis Buenos Aires nicht leisten könne.»

Der Welterfolg von Eckeners Zeppelinen war Balsam für Deutschlands wunde Seele. Im Ersten Weltkrieg hatten die nun bejubelten deutschen Starrluftschiffe noch als Inbegriff heimtückischer und perfider Waffen gegolten, vergleichbar nur mit U-Booten. Deutsche Militärluftschiffe griffen besonders in den ersten Kriegsjahren zivile Ziele jenseits der Frontlinien an, bombardierten Warschau, Antwerpen, Paris und London, kombinierten schon bald Sprengbomben, die brennbare Gebäudeteile freilegen und Rettungseinsätze behindern sollten, mit Brandbomben, entwickelten also, wenn auch in vergleichsweise bescheidenem Ausmaß, die im Zweiten Weltkrieg angewandten, verheerenden Methoden des «moral bombing»: «Ich kann mir keinen schöneren Moment vorstellen, als wenn die erste 300-Kilo-Bombe unten angelangt mit einem enormen Krachen detoniert, so dass selbst das mehrere tausend Meter hohe Schiff erschüttert wird», heißt es im Bericht eines Luftschiff-Offiziers, der Einsätze über England flog.

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Der Flug des Graf Zeppelin rund um den Erdball machte Hugo Eckener weltberühmt. Beim fahrplanmäßigen Verkehr auf der Südamerikaroute begegnete das schnelle Luftschiff immer wieder der Cap Arcona.

Nach dem Krieg mussten nicht nur die verbliebenen Militärluftschiffe an die Alliierten abgegeben werden, sondern auch die beiden Passagierluftschiffe, die im Liniendienst auf der Strecke Friedrichshafen–München–Berlin eingesetzt wurden. Da Deutschland in den ersten Nachkriegsjahren keine motorisierten Flugzeuge und Luftschiffe bauen durfte, war die Luftschiffbau Zeppelin GmbH lahmgelegt, zudem sollten die Friedrichshafener Luftschiffhallen abgebrochen werden. Hugo Eckener gelang es nun, den Luftschiffbau weiterzuführen, indem er vorschlug, einen Teil der Reparationsleistungen an die USA durch die Lieferung eines Luftschiffs abzudecken. Die USA willigten unter der Bedingung ein, dass das «Reparationsluftschiff» frei Haus nach Amerika geliefert werden konnte. Eckener brachte den zweihundert Meter langen Zeppelin Mitte Oktober 1924 über das Meer nach Lakehurst. «Möge er», wünscht sich der Luftschiffer Anton Wittemann, der Eckener auf dem einundachtzigstündigen Transatlantikflug begleitete, «als aufrichtiger Sendbote deutschen Friedensbeweises, durch seine schnelle Verbindung zwischen der Alten und der Neuen Welt dazu beitragen, die Schranken zwischen den beiden Völkern niederzureißen und einander durch gegenseitiges Vertrauen näherbringen. Möge es dem deutschen Volke, das durch sein unerreichbares technisches Kunstwerk den Beweis erbracht hat, kulturellem Fortschritt jederzeit zu dienen, auch weiterhin vergönnt sein, seinen Anteil hierzu beitragen zu dürfen, zum Segen des deutschen Volkes wie der gesamten Menschheit.»

Hugo Eckener wurde in Amerika und Deutschland stürmisch gefeiert. Nachdem die Alliierten das Bauverbot für motorgetriebene Luftfahrzeuge 1925 aufgehoben hatten, machte sich die Friedrichshafener Firma an den Bau des Graf Zeppelin, der zu mehr als der Hälfte durch eine landesweite Geldsammlung, die Zeppelin-Eckener-Spende, finanziert wurde, während der Rest der Baukosten durch das Deutsche Reich und die Luftschiffbau-Firma getragen wurde. Graf Zeppelin festigte Eckeners Weltruhm: Im Spätsommer 1929 umrundete das neue Luftschiff als erstes Flugobjekt den Globus, Hugo Eckeners Porträt gelangte auf die Titelseite des Time Magazine. Eckener wurde – laut Eintrag in der Deutschen Biographie – «zur Persönlichkeit von universellem Format. Musisch gebildet, außerordentlich belesen und nachhaltig der freien Rede mächtig, wirkte er überall im Ausland als vornehmer Repräsentant Deutschlands. Abseits jeder politischen Diplomatie mehrte er nach verlorenem Kriege auch den neuen politischen Kredit und trug besonders zu einer amerikanisch-deutschen Entspannung bei.»

Die Cap Arcona umrundete nicht die Welt, und Ernst Rolin schaffte es nicht auf das Cover des Time Magazine, doch das Luxusschiff stand wie das Luftschiff für ein neues Deutschland, das in der Phase zwischen Währungsreform und Wirtschaftskrise, als die zwanziger Jahre auch in Deutschland zumindest golden angehaucht waren, für eine Nation, die ihren Stolz zurückerlangte. Das Verhältnis zwischen den Kriegsgegnern begann sich zu normalisieren. Aus den Reichstagswahlen 1928 ging mit fast dreißig Prozent Stimmenanteil einmal mehr die Sozialdemokratische Partei als Siegerin hervor und war anschließend in einer großen Koalition mit bürgerlichen Mitteparteien an der Regierung beteiligt – die Nationalistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP musste dagegen Stimmenverluste hinnehmen und blieb mit 2,6 Prozent der Stimmen eine Splitterpartei. Die deutsche Industrieproduktion überflügelte die englische, die Arbeitslosenquote war tiefer als in Großbritannien, mit rund zehn Prozent allerdings deutlich höher als in Frankreich und den USA. Die Cap Arcona war das größte Schiff, das in Deutschland seit dem Krieg gebaut wurde, erreichte zwar nicht die Ausmaße der drei gigantischen Dampfer, die als größte Schiffe der Welt kurz vor dem Ersten Weltkrieg in Hamburg vom Stapel gelaufen waren, verzichtete aber auch auf die Großspurigkeit, die bei den drei Vorkriegsdampfern schon in ihren martialischen Namen Imperator, Vaterland und Bismarck zum Ausdruck kam. Die Cap Arcona, benannt nach dem Kap Arkona, einer ins Meer ragenden Steilküste im Norden der Insel Rügen, jedoch weicher und international eingängiger zweifach mit C statt mit K geschrieben, strahlte dagegen in ihrer wohlproportionierten Silhouette und mit den lebendig roten Topps eine Leichtigkeit aus, die den Vorkriegsmonstern abging, verfügte über modern ausgestattete, luftige Gesellschaftsräume, vermochte höchste Ansprüche einer reichen Kundschaft zu erfüllen, fuhr pannenfrei, hielt ihren Fahrplan ein und war vorerst das schnellste Schiff auf der Südamerikaroute – ein Musterbeispiel «dessen, was der deutsche Reeder an technischer Zuverlässigkeit und an organisatorischer Gewissenhaftigkeit leisten konnte», wie es im Geleitwort zu Rolins Lebenserinnerungen heißt. «Diese Welt des deutschen Schiffes war kein äußerer Schein, sondern die solide Summe aller guten deutschen Eigenschaften. Wenn es hinausfuhr in fremde Häfen, an ferne Küsten, dann blieb es immer ein wertvolles Stück der Heimat, aber ausgestattet mit allen guten Fähigkeiten, sich in die Wünsche und Bedürfnisse der fremden Völker einzufühlen, denen es ebenso dienen musste wie den eigenen.»

Und der Reisejournalist Albert Köhler meint mit einem Seitenhieb auf den Parlamentarismus der Weimarer Republik: «Ein einziger Dampfer wie Cap Arcona, der für deutsche Technik und Leistung eine klare Sprache spricht und der die Völker aller Zungen friedlich zu einer großen Familie in seine fabelhaft eleganten Räume schließt, hebt Deutschlands Weltgeltung und auch seine Börsenaktien mehr als tausend Reichstags-‹Reden›.»

Die Probefahrt der Cap Arcona wurde Ende Oktober 1927 in Hamburg und entlang der Elbe von Abertausenden von begeisterten Zuschauern bejubelt, und als das neue Schiff auf seiner Jungfernfahrt Anfang Dezember des gleichen Jahres im Hafen von Buenos Aires lag, kamen innerhalb eines Tages über fünfzehntausend Besucher an Bord, um das neue Wunderschiff zu besichtigen. Der argentinische Staatspräsident Marcelo Torcuato de Alvear, der es sich am folgenden Morgen, kurz vor Beginn der Rückfahrt, nicht nehmen ließ, den Schnelldampfer ebenfalls zu besichtigen, beglückwünschte die Hamburg-Süd in einem Telegramm für die «hervorragende Leistung, welche Ihr Dampfer Cap Arcona darstellt», und schließt: «Ich betrachte dieses Schiff als einen würdigen Vertreter des gewaltigen Fortschritts der deutschen Schifffahrt und Industrie und hoffe, dass es ein weiteres Bindeglied für die Annäherung und Förderung der guten Beziehungen sein wird, welche unsere Völker verbinden. Alvear, Präsident der argentinischen Nation.» Nach Ablauf seiner Präsidentschaft (1928) überquerte Alvear den Atlantik mehrmals auf der Cap Arcona.

Ernst Rolin brauchte keinen Dolmetscher, als er den Staatspräsidenten durch die Cap Arcona führte. Der Commodore sprach fließend Spanisch. Rolin, geboren 1863 in Gowarzewo in der damals preußischen Provinz Posen – heute polnisch –, war als fünfzehnjähriger Schiffsjunge auf einem Segler nach fünfundsechzigtägiger Fahrt zum ersten Mal von Hamburg nach Südamerika gelangt. Bereits im Besitz des Kapitänspatentes, trat er 1890 bei der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschifffahrts-Gesellschaft in Dienst, die 1871 gegründet worden war, im gleichen Jahr wie das Deutsche Reich. Für die Hamburg-Süd fuhr Ernst Rolin jahrelang der südamerikanischen Küste entlang, zuerst nach Patagonien und Feuerland, später in den Norden Brasiliens, führte dann komfortable Passagierdampfer über den Südatlantik und war auch bei Kriegsausbruch Ende Juli 1914 auf dem Weg von Hamburg nach Pernambuco.

Unter den Passagieren befanden sich auf dieser Fahrt, berichtet Rolin in seinen Lebenserinnerungen, «Vertreter der verschiedensten Nationen. Als die Kriegserklärungen bekannt wurden, herrschte an Bord begreiflicherweise erhebliche Aufregung.» Mit einer kurzen Ansprache, die er auf Deutsch, Spanisch und Englisch hielt, gelang es dem Kapitän, die zerstrittenen Passagiere zu beruhigen: «Wir haben im vollen Frieden die europäischen Häfen verlassen und sind von der Kriegserklärung überrumpelt worden. Der Krieg wird an Land ausgetragen. Daher bitte ich jeden Einzelnen unter Ihnen, seine persönliche Einstellung und Stimmung zurückzustellen und, jeder an seinem Teil, die schöne Harmonie mit hochzuhalten, die bis jetzt an Bord geherrscht hat. Mir persönlich liegt es völlig fern, hier an Bord zwischen den einzelnen Nationen irgendwelchen Unterschied zu machen. Ich stehe jedem von Ihnen mit derselben Bereitwilligkeit zur Verfügung.»

Bald wurde der Krieg nicht mehr nur an Land ausgetragen. Brasilien zählte zu Beginn des Kriegs zu den neutralen Staaten. Mit einem Dutzend anderer deutscher Dampfer lag Rolins Cap Vilano – schon damals benannte die Hamburg-Süd ihre beliebten Passagierschiffe nach Kaps, schon damals gab es auch eine erste Cap Arcona – untätig im Hafen von Pernambuco, vorerst auch aus deutscher Sicht gut informiert über das Kriegsgeschehen durch eine später von englischer Seite gekappte Kabelverbindung, die von Deutschland über Spanien durch das Meer nach Brasilien führte. Als deutsche Torpedoboote brasilianische Dampfer torpedierten, die Kriegsmaterial nach Frankreich lieferten, wurden im Sommer 1917 die Cap Vilano und die übrigen deutschen Schiffe beschlagnahmt, Brasilien erklärte Deutschland bald darauf den Krieg.

Ernst Rolin verließ Brasilien und begab sich nach Argentinien, erlangte dort sowohl das Bürgerrecht als auch das argentinische Kapitänspatent und übernahm einen Küstendampfer. Nach dem Krieg mussten die deutschen Reedereien sämtliche größeren Schiffe und einen Teil der kleineren an die Alliierten abgeben, womit die im Krieg erlittenen Verluste der Siegerstaaten zwar nicht ansatzweise ausgeglichen werden konnten, was aber auch die Hamburg-Süd praktisch ihrer gesamten Flotte beraubte. Die ersten Nachkriegsfahrten unternahm die Hamburg-Südamerikanische Dampfschifffahrts-Gesellschaft mit drei Schonern, die mit Salzlieferungen nach Südamerika segelten. Doch wie andere deutsche Reedereien erholte sich die kapitalkräftige Gesellschaft rasch, nach Aussage des Schifffahrtshistorikers Hartmut Rübner nicht zuletzt dank staatlicher Anschubfinanzierung, Deviseneinnahmen sowie der Tatsache, dass deutsche Firmen aufgrund der schwachen Währung und der tiefen Löhne auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig blieben. 1921 gelang es der Reederei, mehrere der konfiszierten Dampfer zurückzukaufen, darunter die Cap Polonio, einen fast zweihundert Meter langen Dreischornsteindampfer, der 1914 vom Stapel gelaufen war. Nachdem die Cap Polonio bei Blohm & Voss in Hamburg revidiert und mit Ölfeuerung ausgestattet worden war, übernahm Rolin 1922 das Kommando des Ozeanriesen, dessen Kapitän er bis zur Jungfernfahrt der Cap Arcona im Herbst 1927 blieb.

Albert Köhler beschreibt in seinem Reisebericht, wie der Kapitän, der sieben Sprachen perfekt beherrschte, «in Tennishose und Sonnenbrille» über das Deck der Cap Arcona promenierte, umringt von Kindern, die «Il commodore!» rufen, und erlebte ihn als Promoter für Deutschland: «Wie viel Freunde ein Mann wie Rolin auf jeder Fahrt für sein Vaterland wirbt, das könnte ihm eine Geheimratsurkunde nur schwach vergelten. Wer Rolin schätzt, schätzt Deutschland. Und Rolin schätzt jeder, der nur einmal seinen Erzählungen gelauscht hat.»

Weltgewandt und polyglott waren Ernst Rolin wie Hugo Eckener in den wenigen, hoffnungsvollen Jahren zwischen Nachkriegsmisere und Weltwirtschaftskrise Botschafter für ein Deutschland, das sich aufmachte, eine neue, selbstbewusste Stellung innerhalb der Völkergemeinschaft einzunehmen, jenseits von nationalistischer Arroganz, larmoyanter Geschichtsklitterung und Ausblendung der Eigenverantwortung für die katastrophalen Folgen des Großen Krieges. Mit Luftschiff und Luxusdampfer meldete sich Deutschland zurück – ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg mit VW Käfer und dem Fußballwunder von Bern. Noch 1934, als die Cap Arcona am 9. März zum fünfzigsten Mal in Santos, der Hafenstadt vor São Paulo, eintraf, zeugt ein brasilianischer Zeitungsbericht von der ungebrochenen Ausstrahlung der beiden Verkehrsmittel: «Wenn das stolze Schiff wieder in den Hamburger Hafen einläuft, dann hat es eine Entfernung von insgesamt siebenhunderttausend Seemeilen mit fahrplanmäßiger Pünktlichkeit und ohne den geringsten Zwischenfall zurückgelegt. Die Cap Arcona ist in unseren Augen mehr als ein großer, schöner Passagierdampfer. Sie ist das Schiff, dem unsere Herzen gehören. Graf Zeppelin und die Cap Arcona, die sich oft auf hoher See begegnet sind, und in neuerer Zeit auch die Dornier-Wal-Maschinen, die den ersten regelmäßigen Luftpostdienst zwischen Europa und Brasilien versehen, sie gehören zusammen, denn sie arbeiten für den Weltverkehr.»

Die Flugboote der aus einer Tochtergesellschaft der Friedrichshafener Zeppelinwerke entstandenen Firma Dornier läuteten das Ende der vergleichsweise gemütlichen Ära der Schnelldampfer und der noch schnelleren Luftschiffe ein. Vorerst dienten die Flugzeuge, die auf dem Wasser landen konnten, der Beschleunigung des transatlantischen Postverkehrs. Graf Zeppelin erreichte Südamerika zwar in wenigen Tagen, verfügte jedoch nur über eine beschränkte Transportkapazität. Da es die Reichweite der Postflugzeuge noch nicht erlaubte, die Distanz von Europa oder Afrika nach Südamerika ohne Zwischenstopp zu überwinden, brachten Dornier-Maschinen der Lufthansa die Postsäcke vor Afrika auf dem offenen Meer zu Linienschiffen wie der Cap Arcona, welche die Säcke aufnahmen, um sie in der Nähe der brasilianischen Küste wiederum an Flugboote des südamerikanischen Syndicato Condor zu übergeben, die die Post in Windeseile ans Festland brachten. Der erste Test für diesen beschleunigten Postversand gelang im März 1930, wie Ernst Rolin berichtet: «Auf der Ausreise machte ein Flugzeug des Syndicats Condor ein interessantes Experiment. Um den Seeweg der europäischen Post abzukürzen oder den ausfahrenden Schiffen die Post später nachzubringen, kam man auf den Gedanken, einen wasserdichten Sack in voller Fahrt an eine vom Schiff ausgesteckte Leine zu binden, die dann an Bord eingeholt wird. Dieser Versuch gelang der Cap Arcona im Hafen von Rio vollkommen. Das Wasserflugzeug Santos Dumont arbeitete sich auf dem Wasser an die Leine heran. Wir nahmen und gaben den Postsack unversehrt an und von Bord.» Dieses System des Postverkehrs wurde bis 1934 beibehalten, als die Lufthansa die gesamte Route übernahm, indem sie vor Afrika und Südamerika umgebaute Frachtschiffe einzusetzen begann, die als Zwischenstationen für die Dornier-Flugzeuge dienten, die Flugboote mit einem Kran aus dem Wasser hoben und dann, neu betankt, entlang einer Schiene mittels einer Katapultvorrichtung zur Fortsetzung ihrer Reise wieder in die Luft schleuderten.

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Der brasilianische Flugpionier Alberto Santos-Dumont unternahm 1906 in einem selbstgebauten Doppeldecker mit nach vorne gerichtetem Kastendrachen in Paris einen Rekordflug über 220 Meter. Als Passagier der Cap Arcona musste er 1928 miterleben, wie ein nach ihm benanntes Flugzeug, das ihn vor der brasilianischen Küste begrüßen wollte, explodierte und ins Meer stürzte.

Das Flugboot Santos Dumont, das Commodore Rolin erwähnt, war nach dem brasilianischen Flugpionier Alberto Santos-Dumont benannt, der um die Jahrhundertwende in Paris spektakuläre Flugexperimente unternahm. «Der kleine Santos», wie der 167 Zentimeter große Brasilianer mit französischen Wurzeln genannt wurde, liess sich als Erbe eines schwerreichen Kaffeepflanzers im Alter von achtzehn Jahren in Paris nieder, der europäischen Hauptstadt der südamerikanischen Oberschicht. 1898 baute er einen funktionsfähigen, kugelförmigen Ballon aus Japanseide und mit einem Bambuskorb, der mit einem Gewicht von bloß zwanzig Kilogramm ohne Weiteres als Handgepäck transportierbar war. 1901 umrundete er in einem ebenfalls selbstgebauten, mittels Verbrennungsmotor lenkbaren Luftschiff als Erster den Eiffelturm, zwei Jahre später konstruierte der als stets elegant gekleidet, höflich und mutig beschriebene Santos-Dumont ein elf Meter langes, gelbes Luftschiff, das er als innerstädtisches Verkehrsmittel einsetzte, wenn er etwa im Jugendstil-Restaurant Maxim’s Baron Edmond de Rothschild traf, in dessen Park er gelegentlich abstürzte, oder den Juwelier Louis Cartier, der für Santos eine Armbanduhr kreierte, die heute noch im Handel ist.