Darleen Alexander

 

 

 

 

 

 

Kirscheis

 

 

 

 

 

 

 

Novelle

 

Prolog

 

Es war Mitte Juni und das Thermometer zeigte tatsächlich zweiunddreißig Grad im Schatten an. Katharina stöhnte und wedelte sich mit einer Modezeitschrift frische und hoffentlich auch kühlere Luft zu. Sie saß in ihrer Boutique, ihr Ein und Alles, ihr Baby. Sie hatte das Geschäft mit dreiundzwanzig eröffnet und selbstentworfene Kleidung, die von ihrer besten Freundin genäht wurde, verkauft.

Jetzt, vier Jahre später, hatte sie sich in der Modewelt einen guten Namen geschaffen und auch etwas Geld zur Seite legen können. Ein kleines Polster, für schlechtere Zeiten. Sie lächelte, als sie an die Anfangszeit zurückdachte.

Johanna, ihre beste Freundin und Näherin der Designerkleider, hatte sie immer wieder darin bestärkt, ihre Entwürfe an Modezeitungen und Designer zu schicken. Leider ohne Erfolg. Zu ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag hatte Johanna ihr zwei ihrer selbst entworfenen Kleider genäht, und als sie damit zu einer Party gingen, wollten alle Frauen sofort wissen, wo man diese Kleider kaufen konnte. Und schon konnten sie sich vor Aufträgen kaum retten.

Ein halbes Jahr später hatten sie ein solides Einkommen durch den Verkauf und entschieden sich, gemeinsam diese Boutique zu eröffnen. Im hinteren Bereich nähte Johanna und im vorderen Bereich wurde verkauft. Katharina durfte die farbliche Gestaltung und die Dekoration übernehmen, Johanna wollte nur über den »Fertigungsbereich« bestimmen. Zum Glück kamen die zwei Frauen so gut miteinander aus. Was wohl mehr Johannas liebem und zurückhaltendem Gemüt zu Schulden war. Jede andere hätte Katharina wohl schon längst umgebracht.

Die Klingel der Eingangstür riss sie aus den Erinnerungen. Doch dort stand keine Kundin, sondern Johanna. Am ganzen Leib zitternd und mit einer großen Sonnenbrille, stand sie mitten im Eingang mit einer Reisetasche in der Hand. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Katharina ging ohne ein Wort auf sie zu und nahm ihrer Freundin die Sonnenbrille ab. Was sie sah, machte sie sprachlos. Und wütend. So eine entsetzliche Wut hatte sie noch nie im Leben auf einen Menschen verspürt.

»Ich bringe diesen Scheißkerl um.« Johannas linkes Auge war violett und völlig geschwollen. Wie oft hatte sie Johanna schon gesagt, dass dieser Arsch, den sie so sehr liebte, nicht gut für sie war? Aber bisher war er noch nie handgreiflich geworden.

»Kann ich vorübergehend bei dir schlafen?« Katharina nickte eifrig und nahm Johanna tröstend in den Arm. Hatte dieser Mann denn keine Augen im Kopf? Johanna war eine zierliche Schönheit, die man auf Händen tragen sollte, statt sie zu schlagen.


1. Kapitel

 

Katharina war gerade über der Bezahlung von Rechnungen, als die Türklingel betätigt wurde. Sie liebte dieses hübsche Läuten. Als sie diese Boutique eröffnet hatten, war sie fast durchs ganze Land gefahren, um eine antike Türklingel aus Messing zu finden, die durch das Öffnen der Tür mit einem kleinen Metallstab betätigt wurde.

»Ach komm schon. Ich hab bis jetzt nur Gutes von der Boutique gehört. Alle meine Freundinnen kaufen hier ihre Kleider für den Ball.« Oh je. Noch so eine reiche, verwöhnte Göre. Katharina atmete tief durch und sah zur Tür.

Ein großer, schwarzhaariger Mann im edlen Anzug wurde von einer kleineren Ausgabe von ihm in den Laden gezerrt. Und es war wirklich ein Zerren. Katharina musterte ihn und versuchte ihn einzuschätzen. Für ihren Vater war er eindeutig noch zu jung, also musste es ihr Bruder sein. Ihren Freund hätte das Mädchen sicher nie so durch die Gegend gezerrt. Sie stand von ihrem Hocker auf und trat hinter dem Tresen hervor.

»Schönen guten Tag. Wie kann ich ihnen helfen?« Das junge Mädchen sah mit großen, glänzenden Augen auf die vielen Kleider und wandte sich dann an Katharina.

»Hallo. Ich brauche ein Kleid für den Winterball an der Highschool. Am liebsten etwas in Rosa.« Der junge Mann stöhnte gequält auf. Sie musterte das Mädchen eindringlich und erwiderte dann: »Ich an deiner Stelle würde ein blasses blau nehmen. Das bringt deine wunderschönen Haare zur Geltung und mit dem richtigen Schnitt können wir dir auch noch ein paar Kurven hinzu mogeln.« Das Glänzen in den Augen des Mädchens nahm immer mehr zu und der Mann hob belustigt seine Augenbrauen.

»Als ich das Gleiche gesagt habe, wurde mir schlechter Geschmack vorgeworfen.« Katharina zuckte mit den Schultern und erwiderte gleichzeitig mit dem Mädchen: »Typisch Mann.« Sie wandte sich wieder dem Mädchen zu.

»Zieh mal bitte deinen Mantel aus.« Nachdem das erledigt war, umkreiste sie das Mädchen und nickte dann. »Johanna?« Aus dem hinteren Teil des Ladens ertönten Schritte und ihre Freundin erschien. Ihre blonden Haare waren mit einem Haarreif nach hinten frisiert und sie trug einen unförmigen gelben Pullover und eine noch schlimmere, braune Hose. »Haben wir noch das blaue Kleid von dem Fotoshooting mit der Modezeitung?« Johanna sah das schwarz haarige Mädchen an und lächelte verstehend.

»Ja. Ich hol es gleich.« Und damit verschwand sie wieder. Sie war schon immer furchtbar schüchtern gewesen und hatte Katharina den ganzen Kundenkontakt überlassen. Natürlich übernahm sie selbst die Maßabnahme und die verschiedenen Anproben, hatte aber sonst keinen Kontakt mit anderen. Sie war glücklich in ihrem kleinen Schneckenhaus. Nur ein paar Momente später kam sie mit dem gewünschten Kleid wieder und reichte es Katharina.

»Das damalige Model war aber etwas kräftiger als die junge Dame hier. Wir werden auf jeden Fall etwas abnähen müssen.« Katharina nickte und zeigte dem jungen Mädchen das Kleid.

»Was meinst du?« Sie hätte sich die Frage getrost schenken können. In den Augen der jungen Frau stand Gier.

»Das ist traumhaft. Genau so etwas wollte ich.« Sie gab ihr das Kleid in die Hand und zeigte ihr, wo die Umkleide war. An den jungen Mann gerichtet sagte sie zuckersüß: »Keine Angst. Ich mache ihnen einen Sonderpreis.« Dieser lächelte charmant und winkte dann ab.

»Das brauchen sie nicht. Ich bin nur froh, dass sie endlich ein Kleid gefunden hat. Noch eine weitere Boutique hätte ich nicht überstanden. Sie zerrt mich seit Stunden durch alle möglichen Geschäfte.« Sie zuckte mit den Schultern und drehte sich dann zur Umkleidekabine.

»So sind Geschwister eben.« Die junge Frau lugte aus der Umkleide heraus.

»Könnten sie mir kurz helfen?« Katharina ging zu ihr in die Umkleide und schloss den Reißverschluss, der außerhalb der Reichweite der jungen Frau lag.

»Wie ich schon dachte. Das müssen wir etwas enger machen.« Dann schmunzelte sie das Mädchen an. »Oder du nimmst etwas zu. Unser Model war schon schlank, aber du bist sogar noch dünner.« Etwas Schmeichelei tat dem Geschäft immer gut. Aber in diesem Fall brauchte Katharina es gar nicht. Die Kleine war wirklich unheimlich schlank. Und hübsch. Was eindeutig in der Familie zu liegen schien. Sie zog den Vorhang beiseite und ließ die Kleine heraustreten. Und ihr Bruder machte große Augen.

»Sieht das Kleid gut an mir aus, Nici?« Nici? Sie musste ein Grinsen unterdrücken. Er hasste diesen Spitznamen bestimmt. Und doch war er für einen Moment sprachlos, als er seine Schwester betrachtete.

»Unglaublich. Wenn du das kaufst, werde ich dir eine Anstandsdame mit auf den Ball geben müssen.« Die Kleine kicherte und Katharina deutete auf den hinteren Bereich, wo Johanna arbeitete.

»Johanna wird noch schnell die überschüssigen Zentimeter abstecken und dann kannst du es morgen abholen.« Die Kleine ging nach hinten und der junge Mann blieb vorne bei ihr im Laden.

»Wollen sie eine Rechnung oder bezahlen sie bar?« Er folgte ihr zum Tresen.

»Ich bezahle bar.« Sie tippte den Preis für das Kleid und die Näharbeiten ein und sagte dann: »Das wären dann 210 Dollar.« Als er die Augenbraue hob, dachte sie erst, er würde wegen des Preises etwas meckern, aber er gab ihr anstandslos die schwarze American Express Karte.

»Ich hatte gedacht, es würde mehr kosten. Die Kleider in den anderen Läden sahen nicht halb so gut aus und waren drei Mal so teuer.« Katharina grinste.

»Wir machen alles selber. Bis auf den Lieferanten für unsere Stoffe haben wir keinen weiteren Zwischenhändler oder so.« Er runzelte die schöne Stirn.

»Und woher bekommt ihr die Designs?« Und plötzlich übermannte sie eine Welle des Stolzes.

»Ich entwerfe die Kleider und Johanna setzt die Ideen um. Wir haben viele Kundinnen, die ein Unikat möchten. Dann setzen wir uns zusammen und entwerfen das Passende.« Er sah sich nochmals im Laden um und schien die Kleider nun kritischer zu beäugen.

»Sie haben Talent, genau wie ihre Freundin.« Katharina hatte es sich schon vor Jahren abgewöhnt rot zu werden, doch das Kompliment aus seinem Mund ließ ihr eine leichte Röte in die Wangen steigen.

»Danke.« Sie reichte ihm die Karte und sah dann nach hinten, wo er das Kichern der jungen Frau hörte.

»Woher wussten sie, dass Melanie meine Schwester ist?«

»Sie sehen sich viel zu ähnlich, um irgendetwas anderes annehmen zu können. Für einen Freund sind sie zu alt und als Vater zu jung.« Er lächelte verschmitzt.

»Danke für das Kompliment.«

»Gern geschehen.« Sie löste sich von seinem Anblick und ging nach hinten, um nach den beiden Frauen zu sehen. Melanie war schon wieder angezogen und sah sich ein paar von Katharinas Entwürfen an.

»Haben sie die wirklich alle selbst gemacht?« Katharina nickte und erwiderte lächelnd: »Aber die Hauptarbeit hat Johanna, die meine Entwürfe umsetzen muss. Und das ist nicht immer so leicht, wie es aussieht.« Johanna erwiderte nichts, sondern lächelte nur. Sie konnte überhaupt nicht mit Lob umgehen. Ein Wesenszug, der sie sehr liebenswürdig machte. Katharina begleitete die junge Frau nach vorn und verabschiedete dann die beiden Geschwister.

Der Monat lief bisher ganz gut für Johanna und sie. Durch den Winterball und ihre normalen Stammkunden hatten sie ein sehr gutes Plus einfahren können. Sie hoffte, dass es für die nächsten Monate und das neue Jahr so weitergehen würde.


2. Kapitel

 

Dominic saß am Frühstückstisch und hörte seiner kleinen Schwester zu, die immer noch von dem Winterball der Schule schwärmte.

»Die Anderen haben mich alle um mein tolles Kleid beneidet. Und die Jungs standen sogar Schlange, um mit mir zu tanzen. Kannst du dir das vorstellen?« Nein. Er wollte sich das auf keinen Fall vorstellen. Seine Schwester war noch ein Baby und er würde keinen Mann in ihrem Leben tolerieren. Zumindest nicht, bis sie dreißig war und einen Collageabschluss in der Tasche hatte.

Er wusste, dass er wie ein übervorsichtiger Vater reagierte, und das störte ihn in keinster Weise. Er hatte auch seiner Mutter immer wieder gesagt, dass sie ihm sofort Bescheid sagen sollte, wenn die Noten nachließen oder sie mit einem Jungen anbändeln würde.

Caroline hatte nur gelacht und gemeint, dass er sich nicht ewig in das Leben seiner Schwester einmischen konnte. Sie würde ihren eigenen Weg wählen. Pah! Als ob dieses kleine Mädchen etwas von der Welt wüsste. Wäre Dominic damals nicht zufällig in diese Firma gekommen, hätte er sich niemals bis ganz nach oben arbeiten können.

Er mochte es, wenn jemand für seinen Erfolg arbeitete. Genau aus diesem Grund hatte er die Besitzerin der kleinen Boutique nicht vergessen können. Die bisherigen Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, waren allesamt oberflächlich und ziemlich hohl im Kopf. Weiter als über den nächsten Tag, ging ihr Horizont nicht und auch deren Moral war alles andere als gut. Sie wollten alle nur Geld und Macht. Und er verkörperte Geld und Macht.

Doch bis auf einen kleinen Flirt hatte diese Frau nichts bei ihm versucht. Kein kokettes Wimpernklimpern, keine sexuellen Anspielungen. Sogar ihr Kleidungsstil war eher geschlossen, wenn auch sehr figurbetont. Sie hatte noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als sie die schwarze American Express gesehen hatte. Ganz im Gegenteil.

Sie war einfach nach hinten verschwunden und hatte sich um seine Schwester gekümmert. Und das Kleid, welches sie da entworfen hatte, war wirklich atemberaubend gewesen. Er hatte in der Boutique auch Männerkleidung gesehen. Nicht viel. Nur ein paar Sakkos und Krawatten. Aber er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, sich etwas Neues zu gönnen. Und der hübschen Frau die Telefonnummer und vielleicht auch ein Date abzuschwatzen. Seinem Charme konnten die wenigsten Frauen entrinnen.

 

Er betrat telefonierend die Boutique und hielt nach der jungen Frau Ausschau. Leider konnte er sie nicht entdecken.

»Ja, ich weiß. Bereiten sie mir alle Unterlagen vor. Ich komm heute nochmal ins Büro und hol mir alles ab.« Er hasste es, wenn etwas nicht glatt lief und er noch mehr Arbeit hatte, als normal. Dominic beendete das Gespräch mit seiner Sekretärin und steckte sein Handy wieder in die Innentasche seiner Anzugjacke.

»Ich bin sofort bei ihnen«, ertönte es aus dem hinteren Bereich und er sah sich in der Zwischenzeit bei den Herrensachen um. Die Krawatten waren aus hochwertigem Stoff und sehr gut verarbeitet. Auch die Hemden und Sakkos waren von hoher Qualität. Hinter sich hörte er das Klackern von Absatzschuhen und drehte sich lächelnd um. Sie trug heute eine weiße Bluse und dazu eine elegante, dunkelblaue Hose, die an den Beinen etwas weiter ausgestellt war. Und weiße High Heels. Sehr sexy. Als sie ihn erkannte, lächelte sie erst, dann wurde ihr Gesichtsausdruck ernst.

»Stimmt etwas mit dem Kleid nicht?« Machte sie sich Sorgen, dass er es zurückbringen würde? Selbst wenn, seine Schwester hätte dieses Kleid nie im Leben wieder heraus gerückt.

»Keine Angst. Das Kleid ist super und wurde voller Begeisterung auf dem Winterball herumgezeigt.« Als er nun ihren fragenden Blick sah, fuhr er fort: »Heute bin ich aus eigennützigen Gründen hier. Ich brauche eine neue Krawatte.« Sofort hellte sich ihr Gesicht auf und sie stellte sich neben ihn.

»Wir haben hier eine kleine Auswahl, aber wir können natürlich auch andere Stoffe und Muster verwenden. Ich kann ihnen gern das Stoffmusterbuch holen.« Als sie zum Tresen gehen wollte, hielt er sie am Unterarm fest. Etwas irritiert sah sie in seine Augen.

»Wollen wir uns nicht duzen? Das Ständige Sie nervt mich etwas.« Ihr Blick wurde weicher und er erkannte, dass sie sich ziemlich angespannt hatte. Anscheinend hatte sie keine guten Erfahrungen mit Männern.

»Gerne. Ich bin Katharina.« Er ließ ihren Unterarm los und reichte ihr stattdessen seine Hand. Eine Friedensgeste.

»Ich bin Dominic.« Ihre Hand war angenehm warm und weich. Er hasste es, wenn jemand kalte oder schwitzige Hände hatte. Außerdem waren ihre Fingernägel in einer normalen Länge und nicht künstlich verlängert. Ein weiterer Pluspunkt. Er hielt sie einen Moment zu lange fest und sie deutete auf ihrer beide Hände.

»Bekomme ich meine Hand wieder? Ich muss das Buch holen.« Er grinste.