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Das Buch

Mo ist Fotografin mit dem ganz besonderen Blick. Sie fotografiert das, was unter der Oberfläche steckt. Die Zwischentöne und kleinen Gesten. Nur die eigenen Zwischentöne machen ihr Probleme. Sie hofft, dass ihr neuer Freund Leon ihr helfen kann, endlich Teil einer glücklichen Familie zu werden. Doch als sie seine Familie zum ersten Mal trifft, kommt es zum Eklat. Und plötzlich ist Mo auf der Flucht – vor Leon, vor der Vergangenheit, vor allem aber vor sich selbst.

Aber sie ist dabei nicht allein. Nicht ganz freiwillig nimmt sie Aino mit, Leons Großmutter. Anfangs ist Mo genervt von der Gesellschaft. Dann dirigiert die kauzige Alte sie auch noch Richtung Norden und verlangt von ihr, die Fähre nach Finnland zu nehmen. Was soll Mo in diesem eigenartigen Land, von dessen Sprache sie kein einziges Wort versteht? Erst auf dem Meer gelingt es Mo langsam, sich auf das ihr so fremde Land einzulassen. Sie entdeckt die Schönheit und Melancholie des finnischen Tangos, der ihr beibringt, loszulassen und sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Auch Aino öffnet sich ihr allmählich. Beide Frauen entdecken: Manchmal muss man auf eine Reise gehen, um anzukommen.

Die Autorin

Nina Blazon, geboren 1969, studierte Slawistik und Germanistik in Würzburg und lebt inzwischen in Stuttgart, wo sie als freie Journalistin, Autorin und Texterin arbeitet. Nina Blazon ist Autorin zahlreicher Jugend- und Fantasyromane. Sie wurde mit dem Deutschen Phantastikpreis und dem Wolfgang-Hohlbein-Preis ausgezeichnet.

Nina Blazon

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Roman

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ISBN 978-3-8437-0517-2

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
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Titelabbildung: © rtguest, A Raspopova/Shutterstock.com, München

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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

WASSER

So sollte mein Leben nicht enden: Sinken durch Schichten von Dunkelheit, kein Herzschlag mehr, nur die Armbanduhr tickt so laut, dass der See zu beben scheint. Meine Füße berühren die Wasserpflanzen. Nixenkraut – eine ganze Wiese davon am Grunde des Sees. Dumpfer, schlammweicher Laut des Auftreffens. Es ist wahr, was man über die letzten Sekunden sagt. Man sieht tatsächlich die Bilder seines Lebens. Was niemand sagt, ist, dass auch alles andere zurückkehrt: die Geräusche und Düfte, der Geschmack von Zimt auf der Zunge, das Klappern der aufeinandertreffenden Plastik­tabletts im Restaurant, der Chlorgeruch der Schwimmbäder. Der bittere Geruch von fremdem Parfüm in meinem – unserem – Bett. Duft der anderen Frau – der anderen Frauen. Was bleibt, sind Geheimnisse – Gräber, auf denen nie die richtigen Namen stehen werden, Gesichter, die nur noch auf Schwarzweißfotografien existieren, vorwurfsvolle Schatten. Musste ich ihretwegen sterben? Oder für sie?

Und dann andere Bilder – Schnappschüsse, die im Wasser wirbeln und davontreiben, dem Grund entgegensinken. Sogar Bilder, die nie gemacht wurden, und solche, die ich vernichtet habe, finden sich hier: das Foto meiner blauen Flecken, das in der Spüle verbrannt ist, und das Bild eines rotweißen Kleides, ein Riss mitten durch den Ärmel.

Am langsamsten sinkt das Bild meiner Töchter: meine Danae mit den Augen einer trotzigen Undine – und Moira. Ihr Bild trudelt im Wasser, dreht sich, und als es mir wieder die Vorderseite zuwendet, ist nur noch sein Gesicht darauf zu sehen. Das ist der Moment, in dem ich die Augen aufreiße, um den Bildern zu entkommen. Auch wenn das alles nun der Vergangenheit angehört, weiß ich doch: Es hätte nicht sein dürfen. Nicht dieses Leben und nicht dieser Tod.

Die Uhr bleibt stehen.

Das letzte Bild löst sich auf.

Und alles Geheime stirbt.

SCHÄRFENTIEFE

Der Braut hängt diese Hochzeit zum Hals raus. Die Art, wie sie lächelt und ihre Finger knetet, die Häufigkeit, mit der sie nach ihren Freundinnen Ausschau hält, verrät sie. Sie ist zierlich und trägt ihre Locken zu einer romantischen Frisur hochgetürmt. Das Hochzeitskleid hat sie sicher nicht allein ausgesucht. Sie ertrinkt im Tüll. Es wirkt, als hätte jemand versucht, sie unter einem Berg süßer Sahne verschwinden zu lassen. Als sie sich hinsetzt – vorsichtig, um die Seidenblumen nicht zu zerdrücken –, kann ich nicht anders, als sie anzustarren in der heimlichen Erwartung, dass sie sinkt und sinkt, dass die Stoffschichten sich um sie türmen wie Wellen und schließlich über ihr zusammenschlagen. Das Letzte, was von der Braut übrig sein wird: eine Stoffrose, einsam dahintreibend auf einem weißen Meer. Der Bräutigam wird ihr sicher nicht nachspringen, er ist viel zu sehr damit beschäftigt, vor den Geschäftsfreunden seines Vaters eine gute Figur zu machen.

Ich mag Hochzeiten. Nicht nur, weil sie am meisten einbringen und spannender sind als die Nachmittage, an denen ich weinende Kinder vor der Linse zum Lächeln bringe. Mich interessieren vor allem die Leichen im Keller. Alle Hochzeiten bergen ihre Geheimnisse: die, zu denen die Verwandten aus dem Allgäu in Reisebussen angekarrt werden, die Multikulti-Hochzeiten, bei denen mindestens eins der Elternpaare nur mühsam und verzerrt in die Kamera lächelt, und auch die Veranstaltungen, bei denen Romeo und Julia vor den Altar treten, während die Schmidt-Capulets und die Müller-Montagues in den Jackentaschen verstohlen die Giftringe polieren.

Die heutige Hochzeit ist altehrwürdig, ohne Leidenschaften, sachlich wie ein Firmenmeeting. Und wahrscheinlich ist es auch genau das. Der Sohn des Hauses – groß, durchtrainiert und mit einem straffen Gesicht, in dem sich schon der künftige Konzernchef zeigt – geht an den Start für Phase drei: Nach erfolgreich absolvierter Kindheit und einer erstklassigen Ausbildung plus Karrierebeginn bekommt er nun die Approbation zur Familiengründung. Vor zwei Stunden hat er dafür unterschrieben. Bis dass der Tod … Selbst diese altmodische Formel hat nicht gefehlt.

Zeit für einen Blick hinter die Fassade. Ich hebe meine Kamera und nehme Braut und Bräutigam ins Visier.

»Frau Vankanten?« Ich zucke zusammen. Der Zeremonienmeister, ein geleckter braunhaariger Mann in einem taubenblauen Anzug, hat sich wieder herangeschlichen. Er bewegt sich lautlos und flink wie ein Frettchen. Es macht ihn sichtlich nervös, dass er zu mir hochschauen muss. »Der Tanz beginnt um siebzehn Uhr, nach der Kaffeepause und dem Kabarett. Ich zeige Ihnen, wo Sie sich postieren sollen.«

»Selbstverständlich.« Ich nicke ihm beruhigend zu. Irgendwie habe ich das Gefühl, er braucht das. Er schwitzt, der Erfolg des Festes hängt von ihm ab.

Ich schultere meine Fototasche und folge ihm in den geschmückten Garten mit der noch verwaisten Bühne. Lampions hängen in den Bäumen, neben der Tür gibt der Küchenchef die letzten Anweisungen an die Catering-Leute. Sie tragen alle die gleiche Uniform in Pastellbraun und Lindgrün. Die Schwiegermutter der Braut trägt Schmuck in ähnlichen Farben und lindgrüne Nylonstrümpfe zum schmalen Rock.

»Das hier ist Ihr Platz.« Frettchenmann deutet auf eine mit Gaffertape abgeklebte Arena neben den Drums. »Da haben Sie den besten Blick auf die Tanzfläche. Frau Schauber will ein Foto, auf dem alle tanzenden Gäste zu sehen sind.« Zweifelsfrei ist mit Frau Schauber die Mutter des Bräutigams gemeint, nicht die neue Frau im Haus. »Ich stelle mir ein Bild mit einem besonderen Effekt aus Bewegung und Dynamik vor, einige unscharfe Stellen«, fährt er fort. »Verstehen Sie, was ich damit meine?«

Ich spare mir ein müdes Lächeln und steige auf die Bühne. Die Hand, die er mir hinstreckt, ignoriere ich. Er trägt keinen Ehering. Um meinen guten Willen zu zeigen, stelle ich mich auf die ausgesparte Fläche und fixiere durch das Objektiv die Terrassentür. Zoom. Hinter dem Glas führt Frau Schauber ein Theater aus anmutigen, fein abgezirkelten Gesten vor einer Gruppe von Frauen auf. Gerade legt sie die rechte Hand auf ihr Herz, wirft ihr kastanienbraun getöntes Haar zurück und lacht ein vermutlich perlendes Lachen. Selbst durch die Scheibe kann ich erkennen, wie mehrere Herren sich verstohlen nach ihr umsehen.

»Ich habe den Platz hier selbst ausgesucht«, erklärt Frettchenmann fachmännisch. »Das ist die beste Perspektive für ein Panoramafoto.«

Er irrt sich. Die Perspektive ist Schrott. Alle Gäste werden aussehen wie flachgetretene Kreisel. Aber für den Augenblick nicke ich nur höflich und klettere wieder von der Bühne. Frettchenmann starrt auf meinen Mund, der genau auf Höhe seiner Augen ist. Dann wandert der Blick tiefer. Pech für ihn. Hier gibt es keine Haut zu sehen – nur Rollkragen­shirt und Jackett. Ich bin die Frau, die die Hochzeitsbilder macht, keine der Auslagen am Stand hier. Aber ich könnte auch klein und unscheinbar sein, was zählt, ist, dass ich hier allein unterwegs bin. Unverpaart sozusagen. Auf manchen Hochzeiten reicht das. Als ich mich nach meiner Fototasche bücke und das zweite Objektiv raushole, spüre ich seinen Blick wie eine heiße, verschwitzte Hand auf meinem Po.

»Ich habe es mit meiner eigenen Kamera ausprobiert«, fährt er fort. »Ich fotografiere auch viel, wissen Sie? Und wenn ich die Zeit hätte, würde ich die Fotos ja selbst machen. Na ja, jedenfalls … jetzt haben Sie ja schon mal ein paar Tipps, wie die Bilder am besten …«

»Ich glaube, Frau Schauber möchte Sie sprechen.« Ich deute auf die Terrassentür. Die Mutter des Bräutigams steht schon seit einigen Sekunden hinter dem Fenster und winkt ungeduldig. Frettchenmann rückt seine Krawatte zurecht, sagt etwas von »später noch erklären« und wieselt über den Rasen. Die Kerzen in den Lampions werden entzündet, die Caterer nehmen ihren Marathon auf. Silberne Kaffeekannen blitzen. Ein helles Klingeln, als wieder ein Löffel gegen ein Glas schlägt. Der Vater des Bräutigams hält im Würgegriff seiner Seidenkrawatte seine Rede. Alle Achtung, er hat sich Mühe gegeben. Er zitiert Schiller. Die Braut sieht sich wieder verstohlen nach ihrer besten Freundin um. Zeit für ein »Zwischenbild«.

Wären die offiziellen Bilder die großen Worte, dann könnte man meine Zwischenbilder als die bedeutungsschweren Pausen bezeichnen:

Der Trauzeuge spielt nervös an seinem silbernen Manschettenknopf herum. Zwischendurch streicht er sich das blonde Haar aus der Stirn. Das Display ist auf Zoom eingestellt. Ich kneife die Augen zusammen und finde das, was ich sehen wollte. Das heißt, zu sehen ist es noch nicht, es ist eher eine Ahnung. Aber auf diese Ahnungen bin ich spezialisiert. Eine kleine Veränderung des Blickwinkels genügt, und ich habe den Trauzeugen im Visier. Und werde gleich darauf belohnt: mit dem beiläufigen Moment, in dem sie seinen Blick erwidert, über den Tisch hinweg.

SPUREN

Als ich nach Mitternacht in den Flur trete, stolpere ich über Schuhe. Ich bremse den Fall mit der Schulter an der Wand ab. Es gibt ein großes Getöse, als der Schirm umfällt und eine Kettenreaktion bis zur Kommode auslöst.

»Mo?«, kommt Leons Stimme prompt aus der winzigen Küche. Durch den Spalt der halboffenen Tür fällt Monitorlicht. Die Geräusche eines Computerspiels vermischen sich mit dem Scharren der Stuhlbeine auf den rauen Holzdielen, dann erscheint Leon in der Tür. Fantasy-Krieger, die um Punkte kämpfen, liefern sich im Halbdunkel der Küche eine Schlacht. Sicher gibt es in diesem Augenblick Tote, doch ihr Sterben spielt sich nur als Flackern im Hintergrund ab. Leon grinst.

»Kamera noch heil?« Er macht sich gerne darüber lustig, dass ich mir lieber den Schädel einschlage, als der Nikon einen Kratzer zuzufügen.

»Willst du mich umbringen? Warum lässt du Schuhe her­um­lie­gen!« Ich schlage mit der flachen Hand auf die Wand im Flur und verfehle den Lichtschalter beim ersten Versuch. Noch immer habe ich die Koordinaten dieser Wohnung nicht verinnerlicht. Leon blinzelt wie ein Nachttier im Licht der Scheinwerfer. Sein Haar ist zerwühlt, das T-Shirt hängt ihm aus der Trainingshose, als hätte er bis vor kurzem noch seine Spätschicht im Café aus den Knochen geschlafen. Er könnte seinem Avatar, einem Elbenkrieger namens Nido, nicht unähnlicher sein. Normalerweise kämpft er an der Seite von Kanga, der Amazonenkönigin, und Notsch, dem Zwergenkrieger. Ich frage mich, wie diese beiden wohl in Wirklichkeit aussehen. Kanga, die Königin der Augenringe, mit Bartstoppeln und in Jogginghose? Und Notsch mit Chipskrümeln im Bauchnabel?

»Du bringst dich selber um«, sagt Leon und gähnt. Er hat recht. Als ich die Tasche abstelle, sehe ich, dass es meine eigenen Schuhe sind, die mich fast zu Fall gebracht haben.

Leon lässt sein sterbendes Computervolk endgültig im Stich und kommt auf mich zu. Er sieht immer aus, als würde er sich unter Türstöcken und Decken ducken. Trotz seiner Körpergröße lässt ihn das manchmal zerbrechlich wirken. Ich schließe die Augen, als er die Arme ausbreitet – Leon umarmt mich nicht einfach nur, er umarmt alles um sich herum gleich mit. In seinen Armen findet alles Platz.

Meine Nase versinkt in dem zerknitterten T-Shirt, das ganz und gar nach ihm riecht – und ein bisschen nach After­shave. Schlüsselbein an Wangenknochen geschmiegt stehen wir da. Er tastet nach meinem Genick, seine Hand ist warm und drückt zu. Mir wird schwindelig.

»Bretthart«, murmelt Leon und gähnt wieder. »Anstrengender Termin?«

»Hochzeit«, sage ich zu dem Schlüsselbein. »Großveranstaltung in der Villengegend. Ein Leiterplattenhersteller. Der Termin war in Ordnung, nur die Rückfahrt hat ewig gedauert. Gleisstörung, die S-Bahn fuhr nicht mehr weiter, also musste ich den Nachtbus nehmen.«

»Oh«, sagt Leon. »Blöd. Und? Schöne Hochzeit?«

Die Müdigkeit ist wie ausgeknipst. Ich wühle mich aus Leons Umarmung und streife den Businesskokon ab. Schuhe und Jackett fliegen in die Ecke, den Pullover ziehe ich im Gehen aus und lasse ihn einfach fallen, die Hose landet neben dem Telefon. Und dann, endlich, aufatmen, das Haar auf den Schultern fühlen, Luft auf dem Bauch. Gänsehaut.

»Absacker?«, ruft Leon. Ich gurgle Zustimmung, schon halb unter der Dusche, mit Schaum auf dem Kinn und der Zahnbürste im Mund. Jetzt geht es mir nicht schnell genug. Die Fotos. Ich muss die Fotos ansehen. Bevor ich keine Gewissheit habe, kann ich nicht schlafen.

Erst als das heiße Wasser mich berührt, werde ich ruhig. Ich warte, bis jede Spannung aus meinen Muskeln herausgewärmt ist, dann beginne ich mein Ritual: Ich spüle den Zahnpastaschaum aus dem Mund, dann drehe ich langsam am Wasserhahn. Stelle mir vor, wie es ist, wenn man durch kälter werdende Schichten auf den Grund sinkt. Ich beginne an einem Sommertag und sinke durch den Herbst in die Tiefe. Und wenn der Regler am blauen Anschlag ist, bin ich ganz unten angelangt – am winterkalten Grund des Sees, im stillsten Wasser. Und wie immer fühle ich mich in diesen Augenblicken geborgen und betrogen zugleich.

*

Wir sitzen im Bett, der Laptop thront auf meinen Schenkeln. Leons Kinn bohrt sich in meine Schulter.

»Stopp! Nicht so schnell! Lass mich noch mal die Trauzeugin sehen. Trägt die etwa keinen BH

Typisch. »Ich muss erst noch sortieren.«

Leon rutscht in die Kissen. Seine Hand schiebt sich zwischen Laptop und Decke, wandert an meinen Knien nach oben.

»Nicht jetzt!«

»Ist ja schon gut!« Er lässt die Hand auf dem Oberschenkel liegen. Reglos verharrt sie dort und wird schon während der nächsten Atemzüge schwerer. Für Leon ist Schlaf keine Angelegenheit von Stunden. Ich beneide ihn darum, dass er sich jede freie Minute nehmen kann wie ein Kissen, auf dem er sich ausruht.

Ich klicke die Bilder durch. Das Walzerfoto, das ich von meinem gewählten Platz von der Bühne herunter geschossen habe, ist gut geworden. Kleider schwingen leicht verwaschen, doch das Brautpaar ist scharf. Sie lächeln sich zu und sehen aus wie die Werbung für ein Sissi-Musical. Auf einem der Walzerbilder ist nur das Gesicht des Bräutigams zu erkennen, von der Braut sieht man nur den Hinterkopf. Ich habe den Verdacht, dass es genau dieses Foto sein wird, das es in Frau Schaubers Fotoalbum schaffen wird.

Langsam taste ich mich in den schauberschen Backstage-Bereich vor, während Leons tiefe Atemzüge zu einem leisen Schnarchen werden.

Ich klicke und klicke, und das Puzzle fügt sich zusammen, bekommt Sinn und Tragik. Ich vergrößere und kombiniere, sortiere und speichere, ganz von allein fliegen die Finger über die Tasten, bis ich schließlich im Hintergrund finde, was ich suche.

Bingo.

»Leon!« Die Hand zuckt nur einmal, dann blinzelt Leon.

»Komm, leg den Laptop weg.« Seine Lippen tasten sich zu meinem Hals vor, seine Hand schiebt sich zu meiner Scham.

»Später. Erst die Fotos.«

Leon seufzt und richtet sich umständlich auf. »Du und deine Fotos.«

»Sieh dir die Braut an!« Ich öffne das erste Bild.

Leon pfeift durch die Zähne. »Nicht schlecht. Und wer ist die Mumie daneben?«

»Ihr Vater. Und hier ist das Brautpaar.«

»Der Typ sieht aus wie eine Kartoffel. Wie kommt der an so eine Frau?«

»Konzentrier dich!«

Großaufnahme: die verkrampften Hände der Braut während der Zeremonie, als wollte sie ihr Taschentuch erwürgen. Weiße Knöchel. Viele weiße Knöchel. Aber dann: das Foto mit Braut und Bräutigam, ein Blick über ein Händeschütteln hinweg, ein Aufblitzen von Vertrautheit, von Komplizenschaft. Und ein paar Klicks später: die Braut im Flur mit ihrer Freundin, rauchend an einem halb angelehnten Fenster. Sie ist schon umgezogen und trägt nun ein Cocktailkleid in Rot. Es passt viel besser zu ihr als der Sahneberg, sie wird sie selbst: der Schwung ihrer Hüfte, die halb geöffnete Hand, in der die Zigarette ruht. Und dann eine Männerhand auf ihrer Taille, der Ehering gehört ihrem Mann. Ihn selbst sehe ich nicht, nur den Rauch einer zweiten Zigarette, der sich im Gegenlicht kräuselt. Heimlich rauchen sie in Mutters Garten hinaus wie Schulkinder während der großen Pause. Hier sind sie echt. Ich bin nicht mehr so sicher, ob Papas Sohn die Firma übernehmen wird. Vielleicht haben sich die Schaubers verrechnet. Die beiden planen den Coup eines eigenen Lebens. Vielleicht. Nur der Trauzeuge fehlt auch hier – wie auf so vielen Bildern.

»Wow, sie rauchen also.« Leon gähnt.

Erst als ich weiterklicke, fühle ich an der Spannung in seiner Schulter, dass er aufmerksamer wird. Gemeinsam nehmen wir die Spur auf:

Die gutgelaunte Tante kaschiert mit Armbändern erst halbverblasste Schnittnarben. Die Vergrößerung zeigt die Narben zwischen zwei Schlingen des Schmucks – eingefasst in Rubine und Gold.

Die junge Cousine lacht so verzerrt, dass man es auch für ein Weinen halten könnte, und wirft dabei den Kopf zurück, als hätte ihr jemand einen Herzschuss verpasst. Auf einer gestochen scharfen Nahaufnahme erkennt man dunkle Säureläsuren auf den Rückseiten ihrer Zähne. Man muss ziemlich oft kotzen, um sich die Zähne so zu ruinieren. Die Familie des Bräutigams steht beiläufig stets so, dass sie ausgegrenzt ist. Sogar auf dem Gemeinschaftsfoto schaffen es die Schaubers, sie auszustoßen. Niemand legt ihr die Hand auf die Schulter, niemand sieht sie an, nicht einmal verstohlen über den Tisch hinweg, geschweige denn mit einem Lächeln. Sie ist das einsamste Mädchen auf der Party.

Ich habe schon meinen Grund, Familien zu misstrauen.

Jetzt kommen nur noch Bilder, die das Fotostudio nie sehen werden:

– Der verheiratete Bruder des Bräutigams speichert die Handynummer eines Catering-Girls. Lippenstift klebt an seinem Mundwinkel.

– Verschränkte Hände, durch einen Türspalt fotografiert, zwei unterschiedliche Eheringe.

– Ein Geschäftspartner am Tisch hat deutlich geweitete Pupillen und verschneite Nasenhaare.

Schließlich nähern wir uns dem Kreuz auf der Schatz­karte.

»Jetzt schau genau hin.«

Die Mutter mit Blick auf ihre neue Tochter. Der Blick ist nicht feindselig, das nicht, eher verloren, als würde der Blick auf die junge Frau Erinnerungen an ein ganz anderes Fest wachrufen – es ist der Blick in eine Vergangenheit, die nur sie kennt. Und eine Leidenschaft, die ich der kühlen, amazonenhaften Frau nie zugetraut hätte. Ich mag sie. Irgendwie.

»Achte auf die Blicke.«

Leon beugt sich über das Foto, das ich während der Rede gemacht habe. Der Brautvater formt das Wort »Liebe«, als würde Zitronensaft ihm die Gaumenschleimhaut zusammenziehen. Doch für zwei Menschen am Tisch ist das Wort eine Art Code. Und es sind nicht die Braut und der Bräutigam.

»Und?«

Leon blinzelt verständnislos. »Was und?«

»Na, der Trauzeuge und die Art, wie er die Mutter des Bräutigams ansieht. Und sie ihn.«

Leon schnaubt. »Wenn du jeden Blick analysierst, den ich zufällig über den Tisch werfe, dann kannst du mich gleich verlassen.«

»Gut, dann schau dir die nächsten Bilder an. Wo ist die Schwiegermutter?«

Er kneift die Augen zusammen und sucht. »Weg.«

»Noch nicht, aber gleich – da oben an der Treppe, die lindgrünen Seidenstrümpfe. Und hinter ihr geht der Trauzeuge.«

»Er trägt zwei Koffer die Treppen hoch. Na und? Oben sind wahrscheinlich die Gästezimmer.«

Ich führe den Mauszeiger zum Lupensymbol. Zoom auf ein Bein, Frau Schaubers wohlgeformtes Bein, ihre grüne Strumpfhose. Die Laufmasche an der Außenseite der rechten Wade fällt kaum auf, aber ich habe sie deutlich erwischt. Nächstes Bild: Der Trauzeuge verschwindet ebenfalls. Die letzte Spur von ihm: ein Schuh und ein Stück Hosenbein auf der obersten Treppenstufe.

Dreiunddreißig Fotos und sechsundvierzig sektselige Gesichter weiter: Der Trauzeuge kommt allein die Treppe herunter. Ein verstohlener Blick in meine Richtung, während er sich eine blonde Strähne aus der Stirn streicht. Aber ich weiß mich zu tarnen. Ich fotografiere gerade ein Paar, das mit dem Rücken zur Treppe steht und sich zuprostet. Sie lächeln in die Kamera und sehen nicht, dass ich zwei Bilder mache – eines, das ihnen gilt, und eines, das nur auf den Hintergrund scharf gestellt ist.

Nun klicke ich auf die Lupe und vergrößere so lange, bis Leon die verschwitzte Strähne sieht, die dem Trauzeugen an der Stirn klebt. Digitaltechnik ist gnadenlos.

Gleich darauf kommt auch die Herrin des Hauses wieder die Treppe herunter. Frischer Puder, nachgeschminkte Lippen. Unter dem Vorwand, die Kamera zu prüfen, hatte ich mich neben die Treppe gestellt. Frau Schauber sieht korrekt aus, sehr korrekt – bis auf eine verräterische Knitterfalte im Rock und die Laufmasche, die sich nun über die linke Wade spannt. Mit dem Fingernagel tippe ich auf den Monitor.

»Ach du Scheiße«, murmelt Leon. Und dann ist er so verblüfft, dass er eine ganze Weile nichts sagt.

Fotos verraten alles. Sie zeigen das, was gezeigt werden soll – aber darüber hinaus zeigen sie die Lücken in den Familien, die schadhaften Stellen am Haus. Den Schimmel, halb versteckt hinter Girlanden von lächelnden Mündern. Sie zeigen Gesten und Berührungen, halb unbewusst ausgeführt. Gutachten für Fotoalben, das wäre eine Geschäftsidee.

Leon nimmt die Hand von meinem Bein, lässt sich in die Kissen zurücksinken und zieht sich die Decke über die Brust. Sein blondes Haar wirkt fahl im kalten Monitorlicht. Er nutzt die Verlagerung seines Gewichts, um ein wenig von mir abzurücken.

»Hör auf mit so was.«

Ich klappe hastig den Laptop zu und frage mich, ob ich diesmal zu weit gegangen bin, ihn auf meine geheimen Pfade mitzunehmen.

»Was ist los?« Ich schiebe den Laptop weg und versuche, locker zu klingen, setze ein Lächeln auf. »Das sind doch nur Bilder fremder Leute. Und ein bisschen Spekulation.«

»Eben, Mo. Fremde Leute. Und du benimmst dich wie ein Spanner. Warum machst du nicht einfach nur deine Arbeit?«

Ich schmiege mich an ihn. Spüre die Haut an seinem Bauch und den hellen Flaum an seinen Beinen. Und zum Glück vergräbt er die Hand in meinem Haar, wickelt sich eine Locke um den Finger.

»Versprich mir was«, sagt er. »Wenn wir am Wochenende bei meiner Familie sind, mach keine Bilder. Lass die blöde Kamera einfach mal zu Hause.«

Ich schlucke. Der kalte Stich in meinem Magen und der Wunsch, mich aus der Umarmung loszumachen. Er sollte mich besser kennen. Aber es stimmt nicht. Ich bin es, die ihn besser kennen sollte. Ich bin es, die ihm nur die offiziellen Fotos hätte zeigen sollen.

»Ich suche nicht nach Problemen, wenn du das meinst. Schon gar nicht bei deiner Familie.«

»Versprich es.«

Ich zögere. Es kostet mich viel, dieses Zugeständnis zu machen. »Okay.«

»Gut.« Leon drückt mich fester an sich. Sein Bein drängt sich zwischen meine Knie. »Am Samstag wirst du so viel trinken, dass du gar nicht mehr auf die Idee kommst, irgendetwas zu knipsen. Wir werden feiern, verstanden?«

Sein Kuss ist so ungestüm, dass sein Eckzahn schmerzhaft gegen meine Lippe drückt. Und ich gebe ihm nach, vor Erleichterung, dass er das Thema ruhenlässt. Aber dann katapultiert mich Leon wieder aufs Glatteis.

»Hast du deine Schwester schon angerufen?«

Danae. Ausgerechnet jetzt. Und hier, wo ich mich am sichersten fühle.

»Nein.« Ausnahmsweise lüge ich einmal nicht, wenn es um meine Familie geht. »Aber ich mache es morgen.«

»Wirklich?«

»Du lernst sie schon noch früh genug kennen, keine Sorge.« Und dann küsse ich ihn, ersticke die nächste Frage.

Ich habe Leon viele Dinge nicht gesagt. Auch nicht, dass ich die Geheimnisse seiner Familie längst aufgespürt habe. Zumindest die, auf die es mir ankommt. Genau genommen war es für mich in Bezug auf seine Familie eine Liebe auf den ersten Blick. Vor drei Monaten, als er mich zum ersten Mal in seine Wohnung mitnahm. Er holte Pizza und ließ mich eine Viertelstunde allein. Das genügte mir. Leon verbirgt nichts – das Fotoalbum stand im Regal. Achtziger Jahre, die Kindheit.

Manche Fotos zeigen Schnee und dick vermummte Mini­yetis, die in die Kamera feixen. »Leonid und Inna, 1986« steht darunter. Einmal in lateinischer Schrift. Und daneben noch einmal auf Kyrillisch.

Die Kuznetsows sparen nichts aus, sie sortieren nicht – auch die verwackelten Fotos finden den Weg ins Album. Sogar die, auf denen Leons Mutter erschöpft am Türrahmen lehnt und ihr im neuen Land kein Lächeln gelingt, und das Foto von Leonids Schwester Inna, die weint. Und auch das einzige Foto, das nicht eingeklebt ist, sondern lose zwischen den Seiten liegt. Das Bild einer finster dreinblickenden alten Hexe mit verschränkten Armen. Ihr Haar ist zerzaust und weiß, die Falten so scharf wie mit dem Messer gezogen. »Baba Anuschka, 1999« steht auf der Rückseite. Baba ist kein schmeichelhafter Ausdruck für Großmutter. Sie sieht aus wie hundert. Leon hat erzählt, dass seine Oma in Wirklichkeit Ano (oder Ainu?) heißt. Finnisch.

Die Fotos im Album sind anders als die wenigen Bilder, die ich von meiner Familie besitze. Da gibt es nur ein Kabuki-Masken-Lächeln für alle Gelegenheiten. Die Kuznetsows dagegen sind lebendig, selbst auf den Fotos.

Das Geheimnis sind die unzähligen Details: die Art, wie Leons Mutter und Leon sich nahekommen. Nur die kleinen Finger verhaken sich ineinander. Die angedeutete Umarmung seines Vaters, und auch die Geschwister berühren sich verstohlen, als wollten sie ihre Zuneigung vor der Kamera nicht offen zeigen, könnten sie aber trotzdem nicht verbergen. Und irgendeiner tanzt immer aus der Reihe mit einem Seitenblick, einem Schielen, einem Grinsen. Manchmal ist ein Lächeln nur angedeutet, aber es ist da. Die Berührungen sind nicht spürbar, aber als ich das Bild meiner Vorgängerin auf dem Sofa von Leons Eltern sah, musste ich schlucken.

Das Bild habe ich abfotografiert und verwahre es wie einen Schatz: Weihnachtsdekoration im Hintergrund. Alle sitzen halb versunken zwischen Sofakissen. Leon neben seiner damaligen Freundin auf der Lehne. Sie hat stark getuschte Wimpern, trägt eine schwarze Fleecekapuzenjacke und ein tief ausgeschnittenes graues Shirt. Ich weiß, dass sie Katharina heißt. Ich mag keine Wimperntusche und kleide mich nicht wie ein Schwarzweißfoto, aber mit dem lockigen dunklen Haar sieht sie mir dennoch ein wenig ähnlich. Wenn ich den Blick unscharf stelle, kann ich mir einbilden, dass ich selbst dort sitze: zwischen all den blonden Kuznetsows wie ein schwarzhaariger Kuckucksmensch. Aber dennoch: Sieht man genau hin, ist es nicht nur Leon, der meine Hand hält. Es ist Leons Mutter, deren Finger wie selbstverständlich mein Handgelenk berühren, als wollte sie mich näher zu sich heranziehen. Es ist Leons Vater, dessen Arm hinter mir auf der Sofalehne liegt, und es ist das angedeutete Lächeln seiner Schwester Inna, das mir gilt.

Die Frau auf dem Foto ist ein Teil der Berührungen und Vernetzungen – Leons Familie nimmt auf und stößt nicht aus. Fast fühle ich mich schon als Teil von ihnen. Augen können sich täuschen, doch Kameras lügen nicht. Leons Familienfotos sind der Grund, warum ich mit Leon zusammen bin. So einfach ist es. Und so kompliziert.