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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2015

Copyright © 1986 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlag- und Innenillustrationen Reinhard Michl

Umschlaggestaltung Reinhard Michl und Manfred Waller

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-20429-6 (24. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-21751-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-21751-5

Fußnoten

1

Das Gedicht «Der Knabe im Moor» steht im Anhang des Buches.

Für alle, die sich noch begeistern können;
für Katja und ganz besonders für Burghardt.

Angela Sommer-Bodenburg

Der Fremde im Zug

Es war Sommer, und Timo hatte Ferien – große Ferien, auf die er sich monatelang gefreut hatte. Aber nun verging Woche um Woche, ohne dass etwas Aufregendes passierte, und mit jedem Tag wuchs Timos Langeweile.

Das fiel sogar seinen Eltern auf. Wenn sie abends von der Arbeit heimkamen, wunderten sie sich über Timos schlechte Laune.

Als dann auch noch Timos einziger Freund verreiste, fragte Timos Mutter, wie es wäre, wenn er zu Tante Mimi nach Moorkaten führe. «Zu Tante Mimi? Aufs Land?», sagte Timo wenig begeistert. Er kannte Tante Mimi kaum, und das gottverlassene Moordorf, in dem sie wohnte, lockte ihn auch nicht.

Aber nach einigem Überlegen fand er die Idee doch gar nicht so schlecht. Jedenfalls war es besser, zu Tante Mimi zu fahren, als noch drei Wochen zu Hause herumzusitzen!

Und so fuhr Timo zum ersten Mal in seinem Leben allein mit der Bahn. Er stand am offenen Abteilfenster, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und dachte voller Neid an seine Klassenkameraden, die weite Reisen machen durften.

«Willst du nicht das Fenster schließen?», sagte da auf einmal eine dunkle Stimme hinter ihm.

Timo drehte sich um und sah einen hageren, grau gekleideten Mann neben der Tür Platz nehmen, die er jetzt mit seinen langen, dünnen Beinen versperrte.

Hastig schob Timo das Fenster hoch und setzte sich.

Dann spähte er voller Unbehagen zu dem Fremden hinüber. Der hatte seinen dicken grauen Mantel um sich gewickelt, als würde er frieren. Vielleicht war er krank?

Das würde auch seine ungesunde blasse Gesichtsfarbe und die tiefen Schatten unter seinen Augen erklären – Jetzt räusperte er sich und fragte: «Und du fährst auch nach Peest?»

«Ich?» Timo zuckte zusammen. «Nein. Ich fahre nach Kümmerling. Zu meiner Tante.»

«Nach Kümmerling?», wiederholte der Fremde und sog die Luft mit einem scharfen, zischenden Laut ein. «Diesen Ort werde ich nie vergessen!»

«Ist es so schlimm da?», fragte Timo erschrocken.

«Nein», antwortete der Fremde dumpf und fuhr sich über die Stirn, als müsste er eine böse Erinnerung verscheuchen. «Es ist eine nette kleine Stadt mit engen Gassen und alten Häusern. Nur mir – mir hat sie kein Glück gebracht!» Danach schwieg er und starrte auf seine mageren Hände.

Timo hätte nur allzu gern gewusst, was dem Mann in Kümmerling widerfahren war, aber er traute sich nicht zu fragen. Verlegen sah er aus dem Fenster.

Eine Weile verging, bis der Mann mit rauer Stimme fragte: «Und was willst du in Kümmerling?»

«Ich soll Ferien machen bei meiner Tante –»

«In Kümmerling?»

«Nein. Sie wohnt auf dem Land, in Moorkaten.»

«In Moorkaten –», sagte der Fremde gedankenvoll. «Kennst du das Gedicht ‹Der Knabe im Moor› von Annette von Droste-Hülshoff?»[1]

Timo schüttelte den Kopf.

Der Mann räusperte sich wieder, und dann begann er mit seltsam singender Stimme zu sprechen:

«O schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,

Wenn es wimmelt vom Heiderauche,

Sich wie Phantome die Dünste drehn

Und die Ranke häkelt am Strauche,

Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,

Wenn aus der Spalte es zischt und singt,

O schaurig ist’s, übers Moor zu gehn,

Wenn das Röhricht knistert im Hauche!»

Timo merkte, wie es ihn kalt überlief.

«Aber Moorkaten liegt nicht direkt im Moor», sagte er. Das hatten ihm seine Eltern erzählt. «Man muss noch mindestens zehn Minuten laufen bis zum Moor.»

Doch der Fremde ging nicht darauf ein.

«Im Moor leben Geister und Dämonen», flüsterte er. «Willst du wissen, wie sie heißen?»

Timo machte eine unbestimmte Bewegung mit den Schultern. Er hätte am liebsten nein gesagt, aber das wagte er nicht.

«Die unselige Spinnerin», wisperte der Mann. «Der gespenstische Gräberknecht. Die verdammte Margret.»

Und indem er wieder in seinen eigenartigen Singsang verfiel, fuhr er fort:

«Da birst das Moor, ein Seufzer geht

Hervor aus der klaffenden Höhle;

Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:

‹Ho, ho, meine arme Seele!›»

Timo seufzte erleichtert auf.

«Ach so, die sind aus dem Gedicht!»

Der Fremde warf ihm einen abgründigen Blick zu.

«Glaub nicht, dass sie deshalb weniger lebendig sind!» Und mit einem unheimlichen Glühen in seinen dunklen Augen fügte er hinzu: «Aber es gibt noch viel schrecklichere Wesen – dort in Kümmerling!»

Timo schauderte.

«Und welche?», fragte er mit Herzklopfen.

Der Mann lehnte sich zurück und schloss für einen Moment seine Augen.

«Den Händler der verkauften Träume zum Beispiel», antwortete er mit tonloser Stimme. «Wenn du willst, erzähle ich dir von ihm.»

Timo war nicht sicher, ob er die Geschichte wirklich hören wollte. Aber bevor er etwas sagen konnte, begann der Mann:

Der Händler der verkauften Träume

«Es war ein Sommertag, so wie heute. Und wie heute saß ich in der Bahn und fuhr gen Norden – nach Kümmerling, wo ich am Stadttheater vorsprechen sollte.

Ich bin nämlich Schauspieler.

Mein Blick glitt über die satten grünen Wiesen, auf denen Kühe grasten, über die leuchtend gelben Felder, und ich fühlte mich heiter und unbeschwert. Ja, ich war voller Zuversicht, dass ich das Engagement bekommen würde – obwohl ich wusste, dass auch noch andere Schauspieler vorsprechen würden. So kam ich in Kümmerling an und ging froh gestimmt durch die engen Gassen zum Theater.

Doch kaum hatte ich das hohe weiße Haus betreten, waren meine Sicherheit und mein Selbstvertrauen dahin. Ich hatte entsetzliches Lampenfieber und wie ein Mühlrad ging es mir im Kopf herum: Du schaffst es nicht, du schaffst es nicht.

‹Ist Ihnen nicht gut?›, fragte der Pförtner.

‹Die Sonne –›, sagte ich und stürzte an ihm vorbei zur Bühne. In meinen Ohren sauste es. Ich biss die Zähne aufeinander und versuchte, ruhiger zu werden. Doch es half nichts. Das Mühlrad hörte nicht auf, sich zu drehen.

Ich erreichte die Bühne. In der ersten Reihe saßen der Regisseur und ein paar andere Leute. Sie musterten mich, und ich hörte, wie einer sagte: ‹Der hätte die richtige Figur für die Rolle!›

Ich! Er meinte mich! Für einen Augenblick konnte ich wieder frei atmen. Aber dann begann aufs Neue das Brausen in meinem Kopf, und der Text, den ich Tag und Nacht – ja, Tag und Nacht! – gelernt hatte, war wie fortgeblasen. Ich stand auf der Bühne, die Arme hingen mir schlaff am Körper herab, ich setzte an, wollte sprechen – aber nur unzusammenhängende Worte kamen über meine Lippen.

Wie durch einen Nebel sah ich, dass die Leute dort unten in der ersten Reihe belustigte Blicke wechselten.

Ich musste mich setzen und mit anhören, wie andere Schauspieler den Text mühelos und ohne zu stocken sprachen.

Ich saß da, vollständig vernichtet, und nahm es zunächst gar nicht wahr, dass mir jemand auf die Schulter tippte. Als ich mich schließlich umdrehte, sah ich einen kleinen Mann, der mich mit hellen Augen aufmerksam fixierte.

‹Mein Herr, ich kann Ihnen helfen!›, flüsterte er.

‹Helfen? Mir?›, erwiderte ich mit der Gleichgültigkeit dessen, der alle Hoffnung aufgegeben hat.

‹Ja›, flüsterte er aufgeregt. ‹Wenn der Herr mir die Ehre gibt, heute Mittag mein Gast zu sein, werde ich ihm alles erklären!›

Seine seltsame Rede verwirrte mich.

‹Ihr Gast? Wie das?›, fragte ich.

‹Wenn der Herr erlauben, möchte ich ihn in den Ratskeller einladen. Dort wird sich dann alles finden!›

Ich begriff zwar nicht, was er damit meinte – aber so viel hatte ich verstanden: dass er mich zum Essen einladen wollte. Und das war für mich sehr verlockend, denn ich hatte kaum noch Geld.

Ich sagte zu, und so saßen wir eine halbe Stunde später im alten Ratskeller, abseits in einer dunklen Nische.

Vor uns auf dem Tisch brannte eine Kerze und bei ihrem Schein sah ich mir meinen Gastgeber genauer an. Er hatte ein spitzes Gesicht mit einer langen Nase und flinke Augen, denen nichts entging. Sein Haar war rotblond – so wie deins – und zu einer altmodischen Stirnlocke frisiert. Auch seine Kleidung entsprach der Mode vergangener Zeiten: Er trug ein Hemd mit Rüschen und langen Manschetten. An seinem Samtjackett hing eine große goldene Uhr.

Natürlich war ich begierig zu erfahren, wie er mir helfen wollte. Doch er bestand darauf, dass wir zuerst speisen sollten. Nachdem wir ein überaus reichliches Mahl verzehrt hatten – ich für meine Person hatte lange nicht mehr so gut gegessen –, sprach er, indem er sich mit einem Spitzentaschentuch die Nase tupfte: ‹Wenn der Herr gestatten, will ich ihm jetzt erzählen, wie ihm auf ganz einfache Weise geholfen werden kann.›

‹O ja, ich bitte darum!›, rief ich, erhitzt vom Essen und vom Wein.

Er legte einen Finger auf den Mund.

‹So mäßige er sich doch!›, sagte er und spähte zu den anderen Tischen hinüber. ‹Große Taten müssen im Verborgenen geschehen!›

‹Ja, natürlich›, stimmte ich hastig zu – aus Furcht, ihn zu verärgern und mir damit vielleicht seine Gunst zu verscherzen.

Flüsternd eröffnete er mir: ‹Ich wüsste ein besseres Theater als das hiesige.›

‹Ich auch!›, sagte ich, und die Verbitterung über die letzten Wochen, in denen ich von Ort zu Ort gereist war und mich vergeblich um ein Engagement bemüht hatte, stieg in mir hoch. ‹Aber keins, das mich einstellen würde.›

‹O doch›, erwiderte er. ‹In dem Theater, von dem ich spreche, würde der Herr mit offenen Armen aufgenommen werden.›

‹Und wenn ich meinen Text wieder vergesse – so wie heute?›, warf ich ein.

‹Das wird nicht geschehen›, antwortete er, ‹sofern der Herr Vertrauen zu mir hat.›

‹Vertrauen? Nur ein Wunder könnte bewirken, dass ich den Text nicht vergesse!›, sagte ich düster.

Der Mann drehte an den Knöpfen seines Jacketts und machte ein geheimnisvolles Gesicht.

‹Ich würde es nicht Wunder nennen›, erklärte er, ‹sondern lieber: ein Geschäft.›

‹Ein Geschäft?›, sagte ich und riss meine Augen auf. ‹Was wollen Sie von mir?›

Ohne zu zögern, antwortete er: ‹Die Träume des Herrn.›

‹Meine Träume?›

‹Trinken wir noch etwas›, sagte er und bestellte eine weitere Flasche von dem vorzüglichen Wein.

‹Was kostet es den Herrn schon, mir seine Träume zu überlassen›, sagte er leichthin, während wir tranken. ‹Er braucht seine Träume nicht, sie kommen zu ihm, wenn er schläft – also: Was schadet es ihm, wenn er sie weitergibt? Weitergibt an einen, der ihm einen guten Preis bezahlt!›

Ich weiß nicht, war es der Wein, war es sein verrückter Vorschlag – ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

‹Einen guten Preis? Für meine Träume?›, lachte ich.

‹O ja›, antwortete er mit ernster, feierlicher Miene. ‹Der Herr wird nie wieder einen Text vergessen. Und er wird ein Engagement bekommen an dem Theater, von dem ich sprach. Ist dem Herrn der Preis zu gering?›

‹Nein, nein›, versicherte ich eilig. Immer stärker hatte ich den Eindruck, dass der Mann ein Spaßvogel war.

‹Und wo liegt das Theater?›, fragte ich.

‹Das wird der Herr erfahren, sobald der Handel perfekt ist.›

‹Und Sie wollen weiter nichts dafür? Nur meine Träume?›

‹Nur die Träume des Herrn!›

‹Und ich bekomme ein Engagement? Und ich werde nie wieder einen Text vergessen?›

‹So ist es.›

‹Gut!›, sagte ich. ‹Lassen Sie uns den Handel abschließen.› Für einen Augenblick schien es mir, als blitzte eine teuflische Freude in seinen Augen auf. Doch gleich darauf lächelte er wieder so verbindlich wie zuvor.

Da tat ich, was er mir sagte: Ich schloss die Augen und dachte an meine Träume. Und dann strich ich mit den Fingerspitzen über meine geschlossenen Lider, und dabei wiederholte ich, was er mir vorsprach: ‹Träume, verlasst mich.›

Mir schwanden die Sinne.

Als ich wieder zu mir kam, war ich allein. Hinter meinen Augen spürte ich einen bohrenden Schmerz, und nur mit Mühe konnte ich die Goldbuchstaben auf der Karte entziffern, die vor mir auf dem Tisch lag:

Jakob von Windheim

An- und Verkauf von Träumen

Darunter stand noch etwas, flüchtig mit dem Bleistift hingeworfen:

Stadttheater Peest.

Berufe der Herr sich auf mich.

Widerstreitende Gefühle regten sich in mir. Sollte ich mich freuen? Sollte ich wirklich glauben, dass sich mein Schicksal durch dieses absonderliche Geschäft doch noch zum Guten wenden würde? Oder war es nur ein böser Scherz, den sich jemand mit einem Unglücklichen wie mir erlauben wollte?

Während ich so dasaß und grübelte, trat die Kellnerin zu mir an den Tisch, und mit den Worten, das sei soeben für mich abgegeben worden, überreichte sie mir einen Umschlag.

Ich öffnete ihn und fand darin eine Fahrkarte nach Peest und die Mitteilung, man habe mir für die Nacht ein Zimmer im Ratshof in Kümmerling bestellt und bezahlt.

Es war wie im Märchen!

Die Ereignisse trugen mich mit sich fort, und ich konnte mich nur ihrem Lauf überlassen – und wünschen, dass alles einen guten Ausgang nehmen würde!

Ich ließ mir das Zimmer zeigen. Es war ein kleiner, dunkler Raum, den das große Bett, das in der Mitte stand, fast ausfüllte. Aber mir war es gerade recht so, denn ich hatte nur noch ein Verlangen: mich hinzulegen und zu schlafen.

Ich streckte mich auf der Matratze aus, und eh ich mich versah, war ich eingeschlafen.

Doch schon nach kurzer Zeit erwachte ich und setzte mich verwirrt im Bett auf. Irgendetwas hatte mich aus dem Schlaf gerissen – mit einem heftigen, schmerzhaften Ruck, als hätte mich jemand an der Schulter gepackt.

Ich machte Licht und blickte mich um. Doch ich war allein und nichts im Zimmer hatte sich verändert.

Ich löschte das Licht und legte mich wieder hin. Noch einmal zog der vergangene Tag an mir vorüber, und ich sah mich auf der Bühne in Kümmerling stehen: Ich öffnete die Lippen – und diesmal konnte ich den Text sprechen. Ich sprach ihn fehlerfrei, ohne zu zögern oder zu stocken, mit fester, klarer Stimme.

Der Händler hat mich nicht betrogen!, jubelte es in mir, und abermals sagte ich mir den Text auf. Und wirklich: Als läge das Rollenbuch geöffnet vor mir, wusste ich jedes Wort. Darüber schlief ich ein.

Aber der schmerzvolle Ruck wiederholte sich, und erneut fand ich mich verstört, am ganzen Körper zitternd, im Bett sitzen.

Was war geschehen?